Ausgabe 1/2012 (PDF) - Law Journal
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Bornemann, Früheuthanasie Bucerius <strong>Law</strong> <strong>Journal</strong><br />
Heft 1/<strong>2012</strong><br />
willen zu ermitteln. Dies soll in Zusammenwirkung mit dem<br />
behandelnden Arzt (vgl. § 1901b Abs. 1 BGB) und – sofern<br />
möglich – nach Anhörung von Angehörigen des Patienten<br />
(vgl. § 1901b Abs. 2 BGB) erfolgen. Den Fall, dass sich auf<br />
diesem Wege der mutmaßliche Patientenwille nicht bestimmen<br />
lässt, ließ der Gesetzgeber hingegen ungeregelt. Ein<br />
Rückgriff auf „allgemeine Wertvorstellungen“, wie es der<br />
BGH für möglich hielt, ist weder vorgesehen noch explizit<br />
ausgeschlossen. § 1904 Abs. 2 BGB bestimmt darüber hinaus,<br />
dass der Betreuer auch für Entscheidungen über Abbruch<br />
oder Unterbleiben einer solchen Maßnahme zuständig ist, in<br />
deren Konsequenz der Patient stirbt. Jedoch bedarf diese Entscheidung<br />
der Genehmigung des Betreuungsgerichts.<br />
Dabei gilt zu beachten, dass die Nichtbeachtung des (zivilrechtlichen)<br />
betreuungsgerichtlichen Genehmigungserfordernisses<br />
nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verbunden ist.<br />
Solange in Einklang mit dem (wie auch immer bestimmten)<br />
Patientenwillen gehandelt wird, sind strafrechtliche Sanktionen<br />
weder für den Arzt noch für den Betreuer vorgesehen. 29<br />
D. Übertragbarkeit der Sterbehilfegrundsätze auf die<br />
Früheuthanasie<br />
I. Rechtfertigung im Bereich der Früheuthanasie<br />
1. Einleitung<br />
Zentrale Frage im Hinblick darauf, inwiefern für die<br />
Früheuthanasie auf die eben dargestellten Grundsätze der<br />
Sterbehilfe (sowie deren dogmatische Begründung der Straflosigkeit)<br />
zurückgegriffen werden kann, ist, ob die der Sterbehilfe<br />
zugrunde liegende Idee der unbedingten Achtung des<br />
Patientenwillens auch für Neugeborene anwendbar ist. Der<br />
BGH wurde bereits dafür kritisiert, dass er die Behandlungsentscheidung<br />
bei Patienten, die ihr Bewusstsein nie wieder<br />
erlangen werden, von deren mutmaßlichen Willen abhängig<br />
machen wollte. 30 Unter diesem Gesichtspunkt ist die Annahme<br />
einer mutmaßlichen Einwilligung bei einem Neugeborenen,<br />
welches nicht nur einen künftigen Willen nicht bilden<br />
können wird, sondern auch keinen vergangenen oder gegenwärtigen<br />
Willen hat, noch viel fraglicher. 31<br />
2. Die insgesamt ablehnende Position: Unmöglichkeit der<br />
Rechtfertigung<br />
Die extreme Reaktion auf die Unfähigkeit des Neugeborenen<br />
zur wirksamen Einwilligung ist die vollständige Untersagung<br />
von Sterbehilfe im Bereich der Psychiatrie und der Pädiatrie.<br />
Wo keine eigenverantwortliche Einwilligung des Patienten in<br />
die Einleitung bzw. das Unterlassen der fraglichen Maßnahme<br />
angenommen werden kann, sei die Behandlungsentscheidung<br />
eine von Dritten gefällte Entscheidung, die letztlich eine<br />
externe Bewertung des Lebenswerts darstelle. Hierbei handele<br />
es sich nicht mehr um Sterbehilfe, sondern um „Vernichtung<br />
lebensunwerten Lebens“. 32<br />
Da diese Meinung sich durch ihren besonders konsequenten<br />
Lebensschutz auszeichnet, muss sie mit aller Entschlossenheit<br />
die Lebenserhaltung von Neugeborenen selbst im extremsten<br />
Schmerzleiden fordern. Der Schutz des Neugeborenen<br />
vor einem Urteil von außen führt in Kombination mit der<br />
Äußerungsunfähigkeit des Kindes zu einer Pflicht zu leben,<br />
wo einwilligungsfähige Patienten im Wege der Sterbehilfe<br />
längst gehen gelassen werden. Hier scheinen nicht mehr die<br />
Interessen des individuellen Kindes im Fokus zu stehen,<br />
vielmehr wird sein Wohlergehen einem kollektiven Prinzip<br />
geopfert. Aus diesem Grund hat die Ansicht im Rahmen der<br />
Debatte über die Früheuthanasie nie besonders weitreichende<br />
Bedeutung erlangt.<br />
3. Die rechtfertigenden Positionen: § 34 StGB und Einwilligung<br />
a) Die Notwendigkeit einer eindeutigen Positionierung<br />
Die heute bestehenden Rechtfertigungsmodelle der<br />
Früheuthanasie sind auf den Rechtfertigenden Notstand nach<br />
§ 34 StGB begründet oder verweisen auf den Willen des<br />
Kindes, also die Rechtfertigung durch Einwilligung, wie es<br />
der BGH im Fall der Sterbehilfe tut. Eine weitergehende Diskussion<br />
und endgültige Entscheidung zwischen diesen beiden<br />
Varianten mag zunächst als rein akademische Spielerei angesehen<br />
werden, denn das Ergebnis ist dasselbe: Wegen gerechtfertigtem<br />
Handeln keine Strafbarkeit. 33 Welcher Rechtfertigungsgrund<br />
dabei zur Anwendung kommen soll, kann also<br />
eigentlich dahinstehen. Es lassen sich nicht einmal wesentliche<br />
Ungleichheiten für den Prozess der Entscheidungsfindung<br />
finden – worin weichen eine Feststellung des Willens<br />
des Neugeborenen mithilfe von „allgemeinen Wertvorstellungen“<br />
und die „objektive Abwägung (subjektiver) Lebens-<br />
und Sterbensinteressen“ 34 des Notstands voneinander ab?<br />
Dennoch ist eine eindeutige Positionierung an dieser Stelle<br />
erforderlich. Zum einen ist eine dogmatisch kohärente Begründung<br />
in einem Rechtsstaat unentbehrlich – vor allem in<br />
solch existenziellen Fragen. Zum anderen kann es für den<br />
Entscheidungsträger einen moralischen Unterschied machen,<br />
auf welchen Rechtfertigungsgrund er sich berufen darf – dass<br />
es gegenüber dem Strafrichter egal ist, welcher Rechtfertigungsgrund<br />
gegeben ist, heißt nicht, dass auch die Rechtfertigungswirkung<br />
der beiden Gründe gegenüber sich selbst wie<br />
auch gegenüber der Gesellschaft dieselbe ist.<br />
b) Streitdarstellung und Stellungnahme<br />
Die Anhänger der Notstandslösung begründen ihre Ablehnung<br />
gegenüber der Ermittlung des Willens des Kindes damit,<br />
dass die Einwilligungsunfähigkeit von Neugeborenen<br />
rechtlich wie medizinisch anerkannt sei. Der auf dieser Aussage<br />
aufbauende Vorwurf ist, dass das Neugeborene zwar<br />
keinen tatsächlichen Anteil an der Entscheidungsfindung habe,<br />
sein fingierter Wille aber dazu verwendet werde, eine<br />
ausschließlich durch Dritte gefällte Entscheidung zu legitimieren.<br />
35<br />
Dennoch sollte die Rechtfertigung auf dem Willen des Kindes<br />
basieren, genau wie auch die Sterbehilfe sich am Willen<br />
29<br />
Zur alten Rechtslage Saliger, KritV 81 (1998), 118, 139 ff.; Coeppicus,<br />
NJW 1998, 3381, 3393; eine dogmatische Begründung des Ergebnisses im<br />
Hinblick auf § 34 StGB findet sich bei Merkel (Fn. 8), S. 164/165.<br />
30<br />
So Merkel, ZStW 107 (1995), 545, 563 ff; Rönnau, JA 1996, 108, 111.<br />
31<br />
Merkel, ZStW 107 (1995), 545, 563/564; Schmitt, JZ 1979, 462, 464; ders.,<br />
JZ 1985, 365, 369; Schneider, in: MK-StGB (Fn. 16), Vor §§ 211 ff., Rn. 93.<br />
32<br />
So, sich „der Härte dieses Standpunkts [...] bewusst, Schmitt, JZ 1979,<br />
462, 464; seinen Standpunkt nicht erneut in gleicher Deutlichkeit formulierend,<br />
aber i.E. weiterhin daran festhaltend, ders., JZ 1985, 365, 369.<br />
33<br />
Die Ähnlichkeiten betonend Glöckner (Fn. 4), S. 93; NK-Neumann, Vor §<br />
211, Rn. 125.<br />
34<br />
So Merkel (Fn. 8), S. 532.<br />
35<br />
Für eine ausführliche Darstellung der Argumentation m.w.N. Merkel,<br />
Früheuthanasie, S. 528 ff.; ders., ZStW 107 (1995), 545, 564; ähnlich<br />
Eser, in: FS Narr, 1988, S. 47, 54.<br />
28