Aufschlussreich - Landschulheim Schloss Heessen
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LANDSCHULHEIM SCHLOSS HEESSEN<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Kunst und Kurzgeschichte Vol. IV
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Kunst und Kurzgeschichte Vol. IV<br />
1. Aufl., Mai 2012<br />
Projektleitung: Carsten Spiegelberg & Peter Grasemann<br />
Herausgegeben vom <strong>Landschulheim</strong> <strong>Schloss</strong> <strong>Heessen</strong> e.V.<br />
59073 Hamm<br />
www.lsh-heessen.de
Inhalt<br />
Vorwort ..................................................................................................... 1<br />
Wie finde ich diesen Schlüssel zu Dir? – Constantin Pauli (6b) ....... 3<br />
Der Schlüssel zum Glücklichsein – Charlene Füllsack (9a) .............. 6<br />
Der verlorene Sohn – Claudius Blix (9a) .............................................. 8<br />
Dumm gelaufen! – Karolin Brinker (Jgst. 10) ....................................... 16<br />
Flammend frei – Anonym (Jgst. 10) ....................................................... 18<br />
Die Himmelstürmer – Henrike Barenbrock (Jgst. 10) ........................... 34<br />
Atarus – Johannes Kloecker (Jgst. 10) ....................................................... 54<br />
Deckblatt: „<strong>Aufschlussreich</strong>“ – Zeichnung von Carsten Spiegelberg (2012)
Vorwort<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
„<strong>Aufschlussreich</strong>.“ Mit diesem Wort als Anregung für die eigenen<br />
Ideen startete die mittlerweile vierte Auflage des Projekts „Kunst<br />
und Kurzgeschichte“. Und auch dieses Mal fanden sich interessierte<br />
Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen, die ihrer Kreativität<br />
jenseits von ministerialen Vorgaben und festen Curricula freien Lauf<br />
lassen wollten.<br />
Herausgekommen ist diese spannende Sammlung von<br />
unterschiedlichen Geschichten und Zeichnungen.<br />
Wir danken allen AutorInnen und ZeichnerInnen für ihre tollen<br />
Beiträge, die wieder einmal zeigen, dass es manchmal nur eines<br />
einzigen Wortes bedarf, um die Türen zu verschiedenen großartigen<br />
Phantasiewelten aufzuschließen.<br />
Treten auch Sie nun ein in die wunderbaren Welten, die die<br />
Schülerinnen und Schüler für Sie geschaffen haben!<br />
Wir wünschen Ihnen viel Spaß!<br />
Carsten Spiegelberg & Peter Grasemann<br />
1
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Wie finde ich diesen Schlüssel zu Dir? – Constantin Pauli, 6b<br />
(Zeichnung 2012)<br />
2
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Wie finde ich diesen Schlüssel zu Dir?<br />
Der Schlüssel zu meiner Cyber-Liebe<br />
Constantin Pauli, 6b<br />
Es war an einem regnerischen Mittwochnachmittag und ich saß in<br />
meinem Zimmer am Laptop und surfte in einem sozialen Netzwerk.<br />
Dort traf ich auf das Profil eines netten Mädchens. Sie hatte langes<br />
blondes Haar, schöne große strahlend blaue Augen und sie lächelte<br />
bezaubernd.<br />
Ihre persönlichen Daten waren verschlüsselt. Ich war jetzt täglich<br />
online, um sie zu sehen und schickte ihr eine Freundschaftsanfrage.<br />
Dann fuhr ich meinen Computer runter und machte meine<br />
Hausaufgaben für den nächsten Tag. Als ich damit fertig war, lag ich<br />
auf meinem Bett, ganz alleine. Es war so leise, dass ich das Rütteln<br />
der Waschmaschine im Keller hörte.<br />
Ich dachte mir: „Was macht sie jetzt wohl gerade?“<br />
Dann begriff ich, dass ich sie unbedingt treffen musste. Ich fuhr<br />
schnell den Laptop hoch und schaute nach, ob sie die Anfrage<br />
bestätigt hatte. Ich freute mich über die kleine Eins bei<br />
Benachrichtigungen.<br />
Sie war online und ich machte sofort den Chat auf. Wir schrieben hin<br />
und her und bemerkten es sofort: Wir mochten uns sehr!<br />
Ich gefiel ihr, obwohl ich ein ernster, kühler Junge war. Die<br />
Mundwinkel nach unten gezogen, wer weiß, welches Geheimnis ich<br />
im Herzen trug?<br />
Sie war 14 Jahre alt, genau wie ich und wohnte in Quickborn, einem<br />
Vorort von Hamburg.<br />
3
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Sie war ein fröhliches Mädchen, ihr Mund von einem leichten<br />
Lächeln umspielt. Ihre Haare waren leicht gebogen, so als würde ein<br />
angenehmer Wind mit ihnen spielen.<br />
Sie hatte es gern, wenn ich sie zum Lachen brachte.<br />
Am nächsten Schultag erzählte ich meinem besten Freund Fred von<br />
meiner neuen Bekanntschaft. Er freute sich für mich und sagte: „Du<br />
musst das Mädchen unbedingt treffen!“<br />
Wir trafen uns nachmittags bei Fred zu Hause und buchten zwei<br />
Bahntickets online und gaben die Adresse meiner neuen Freundin<br />
bei Google Maps ein. Am Samstag machten wir uns auf den Weg<br />
und fragten Passanten, bis wir in der richtigen Straße angekommen<br />
waren. Wir sahen das Haus und drückten auf die Klingel und hörten<br />
wie der Schlüssel die Tür öffnete. Nun stand ein hübsches Mädchen<br />
vor uns und bat uns ins Haus. Wir begrüßten uns und sie fragte:<br />
„Was unternehmen wir jetzt zusammen? Sollen wir ins Kino gehen?“<br />
Das war die richtige Idee! Im Kino war es dunkel und ich saß neben<br />
meiner neuen Freundin Lara. Als der Film begann, nahm ich ihre<br />
Hand und küsste sie auf ihre Lippen.<br />
(Ohne Zunge!)<br />
Es war so schön, tausend Schmetterlinge flogen durch meinen Bauch.<br />
Ich fühlte mich wie in der Achterbahn.<br />
Als der Film zu Ende war, gingen wir händchenhaltend zum<br />
Bahnhof, verabschiedeten uns voneinander mit einer langen, festen<br />
Umarmung und winkten uns zu, bis unsere Blicke verloren gingen.<br />
Zu Hause angekommen ging ich sofort in mein Zimmer an den<br />
Computer und war aufgeregt, ob schon eine Nachricht von Lara da<br />
war.<br />
4
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Tatsächlich schrieb sie: „Hallo Schnasselbacke, bist du gut nach<br />
Hause gekommen? Es war ein wunderschöner Tag mit dir und ich<br />
möchte dich bald wiedersehen. Meine Gefühle tanzen für Dich!“<br />
5
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Der Schlüssel zum Glücklichsein<br />
Charlene Füllsack, 9a<br />
Der Schlüssel zum Glücklichsein – Charlene Füllsack, 9a<br />
(Zeichnung 2012)<br />
Eigentlich hatte Walter ein glückliches Leben. Doch als er kurz vor<br />
seinem 69. Geburtstag stand, geriet er in eine tiefe Krise. Er sah<br />
keinen Sinn und keine Freude mehr im Leben. Auch der Gewinn im<br />
Lotto ließ in kalt. „Neun Million Euro, was ist das schon?“, sagte er<br />
sich immer.<br />
Seine Frau Grete und auch seine Kinder hatten kein Verständnis,<br />
doch versuchten sie ihm so viel Freude zu machen wie möglich.<br />
Doch auf die Dauer, wussten sie nicht mehr weiter und hatten auch<br />
keine Kraft. Sie setzten ihm ein Ultimatum: Würde er nicht langsam<br />
begreifen, dass er ein fantastisches Leben hat, würden sie ihn<br />
verlassen. Walter legte keinen Wert mehr auf seine Familie und ging<br />
von selbst. Alle, besonders Grete, waren tief betroffen.<br />
6
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Der Alte kaufte sich von seinem Anteil des Gewinns ein Wohnmobil<br />
und fing an durch die Welt zu fahren. Seine Depressionen wurden<br />
jedoch nicht besser, sondern immer schlimmer, sodass er nach drei<br />
Monaten nur noch in seinem Bett lag. Oft dachte er nach, über das,<br />
was er getan hatte. Aber das Gefühl von einem erfüllten Leben, kam<br />
ihm in keiner seiner Erinnerungen wieder. Eine Träne lief über seine<br />
Wange.<br />
Er holte aus einem Regal ein altes Fotoalbum hervor. Als er bei<br />
seinem Hochzeitsfoto angekommen war stockte er. Nach und nach<br />
begriff er, dass sein Leben eigentlich wunderbar war, zugleich fiel<br />
ihm ein, dass er alles verloren hatte. Die Tränen häuften sich, Walter<br />
fing leise an zu weinen. Er wusste nicht, warum er so reagiert hatte.<br />
Der Schlüssel zu seinem Happy End war seine Frau, mit der er durch<br />
gute und schlechte Zeiten gehen konnte. Walter sprang auf und<br />
startete den Motor. Vielleicht, so dachte er, vielleicht ist es nicht zu<br />
spät!<br />
Nach langer Fahrt kam er bei seinem alten Zuhause an. Die Tür blieb<br />
jedoch verschlossen. Eine Nachbarin berichtete ihm von dem<br />
Überfall, bei dem Grete schwer verletzt worden war. Ohne<br />
Umschweife fuhr er zum Krankenhaus. Er rannte in die<br />
Empfangshalle und fragte nach seiner Frau. Er wurde zur<br />
Intensivstation gewiesen. Sein Gesicht war schweißgebadet und sein<br />
Herz klopfte wild. Doch gerade als er in die Intensivstation einbiegen<br />
wollte, sah er eine Rolltrage. Eine große Plastikfolie war über sie<br />
gestülpt. An diesem Tag sah Walter seiner Frau zum letzten Mal und<br />
Tage darauf folgte er ihr ins Jenseits.<br />
7
Der verlassene Sohn<br />
Claudius Blix, 9a<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Nur noch eine Stunde bis zum Sonnenaufgang, Ismachel war spät<br />
dran. In dreißig Minuten würde sein Onkel ebenfalls aufstehen, bis<br />
dahin war noch viel Arbeit zu verrichten. Wie konnte er auch immer<br />
wieder verschlafen?<br />
Eigentlich müsste er bereits seit einer halben Stunde die Tiere<br />
versorgt haben, doch zu dieser frühen Stunde wollte sein Körper<br />
noch nicht so wirklich wie er sollte. Alles sträubte sich gegen die<br />
Kälte, die ihn einfangen wollte wie ein Schleier aus Eis, doch heute<br />
war ein Tag, an dem man sich durch den Schleier kämpfte – ohne<br />
Reue zu spüren, aufgestanden zu sein.<br />
Sein bisheriges Leben spielte sich schon seit Jahren in zwei<br />
verschiedenen Welten ab, die kaum etwas miteinander gemein<br />
hatten und dennoch eng verbunden waren. Jede erlebte er täglich<br />
von neuem, mal intensiver, mal kaum spürbar. Sie waren Freund<br />
und Feind, liebevoll und rücksichtslos, Vergnügen und Arbeit.<br />
Die eine umhüllte Ismachel trotz seiner schmerzenden Glieder.<br />
Lustlos wurden die Körner zwischen die nun kämpfenden vier<br />
Hühner geworfen, die leeren Schalen erneut mit frischem Wasser<br />
gefüllt, das dreckige Stroh ausgetauscht und die frischen Eier mit<br />
geschickten Fingern aus ihren Brutstätten gefischt. Er brachte sie<br />
sorgsam in die Küche und machte sich wieder auf den Weg zum<br />
Stall – der anderen Welt in seinem kleinen Universum.<br />
Der wertvollste Besitz seines Onkels forderte nun sein morgendliches<br />
Ritual: frisches Stroh, klares Wasser und ein neuer Klumpen Salz.<br />
8
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Vor drei Jahren war seinem Onkel der kräftige Stier auf dem Feld<br />
zugelaufen. Ohne zu zögern hatte er den Bullen in den Stall gebracht<br />
und als sich nach zwei Wochen niemand gemeldet hatte, setzte er ihn<br />
auf dem Feld ein.<br />
Als Ismachel endlich, mit einiger Verspätung, wieder die<br />
Wohnstube der alten Holzhütte betrat, saß Bachlor bereits mit einem<br />
der frisch gekochten Eier am Tisch. Neben ein paar Eierbröckchen,<br />
entfloh seinem Mund ein kurzes Gebrumme.<br />
„Bist spät dran!“<br />
Ein wenig zögernd antwortete Ismachel: „Tut mir leid, aber mein<br />
Bett hat mich anfangs einfach nicht loslassen wollen.“<br />
„Gut, dass du nun doch bereit bist, mir Gesellschaft zu leisten und<br />
dich für den heutigen Tag bereit zu machen.“ Ein Lächeln umspielte<br />
seine Lippen. „Wie ich sehe, warst du immerhin schon bei den<br />
Tieren im Stall. Allerdings reichte deine Zeit wohl doch nicht mehr,<br />
um frisches Wasser für uns zu holen!“<br />
„Nein Onkel, ich werde aber sofort welches holen.“<br />
„Ach was, setz dich erst mal! Das Wasser hat Zeit und du hast einen<br />
wirklich anstrengenden und aufregenden Tag vor dir. Ich lasse dich<br />
nicht mit leerem Magen aus dem Haus!“<br />
Ismachel setzte sich mit einem lauten Lachen neben seinen Onkel<br />
und aß das zweite der frisch gekochten Eier.<br />
Sein Onkel war der Ausgleich zu all der Schmach und jeder<br />
Anstrengung, die das Leben für ihn bereithielten. Noch als Säugling<br />
hatte Bachlor sich seiner angenommen und den von seinen Eltern<br />
Verlassenen wie einen eigenen Sohn aufgezogen. Die Jahre<br />
vergingen und Ismachel wuchs zu einem intelligenten jungen Mann<br />
9
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
heran, dessen Körper durch die harte Arbeit kräftig und robust<br />
geworden war.<br />
Die folgenden Stunden des heutigen Tages sollten entscheiden,<br />
welches Leben er in Zukunft zu führen hatte und welche Wege die<br />
seinen sein würden.<br />
Jedes Jahr, wenn das Leben langsam wieder aus seinem scheinbar<br />
ewigen Schlaf erwachte, kamen des Königs Soldaten und prüften<br />
jeden zum Mann gewordenen Einwohner des Landes. Nur den<br />
stärksten, mutigsten und intelligentesten wurde die Ehre zuteil, dem<br />
König seine Dienste zu erweisen. Aufgenommenen gebührte ein<br />
Leben ohne Hunger und Not. Ein jeder träumte von den Abenteuern<br />
und Gefahren, denen ein Soldat sich zu stellen hatte: Ohne Furcht<br />
und in eiserner Gemeinschaft Schlachten zu schlagen, von denen in<br />
Hunderten von Jahren noch gesungen würde!<br />
Die Sonne stand schon eine volle Stunde über ihren Köpfern,<br />
während sich Ismachel und sein Onkel auf den Weg in das nicht weit<br />
entfernte Dorf Rocht machten.<br />
Mit pochendem Herzen durchschritten beide gemeinsam die<br />
Hauptstraße Rochts kurz vor der Mittagsstunde. Ismachel konnte<br />
sich nicht erinnern jemals so viele Menschen auf einmal gesehen zu<br />
haben und tat sich schwer daran seinen Mund nicht ständig<br />
aufzureißen. Auf jeder Seite stritten Händler um die wenigen noch<br />
vorhandenen freien Plätze. Wo das Auge hinsah, wurde ihm Waren<br />
in Hülle und Fülle angeboten. Manche klein und preiswert, andere<br />
teuer und edel. Aus den Wirtshäusern drang der Geruch von frisch<br />
gebratenem Fleisch, doch die Vorfreude überragte alle anderen<br />
Belange. Mittlerweile wollte Ismachel nichts Weiteres mehr, als<br />
10
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
endlich den Platz zu erreichen und sich den anderen Anwärtern<br />
anzuschließen.<br />
Es warteten alle jungen Männer aus der Umgebung, der jüngste 15,<br />
der älteste 23. Einige kannte Ismachel, die meisten waren ihm jedoch<br />
noch nie zu Gesicht gekommen.<br />
Fünf Soldaten standen ruhig auf einem Holzpodest und ließen ihre<br />
Blicke über die Menge schweifen. Die Spannung schien mit bloßen<br />
Händen greifbar, als einer dieser vortrat. Seine braunen Locken<br />
glänzten in der Sonne und die Nähte der leichten Lederrüstung<br />
waren dem Reißen nah unter dem Druck der Muskeln. Eine lange<br />
Narbe zierte die rechte Wange. Seine Augen waren erfüllt von<br />
Selbstbewusstsein, Stolz und Disziplin.<br />
Niemand wagte es sich zu bewegen, als er zum Sprechen anhob.<br />
„Seid gegrüßt, Freunde“, kraftvoll drangen die Worte aus seinem<br />
Mund. „Ihr seid zahlreich, aber seid ihr auch des Kämpfens willig?<br />
Seid ihr bereit, dem König – eurem Herrscher und Beschützer – eure<br />
Dienste zu erweisen? Seid ihr bereit, das Land eurer Väter mit eurem<br />
Blut zu verteidigen? Seid ihr bereit, ein Leben in Ruhm und<br />
Reichtum zu führen?“<br />
Nach seiner mitreißenden Rede jubelte die ganze Zuhörerschaft und<br />
niemand konnte sich mehr halten vor Begeisterung.<br />
Wieder wurde es still, als ein anderer Soldat die Hände hob.<br />
„Denjenigen, die unseren Prüfungen standhalten, gebührt die Ehre<br />
mit uns in eine neue Welt zu schreiten! Heute erwarten wir, dass ihr<br />
all euren Mut und euren Willen zeigt. Wir wollen sehen, dass ihr<br />
kämpft und wir wollen spüren, wie euer Blut angesichts der Gefahr<br />
zu kochen beginnt! So lasst uns zu den Wiesen gehen!“<br />
11
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
In heller Aufregung folgten die jungen Männer den<br />
vorausmarschierenden Soldaten. Sowohl fünf Schilde als auch fünf<br />
Schwerter aus Holz lagen für die Jungen bereit. Jeder einzelne wurde<br />
einer Gruppe zugeteilt. Die ersten fünf Anwärter legten sich ihre<br />
Ausrüstungen an, während die anderen einen Kreis bildeten.<br />
Ismachel stand angespannt zwischen den übrigen und beobachtete<br />
nervös das Geschehen. Bald musste er sich beweisen!<br />
Zunächst herrschte ein großes Durcheinander unter den<br />
Kämpfenden, nach zwei Minuten aber erhielt der erste einen festen<br />
Schlag gegen das linke Bein. Für ihn war der Traum vorbei!<br />
Kurz darauf taten sich drei der vier übrigen zusammen und ließen<br />
einen weiteren Jungen aus dem Kampf fliegen. Jetzt ging es Schlag<br />
auf Schlag und nicht jeder hielt dieser Prüfung stand. Die letzten<br />
beiden sahen sich in einem Duell gegenüber, das erst mit einer<br />
technisch gut ausgearbeiteten Kombination aus Schlägen und<br />
Schildhieben entschieden wurde.<br />
Ismachel, der nun aufgefordert wurde, schnappte sich seine schon<br />
ein wenig abgenutzte Ausrüstung und betrat den Kreis. Der Griff<br />
seines Holzschwerts war bereits rutschig vom Schweiß seiner<br />
Vorgänger.<br />
Den Blick durch die Runde gehen lassend regristrierte Ismachel, dass<br />
die meisten seiner Gegner nicht danach aussahen, als würden sie ihm<br />
große Schwierigkeiten bereiten. Der eine war eher ein bisschen klein<br />
und rundlich, der anderer groß und schlank und ein anderer keine<br />
16 Jahre alt.<br />
Nur der letzte ließ ihm einen Schauer über den Rücken jagen. Der<br />
fremde Junge war etwas älter und größer als er zudem strahlte seine<br />
ganze Erscheinung Intelligenz und Selbstbewusstsein aus.<br />
12
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Der Kampf begann. Des Kämpfens willig stürmte der erste vor,<br />
wurde jedoch geschickt von einem Streich zurück getrieben.<br />
Daraufhin taten sich die drei eher unscheinbaren Personen taten<br />
plötzlich zusammen und stürmten gleichzeitig auf den großen<br />
Fremden zu. Dieser ließ sich geschickt zur Seite fallen, was drei<br />
verdutzt drein blickender Gesichter zur Folge hatte. Die Angreifer<br />
stürzten ins Leere und stolperten allesamt zu Boden.<br />
Die Menge fing lauthals zu lachen an. Es waren kaum Augenblicke<br />
vergangen, da stand der listige Mann bereits wieder mit erhobenem<br />
Schwert da. Mit aller Kraft ließ er es herunter sausen und<br />
verhinderte den Aufprall erst zwei Zentimeter vor dem Körper des<br />
Dicken durch ein geschicktes Abbremsen.<br />
„Tot!“, lachte die Menge. Ohne weiteren Widerstand gaben sich auch<br />
die anderen beiden geschlagen und verließen niedergeschlagen den<br />
Platz.<br />
Nun war es an ihm. Ismachel stürmte in die Mitte des Kreises, indem<br />
er um seine eigene Achse wirbelte und fest mit seinem Schwert<br />
zuschlug. Die Holzklinge prallte hart von dem Schaft des anderen<br />
Schwertes ab. Schnell konterte sein Gegner mit einer Kombination<br />
aus fünf präzisen Schlägen und Hieben, drei trafen Ismachel<br />
schmerzhaft in den Bauch, einer seine Brust und der letzte sein Bein.<br />
Er verlor sein Gleichgewicht und stürzte. Dreck drang in seinen<br />
Mund und er spuckte Blut, die Schaulustigen hoben schon an, um<br />
auf eine neues „Tot!“ zu brüllen, aber Ismachel gab sich noch nicht<br />
geschlagen. Mühsam stand er auf.<br />
Ein Lächeln umspielte die Lippen seines Gegenübers. Aug in Aug<br />
verharrten sie einen Moment. Ismachel versuchte gerade eine<br />
Schwäche in der Deckung seines Gegners zu finden, als plötzlich das<br />
13
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
feindliche Schwert ein weiteres Mal zustieß – er hatte das Gefühl zu<br />
ersticken. Voller Verzweiflung nahm Ismachel all seine noch<br />
vorhandene Kraft zusammen und warf seine Waffe nach vorne. Sie<br />
schien die Luft in zwei Teile zu schneiden, bevor das Holzschwert<br />
fast schon lässig vom Schild seines Kontrahenten abgefangen wurde.<br />
Ein erneuter harter Schlag brachte ihn als Strafe zu Boden.<br />
Ein Gefühl der Verzweiflung und des Versagens durchkroch<br />
langsam seinen Körper.<br />
Sekunden schienen Minuten zu werden und seine Gedankengänge<br />
verirrten sich. Nur einer blieb fest bestehen, erfüllt von Kraft und<br />
Liebe. Es war der Gedanke an seine Eltern. Ismachel wünschte sich,<br />
sie stolz zu machen, ihnen zu zeigen, dass er es wert war, ihr Kind zu<br />
sein und je länger er an sie dachte, desto mehr Mut und Kraft<br />
durchströmte seinen Körper. Er fühlte sich bereit, selbst den<br />
stärksten und besten Kämpfer des ganzen Landes zu besiegen.<br />
Seine Augen suchten die seines Gegners, während er sich<br />
blutverschmiert ein weiteres Mal erhob. Selbstsicherheit stand im<br />
Blick des anderen, aber auch Überheblichkeit. Das war Ismachels<br />
Chance.<br />
Er hob Schild und Schwert auf, täuschte einen Schlag auf den rechten<br />
Oberschenkel an und schlug ihm den Schild ins Gesicht. Überrascht<br />
wagte es der andere nicht sich zu bewegen. Die Antwort bekam er<br />
ohne zögern, fünfmal traf das Holz den Rumpf und ein Tritt galt<br />
seinen Beinen. Ächzend ging der massige Körper zu Boden.<br />
Ismachel stieß einen Schrei aus und ließ das Schwert bis auf eine<br />
Daumenlänge auf den Gegner herniedersausen. Die Menge grölte<br />
und war kaum zu halten, sie nahmen den neuen Helden auf ihre<br />
Schultern und trugen ihn fort, fort in ein besseres Leben.<br />
14
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Es dauerte keine drei Jahre, bis Ismachel die harte Ausbildung zum<br />
Soldaten des Königs abzuschließen. Sein Traum war in Erfüllung<br />
gegangen.<br />
Er kämpfte von nun an für den gütigen und gerechten Herrscher des<br />
Landes und insgeheim für seine Eltern, an deren Rückkehr er noch<br />
immer glaubte. Sie waren sein Schlüssel zur Freiheit, sein Wille<br />
weiterzuleben.<br />
15
Dumm gelaufen!<br />
Karolin Brinker, Jgst. 10<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Es war einmal ein wunderschöner, sonniger Tag und der Prinz war<br />
in absoluter Hektik. Er war von wichtigen Beratern seines baldigen<br />
Königreiches aufgehalten worden, da das Drachenungeziefer erneut<br />
die östliche Grenze terrorisiert hatte. Und so ritt er nun umso<br />
schneller auf seinem schicken Drahtesel hinaus, zu dem weit im<br />
Landesinneren gelegenen, im ganzen Land bekannten Hofgestüt<br />
Königswirt. Laut klapperten die Schutzbleche auf der holprigen<br />
Strecke und das silberne Fell erhitzte sich unter den intensiven<br />
Strahlen der Sonne. Doch endlich am Gestüt angekommen und<br />
schwer atmend, musste der Prinz feststellen, dass die mächtigen, mit<br />
großen Silbernägeln beschlagenen Tore verschlossen waren. In seiner<br />
Eile hatte er jedoch die Schlüssel für diesen prachtvollen Eingang<br />
verlegt und so stand er nun verschwitzt in der Hitze, mitten im<br />
Nirgendwo seines großen Reiches und kam nicht zu seinem edlen<br />
Ross um die Prinzessin des Nachbardorfes zu retten.<br />
Aufgelöst schickte er einen elektronischen Kurzboten auf den Weg,<br />
dies geschah mithilfe seines königlichen Smartphones, welches einen<br />
angebissenen goldenen Apfel zierte. Er berichtete der Königin, von<br />
seiner misslichen Lage. Die hatte es natürlich nicht eilig die Tore<br />
öffnen zu lassen, doch als sie sich dann tatsächlich auch einmal dazu<br />
herabgelassen hatte, meldete sie sich sofort über die zauberhafte<br />
Sprechmuschel bei dem Prinzen. Sie hatte gerade erfahren, dass die<br />
Prinzessin schon vom Drachen verschlungen worden war und nun<br />
eben hops war. Augenblicklich stürzte der Prinz in tiefste<br />
Depressionen, wegen dem Verlust seines zukünftigen Weibes, als<br />
16
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
eine Hexe auf ihrem Besen vor ihm landete. Sie stieg von selbigem ab<br />
und schwang mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht ihr<br />
magisches Stöckchen, woraufhin die Tore sofort zu beiden<br />
Richtungen aufsprangen. So gelang es dem Prinzen zwar nicht, seine<br />
geliebte Maid aus den schäbigen Klauen eines Ungeheuers zu<br />
befreien, doch er konnte seinen Kummer bei einem galoppreichen<br />
Ausritt mit seinem prachtvollen Reittier durch die Wälder<br />
besänftigen.<br />
Und was lernen wir aus dieser Geschichte?<br />
Richtig Prinzessinnen können nicht auf sich selbst aufpassen,<br />
Schlüssel sollte man lieber nicht vergessen und Hexen können mit<br />
ihren magischen Kräften echt eine große Hilfe sein.<br />
17
Flammend frei<br />
Anonym, Jgst. 10<br />
Prolog<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Die enge Gasse war verlassen, der nasse Boden durchzogen von<br />
nachhallenden Schritten.<br />
Zeit. Hatte ich noch genug Zeit?<br />
Ich fuhr mir durch meine feuerroten Haare unter der tiefsitzenden<br />
schwarzen Kapuze: vollkommen zottelig und kraus. Ein<br />
Regentropfen von der überschwappenden Regenrinne durchschnitt<br />
die Stille und klatschte in die trübe Pfütze neben mir. Schaudernd<br />
starrte ich weiter in die Dunkelheit und atmete langsam: ein und aus.<br />
Noch war ich frei flatternd und sicher, noch.<br />
Er. Würde mein Streuner noch kommen, mit dem gezackten<br />
Schlüssel in der Hand?<br />
Die Zeit flog dahin, flog an mir vorbei; beachtete mich keines Blickes,<br />
die Bosheit entzweit.<br />
Meine Hände zitterten leer, aber ich verbot mir zu denken. Damals<br />
war so vieles besser.<br />
Wieso. Wieso handelte er nicht wenigstens aus Verstand?<br />
Nein, ich verbot mir meine Gedanken weiter zu formen.<br />
Eine einsame Rotrückenspinne krabbelte neben meinem Fuß. Ich<br />
18
zertrat sie wie Dornen.<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Ich verhalte mich verhalten mit meinem weit geöffneten Herzen,<br />
wegen dir und deinem Schlüssel.<br />
Stimmen, überall.<br />
Ich versuchte mir meine Ohren zuzuhalten. Ich wollte sie nicht<br />
hören, ich wollte nicht wahr haben, dass es zu spät sein könnte. Die<br />
verlockend verschlossene Tür in meinem wunden Rücken schmerzte<br />
bei der Kälte und ihrer grausamen Härte, doch das machte mir nichts<br />
aus. Immer noch stand ich still, auch wenn die eisigen Mauern der<br />
Häuser ihre Stimmen zurück schmetterten.<br />
Schmetterlinge. Wieso gönnte mir dieser Ort keine bunten Paradies<br />
Vogelschwingenfalter?<br />
Schmetterlinge. Redeten wir hier noch von lebendigen<br />
Schmetterlingen?<br />
Meine Magengrube zog sich wissend zusammen, fühlte sich<br />
verlassen und verraten.<br />
Ihre Schritte kamen immer näher und näher, zogen mich weg von<br />
der Tür mit dem fehlenden, gezackten Schlüssel.<br />
Hoffnung, nirgends.<br />
Ich konnte beinahe ihre Gesichter in der Dunkelheit ausfindig<br />
machen, wie sie grinsend meine Dummheit verhöhnten, beinahe.<br />
Zeit: es war zu spät.<br />
Er: er fiel auf durch seine Passivität.<br />
Schmetterlinge: selbst sie verwiesen auf meine Naivität.<br />
19
Wieso? Weil ich ich war.<br />
Flammend frei.<br />
Verrat.<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
So fühlte sich Verrat also an: Ein tiefes Loch in meinem Rücken, das<br />
brannte und aus dem rotflüssig geronnenes Blut quoll. Die Konturen<br />
einer breiten, fest verschlossenen Tür auf ewig in meinem Fleisch<br />
gebrannt.<br />
Ich keuchte.<br />
Der härteste Kampf war zwischen dem, was ich wusste und dem,<br />
was ich fühlte. Doch was wusste ich schon? Vielleicht hatte er mich<br />
gar nicht verraten, sondern es gab eine logische Erklärung, vielleicht.<br />
Wollte er nicht immer ein weiser Wissenschaftler werden?<br />
Ich atmete aus.<br />
Er würde mich retten, er war besonders.<br />
Würde mein Streuner noch kommen mit dem gezackten Schlüssel<br />
in der Hand?<br />
Ich wusste, dass meine tiefen und zuversichtlichen Gefühle für ihn<br />
mich jedoch jederzeit wieder an dieses eiskalte, erdrückende<br />
Stahlbett ketten würden, wo sie das Eisen brutal als Mittel benutzt<br />
hatten, Informationen aus mir heraus zu locken. Ich konnte noch<br />
förmlich die Hitze des Stabes spüren, wie sie meine Haut weggeätzt<br />
hatte. Den Geruch von den dabei aufsteigenden zischenden<br />
Dampfwaben, wie mit ihnen jedes Mal ein klein bisschen meiner<br />
Hoffnung, an die ich mich zu klammern versuchte, abstarb.<br />
Meine Magengrube zog sich wissend zusammen, fühlte sich<br />
verraten und verlassen.<br />
Hoffnung, es fühlte sich an wie eine Rose, deren Dornen meine<br />
Finger bluten ließen, aber dessen Schönheit mir jedes Mal ein<br />
20
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Lächeln auf die Lippen zauberte, dessen Geruch mich an eine<br />
goldenen Zukunft und an das Glück des Lebens erinnern ließ. Viel<br />
zu kostbar, um sie zertrampeln und qualvoll verwelken zu lassen.<br />
Kein einziger Ton war mir in der gesamten, nicht enden wollenden<br />
Zeit über die Lippen gekommen, kein Schrei, kein Gestammel, kein<br />
Wort.<br />
Würden wir uns reimen, wenn man seinen Namen rückwärts liest?<br />
Wütend saß ich auf dem nassen Kerkerboden.<br />
Wieso. Wieso handelte er nicht wenigstens aus Verstand?<br />
Ich war eine Kämpferin, keine Gejagte. Sie hatten mich zertreten, wie<br />
sie meine Mutter zertreten hatten, mit ihren verdreckten Stiefeln,<br />
ohne eine Miene zu verziehen und Schmerzen liebend. Irgendwann<br />
hatten sie angefangen Blut zu lecken und fortan wie gebannt immer<br />
qualvoller Menschen für ihre Zwecke zu foltern und zu ermorden,<br />
sie waren zu weit gegangen, damals schon. In der Hoffnung die<br />
Oberhand über die entzweite Gesellschaft zu gewinnen. Ihr kalter,<br />
rasselnder Atem von schon längst verstorbenen Seelen vergötterte<br />
zudem das Feuer. Doch vor Wut glühendes Feuer konnte beißen,<br />
wenn man es nicht mit Samthandschuhen behandelte, zärtlich und<br />
bedacht.<br />
Meine Haare flatterten erzürnt, hüllten mich in einen lodernden<br />
Schleier. Die Kerkertür knarzte auf und ein leichter Windstoß drang<br />
in die sonst dunklen Zelle. Meine Augen wurden überrumpelt von<br />
dem aufflackernden Licht der Fackel in der Hand des<br />
breitschultrigen Mannes. Eine rote Narbe quer über seiner linken<br />
Wange leuchtete noch frisch.<br />
Ich grinste genüsslich.<br />
Auch wenn dieser nie lächelnde Mann mir Höllenqualen zu bereitet<br />
21
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
hatte, hatten meine Haare und ich uns gerächt, denn das Feuer war<br />
nicht nur ihr Gegner und mein Verbündeter, sondern ich war das<br />
Feuer: glühend heiß und unantastbar. Rache war süß. Schon immer<br />
hatten sie mich haben wollen, als Mittel zum Zweck für ihre Kriege.<br />
Eine geheime Waffe, die durch ihre schöne Fassade totbringend sein<br />
konnte. Aber ich wollte nie gefangen sein in einem verrosteten Käfig,<br />
dessen Tür für mich nie wieder zu dem Weg in die Freiheit führen<br />
würde.<br />
„Ignis“, zischte der Mann mit seiner gespaltenen Zunge - ein<br />
Merkmal des Königs zahlreicher Sklaven. Aus seinem Mund hörte<br />
sich mein Name an wie ein Fluch oder Schimpfwort.<br />
Würden wir uns reimen, wenn man meinen Namen rückwärts liest?<br />
„Der König will dich sehen“ und sofort spürte ich das raue Seil an<br />
meinem wunden Handgelenk. Vor Leid verzog ich mein Gesicht,<br />
ganz kurz nur und doch lang genug, dass dieser machtgierige Mann<br />
es bemerkte und zum ersten Mal sein teuflisch vereitertes Lächeln<br />
zeigte. Es brannte. Der Handlager mit der gespaltenen Persönlichkeit<br />
zog mich an dem Seil wie ein Tier hinter sich her, aus der Zelle, den<br />
Gang entlang und eine glitschige Treppe hinauf bis in das brennende<br />
Tageslicht. Bei der Helligkeit kniff ich meine grünen Augen zu.<br />
Erstaunt öffnete ich bei dem Anblick des Anwesens der neuen<br />
Regierung meine Lider schleunigst wieder. Das weiße Gebäude der<br />
Regierung erstreckte sich weiter, als ich gegen das helle Licht in der<br />
Lage war zu blinzeln und verschwand in den Weiten des<br />
Nadelwaldes um uns herum. Die Türme ragten in den strahlend<br />
blauen Himmel wie spitze Pfeile. Überall waren satte Farben. Bunte<br />
Blumen, die ich nicht kannte und die mich in ihrer Eleganz<br />
ehrfürchtig stimmten. Der grüne, volle und gesunde Rasen unter<br />
22
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
meinen nackten Füßen fühlte sich himmlisch an, weich und sanft.<br />
Schmetterlinge. Wieso gönnte mir dieser Ort keine bunten<br />
Paradies Vogelschwingenfalter?<br />
Der Mann schleppte mich zu einem der äußeren Türme. Die enge<br />
Wendeltreppe schien endlos ihren Weg nach oben zu finden, war<br />
verlassen, der nasse Boden durchzogen von nachhallenden<br />
Schritten.<br />
Bei einer goldverzierten Tür mit marmornen Griff angekommen,<br />
zwinkerte er mir ein „Viel Spaß, Süße“ mit seiner gehässigen, tiefen<br />
Stimme zu und öffnete die Schwingtür.<br />
„Wie ihr gewünscht habt, Meister. Ignis Diamande.“ Sein Ton war<br />
förmlich, fast schon zutiefst ergeben wie ein Lamm einem Löwen<br />
wahllos ausgeliefert war.<br />
„Danke. Du kannst gehen“, erklang es eiskalt hinter einem hohen<br />
roten Lehnsessel hervor. Eine Gänsehaut überzog meinen Nacken bei<br />
diesen Worten. Der Sessel drehte sich und ich blickte in ein faltiges<br />
Gesicht eines Mannes mit weißen langen Haaren und nur einem<br />
Auge. Die andere Augenhöhle starrte mir leer entgegen. Der<br />
Handlange verneigte sich tief vor diesem gebrechlich wirkenden<br />
Mann und schloss dann die schwere Pforte hinter sich.<br />
Ich verhalte mich verhalten, wegen dir und deinem Schlüssel.<br />
Würde mein Streuner mich befreien aus den Klauen dieses<br />
seelenlosen Mannes?<br />
Eine Zeitlang musterte mich der Mann gründlich von Kopf bis Fuß<br />
bis sich schließlich ein versteinertes Lächeln auf seinen Lippen<br />
kräuselte. Die Gänsehaut lief mir vom Nacken, weiter über den<br />
Rücken die Arme hinab. Sein Lächeln war tot. Dieser Mann war tot.<br />
Er öffnete den Mund und sprach, langsam diesmal: „ Ich hatte mich<br />
23
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
dich anderes vorgestellt, größer, muskulöser und arroganter. Ignis,<br />
bitte setze dich doch zu mir an den Tisch. Ich wollte gerade zu<br />
Abend essen.“ Seine Worte klangen höflich und waren mit Bedacht<br />
gewählt, aber etwas Bedrohliches schwang in ihnen mit. Er zog einen<br />
Stuhl neben ihm nach hinten als Aufforderung. Ich verstand und<br />
setzte mich wenige Zentimeter neben sich an den langen Tisch. Sein<br />
Geruch nach toten Tieren überlagerte selbst den Geruch der<br />
vielfältigen Speisen.<br />
„Wofür wollen sie mich benutzten?“ fragte ich den Mann, dessen<br />
Lächeln sich daraufhin in die Breite zog. Das höfliche Vorgeplänkel<br />
fand jäh ein Ende.<br />
„Du wirst meine Waffe. Die geheime Waffe der neuen,<br />
unbesiegbaren Regierung, die überall Angst und Schrecken<br />
verbreitet.“<br />
Nicht überrascht blickte ich weiterhin in sein eines Auge. Seine<br />
Augenfarbe war von einem wässrigen grau und eine Art Schleim<br />
schien die Iris zu überziehen. Er griff in eine braune Schale zu seiner<br />
Linken und zog eine grüne Babynatter heraus. Sie zischte gefährlich.<br />
Unbekümmert biss er den Kopf mit einem Schlag ab. „Frisch sind sie<br />
am leckersten“, sagte der alte Mann und kaute lange knirschend wie<br />
auf einer zähen Rentiersehne, „Hast du schon einmal ein Gehirn<br />
probiert? Nun, an deiner Stelle würde ich es testen. Es ist saftig, ein<br />
wenig wie Hackfleisch nehme ich an und die Zunge der Schlange ist<br />
ein einziger Muskel, straff und durch ihr jämmerliches Gift feurig<br />
würzig. Ein wirklich fantastisches Geschmackserlebnis. Der Körper<br />
der Schlange schmeckt darüber hinaus immer unterschiedlich in<br />
ihrer Intensität und in ihrem Geschmack. Wenn die Schlange zum<br />
Bespiel eine kleine Maus zuvor gegessen hat, schmeckt sie danach,<br />
24
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
knackig und mild. Aber hat sie eine Heuschrecke gekostet, ist die<br />
Schlange von einem angenehmen Rostaroma und knuspert im<br />
Mund.“<br />
Ich verstand nun, wieso er nach totem Tier stank und jede Pore<br />
seines Körpers strömte Grausamkeit, Machtgier und Brutalität aus.<br />
Mein Gehirn wurde eiskalt. Was würde er mit mir anstellen? Und als<br />
wäre er im Stande meine Gedanken zu lesen, meinte er zwischen<br />
zwei Bissen: „Tötest du gerne?“ Das weiße Kaninchenjunge in seinen<br />
Klauen zuckte nur noch apathisch.<br />
Diesmal schüttelte ich den Kopf, bedacht und kontrolliert.<br />
„Schade, wirklich schade“, murmelte er röchelnd und entblößte<br />
schwarz verfaulte Stummel anstelle von Zähnen, „du wirst es wohl<br />
zu lieben lernen.“<br />
Plötzlich knallte die verzierte, verschlossene Tür hinter meinen<br />
Rücken laut auf. Die Uhr tickte und mit ihr im Takt mein Herz,<br />
unaufhörlich leise und gleichmäßig.<br />
Stimmen, überall. Ich versuchte mir meine Ohren zuzuhalten. Ich<br />
wollte sie nicht hören, ich wollte nicht wahr haben, dass es zu spät<br />
sein könnte. Die verlockend verschlossene Tür in meinem wunden<br />
Rücken schmerzte bei der Kälte und ihrer grausamen Härte, doch<br />
das machte mir nichts aus.<br />
Ich schnellte herum und erblickte einen männlichen Schemen in der<br />
Tür stehen. Er war aschblond wie ein Streuner und hatte<br />
verschlossene braune Augen. Er! Mein Schlüssel zum Glück! Mein<br />
Streuner. Er hatte mich doch nicht verraten, wie auch. In seiner Hand<br />
hielt er Pfeil und Bogen. Die Zeit war gekommen.<br />
Ich fuhr mir durch meine feuerroten Haare unter der tiefsitzenden,<br />
schwarzen Kapuze: vollkommen zottelig und kraus.<br />
25
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Der Kampf rief, nach Freiheit sehnend. Die Flammen züngelten um<br />
meinen Körper, orange-rot mit blauem Kegel. Die Augen des alten<br />
Mannes reflektierten fasziniert das rote Licht der Feuerzungen. Ich<br />
formte in meiner Hand einen Feuerball wie die Schneebälle im<br />
Winter und schleuderte ihn auf die grausame Gestalt vor mir mit den<br />
Nattern auf seinem Teller. In dem gleichen Augenblick durchzuckte<br />
mich ein klaffender Schmerz in meinem Oberschenkel. Ich blickte<br />
hinab auf den Pfeil in meinem Fleisch und das Blut, das gleichmäßig<br />
anfing auf den Boden zu plätschern, eine schmerzhafte Melodie<br />
singend.<br />
Würden wir harmonieren, wenn man unsere Namen spielte?<br />
Würde ich wohl den Winter dieses Jahr noch erleben können?<br />
Fassungslos richteten sich meine Augen auf den Bogen in der Hand<br />
meines Streuners.<br />
Ich konnte beinahe ihre Gesichter in der Dunkelheit ausfindig<br />
machen, wie sie grinsend meine Dummheit verhöhnten, beinahe.<br />
Natürlich, schon immer hatte er nur dem Oberhaupt, seinem Herrn,<br />
gedient.<br />
Schmetterlinge: Selbst sie verwiesen auf meine Naivität.<br />
Wieso musste ich das erst jetzt verstehen? Liebe machte blind,<br />
erschuf Welten, die es wohl nie gegeben hatte. Nur ein lautes Wort<br />
wäre ein gutes Wort, hatte er mir gesagt. Verdient hatte ich scheinbar<br />
nicht, dass Gefühl, wenn er sprach. Reden ist Silber, Schweigen ist<br />
Gold.<br />
Das Bild, wie dieser aschblonde Streuner, den Pfeil auf mich richtete,<br />
erweckte eine Erinnerung in mir von einem anderen Leben, von<br />
damals.<br />
Damals. Ich schluckte schwer. Damals war so vieles besser.<br />
26
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Noch ein Pfeil traf diesmal mein Rückgrat. Die Erinnerung an ein<br />
Mädchen, elfengleich, mit einer Axt in dem zierlichen Rücken ließ<br />
mich wutentbrannt das Feuer ungestüm durch die klare Luft<br />
peitschen. Und ich rannte, rannte um mein Leben.<br />
Meine Hände zitterten nicht länger leer.<br />
Ein gezackter Schlüssel umklammerten meine Finger fest und ich<br />
ließ den Streuner verdutzt hinter mich. Ich brauchte ihn nicht länger.<br />
Meine langen Beine machten einen Satz vorwärts, während mir<br />
dumpfe Schritte die Treppe hinunter und in Richtung der verlockend<br />
verschlossenen Tür folgten. Urplötzlich hörte ich ein lautes Bellen<br />
hinter mir. Riesige Hunde, nein Wölfe, bahnten ihren Weg auf mich<br />
zu, die dolchartigen Zähne gebleckt, die messerscharfen Klauen tiefe<br />
Spuren in dem erdigen Boden hinterlassend. Meine Beine<br />
verdoppelten das Tempo bis der Boden unter mir kaum noch zu<br />
erkennen war. Äste gruben sich in meine nackte Fußsohle, aber das<br />
nahm ich kaum noch war. Konnte ich überleben?<br />
Noch ein Pfeil traf mich knapp neben der Wirbelsäule. Mein<br />
Rückgrat bäumte sich wieder auf und ich keuchte. Keuchte wie<br />
damals nach Luft. Die Dämmerung um mich herum verschwamm<br />
bei der Szenerie, die sich in meinem Kopf nicht länger unterdrücken<br />
ließ, aufflammte:<br />
„Hör auf Lil, bitte hör auf,“ flehte ich meine kleine Schwester keuchend<br />
zwischen zwei Atemzügen nach Luft ringend an.<br />
Lil kicherte ungehalten: „Ignis, ich hab die unheimlich lieb, weißt du das?“<br />
„Ich hab dich auch lieb,“ murmelte ich verlegen, „sehr sogar, meine tapfere<br />
Elfe.“ Lil strahlte und kuschelte sich an mich. Mit all den Jahren sah sie<br />
noch immer aus wie eine bildschöne Elfe mit ihrer weißen Haut, ihren<br />
dunkelroten Haaren, den klaren, blauen Augen und ihrer sehr zierlichen<br />
Statur. Sie war die schönere von uns beiden; keine Sorge entstellte ihr<br />
27
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
liebliches Gesicht. Doch ich wusste, welcher Tag heute war: meine Mutter<br />
blickte diesem Tag schon des Längeren mit Trauer und Angst entgegen.<br />
Zeit. Hatten wir noch genug Zeit?<br />
„Kinder, nehmt nur das Wichtigste mit. Wir werden zusammen auf einem<br />
Pferd reiten. Es wird kein Platz geben.“<br />
Wir nickten und ich hoffte, dass Lil nicht verstanden hatte, dass wir zu<br />
dritt, ohne Vater, das Weite und ein Leben außerhalb dieses trockenen<br />
Landes suchen würden. Lil liebte unseren Vater abgöttisch, sie verehrte ihn<br />
regelrecht. Von ihm hatte sie ihre meerblauen Augen und die Gabe immer<br />
zerzaustes Haar zu haben. In meiner Hand hielt ich eine schwere<br />
Miesmuschel. Papa hatte sie mir vor ein paar Jahren von einem pudrigen<br />
Strand mit türkisenem Meerwasser mitgebracht. In der Muschel sei das<br />
Rauschen des Meeres eingeschlossen, ein Geräusch von Freiheit, hatte er<br />
mit gesagt. Jedes Mal, wenn ich nun das Meeresrauschen hören würde,<br />
sollte ich an ihn denken, daran, dass er auf mich aufpassen und stets bei mir<br />
sein würde, selbst, wenn ich ihn mit trügerischen Augen nicht sehen<br />
könnte.<br />
Ich schluckte schwer. Er wird mir fehlen.<br />
Mein Blick schweifte zu Lils leeren Händen. „Nimmst du nichts mit auf<br />
unserer Reise?“<br />
„Nein“, antwortete sie mir selbstbewusst, „ich wüsste nicht, was ich<br />
mitnehmen sollte. Solange du, Mama und Papa bei mir seid, habe ich alles,<br />
was ich brauche. Keine Puppe, kein weiches Kissen kann meine Familie<br />
ersetzen.“<br />
Ich schaute meine Mutter in das vor Kummer gezeichnete Gesicht. Wann<br />
würde sie es Lil sagen? Der Kloß in meinem Hals wurde größer.<br />
Ein hoher Schrei von draußen durchschnitt die Stille wie ein Donnerschlag<br />
und gleich darauf folgten panische, laute Stimmten von Frauen, Kindern<br />
und Männern. Alle bettelten um ihr Leben und weinten um verlorene<br />
28
Seelen.<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Die Zeit flog dahin, flog an mir vorbei; beachtete mich keines<br />
Blickes, die Bosheit entzweit.<br />
Sie waren gekommen.<br />
Zeit: es war zu spät.<br />
„Rennt! Rennt schnell weg!“, befahl unser Vater barsch und packte sich ein<br />
scharfes Küchenmesser. Ich nahm Lil, deren Augen vor Schreck weit<br />
aufgerissen auf das Messer in Vaters Hand ruhten, an die gebrechliche<br />
Hand. Wir stolperten aus der Tür direkt in das Chaos und den Untergang<br />
der Stadt hinein. Häuser brannten, Frauen lagen tot auf den Wegen und<br />
Männer versuchten den Rest ihrer Familien zu beschützen, vergeblich. Die<br />
Handlanger der neuen Regierung waren bis auf die vereiterten Zähne mit<br />
Waffen besetzt. Ein Lächeln breitete sich auf dem grotesken Gesicht eines<br />
nahen Soldaten aus und sein Messer schnitt durch den Hals des kleinen<br />
Mädchens mit den beiden blonden, geflochtenen Zöpfen wie durch Butter.<br />
Dieses Mädchen hatte und früher immer die Mild gebracht gehabt, jetzt<br />
nicht mehr. Knochen barsten unter bloßen Händen und der Mann<br />
schnupperte genüsslich an der Wange des nächsten Kindes und seine<br />
gespaltene Zunge schnellte freudig hervor. Welch junges, saftiges und<br />
frisches Fleisch. Aus deinem Hosenbund zückte er ein kurzes Messer hervor<br />
und setzte es an die Haut des Jungen. Der Junge schloss die Augen und er<br />
wusste, dass sein Ende nahte. Ganz langsam und qualvoll zog er das Messer<br />
über das Fleisch an seinen Pustewangen, kratzte jede Hautschicht einzeln<br />
ab. Wie eine Made wand sich der pummelige Junge unter seinen Schnitten.<br />
„Lerne Respekt und Hochachtung vor der neuen Regierung,“ zischte die<br />
bedrohliche Stimme des Mannes in das Ohr des Jungen und sein Atem<br />
stank nach verrottetem Fleisch und vergammelten Eiern. Mit einem<br />
knackenden Ruck beendete der Mann sekundenschnell die Qual des Jungen,<br />
nahm ihm die Möglichkeit seine Kindheit zu erleben.<br />
29
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Pfeile sausten durch die brennend heiße Luft. Reflexartig zog ich den Kopf<br />
ein, als könnte das irgendetwas nutzen.<br />
Hoffnung, nirgends.<br />
Lil und ich liefen den kräftigen Schritten hinter unserer Mutter her.<br />
„Mama, wo ist Papa?“ fragte Lil sie vor Luft keuchend und ihre zierlichen<br />
Hände pressten gegen ihre Rippen in dem Versuch ihre Seitenstiche zu<br />
unterdrücken. Unsere Mutter antwortete ihr nicht, lief nur weiter und<br />
weiter und ein Schluchzen entkam ihren starr aufeinander gepressten<br />
Lippen.<br />
„Wo ist Papa?“ schrie Lil meine Mutter nun voller Angst an. Ihre kleinen<br />
Schritte hielten an, drehten sich um und rannten zurück.<br />
„Lil, nein!“ brüllte meine Mutter ihr nach. Auch sie war stehen geblieben<br />
und folgte Lil panisch. Ich blieb, wo ich war. Es kam mir vor als sähe ich die<br />
Szenerie in Zeitlupe: Lil erblickte unseren Vater, der mit dem<br />
Küchenmesser um sich wirbelte und seine Angreifer besiegte wie ein<br />
unaufhaltsamer Tornado. Die Ruhe vor dem Sturm war vorüber und nicht<br />
blieb mir als die grausame Härte und Käte der Katastrophe. Lils Augen<br />
funkelten voller Freude und sie wollte sich ihm in die ausgestreckten Arme<br />
fallen lassen, aber eine Axt von dem kinderliebenden Handlanger bohrte<br />
sich in ihr zierliches Rückgrat mit voller Wucht. Augenblicklich verließ sie<br />
das Leben, immer noch mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen wie<br />
eine kleine Elfe, wie meine kleine Elfe. Meine Mutter schrie und schrie. Eine<br />
Seele weniger, die die Welt hätte verbessern können; eine Seele weniger, die<br />
die schönsten Schmetterlinge in mein Leben gebracht hatte.<br />
Schmetterlinge. Redeten wir noch von lebendigen<br />
Schmetterlingen?<br />
Noch nie in meinem Leben hatte ich jemanden so hilflos und<br />
schmerzverzerrt Schreien hören. Es war als würde jemand die Eingeweide<br />
in meiner Mutter in zischenden Flammen stecken, die nur ganz langsam<br />
30
und qualvoll an ihrem Blut leckten.<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Sie warf sich hemmungslos weinend über Lils Leichnam: „Nein, Lil, nein!<br />
Du kannst nicht tot sein! Du darfst nicht tot sein. Ich brauche dich doch,<br />
ich liebe dich doch.“ Ihre Stimme versagte unter verzweifelten Tränen, die<br />
auf Lils Gesicht hinunter prasselten wie ein dichter Wasserfall. Diese<br />
nassen Krieger der Einsamkeit würden sie nicht verlassen bis zum bitteren<br />
Ende. Mama nahm sie in den Arm, wiegte sich vor und zurück, immer<br />
wieder in schrecklicher Trance. Hätte die Axt nicht gewaltig aus Lils<br />
Rückgrat herausgeragt, hätte ich gedacht, sie würde die schöne Elfe in einen<br />
traumlosen Schlaf wiegen. In einen Schlaf, der von heute an nie enden<br />
würde. Meine Mutter nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr und schien in<br />
ihrer eigenen Qual gefangen zu sein. Und ich, ich stand immer noch<br />
still, auch wenn die Mauern der abbrennenden Häuser die<br />
Stimmen der Opfer zurück schmetterten, obwohl ich den aschblonden<br />
Schützen erblickte, wie er seinen Pfeil auf meine Mutter zielte und abschoss.<br />
Kein einziger Ton kam über meine Lippen in den nicht enden wollenden<br />
Sekunden, kein Wort, kein Gestammel, kein Warnschrei. Der Pfeil traf<br />
meine Mutter gut platziert in ihr verletztes Herz, das schon längst durch<br />
Lils Tod in Einzelteilen zerrissen war. Mein Vater starrte ungläubig auf<br />
seine beiden am meist geliebten Menschen auf dem blutverschmierten<br />
Boden. Wie konnte einem in einem einzigen Moment sein gesamtes Glück<br />
entrissen und an seiner Stelle stattdessen nur Leid zurückgelassen werden?<br />
Eine einsame Träne versuchte meine Bewegungsunfähigkeit zu<br />
durchbrechen. Sie fühlte sich kalt und fremd an auf meiner erhitzten Haut,<br />
als würde sie nicht zu mir gehören.<br />
Der Blick meines Vaters traf den meinen: „Lauf“, formte sein Mund tonlos<br />
und er stürzte sich hilflos in den Kampf zweier Männer neben ihm. Der<br />
Messerstoß dem eigentlich dem Verteidiger gegolten hatte, traf meinem<br />
Vater in den Oberarm. Verzweifelt schaute er mir noch einmal in die Augen<br />
31
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
und seine Lippen übermittelten das Wort „bitte“.<br />
Ich rannte, rannte weg von dem Unheil, hoffend, dass mit jeder<br />
zurückgelegten Meile ein Stück meines Schmerzes verschwinden würde,<br />
aber dem war nicht so. Mit jeder Meile realisierte ich mehr und mehr den<br />
Verlust geliebter Personen.<br />
Nein, ich verbot mit meine Gedanken weiter zu formen. Eine<br />
einsame Rotrückenspinne krabbelte neben meinem Fuß. Ich<br />
zertrat sie wie Dornen.<br />
Auf der trockenen Wüstenerde brach ich zusammen, Schluchzer ließen<br />
meinen Körper beben und der Sandsturm, der sich anbahnte, ließ meine<br />
Kleider um meinen zitternden Körper flattern.<br />
Noch war ich frei flatternd und sich, noch.<br />
Die Hitze der Wüste trocknete meinen Hals aus und meine Lippen<br />
sprangen auf. In der Ferne heulten Wölfe auf.<br />
Ein Wolf packte ein Stück meines schwarzen Pullovers und riss nur<br />
einen Fetzen heraus, riss mich aus der schmerzenden Erinnerung.<br />
Wütend setzte die Kreatur zu einem neuerlichen Biss an.<br />
Ein Regentropfen von der überschwappenden Regenrinne<br />
durchschnitt die Stille und klatschte in die trübe Pfütze neben mir.<br />
Schaudernd starrte ich weiter in die Dunkelheit und atmete<br />
langsam: ein und aus.<br />
Bald war ich da. Die Tür mit dem fehlenden Schlüssel war zum<br />
Greifen nah. Doch diesmal hatte der Wolf nicht ins Leere gebissen.<br />
Qualvoll drehte ich mich um und trat mit voller Wucht gegen das<br />
Gesicht des Tieres immer wieder, immer kräftiger. Ich ignorierte die<br />
Zähne, die sich wie Stecknadeln in meine Ferse bohrten. Meine<br />
Finger drückten die Augen des Tieres ein und die glitschigen Äpfel<br />
gaben unter meinem Druck nach und verschwanden in den<br />
Augenhöhlen. Blind rannte das Monstrum gegen die Wand eines<br />
32
nahliegenden Hauses.<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Ihre Schritte kamen immer näher und näher, zogen mich weg von<br />
der Tür mit dem fehlenden, gezackten Schlüssel.<br />
Hastig steckte ich den Schlüssel in die verschlossene Tür und ein<br />
leiser Klick ertönte, als ich sie aufdrückte. Wärme übermannte<br />
meinen Körper und ich verschloss die Tür hinter mir.<br />
Er: er fiel auf durch seine Passivität.<br />
Ich war alleine. Erleichtert atmete ich aus und blickte in den Himmel.<br />
Die Sterne riefen nach mir.<br />
Wieso? Weil ich, ich war.<br />
Das Rauschen des Meeres ließ mein Herz freudig schlagen. Ich<br />
lächelte erwartungsvoll.<br />
Wenn auch nicht lange, aber für den Moment war ich<br />
flammend frei.<br />
33
Die Himmelstürmer<br />
Henrike Barenbrock, Jgst. 10<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Während ich meinen für meine kurzen Beine viel zu schnellen Schritt<br />
zu beschleunigen versuchte und dabei gleichzeitig auf meine neue<br />
Breitling-Uhr gucken wollte, stolperte ich gefährlich. Doch der<br />
weiche Hintern einer kräftigen Frau vor mir verhinderte noch so<br />
gerade einen Sturz, der mir allerdings keinen tödlichen Blick<br />
eingefangen hätte. Ein Grinsen stahl sich auf meine Lippen. Upps,<br />
noch einmal von einem Blick ermordet worden, dachte ich bei dem<br />
Wut verzerrten Antlitz der Frau. Normalerweise freute ich mich<br />
immer, wenn ich auf meine von meinem neuen Freund gesponserte<br />
Uhr schaute. Sie gefiel mir immer und immer wieder.<br />
Doch die Zeiger verrieten mir, dass es kurz nach fünf war. Als<br />
Chefin hätte ich spätestens vor einer halben Stunde da sein müssen.<br />
Ich hatte alle frischen Lebensmittel, die Reservierungen und vor<br />
allem die Anweisungen. Da fiel mir plötzlich auf, wie viele<br />
Menschen hier gerade eigentlich herumgeisterten, aber das war<br />
eigentlich typisch für ein Osterwochenende.<br />
Ich lebe seit meiner Geburt auf Borkum. Das Himmelsstürmer gehörte<br />
früher meinen Eltern und ich habe es jetzt übernommen. Auf<br />
Borkum ist es ungewöhnlich, dass sich am Ostersonntag viele<br />
Menschen nachmittags um siebzehn Uhr auf den Straßen tummeln.<br />
Wieder stolperte ich über meine eigenen Füße. Ich stellte mir meine<br />
wütenden Angestellten vor, die wie immer, im Gegensatz zu mir,<br />
pünktlich arbeitsbereit waren. Vom Prinzip her müsste ich mich<br />
eigentlich selber feuern. Bei dem Gedanken begann ich zu glucksen,<br />
was meinem angestrengten, unregelmäßigen Atem überhaupt nicht<br />
34
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
gefiel. Du musst dich jetzt mal zusammenreißen, Madame Bergert!<br />
Deine armen Mitarbeiter springen gerade im Dreieck, weil sie<br />
überfordert sind, wenn sie keine Anweisungen bekommen. Du bist<br />
ganz schön gemein!, ermahnte ich mich selber. Vor lauter<br />
Erschöpfung zog ich meine Schultern verkrampft nach oben. Gerade<br />
als ich anfing zu hyperventilieren, sah ich mein Restaurant. Die<br />
Fenster müssten wieder geputzt werden, bemerkte ich, während ich<br />
das kleine, nordische Haus kritisch musterte.<br />
Eine warme, vom Kaminrauch geschwängerte Luft strömte mir<br />
entgegen, während ich die schwere Glastür des Haupteingangs<br />
öffnete. „Immer ist sie zu spät, die Chefin. Auch wenn<br />
normalerweise ein Chef mit seinen Mitarbeitern redet, müssen wir<br />
mal den Spieß umdrehen und mit ihr reden. Ich habe meine drei<br />
Kinder zuhause, ich würde auch lieber 30 Minuten länger bei ihnen<br />
bleiben, wenn sie schon mal vom Festland auf die Insel kommen.“<br />
Das nicht für meine Ohren bestimmte Geläster schallte gedämpft zu<br />
mir. Obwohl auf der einen Seite Wut in mir aufstieg, überging ich<br />
diesen Angriff gegen mich.<br />
„Guten Abend, ihr Fleißigen, entschuldigt bitte meine Verspätung,<br />
doch ich war Augenzeuge eines Unfalls und musste noch auf den<br />
Krankenwagen warten“, log ich. Sechs Augenpaare starrten mich<br />
ungläubig und wertend an. Sie überlegten gar nicht erst, ob sie mir<br />
glauben sollte, doch es war mir auch egal. Wir mussten viel<br />
erledigen, wir hatten nicht mehr viel Zeit.<br />
„Okay, Nils und Hendrik stellt die Tische um. Wir haben drei<br />
Reservierungen für halb sechs. Eine Reservierung für sechs<br />
Personen, eine für fünf und eine für zwölf. Es sollen Fensterplätze<br />
sein. Die restlichen Reservierungen sind erst ab 19 Uhr.“ Ich gab Nils<br />
35
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
den Zettel mit den Angaben und wandte mich an die Mädchen.<br />
„Hedda und Inga, ihr geht bitte ins Gartenhäuschen und stellt zwei<br />
Heizstrahler raus. Es ist mild heute, da wollen bestimmt ein paar<br />
Verrückte nach draußen. Ach – und wenn ihr die Sitzpolster drauf<br />
gelegt habt, packt ihr bitte Decken auf die Rückenlehnen. Wir wollen<br />
ja nicht, dass die Gäste frieren, stimmt’s? Antje und Ole, ihr kommt<br />
mit mir die Küche und helft mir die Lebensmittel, das Fleisch und<br />
den Fisch schnell wegzupacken. Ich möchte, dass sie wie immer<br />
frisch bleiben.“<br />
Ich ging mit Antje und Ole in die Küche. Den frisch gefangene Fisch<br />
und das Fleisch packte ich zuerst in den Kühlschrank. Die waren mir<br />
am wichtigsten. Den Rest überließ ich meinen, wie ich vorhin<br />
schließlich gehört hatte, motivierten und arbeitsgierigen<br />
Mitarbeitern.<br />
Im Herausgehen rief ich ihnen noch schnell die Anweisung zu, den<br />
Kühlschrank abzuschließen, wenn sie mit dem Umpacken fertig<br />
waren und mir anschließend den Schlüssel zu geben. Auf ungeklärte<br />
Weise verschwanden seit einer Woche täglich so viele Lebensmittel<br />
aus dem Kühlschrank, dass es für die Gerichte unserer Gäste<br />
wirklich knapp wurde. Ich hatte ein <strong>Schloss</strong> besorgt, das den<br />
Kühlschrank bis zum ersten Gast verschloss. Nicht, dass ich nicht die<br />
Schuld zuerst bei mir selbst gesucht hätte, aber ich wusste wie viel<br />
ich täglich einkaufte und welche Mengen pro Gericht verwendet<br />
wurden. Ich machte die Abrechnungen und konnte genau sagen,<br />
welche Lebensmittel in welchen Mengen täglich pi mal Daumen<br />
bestellt wurden. Deshalb kaufte ich schon bewusst mehr.<br />
Und nachdem ich vorgestern meine Mitarbeiter essend in der Küche<br />
vorgefunden hatte, verschloss ich jetzt den Kühlschrank. Wenn ich<br />
36
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
etwas nicht leiden konnte, war es, wenn ich meinen Mitarbeitern<br />
nicht vertrauen konnte. Sie machten ihre Arbeit gut, nahmen es nur<br />
nicht so genau, wenn es darum ging zu naschen. Das machte mich<br />
noch arm und weil ich momentan nicht zu einem ernsten Gespräch<br />
mit meinen Mitarbeitern kam, zog ich diese Zwischenlösung vor.<br />
Meine Crew hatte ich schon nach Mäusen gefragt, aber ein<br />
Kammerjäger hatte dies schwörend verneint.<br />
Während ich auf Hendrik und Nils mit zügigen Schritten zuging, um<br />
meine Hilfe beim Tischerücken anzubieten, schaute ich zuerst eine<br />
Millisekunde nach draußen, um bei Hedda und Inga die Lage<br />
abzuchecken, und danach auf meine Uhr, was mir wieder einmal die<br />
Kehle zuschnürte. Es war schon viertel nach fünf. Fünfzehn Minuten<br />
später sollten die ersten Gäste kommen. Bei den Tischen<br />
angekommen, erfragte ich zuerst, wie weit die beiden seien.<br />
„Wir wissen nicht, ob wir eine Tafel oder ein Quadrat machen<br />
sollen“ schaute mich Nils ratlos an. „Was meinst du?“ „Es sind nur<br />
zehn Personen, also macht eine Tafel, ansonsten kommen die<br />
Bedienungen doch gleich nicht mehr durch. Dieser Tisch bleibt da<br />
stehen und die beiden stellen wir da in diese Richtung dran“, befahl<br />
ich den beiden manchmal etwas unpraktisch denkenden Männern<br />
durch wilde Gesten. Bevor ich selbst mit anpacken konnte, tippten<br />
mich die mit Sommersprossen übersäten Hände Antjes auf die<br />
Schulter, um mir mit ihrem immer gleich aussehenden Blick den<br />
glänzenden Edelstahlschlüssel zu übergeben. Lächelnd nickte ich ihr<br />
zu und bewegte meine Lippen zu einem lautlosem: „Danke.“<br />
Antje drehte sich auf dem Absatz um, um wie jeden Abend mit Ole<br />
die Theke abzuwischen. Als ich mich umdrehte, waren die Jungs<br />
beim letzten Tisch angekommen, so dass ich mir das mit Anpacken<br />
37
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
sparte und schnell nach draußen ging, um die Arbeit draußen<br />
abzunehmen.<br />
Hedda stand zwei Meter neben den Tischen, um einen Blumentopf<br />
um fünf Grad zu drehen, während Inga mit ihren für den Norden<br />
ungewöhnlichen ein Meter sechzig auf einem kleinen Höckerchen<br />
stand, um einen Heizstrahler anzumachen. Als Hedda mich<br />
bemerkte, schnellte sie in die Höhe, riss ihre strahlend blauen Augen<br />
auf, um mir stotternd zu beichten: „E-e-es tu-tut mir leid, a-aber de-<br />
der Blume-mentopf stand ir-ir-irgendwie schief und da dachte ich,<br />
dass es so be-besser wäre. Tut mir leid!“ „Ich finde es super, dass du<br />
auch auf solche Details achtest. Dafür brauchst du dich doch nicht zu<br />
entschuldigen! Keine Sorge. Wir sind jetzt auch fertig“, fasste ich mit<br />
einem demonstrativen Blick auf meine Uhr zusammen, „wir haben<br />
sogar noch fünf Minuten. Kommt ihr mit rein? Ich möchte noch kurz<br />
etwas klarstellen.“ Wie zwei Schoßhündchen folgten mir die beiden<br />
Jüngsten meiner Mitarbeiter – sie waren so alt wie ich.<br />
Ich glaube, ich sollte mir echt Gedanken machen. Bin ich wirklich so<br />
furchteinflößend?, fragte ich mich geschockt selbst. Da es jetzt<br />
wichtigeres gab, vertagte ich den Gedanken auf später und lief mit<br />
meinen Schoßhündchen in Richtung Theke.<br />
„Leute? Kommt mal bitte alle her!“ Als sich alle zusammen gefunden<br />
hatten, guckte ich jedem einzelnen nacheinander in die Augen:<br />
„Also, es ist folgendes: Wie ihr wisst, schrumpft momentan täglich<br />
der Kühlschrankinhalt gefährlich klein zusammen. Herr<br />
Riemenschneider hat mir versichert, dass hier keine Mäuse ihr<br />
Unwesen treiben. Vorgestern habe ich zwei von euch in der Küche<br />
entdeckt, wie sie sich gerade über den Kühlschrank hergemacht<br />
haben. Es geht jetzt nicht darum, wer das gewesen ist“, ich schaute in<br />
38
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
die schuldbewussten Gesichter von Hendrik und Ole, „aber ich<br />
möchte bitte, dass ihr nicht mehr an den Kühlschrank geht. Ich hatte<br />
die letzten zwei Tage keine Zeit mit euch darüber zu reden,<br />
deswegen war der Kühlschrank auch verschlossen, aber ich möchte,<br />
dass wir ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander haben, weil das<br />
sehr wichtig ist, wenn wir täglich gemeinsam hier arbeiten. Ab<br />
morgen lassen wir das mit dem <strong>Schloss</strong>, aber ich muss mich auf euch<br />
verlassen können.“ Demonstrativ legte ich den Schlüssel auf die<br />
Theke.<br />
„Schließt den Kühlschrank wieder auf, ich lasse die Gäste rein, okay?<br />
Ab morgen werde ich mich auch nicht mehr verspäten und falls es<br />
doch irgendwann mal Probleme geben sollte, rufe ich Nils an, der hat<br />
schließlich auch den Schlüssel, dann gibt er meine Anweisungen<br />
weiter. Dann auf einen entspannten Abend!“ Meine Autorität<br />
auskostend drehte ich mich um, ging schnurstracks auf die Ladentür<br />
zu, drehte das Schild von „Geschlossen“ auf „Geöffnet“ und lehnte<br />
die im Eingang schon bereitstehende Tafel an die Außenwand des<br />
Himmelstürmers.<br />
Vor dem Himmelsstürmer warteten schon zwei Familien in der<br />
Nachmittagssonne auf die Öffnung. Freundlich lächelnd empfing ich<br />
zuerst eine ungepflegt aussehende Familie. Mutter und Vater trugen<br />
beide eine dunkelbraune Justin-Bieber-Frisur und schienen geistig in<br />
den 70er Jahren steckengeblieben zu sein.<br />
Drei Kinder, alles Mädchen, eingekleidet in grüne, pinke und rote<br />
Schlaghosen mit Blümchendruck und blau, gelb und violetten<br />
Tanktops. „Herzlich willkommen im Himmelsstürmer! Kommen Sie<br />
doch herein!“, bat ich mit einem aufgesetzten, eigentlich<br />
scheinheiligen Lächeln.<br />
39
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Die nächsten Gäste waren von dieser Familie Welten entfernt. Eine<br />
geschätzt 37-jährige Frau mit langen blonden Wellen, eingekleidet in<br />
Bogner und Diesel, dazu ein Gucci-Gürtel, Prada-Schuhe, eine Louis-<br />
Vouitton-Handtasche und natürlich eine fette Rolex am Armgelenk.<br />
Ihr mindestens 20 Jahre älterer Ehemann stand schräg hinter ihr. Er<br />
war ihr eindeutig untergeordnet. Dennoch glänzte unter seinem für<br />
ihn viel zu jungem, pinken LaMartina-Hemd ebenfalls eine goldene<br />
Rolex. Mit einem noch breiteren, dieses Mal echtem Grinsen bat ich<br />
das Pärchen herein und führte sie persönlich zu einem Zweiertisch,<br />
der in einer Ecke und dadurch etwas abgelegener lag.<br />
Die beiden sahen so aus, als könnten sie etwas Romantik vertragen.<br />
Ich liebte es, die Familien natürlich unauffällig zu analysieren, mir<br />
ihr Leben anhand ihrer Kleidung, ihrer Mimik und Gestik, ihrem<br />
Auftreten und ihrem Verhalten vorzustellen. Bei diesem Paar stellte<br />
ich mir vor, dass der Herr Geschäftsmann war. Sie war seine Geliebte<br />
und sie machten hier nun zusammen Urlaub. Bei ihnen zuhause<br />
wurden sie durchgehend von einer Haushälterin bedient und da<br />
diese hierhin schließlich nicht mitgekommen war, gingen sie täglich<br />
essen. Natürlich entschied sie, wohin es gehen musste. Während ich<br />
mir gerade amüsiert einen „Streit“ zwischen den beiden vorstellte,<br />
mir ausmalte, wie sie ihn anbrüllt, weil er seine Jacke über ihre<br />
Handtasche gelegt hat und er wie ein „guter“ Mann nichts dazu<br />
sagte außer: „Es tut mir ja so leid“, betrat ein Mann das Restaurant.<br />
Er kam mir fürchterlich bekannt vor. Doch das musste ja schließlich<br />
nichts heißen. An sich war er ein attraktiver Mann. Er hatte dunkle,<br />
kurze Haare, durch die er gerade mit seiner Hand fuhr. Seine Augen<br />
waren klar und schauten mich direkt an. Mit seinen rosa-roten<br />
Lippen, die zu einem wunderschönen und verschmitzten Lächeln<br />
40
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
gezogen waren, ging er auf mich zu. Auch ich ging ihm mit einem<br />
aufrechten Lächeln entgegen, bis mir einfiel, woher ich ihn kannte.<br />
Ich hatte ihn erst vorgestern in einer Zeitschrift gesehen. Er war der<br />
berühmte Restaurantkritiker Bliesgur!<br />
Die noch eben vorhandene Sympathie, die ich für ihn empfunden<br />
hatte, verpuffte mit meinem Grinsen schlagartig. „Ach du Scheiße“,<br />
sprach ich meine Gedanken laut aus, obwohl er inzwischen nur noch<br />
zwei Meter von mir entfernt war. Vom Nahen betrachtet sah er gar<br />
nicht mehr so nett aus. Er sah so aus, als wollte er mir zuerst meinen<br />
schönen Abend und danach mein Restaurant verderben.<br />
Währenddessen fluchte ich innerlich weiter vor mich hin: Aber nein!<br />
Nicht mit mir! Das kann er mit sonst wem machen! Ich leite ein gutes<br />
Restaurant, benutze nur die besten Lebensmittel, das lasse ich nicht<br />
mit mir machen!<br />
Das verdutzte Gesicht machte den letzten Schritt auf mich zu und<br />
fragte: „Ähm, wie bitte?“ Obwohl ich wusste, dass er meinen<br />
verbalen Ausrutscher gehört hatte, antwortete ich mit aufgesetztem<br />
Lächeln: „Ich sagte: 'Guten Abend, darf ich Ihnen einen Tisch<br />
anbieten?'“ Sein verdutztes Gesicht verzog sich zu einem unsicherem<br />
Lächeln: „Ja, bitte!“<br />
Also deutete ich verlegen auf den nächstbesten Tisch, der mir in die<br />
Augen fiel. Es war auch ein Fensterplatz, aber den Tisch, den ich<br />
eigentlich einem Restauranttester zugewiesen hätte, besetzte gerade<br />
Barbie mit ihrem Liebhaber. Das war eine bescheuerte Idee, die<br />
beiden dahin zu setzen, fluchte ich innerlich.<br />
Am Tisch angekommen, informierte ich den Kritiker, dass ich ihm<br />
die Getränke- und die Speisekarte bringen würde. Nach seinem<br />
Nicken drehte ich mich um und stolperte direkt immer schneller<br />
41
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
werdend zur Theke zurück: „Ole, Hendrik, Hedda, Inga, Antje und<br />
Nils? SCHNELL zusammenkommen! Seht ihr den Mann da vorne?<br />
Das ist der Restaurantkritiker Bliesgur. Bedient ihn so gut ihr könnt!<br />
Wenn der über uns eine schlechte Kritik schreibt, sind wir am<br />
Ende!“, informierte ich meine Mitarbeiter aufgebracht.<br />
Meine angespannte Stimmung übertrug sich direkt auf die mich<br />
anstarrenden Augenpaare. Durch ihre erwartungsvollen Blicke<br />
fühlte ich mich gezwungen noch etwas hinzuzufügen und damit die<br />
unangenehme Atmosphäre aufzulösen. „Macht es wie jeden Abend!<br />
Wir haben nichts zu befürchten. Der einzige Unterschied wird sein,<br />
dass wir uns bei ihm noch mehr Mühe geben. Er darf sich nicht<br />
bedrängt fühlen, muss aber durchgehend bedient werden. Hedda<br />
bring ihm schnell die Karten!“ Der Mitarbeiterpulk löste sich auf.<br />
„Jetzt wird sich beweisen, wie gut ich meinen Mitarbeitern vertrauen<br />
kann.“ Herr Bliesgur entspannte sich gerade beim Ausblick auf die<br />
Dünenlandschaft. Meine Finger fühlten sich an wie loderndes Feuer.<br />
Ich hob meine Hände und bekam einen Schock. Ich blickte auf zwei<br />
rote Klatschhände wie man sie zum Anfeuern benutzt. Meine<br />
Hände waren feuerrot mit vereinzelten weißen Flecken. Als ob dies<br />
nicht genug wäre, waren sie angeschwollen und zitterten, als wäre<br />
ich gerade dabei einen unter 100.000 Volt stehenden Zaun zu<br />
berühren. Tief einatmen! Wie war das nochmal einmal? Tief durch<br />
die Nase einatmen und viermal die Luft durch den Mund mit<br />
Unterstützung des Zwerchfells ausatmen.<br />
Beim meinem vergeblichen Versuch wieder herunterzukommen,<br />
tippte mich Inga von hinten an und fragte: „Ist Ih-Ih-Ihnen nicht gut?<br />
Wovon haben Sie Seitenstiche? Was ist passiert?“<br />
Verdutzt blickte ich das besorgte Gesicht an: „Wie? Seitenstiche?“<br />
42
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
„Ja, die Atemübung, die Sie machen ist gegen Seitenstiche oder etwa<br />
nicht?“, erklärte mir Hedda. Ich merkte, wie mir das Blut jetzt auch<br />
langsam in den Kopf stieg. Na super, jetzt hab ich nicht nur<br />
befestigte Klatschhände, sondern auch das Gesicht eines roten<br />
Avatars. Roter Avatar? Jetzt drehst du aber völlig durch!<br />
Hedda stand immer noch vor mir und wartete auf eine Antwort. Mir<br />
fiel natürlich rein gar nichts ein. Meine Autorität würde untergraben,<br />
wenn ich die Wahrheit gestand, aber eine Lüge wollte mir einfach<br />
nicht einfallen. „Es ist alles gut“, sagte ich stumpf, lächelte und ging<br />
in die Küche. Als meine Ohren nur Gemurmel und ein regelmäßiges<br />
„Ehhhh“, begleitet von einem Klacken, wahrnehmen konnten, ahnte<br />
ich nichts Gutes. Nils drehte sich zu mir und sagte mit einem verstört<br />
verängstigtem Gesicht, auf dem ein aufgesetztes Lächeln lag: „Ohhh,<br />
Frau Beeergert!“<br />
„Seit wann siezt du mich wieder, Nils? Was ist hier los?“, fragte ich<br />
mit einem skeptischen Blick. Mein Bauch zog sich merkwürdig<br />
zusammen. Hendrik versuchte sein Glück: „Also, eh, es ist so: Eh,<br />
also, ehm...“<br />
„Der Schlüssel ist weg“, erklärte Antje. Ich liebte ihre direkte Art.<br />
„BITTE WAS???“, schrie ich, als mir bewusst wurde, dass sie den<br />
Schlüssel für das <strong>Schloss</strong>, das den Kühlschrank verschließt, meinte.<br />
„DAS IST NICHT EUER ERNST!“<br />
„Wir, ja, ehm, also“, versuchte Hendrik es wieder. „Doch, wir haben<br />
alles abgesucht, der Schlüssel ist weg, der Kühlschrank geht nicht<br />
auf, wir brauchen einen Plan“, ratterte Antje herunter. Plötzlich regte<br />
mich ihre monotone Stimmlage unglaublich auf.<br />
„Wisst ihr eigentlich, was das für eine Katastrophe ist??????“ Dieses<br />
Mal hielt sich auch Antje zurück und starrte wie der Rest auf den<br />
43
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Boden. Auf einmal sah ich alles glasklar: „Hedda, du gehst sofort<br />
raus und drehst das Schild um, damit da wieder „Geschlossen“<br />
steht! Nils, du rufst alle Familien an, die reserviert haben und sagst<br />
ihnen ab. Inga, nimm schnell von dem Kritiker, dem Paar und der<br />
Familie die Bestellungen auf!“ Obwohl ein irritierter Blick folgte, tat<br />
auch Inga, wie ihr befohlen und ging, um die Bestellungen<br />
aufzunehmen.<br />
Den Rest weihte ich schon mal in meinen Plan B ein: „Wenn wir die<br />
Bestellungen wissen, müssen wir uns alle Zutaten zusammensuchen.<br />
Hat irgendjemand Angelsachen?“<br />
„Angelsachen?!“, fragte Antje irritiert und ungläubig. „Die Gäste<br />
werden Fisch bestellen!“ Antje lachte: „Haahaha, das meinst du nicht<br />
ernst, oder?!“<br />
Mir fiel auf, dass selbst ihre Lache monoton war. „Hast du einen<br />
anderen Vorschlag?“, blaffte ich sie an.<br />
„Mein Bruder hat eine Angel und Köder“, zischte sie zurück. „Ja,<br />
siehst du“, ich lächelte sie an, „Wieso nicht gleich so?“<br />
Inga stürmte in die Küche: „Sie haben...“ „Ich brauche keine<br />
Gerichte, sondern Zutaten!“, unterbrach ich sie. Bevor sie anfangen<br />
konnte, rief ich Hedda noch schnell zu, sich um die Getränke zu<br />
kümmern. „Die ungepflegte Familie möchte dreimal Pommes und<br />
zweimal Scholle mit Kartoffelpüree.“<br />
„Die Pommes könnten etwas schwieriger werden, aber Kartoffeln<br />
haben wir ja jetzt schon hier. Inga, du übernimmst alle<br />
Kartoffelgerichte! Die Gewürze und sonstige Zutaten für die Scholle<br />
haben wir hier. Antje, merk dir schon einmal: Zwei Schollen angeln!<br />
Was noch?“<br />
44
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Mit Blick auf ihren Notizblock las Inga weiter: „Das Paar möchte<br />
Brennnesselsuppe als Vorspeise, Karpfen mit Kartoffeln und Gemüse<br />
der Saison.“<br />
„Antje, also zwei Karpfen und zwei Schollen, Gewürze und<br />
Kartoffeln sind wieder hier. Nils, hast du nicht mal erzählt, dass dein<br />
Opa einen Gemüsegarten hat?“<br />
„Ja schon“, antwortete Nils unsicher. „Super, dann fährst du jetzt zu<br />
ihm und besorgst alles Gemüse, dass du finden kannst!“, trug ich<br />
dem eingeschüchterten Nils auf.<br />
„Der Restaurantkritiker möchte Löwenzahnsalat als Vorspeise,<br />
Bronzino al Vino Bianco als Hauptgang und Crème Brûlée als<br />
Dessert“, beendete Inga die Bestellungen.<br />
„Wir müssen Löwenzahn und Brennnesseln pflücken, Hendrik, das<br />
übernimmst du! Das Weißbrot lassen wir weg, wir können keine<br />
Hefe besorgen.“<br />
Mein Kopf ratterte auf Hochtouren: „Zum Hauptgericht: Antje denk<br />
daran auch noch Seebarsch zu fischen. Ansonsten haben wir die<br />
Kräuter zum Glück selbst. Fürs Crème Brûlée brauchen wir Sahne<br />
und Milch. Die Sahne machen wir dann auch selbst. Hedda, du<br />
fährst zur nächsten Wiese und melkst irgendeine Kuh. Lass dich<br />
nicht erwischen! Inga, du bleibst hier und hilfst mir in der Küche.<br />
Antje, du holst die Angelsachen deines Bruders. Danach radelst du<br />
mit Ole zum Südstrand, schnappst dir das Ruderboot meines<br />
Bruders Henning und angelst die Schollen und den Seebarsch.<br />
Danach fahrt ihr zwei zum Pfarrer Jansen und fischt danach aus<br />
seinem Karpfenteich zwei wunderschöne Koikarpfen. Lasst euch<br />
bloß nicht erwischen! Er liebt seine Koikarpfen mehr als seine Frau.<br />
Andererseits - eine christliche Spende am Ostersonntag kann man<br />
45
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
ihm wohl zumuten!“ Ich musste kurz Luft holen und fuhr dann in<br />
meinen Anweisungen fort.<br />
„Nils, deine Aufgabe ist verständlich. Radel zu deinem Opa und<br />
plündere seinen Gemüsegarten. Hendrik, du radelst durch die<br />
Dünenlandschaften und pflückst so viel Brennnesseln und<br />
Löwenzahn, wie du finden kannst. Zieh dir Handschuhe an, du wirst<br />
noch gebraucht. Hedda, die schönsten Kühe mit der besten Milch hat<br />
Bauer Knut hinter dem Upholmhof. Eine Kanne voll müsste<br />
ausreichen. Du weißt doch, stripp, strapp, strull...“, zwinkerte ich ihr<br />
zu. „Aber ich hab noch nie eine Kuh gemolken“, entgegnete Hedda<br />
verzweifelt. „Irgendwann ist immer das erste Mal. Das lernst du<br />
schon. Wer weiß, wofür du das später nochmal brauchst.“<br />
Während meine Mitarbeiter ausschwärmten, atmete ich tief durch<br />
und begann in Gedanken das Amuse Geule zu kreieren. Zuerst ging<br />
es darum, das Zeitgefühl meiner Gäste zu verwirren. Dazu öffnete<br />
ich Omas beste Fasanenbrause, der für Borkum typische<br />
Sanddornlikör mit bestem Korn, und füllte zugegebenermaßen recht<br />
große Gläser mit dem köstlichen Gebräu. „Das wird ihre Sinne schon<br />
benebeln“, dachte ich ausgefuchst. Freundlich servierte ich mit den<br />
Worten „Ein kleiner Gruß vom Haus“, meinen Gästen nacheinander<br />
den Aperitif.<br />
Anschließend eilte ich mit einem kleinen Korb in den Garten des<br />
Nachbarn Hinnerk, der glückliche Hühner hielt. Heimlich suchte ich<br />
den Hühnerstall nach Eiern ab. „Seid doch still!“, ranzte ich die laut<br />
gackernden Hühnern an. Als ich fünfzehn Eier gesammelt hatte,<br />
hörte ich die trampelnden Schritte Hinnerks. Schnell kroch ich unter<br />
einen Balken. Bloß nicht in den Hühnerschiss treten!, dachte ich nur.<br />
Quietschend öffnete sich die Tür und umgeben vom Abendrot<br />
46
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
sprach eine Stimme: „Was gackert ihr denn so laut? Ich kann mich so<br />
nicht auf mein Kreuzworträtsel konzentrieren!“ Mit den Worten:<br />
„Jetzt ist aber Ruhe“, verließ die schwarze Gestalt den Hühnerstall<br />
und stapfte ins Haus zurück. Männer können eben kein<br />
Multitasking, dachte ich amüsiert und fürchtete, Hinnerk könnte den<br />
Stein, der mir vom Herzen fiel, auch noch im Haus hören.<br />
Zurück im Restaurant säuberte ich die Eier und kochte acht von<br />
ihnen hart. „Woher sind denn die Eier?“, fragte Hedda irritiert. „Das<br />
willst du gar nicht wissen!“, entgegnete ich schnell. Während die<br />
Eier vor sich hin köchelten, mischte ich Farbe zusammen.<br />
Hingebungsvoll verzierte ich die Eier mit ostfriesischen Ornamenten,<br />
dekorierte die Eierbecher mit Kresse und servierte wunderschöne<br />
bunte Ostereier.<br />
„Frohe Ostern!“, lächelte ich meine Gäste an. Mein schönstes Lächeln<br />
galt natürlich Herrn Bliesgur. Inga hatte inzwischen die Kartoffeln<br />
geschält und in wunderhübsche Stäbchen geschnitten, als Hendrik<br />
mit Bergen von Löwenzahn und Brennnesseln zurückkehrte. Schnell<br />
bereiteten Hendrik, Inga und ich das Grünzeug vor. Wenige Minuten<br />
später köchelte die Brennnesselsuppe vor sich hin. Auch das Fett für<br />
die Pommes Frites siedete bereits, als Nils mit Taschen voller<br />
Frühlingsgemüse die Küche betrat.<br />
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, der Abend könnte noch<br />
gerettet werden. Gedämpft schallte ein: „Ich hab jetzt aber<br />
Huuungeeer! Wann kommen endlich meine Pommeeees!“, von den<br />
Hippikindern in die Küche. „Dann füttern wir eben die Kinder<br />
zuerst ab“, befand ich pragmatisch und versenkte die<br />
Kartoffelstäbchen im heißen Fett. Mit einem fröhlichen: „So Kinder“,<br />
servierte ich zehn Minuten später köstlich duftende, knusprige<br />
47
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Pommes Frites. Die Kinder strahlten und den Eltern schenkte ich<br />
noch ein Schlückchen Fasanenbrause nach. Ich schaute nach den<br />
anderen Gästen: Mein Kritiker rutschte unruhig auf seinem Stuhl<br />
herum und schaute auf seine Uhr, das Pärchen schwieg sich mit<br />
grimmigen Mienen an. Als ich zurück in die Küche kam, schüttete<br />
Hedda gerade etwas von ihrer frisch gemolkenen Milch in die<br />
Brennnesselsuppe. „Es gibt doch nichts über die leichte Küche“,<br />
versuchte ich meine Stimmung zu retten. Noch ein bisschen Salz<br />
und Pfeffer, ein Schuss Sherry und schon war das Süppchen<br />
angerichtet. Auch den Löwenzahnsalat hatten meine Mitarbeiter<br />
hübsch auf einem Teller drapiert, mit Vinaigrette beträufelt und<br />
servierfertig gemacht. Noch ein paar Blüten legte ich an den<br />
Tellerrand des Salats und servierte ihn mit leichter Hand dem<br />
Restaurantkritiker. In der Küche kam mir Inga mit den dekorierten<br />
Suppen entgegen, überreichte sie mir, sodass ich Barbie und dem<br />
Geschäftsmann auch ihre Vorspeise servierte. Im Nachbarzimmer<br />
waren Antje und Ole mit den Fischen eingetroffen, denen sie nun mit<br />
Schwung den Kopf abhackten. „Da seid ihr ja endlich“, seufzte ich<br />
erleichtert. „Bereitet zuerst die Schollen zu! Ansonsten sind die<br />
Kinder fertig, wenn das Essen ihrer Eltern immer noch nicht fertig<br />
ist.“ Mit gekonnten Schritten teilten sich meine Mitarbeiter nun die<br />
restliche Arbeit auf. Inga drückte ich fünfzehn Schokoladeneier in<br />
die Hand und trug ihr auf, diese im Garten zu verstecken. Meine<br />
restlichen Mitarbeiter wirbelten bemüht durch die Küche, während<br />
ich am Türfenster stand und Herrn Bliesgur beobachtete.<br />
„Feertiig“, teile mir Hedda singend mit und reichte mir die zwei<br />
Teller für die ungepflegten Eltern an. Mit einem leichten Grinsen<br />
servierte ich sie ihnen. Anschließend hockte ich mich hin, sodass ich<br />
48
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
auf der Höhe ihrer Kinder war. Ich hab eine Überraschung für euch.<br />
Im Garten sind fünfzehn Schokoeier für euch versteckt. Ihr drei<br />
kommt mit mir mit und sucht die, okay?“ Das 'Okay' richtete ich an<br />
ihre Eltern, die mir mit roten Wangen und glasigen Augen<br />
zunickten. Die drei Hippikinder führte ich durch den Haupteingang<br />
in den Garten. Dort wartete Inga schon. Ich flüsterte ihr zu: „Wartest<br />
du hier? Die Mädchen sind jetzt eh erst einmal beschäftigt.“<br />
Liebevoll nickte Inga mir zu und sprach die Kinder mit ihrer<br />
samtigsten Stimme an: „Dann sucht mal! Der Osterhase war fleißig.“<br />
In der Küche dekorierte Hedda mit Nils gerade die restlichen<br />
Hauptspeisen, während Antje und Hendrik die Crème Brûlée<br />
zurichteten. Ole befragte gerade unsere Gäste, ob alles genehm sei.<br />
Wenige Minuten später waren auch die restlichen Hauptgerichte<br />
perfektioniert und servierfertig.<br />
Hedda servierte dem Pärchen ihre frisch beim Pfarrer gefangenen<br />
Koikarpfen, während ich Herrn Bliesgur bediente. Sein vorhin noch<br />
unruhiges Gesicht, wirkte jetzt sehr entspannt und er grinste wieder.<br />
Gemächlich begann der friedlich wirkende Mann seinen Seebarsch<br />
zu verspeisen.<br />
Ich schickte ein Stoßgebet in den Himmel.<br />
Der Abend schien gerettet zu sein, wäre da nicht noch ein Problem<br />
mit dem Dessert. Crème Brûlée muss abgekühlt werden. Nur leider<br />
stand uns kein Kühlschrank zur Verfügung. Gott sei Dank ist das<br />
Meer im April noch richtig schön kalt, viel kälter als das Wasser aus<br />
der Leitung. Also schickte ich Nils los, Meerwasser zu besorgen, um<br />
die Crème Brûlée im Wasserbad herunter zu kühlen. „Das Dessert<br />
wird niemals fest. Bis diese Crème fest geworden ist, können schon<br />
mal mehrere Stunden vergehen“, stellte ich mit verzweifelter Sorge<br />
49
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
fest. Da kam mir plötzlich die zündende Idee. Ich füllte die Crème<br />
Brûlée aus dem großen Schälchen in kleine Pralinés-Förmchen. Wie<br />
geflogen kam Nils mit einem Eimer Wasser zurück gespurtet. Schnell<br />
stellte ich vorsichtig die Förmchen in das Wasserbad. Leise hallte<br />
dumpf aus dem Garten ein liebevolles: „Super! Ihr habt alle fünfzehn<br />
gefunden. Jeder bekommt fünf. Jacqueline, eins musst du noch an<br />
Chantal abgeben!“<br />
Mit einem herzlichen Lächeln führte Inga die drei Kinder am<br />
Küchenfenster vorbei zurück zu ihren Eltern. Ich zog meinen Hut<br />
vor Inga. Sie hatte eindeutig ein Gespür für jede Art von Kindern.<br />
Der Restaurantkritiker hatte sein Hauptgericht aufgegessen.<br />
Freundlich lief ich zu seinem Tisch, um den leeren Teller<br />
abzuräumen. „Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“<br />
„Bis jetzt war alles perfekt. Ich freue mich jetzt vor allem auf die<br />
Crème Brûlée. Dieses Dessert ist mein absolutes Lieblingsgericht. Ich<br />
beende keinen Abend, an dem ich essen gehe, ohne dieses Dessert<br />
genießen zu dürfen.“ „Ich hoffe, auch die Nachspeise wird Ihre<br />
vollste Zustimmung finden!“, grinste ich ihm zu.<br />
Mit schweren Schritten versuchte ich die Küche zu erreichen. Mein<br />
Magen verdrehte sich und mir wurde übel. Wenn Herrn Bliesgur die<br />
Nachspeise nicht mundete, wäre alle Arbeit umsonst. Und<br />
ausgerechnet mit dieser hatten wir zu spät angefangen, sodass sie<br />
nicht richtig kalt werden konnte. Benebelt vor Angst kümmerte ich<br />
mich alleine weiter um das Dessert. Ich nahm das erste Förmchen<br />
aus dem Wasserbad, stürzte es auf einen Teller. „Was ein Wunder!<br />
Sie sind fest geworden!“, jubelte ich innerlich. Als nächstes stürzte<br />
ich das nächste Förmchen auf den Teller. Wieder passierte nichts.<br />
Dies machte ich mit allen Pralinés-Förmchen, bis kleine eierförmige<br />
50
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Häufchen auf dem Teller standen. Meine zittrige Hand umschloss<br />
nun das Flambiergerät, um die Crème Brûlée zu vollenden. Beim<br />
ersten Häufchen ließ sich der oben drauf gestreute Zucker leicht<br />
karamellisieren. Endlich atmete ich wieder. Nun war das zweite<br />
Häufchen dran. Ich setzte die blaue Flamme an. Das Häufchen brach<br />
einfach in sich zusammen.<br />
Nun atmete ich zwar, nur leider so schnell, dass meine Lunge den<br />
Sauerstoff nicht aufnehmen konnte. Schwarze Sternchen tanzten vor<br />
meinen Augen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte und eine<br />
Stimme sagte: „Chefin, das schaffen wir schon! Jetzt nicht aufgeben!“<br />
Antje stand hinter mir, nahm mir das Flambiergerät aus der Hand<br />
und vollendete beherzt das Werk. Mit leichter Hand entfernte sie das<br />
in sich zusammen gefallene Häuflein, schloss kunstvoll die<br />
entstandene Lücke und schaute zufrieden auf den Dessertteller<br />
herab.<br />
Wieder gefasst, legte ich ein Ei aus feinster Schokolade in die Mitte<br />
des Tellers und eilte zu meinem besonderen Gast. Dieser blickte<br />
irritiert auf den österlichen Teller. „So eine Crème Brûlée habe ich<br />
noch nie gesehen“, sagte er skeptisch. „Lassen Sie sich überraschen!“,<br />
riet ich ihm freundlich. Mit den Worten: „Guten Appetit“, ließ ich<br />
ihn alleine.<br />
In der Küche angekommen, wollte ich den Kritiker gerade<br />
beobachten, als mir ein Schreck in die Glieder fuhr. Aufgebracht<br />
drehte ich mich zu Inga um: „Vor lauter Panik hab ich die anderen<br />
Gäste vergessen. Hast du nach ihnen gesehen?“<br />
Mütterlich schauten mich Hedda und Inga an: „Sie waren sehr<br />
zufrieden. Einen lieben Gruß von der fünfköpfigen Familie. Sie<br />
fanden das Essen sehr lecker und werden noch diese Woche<br />
51
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
wiederkommen.“ „Dem Pärchen hat es ebenfalls sehr gut<br />
geschmeckt. Sie haben sogar kurz gelächelt, wenn auch gefasst. Sie<br />
werden das Himmelstürmer weiterempfehlen.“ Zuvor hatte ich mich<br />
noch nie so sehr über Komplimente gefreut wie über diese.<br />
In der Zwischenzeit hatte Herr Bliesgur die gesamte Crème Brûlée<br />
verspeist und sich entspannt auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Ich<br />
musterte ihn genau. Eigentlich wirkte er sehr zufrieden. Ungeduldig<br />
stolperte ich auf ihn zu: „Hat es Ihnen geschmeckt?“<br />
„Es war köstlich. So eine leckere Crème Brûlée ist mir zuvor noch<br />
nicht untergekommen. Es ist zwar eine sehr ungewöhnliche<br />
Darreichungsform, aber dem heutigen Anlass angepasst. Ich möchte<br />
mich bei Ihnen für das leckere und so frisch schmeckende Essen<br />
bedanken.“ „Das freut mich außerordentlich zu hören, Herr<br />
Bliesgur.“ „Herr Bliesgur? Sie müssen mich verwechseln. Mein<br />
Name ist Kniller, Hermann Kniller, angenehm. Ich erhole mich jedes<br />
Jahr auf dieser schönen Insel, doch hab ich bislang den Weg nicht in<br />
ihr Restaurant gefunden. Zukünftig werden Sie mich hier öfters<br />
begrüßen können.“ Er sah sich einmal im Restaurant um. „Schade,<br />
dass bislang so wenig Gäste über dieses Restaurant Bescheid wissen.<br />
Ich werde es herzlichst weiterempfehlen. Sagen Sie mal, bieten Sie<br />
auch Frühstück an?“<br />
Mir fehlten die Worte. Stotternd versuchte ich dem Mann, der gar<br />
nicht der Restaurantkritiker Bliesgur war, zu antworten, doch meine<br />
Gedanken kreisten nur noch um seine Identität. „Ähm..ja..eh.. ja..tun<br />
wir, Herr Kniller.“ Meine Mitarbeiter hatten unser Gespräch<br />
belauscht. Die nicht zu schockende Antje half mir, Worte zu fassen,<br />
wie sie es heute Morgen bei Hendrik getan hatte: „Guten Abend,<br />
Herr Kniller, wir bieten jeden Morgen von acht bis elf Uhr Frühstück<br />
52
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
an. Das Restaurant hat nachmittags ab siebzehn Uhr dreißig<br />
geöffnet.“ „Oh okay, dankeschön“, grinsend bückte sich Herr Kniller<br />
nach seiner heruntergefallenen Serviette. Als er wieder auftauchte,<br />
hielt er uns einen Schlüssel entgegen: „Ist das ein Schlüssel von<br />
Ihnen?“ Meine Kinnlade klappte kurz herunter, doch mein Verstand<br />
war schneller: „Das kann man wohl sagen. Das ist der Schlüssel zu<br />
einem ganz besonderem Team!“<br />
53
Atarus<br />
Johannes Kloecker, Jgst. 10<br />
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Der Feind stürmte in die Feste und drängte die Verteidiger zurück.<br />
Atarus musste qualvoll mit ansehen, wie die Horden der<br />
grünhäutigen Bestien über seine Kameraden herfielen und jedem<br />
von ihnen einen brutalen und raschen, aber wenigstens ehrenvollen<br />
Tod brachten, was ein geringer Trost für einen jeden von ihnen war.<br />
Hunderte von Leichen bedeckten das Feld vor den Mauern. Aber<br />
auch in ihrem sicheren Schatten lagen bereits Dutzende Männer des<br />
Kaisers, hingerichtet von den tobenden und blutrünstig wütenden<br />
Orks. Zwei Drittel der Legion war bereits gefallen und die<br />
verbleibenden Soldaten waren durch ihre Feinde in zwei Gruppen<br />
gespalten worden.<br />
Während Atarus die Zitadelle mit dreihundert Mann gegen die<br />
Feinde hielt, standen der General und der Rest der Verteidiger auf<br />
dem Wall. Zwischen ihnen befanden sich rund viertausend<br />
Grünhäute. Sie alle trugen ihre selbstgefertigten Rüstungen, wobei<br />
jede durch die von jedem Ork selbst erlernte Schmiedetechnik<br />
individuell in der Horde zuerkennen war. Es gab lederne Rüstungen,<br />
die mit Eisen beschlagen waren, oder welche mit Stahlplatten vor der<br />
Brust. Dazu hatten manche eingearbeitete Kettenglieder an den<br />
Schultern und Oberarmen. Viele der Orks trugen jedoch Rüstungen<br />
aus Stahlplatten. Diese waren so fein geschmiedet worden, dass noch<br />
nicht einmal eine Messerklinge zwischen den Platten hindurch<br />
gelangen konnte. Obwohl alle Orks sich vom Aussehen ähnelten,<br />
konnte man jeden einzelne von ihnen durch die zahlreichen<br />
54
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Trophäen und Abzeichen, welche die Krieger vom Beginn des<br />
Mannesalters an in der Schlacht erobert hatten, unterscheiden.<br />
Viele der Bestien trugen Felle oder reichverzierte Amulette an ihrem<br />
Rüstzeug. Ihre Waffen wiesen zahlreiche Einkerbungen auf, von<br />
denen jede für ein Dutzend getötete Feinde stand. So gab es fast<br />
keinen Ork, der weniger als sieben Einkerbungen hatten.<br />
Atarus hatte einem Orkkrieger gegenübergestanden, welcher einen<br />
stählernen Zweihänder führte – mit über dreißig Kerben auf der<br />
Rückseite der Klinge.<br />
Mit eben jenem Zweihänder zerschlug ihm der Ork den Schild,<br />
sodass er nur noch zur Hälfte an Atarus‘ Arm hing. Ein, zwei<br />
Zentimeter weiter rechts und es hätte dem Unteroffizier seine Finger<br />
gekostet. So war die Klinge knapp an seinen Knöcheln vorbei durch<br />
den hölzernen, mit Stahl beschlagenen Schild gefahren und er war<br />
durch die Wucht des Hiebes ins Straucheln gekommen.<br />
Wäre der Soldat hinter ihm nicht bereit zum Stoß gewesen, dann<br />
würde jetzt er und nicht der Ork tot vor den Stufen der Zitadelle<br />
liegen. Atarus hatte diesem tapferen Soldaten sein Leben zu<br />
verdanken. Aber all das war leider bereits vergangen und würde<br />
ihnen im Verlauf der Schlacht wenig weiter helfen.<br />
Wichtig war jetzt nur, dass sie keines dieser grünen Monster in die<br />
Zitadelle ließen. Denn dort, im Schutze der steinernen Wände lagen<br />
dutzende von verwundeten Männern des Kaisers und zu dem das<br />
gesamte sanitäre Abteil der Legion, welche die feste gegen die Orks<br />
hielt, soweit man dies noch sagen kann. Sollte es Atarus und den<br />
dreihundert Soldaten um ihn herum nicht gelingen das Tor der<br />
Zitadelle zu halten, dann würden all die verwundeten und hilflosen<br />
Männer, die Brüder und Mitstreiter seiner Legion fallen. Dieser<br />
55
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Gedanke gab ihm die nötige Kraft um jeden Ork, der es auch nur<br />
wagte, die oberen Treppenstufen vor der Zitadelle zu betreten, mit<br />
ohrenbetäubendem Gebrüll und leidenschaftlichem Heldenmut<br />
zurück zu werfen. Immer wieder teilte er hiebe gegen die Grünhäute<br />
aus und töte einen nach dem anderen. Nach und nach fielen die Orks<br />
auf der Treppe zurück.<br />
Jubelnd und voller Drang heroische Taten zu vollbringen rückten die<br />
Soldaten den zurückweichenden Orks nach. Sie wären den Bestien<br />
bis an das untere Ende der Treppe gefolgt, hätte Atarus nicht im<br />
letzten Moment eine Warnung ausgerufen. Ihm war eine Gruppe<br />
schwer gepanzerter gegnerischer Krieger aufgefallen, welche sich auf<br />
die Treppe zu bewegte. Anschließend hatte er gemerkt, das Orks in<br />
ledernem Rüstzeug zwischen den Kriegern am Fuße der Treppe<br />
aufgetaucht waren. Nun versuchte er zu erblicken, was sie taten. Er<br />
sah ein kurzes Aufblitzen innerhalb der Horde.<br />
„Schildwall bilden!“, brüllte er, während er selbst in die Knie ging<br />
und sein halbiertes Schild schützend vor sich hielt. Die Soldaten<br />
reagierten augenblicklich und bildeten einen großen und lückenlosen<br />
Wall aus ihren Schilden. Kurz darauf prallten mehrere hundert Pfeile<br />
gegen Holz und Stahl und übersäten alle Schilde der kaiserlichen<br />
Soldaten mit ihren todbringenden Spitzen. Obwohl einige der<br />
Soldaten aufatmeten, wusste Atarus, das es noch nicht vorbei war.<br />
„Formation halten!“, rief er den Soldaten zu und diese hielten ihre<br />
Deckung weiterhin aufrecht. Erneut schlugen Pfeile in ihre Schilde<br />
und beschwerten diese mit ihrem Gewicht. Es folgten noch drei<br />
weitere Pfeilsalven. Nun zogen die Orkbogenschützen ihre<br />
Schwerter und machten sich zum Ansturm bereit. Atarus hörte, wie<br />
einer der feindlichen Befehlshaber nach schwerer Infanterie rief und<br />
56
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
wollte gar nicht erst darüber nachdenken, wie die schwere<br />
Orkinfanterie aussehen mochte. Er musste seine Männer nun für den<br />
Angriff der Grünhäute wappnen.<br />
„Phalanxformation einnehmen!“, gab er den Befehl und alle Soldaten<br />
begaben sich in ihre Positionen. Dabei schlugen sie alle die<br />
Pfeilschäfte der Orkpfeile, welche in ihren Schilden steckten, ab und<br />
hielten ihre Speere nach vorn. Die Orks begannen langsam<br />
anzulaufen. Atarus stand vor seinen Soldaten und sah den Orks<br />
grimmig entgegen. Er wusste, dass diese Krieger nicht bis zu ihm<br />
kommen würden.<br />
„Wurfstellung einnehmen!“ rief er über die Schulter. Alle Soldaten<br />
nahmen ihre Speere nach hinten und machten einen Ausfallschritt<br />
nach hinten.<br />
„Auf mein Zeichen!“, sagte Atarus und hob den Arm. Er wartete, bis<br />
die Orks ungefähr ein Drittel der Treppe hinter sich hatten. Dann ließ<br />
er den Arm sinken und rief: „Wurf!“.<br />
Dreihundert Speere segelten über ihn hinweg und auf die Orks zu,<br />
welche verblüfft auf die große todbringende Wolke starrten. Es<br />
ertönten Schmerzensschreie und über zweihundert der Bestien<br />
brachen tödlich getroffen zusammen. Die Reihen hinter ihnen stießen<br />
laute Flüche und von Hass erfüllte Rufe aus. Die Soldaten jubelten<br />
erneut und freuten sich über diesen kleinen Sieg, welcher die Orks<br />
zurück gehalten hatte.<br />
Der Befehlshaber der Orks jedoch, welcher den Angriff auf die<br />
Zitadelle führte, stieß ein wütendes Brüllen aus. Auf seinen Ruf hin<br />
wichen die vorderen Reihen der Orks zurück und gaben den Blick<br />
auf rund sechs Dutzend Krieger frei. Sie waren in schwarze und<br />
schwer gepanzerte Rüstungen gehüllt. Jeder von ihnen trug einen<br />
57
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
ebenfalls schwarzen, stählernen Rundschild und ein Bastardschwert,<br />
dessen Klinge geschwärzt war. Dieser Anblick ließ die Soldaten in<br />
ihrem Jubel innehalten. Ein Schaudern ging durch ihre Reihen.<br />
Jeder von ihnen wusste, wer diese Krieger waren. Sie waren die<br />
besten Krieger der gesamten Orkhorde, welche die Feste belagerte.<br />
Ein jeder von ihnen hatte schon in unzähligen Schlachten gekämpft<br />
und jeder von ihnen hatte mehrere hundert ihrer Kameraden getötet.<br />
Sie waren noch nie im Kampf besiegt worden und waren erfahrener<br />
in der Lehre des Kampfes als jeder andere Ork. Wenn diese Kämpfer<br />
auftauchten, dann hinterließen sie keine Überlebenden.<br />
Doch Atarus ließ sich davon wenig beeindrucken. Diese Orks waren<br />
sterblich, eben so wie alle anderen auch. Egal wie gut sie waren, sie<br />
würden eines Tages dennoch fallen. Und dieser Tag sollte heute sein.<br />
Lieber würde er sein Leben lassen und versuchen sie zu töten, als<br />
feige die Flucht zu ergreifen und anschließend überrannt zu werden.<br />
Er würde seinen Männern den nötigen Mut schenken, gegen sie zu<br />
bestehen. Voller Tatendrang drehte er sich zu ihnen um und sah sie<br />
eindringlich an. „Hört mir zu!“, rief er und die Blicke seiner Männer<br />
richteten sich auf ihn. „Ihr habt bisher stolz und tapfer gekämpft! Ihr<br />
habt den Feind daran gehindert über eure verwundeten Kameraden<br />
herzufallen und habt ihn stets zurück geworfen! Und nun, werdet ihr<br />
alle euren Mut erneut zusammennehmen und auch diesmal den<br />
Feind zurück werfen!“ Er deutete mit seinem Schwert auf die<br />
gegnerische Front. „Sie tragen zwar gute Rüstungen und haben<br />
bisher noch nie einen Kampf verloren. Aber sie haben auch noch nie<br />
gegen uns gekämpft! Wir sind Männer der fünften Legion, Männer<br />
des Kaisers und Beschützer seines Volkes! Niemals wird ein Feind an<br />
uns vorbei gelangen und den Bewohnern des Kaiserreiches Schaden<br />
58
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
zu fügen! Und nun nehmen wir all unseren Mut, all unsere Kraft<br />
zusammen und zeigen diesen verfluchten Bestien, wie es ist, eine<br />
Niederlage durch unsere Legion zu erfahren!“ Die Soldaten fingen<br />
an ihre Schlachtrufe zu skandieren, während Atarus sich wieder den<br />
Orks zu wandte, welche von dem neuen Mut der Menschen etwas<br />
irritiert wirkten. Nun hob Atarus sein Schwert weit über den Kopf.<br />
„Für den Kaiser! Für das Kaiserreich!“, brüllte er und stürmte<br />
anschließend nach vorn. Die Soldaten folgten seinem Beispiel und<br />
stürmten mit Kampfgeschrei Richtung der Orks. Diese fingen an mit<br />
ihren Waffen auf die Schilde zu klopfen und lautes grunzendes<br />
Gebrüll von sich zu geben, als die in schwarz gerüsteten Krieger sich<br />
langsam in Bewegung setzten. Zunächst wirkten sie in ihrem<br />
Anlaufen eher träge, aber die schwarzen Krieger steigerten sich rasch<br />
in einen schnellen Ansturm hinein und preschten die Stufen hinauf –<br />
den herankommenden Menschen entgegen.<br />
Atarus sah die schwarze Woge auf sie zu kommen. „Für den<br />
Kaiser!“, rief er und stürmte die Treppe herab. Seine Soldaten hinter<br />
ihm antworteten mit wildem Jubel und folgten ihm. Nun waren es<br />
noch wenige Stufen zwischen ihnen und den Orks. Plötzlich wurde<br />
alles still. Atarus blendete jedwede Geräusche aus. Er musste sich<br />
konzentrieren. Er sah wie der Ork direkt vor ihm im Laufen zum<br />
Schlag ausholte. Der Unteroffizier umklammerter seinen Schild und<br />
hielt ihn leicht vor sich. Kurz vor dem Aufeinandertreffen der beiden<br />
Kämpfer ging Atarus in die Hocke und rutschte zwei Stufen weiter<br />
nach unten, wobei er seinen halben Schild über sich hielt. Er spürte<br />
wie dieser unter dem Luftzug vibrierte, als das Schwert des Kriegers<br />
über ihn hinweg sauste. Hinter ihm ertönte ein lauter metallischer<br />
59
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Knall, als seine Soldaten auf die Orks stießen. Schmerzensschreie<br />
und lautes Fluchen folgten dem Aufprall der beiden Gruppen.<br />
Atarus befand sich jetzt fast in mitten der schwarzen Krieger. Ehe es<br />
er es sich versah, hatte bereit vier von ihnen seine Gegenwart<br />
registriert und fingen an Hiebe nach ihm auszuteilen. Ein Schlag<br />
nach dem anderen prallte auf seinen Schildrest. Jedes mal, wenn er<br />
versuchte sich aufzurichten, wurde er durch die Kraft des nächsten<br />
Schlages direkt wieder in die Knie gezwungen. Durch ein heroisches<br />
und dennoch hirnrissiges Manöver hatte er sich selbst dem sicheren<br />
Tod überlassen. Aber wenigstens konnten die Soldaten in seinem<br />
Rücken zwei der Krieger niederringen und mehrere von ihnen<br />
verwunden. Leider hatten sie für diesen relativ geringen Erfolg einen<br />
im Vergleich hohen Verlust erlitten. Es gab viele Verletzte und auch<br />
ein paar Tote in den Reihen der kaiserlichen Gefolgsleute. Und doch<br />
schien dies die Männer nur noch verbissener werden zu lassen. Auch<br />
der Anblick ihres Unteroffiziers in seiner auswegslosen Lage<br />
bekräftigte sie nur noch in ihrem Tatendrang den Sieg<br />
herbeizuführen. Atarus sah seine Kameraden heranrücken. Dort, wo<br />
einer von ihnen verletzt zusammenbrach, zerrte ihn einer hinter die<br />
Linie der Soldaten und vier neue Kämpfer sprangen für ihn ein, und<br />
bezwangen den mächtigen schwarzen Ork vor ihnen. Diese Männer<br />
würden niemals nachgeben und stets ihre Pflicht gegenüber dem<br />
Volke erfüllen. Dies wusste Atarus.<br />
Oben auf dem Wall erschlug Krexus gerade zwei der orkischen<br />
Krieger, welche versuchten, die Katapulte auf den Mauern der Feste<br />
zu zerstören. Seine Abteilung und er hatten die Stellung seit Beginn<br />
der Belagerung gehalten. Verluste hatte es bei seinen Männern kaum<br />
60
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
gegeben. Auch wenn er als Hauptmann manchen seiner Kameraden<br />
hatte fallen sehen, so war es doch kaum einer derjenigen, die unter<br />
seinem direkten Befehl standen. Von Anfang an hatte er seine<br />
Soldaten mit eiserner Hand gegen die Orks geführt. Stets hatte er die<br />
Phalanx aufrechterhalten und war nie in die Offensive gegangen.<br />
Dies hatte manche Verluste ersparen können. Doch war es leider<br />
nicht allen Soldaten so leicht ergangen, wie seinen. Er hatte mit<br />
ansehen müssen, wie Hauptmann Sacarus von den Orks<br />
niedergeschlagen wurde und Feldwebel Titus schwer verwundet<br />
davon getragen wurde. Der Unteroffizier Atarus hatte darauf hin das<br />
Abteil zurück zur Zitadelle geführt und dort die Stellung gehalten.<br />
Doch nun hatte dieser seine Männer in die Offensive geschickt und<br />
stand selbst in mitten einer wütenden Kriegerschar, welche ihn mit<br />
Hieben eindeckte.<br />
Für den Betrachter sah es so aus, als würde Atarus töricht handeln<br />
und sich unbedacht in große Gefahr begeben. Doch wusste Krexus es<br />
besser. Der Unteroffizier hatte mit diesem überraschenden Manöver<br />
die Orks, welche mit so einer Tat niemals gerechnet hätten, irritiert<br />
und seinen Soldaten somit einen kleinen Moment geschenkt, in dem<br />
die Bestien unaufmerksam waren. Dadurch konnten mehrere der<br />
gegnerischen Elite-Krieger überwältigt werden und die Soldaten sich<br />
neu zu einer festen Phalanx Formatieren. Nun wurden die Soldaten<br />
auf der Treppe vor der Zitadelle langsam zurück gedrängt. Einige<br />
waren verwundet oder erschlagen worden und dem Rest fehlte es<br />
allmählich an Kraft,den muskulösen und brutalen Kriegern der Orks<br />
standhalten zu können. Dennoch stießen sie laute Siegesrufe aus und<br />
versuchten voller Tatendrang die Grünhäute niederzuringen. Aber<br />
das Schicksal hatte es anders für sie vorgesehen.<br />
61
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Und so musste Krexus mit ansehen, wie die vorderen Reihen der<br />
Phalanx durchbrochen wurden und die schwarz gerüsteten Orks<br />
über die Soldaten herfielen. Es entstand das pure Chaos vor der<br />
Zitadelle. Immer mehr der Soldaten fielen und manch einer verlor<br />
die Hoffnung auf einen Sieg. Ohne Hilfe würden sie alle den<br />
grünhäutigen Bestien zum Opfer fallen und die Orks würde in die<br />
Zitadelle stürmen. Krexus musste etwas gegen diese Monster<br />
unternehmen, aber was? Und gerade, als die Verzweiflung in seine<br />
Glieder kroch, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er wandte<br />
sich von den Orks ab und lief zu einem der Katapulte. Im Laufen rief<br />
er: „Zielt auf die Orks auf der Treppe!“ Doch die<br />
Katapultmannschaft sah ihn nur entgeistert an. „Wir sollen in<br />
Richtung unserer eigenen Männer feuern?“, fragte einer von ihnen<br />
ungläubig, „Was ist, wenn wir uns mehr schaden, als den Orks?“<br />
„Dies war ein Befehl, Soldat!“, wies ihn Krexus zurecht, „ Entweder<br />
ihr zerstört die Treppe, oder die Orks werden die Zitadelle<br />
überrennen!“<br />
Als die Soldaten weiterhin zögerten, fügte er hinzu: „Wenn ich nicht<br />
die Treppe zerstört, dann werden viele eurer Kameraden diesen<br />
Bestien zum Opfer fallen und ihr müsst bis an euer Ende an diesen<br />
Augenblick denken, an dem ihr eure Kameraden den Orks<br />
überlassen habt. Also was ist euch lieber? Den Befehl auszuführen,<br />
oder die Schande zu ertragen, das Volk verraten zu haben?“<br />
Nun setzten sich die Männer in Bewegung und richteten das<br />
Katapult auf die Treppe. Sie luden das Geschoss auf und legten<br />
schweren Herzens den Hebel um. Die große Kugel flog durch die<br />
Luft und prallte hart gegen das Gestein, wobei sie einige der<br />
Kämpfer unter sich begrub. Die nächste Kugel wurde von den vier<br />
62
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Trägern, die zum anheben ihrer enormen Masse notwendig waren,<br />
auf den Katapultarm geladen und anschließend abgefeuert. Dies<br />
wiederholte sich noch drei weitere Male. Schließlich war die Treppe<br />
eingerissen worden und rund zwei Dutzend Orks unter den<br />
Steinmassen begraben worden. Doch waren auch Menschen von den<br />
steinernen Geschossen getroffen worden. Aber der gewünschte<br />
Erfolg war erzielt worden. Orks und Menschen waren nun von<br />
einander getrennt.<br />
Nur Atarus befand sich als einziger noch lebender Mensch auf der<br />
unteren Seite des Geröllhaufens. Mit schmerzenden Gliedmassen<br />
richtete er sich auf. Als er stand, fuhr ihm ein stechender Schmerz<br />
durch da linke seiner Beine. Eine klaffende Wunde zog sich entlang<br />
seines Oberschenkel bis hinter zur Wade. Blut floss sein Bein hinab<br />
auf den Boden. Die Wunde musste von einem der schwarzen Krieger<br />
in seiner Nähe verursacht worden sein. Doch war dies Momentan<br />
nicht von Belang. Er musste zu seinen Männern vor der Zitadelle,<br />
ehe sich die Orks von dem Beschuss des Katapultes erholten. Hastig<br />
versuchte eine Lücke zwischen den Steinen zu finden, doch fand er<br />
keine, durch die er hindurch gepasst hätte. Plötzlich hörte er ein<br />
lautes Schnauben und schwere Schritte, die auf ihn zu kamen.<br />
Er wirbelte herum bereit dem Feind zu begegnen. Ihm blieb fast das<br />
Herz stehen, als er den Krieger vor sich aufragen sah. Es war der<br />
Befehlshaber, welcher versucht hatte, mit seinen Orks in die Zitadelle<br />
zu gelangen. Er ragte zwei Köpfe über Atarus auf und seine<br />
Schultern waren doppelt so breit wie die seinen. Die Rüstung war<br />
übersät mit unzähligen Trophäen und anderen Schmuckstücken. Als<br />
Atarus Blick auf das Schwert in der rechten und auf den Streitkolben<br />
63
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
in der linken Hand des Orks fiel, konnte er die Einkerbungen auf den<br />
Waffen gar nicht mehr zählen, so viele waren es.<br />
Einem solchen Gegner hatte er nichts entgegen zu setzten. Dennoch<br />
umklammerte er den Griff seines Schwertes und wappnete sich für<br />
den wohl letzten Kampf seines Lebens. Er hatte keinen Schild mehr<br />
und trug nur eine lederne Rüstung mit einem dünnen Kettenhemd<br />
darunter. Den Helm hatte er ebenfalls verloren. Alles in allem sah es<br />
nicht gut für ihn aus. Er atmete noch einmal tief ein und stieß die<br />
Luft langsam wieder aus. Er spürte wie die Kampfeslust in seinen<br />
Körper schoss und die Schmerzen verjagte. Dann griff der Ork an.<br />
Der Koloss setzte einen senkrecht geführten Schwerthieb gegen den<br />
Unteroffizier. Dieser drehte sich seitlich weg und ging in Hocke, als<br />
danach der Streitkolben auf ihn zugerast kam. Beide Waffen prallten<br />
gegen das Gestein und hinterließen tiefe Spuren darin. Nun setzte<br />
der Ork dem Menschen nach und führte mehrere schnelle und<br />
wuchtvolle Hiebe nach seinem Torso. Allen Angriffen konnte Atarus<br />
geschickt ausweichen. Doch dann musste er einen Schlag mit seinem<br />
Schwert blocken und wurde durch die Wucht des Aufpralls beinahe<br />
umgeworfen. Dem nächsten Hieb, der auf seinen Kopf zielte, wich er<br />
aus. Nun schwang der Ork das Schwert nach ihm. Atarus wich<br />
erneut aus, drehte sich und holte nun gleichzeitig zum Schlag aus.<br />
Mit beiden Händen hielt er dabei sein Schwert umklammert. Die<br />
Klinge des Orks verfehlte Atarus und blieb im Gestein stecken. Jetzt<br />
schwang der Mensch seine Waffe über den Kopf, ließ sie<br />
herabsausen und zerschlug das Schwert des Orkhauptmannes.<br />
Dieser blickte kurz auf die zerbrochene Klinge und schwang dann<br />
wütend seinen Streitkolben. Er erwischte Atarus an der Schulter.<br />
64
<strong>Aufschlussreich</strong><br />
Atarus spürte, wie der Knochen zerbarst und fühlte den stechenden<br />
Schmerz der ihm durch die Glieder fuhr – benommen fiel er zu<br />
Boden. Verzweifelt versuchte er wieder aufzustehen. Doch der der<br />
Ork trat ihn erneut zu Boden. Nun stand der Kämpfer genau über<br />
ihm. Er ließ den Streitkolben fallen und streckte die Hand nach<br />
Atarus aus. Er packte ihn an der Kehle. Mit einem gewaltigen Ruck<br />
zog er ihn hoch und hielt ihn in der Luft. Nun zeigte er dem<br />
Menschen die zerbrochene Klinge seines Schwertes. Er holte aus und<br />
rammte Atarus die Waffe in den Bauch. Dieser ließ ein lautes,<br />
qualvolles Gurgeln hören. Dann ließ der Ork ihn los.<br />
Unsanft prallte Atarus auf den harten Stein. Er spürte, wie etwas<br />
Warmes aus seinem Körper trat und über den Boden floss.<br />
Benommen sah er, wie der Krieger sich von ihm abwandte und wie<br />
ein Schatten auf den Orkhauptmann zu kam. Dann verlor er das<br />
Bewusstsein.<br />
Langsam fiel er durch die Schwerelosigkeit. Die Schmerzen ließen<br />
nach und das Gesicht seiner geliebten Frau erschien vor ihm. Wie<br />
gerne würde er sie wieder sehen. Wie sehr er sie doch vermisst hatte,<br />
in all den Wochen, in denen er mit seiner Legion zu dieser Festung<br />
marschiert war. Und das nur um hier zu sterben? Dabei er hatte er es<br />
ihr doch versprochen. Er wollte gesund wieder heimkehren. Er hatte<br />
es doch versprochen. Seinen Sohn würde er nie mehr wieder sehen.<br />
Der würde ohne Vater aufwachsen müssen …, aber er hatte es doch<br />
versprochen.<br />
Er hatte es doch…<br />
Er hatte…<br />
Er…<br />
Endlose Stille.<br />
65