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64-67 Simon Wyss - Natürlich

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Ich heisse <strong>Simon</strong> <strong>Wyss</strong>, geboren wurde<br />

ich am 1. Oktober 1972 im Triemli-<br />

Spital in Zürich. Mein Vater ist Jörg<br />

Reichlin und meine Mutter Vera<br />

<strong>Wyss</strong>. Dieses Buch zu schreiben ist für<br />

mich eine Hilfe zur Auseinandersetzung<br />

mit meinem Leben und mit meinen täglichen<br />

Erfahrungen. Ich will den Menschen<br />

mitteilen, wie ich den Alltag lebe,<br />

erlebe und mich dabei fühle. Ich will<br />

mitteilen, dass auch Menschen mit einer<br />

Behinderung Menschen sind und Gefühle<br />

haben. Ich bin ein Mensch, obwohl<br />

ich eine cerebrale Behinderung habe.<br />

Familie<br />

Mein Vater ist Schauspieler, das hat mich<br />

schon als Kind sehr beeindruckt. Ich erlebte<br />

ihn gerne auf der Bühne und in<br />

Leicht unbeholfen kommt<br />

ein junger Mann auf mich<br />

zu. Es ist Abend und ich<br />

befinde mich in der S5 von<br />

Zürich nach Rapperswil.<br />

Freundlich fragt er, ob der<br />

Platz noch frei sei, setzt sich hin<br />

und nestelt etwas verlegen an<br />

seiner weiten Jacke herum. Mit<br />

einer ruckartigen Bewegung legt<br />

er einen Fahrschein auf das kleine<br />

Bahntischchen im Abteil. Zwei<br />

Minuten schweigt er, dann sieht er<br />

mich länger an und sagt schliesslich:<br />

«Ich wusste überhaupt nicht, dass das<br />

geht.» Die Rede ist von der Fahrkarte.<br />

Wie sich herausstellt, ist es keine Fahrkarte,<br />

sondern eine Quittung. «Ich habe<br />

soeben am Billett-Automaten mein Natel<br />

aufgeladen», erklärt er. Und wieder:<br />

«Ich wusste überhaupt nicht, dass das<br />

geht.» In seiner schleppenden Sprache<br />

erklärt er mir genau, wie das funktioniert.<br />

Ein Themenwechsel: «Mögen Sie Bücher»,<br />

fragt er unvermittelt. «Ich habe nämlich<br />

ein Buch geschrieben», fährt er fort und als<br />

gewiefter Verkäufer versucht er sogleich,<br />

mir ein Exemplar zu verkaufen. Mit Erfolg.<br />

Es ist das «Buch über mein Leben» zur Verarbeitung<br />

seines Lebens – denn <strong>Simon</strong> <strong>Wyss</strong> hat<br />

eine cerebrale Behinderung.<br />

Text: <strong>Simon</strong> <strong>Wyss</strong><br />

Einleitung und Fotos: Thomas Vogel<br />

Filmen. Ich war sehr stolz auf ihn. Meine<br />

Mutter war mit mir und meinem Bruder<br />

sehr beschäftigt. Sie kümmerte sich um<br />

uns. Für sie war immer schwierig, dass<br />

ich Medikamente einnehmen musste. Ich<br />

habe vier Halbgeschwister: Janish, Mirko,<br />

Daria, Raschid. Ein Kind ist von Mutterseite<br />

und die anderen drei von meinem<br />

Vater. Ich verstehe mich sehr gut mit<br />

ihnen.<br />

Ich wuchs mit Raschid auf, da ich bei<br />

meiner Mutter wohnte. Mit den anderen<br />

hatte ich einen regelmässigen Kontakt.<br />

Ich konnte aber nicht viel mit ihnen spielen,<br />

weil sie viel jünger sind als ich. Sie<br />

konnten mit meiner cerebralen Behinderung<br />

sehr verständnisvoll umgehen.<br />

Die neue Frau meines Vaters hatte<br />

am Anfang eher Mühe mit mir. Mit der<br />

Zeit haben wir uns aber gerne bekom-<br />

Porträt GESELLSCHAFT<br />

men und heute verstehen wir uns gut.<br />

Meine Eltern waren immer sehr wichtig<br />

in meinem Leben. Obwohl sie nicht<br />

mehr zusammen sind, schätze ich, dass<br />

ich mit beiden einen guten Kontakt haben<br />

kann.<br />

Für mich ist es ganz wichtig zu wissen,<br />

dass ich meine Eltern jederzeit anrufen<br />

darf, wenn es mir nicht so gut geht.<br />

Das hilft mir, zu spüren, dass ich nicht<br />

alleine bin, sondern dass Menschen da<br />

sind, die mich unterstützen und lieben.<br />

Ich hatte auch Grosseltern. Sie waren die<br />

Eltern von einem Freund meiner Mutter.<br />

Sie hatten mich in ihrem Herzen eingeschlossen<br />

und ich durfte oft mit ihnen<br />

nach Savognin in die Ferien. Für mich<br />

waren sie ganz wichtige Bezugspersonen.<br />

Mit ihnen habe ich in Braunwald laufen<br />

gelernt. Ich hatte noch Stützschienen an<br />

den Beinen. Es war ganz schön, plötzlich<br />

auf der Wiese laufen zu können, und ich<br />

habe mich ganz frei gefühlt.<br />

Mit einer Tante, die Ärztin ist, ging<br />

ich ab und zu Ski fahren oder ins Kino.<br />

Wenn sie Zeit hat, unternehme ich noch<br />

heute gerne etwas mit ihr.<br />

Erinnerungen<br />

Als ich fünf Jahre alt war, brachte mich<br />

meine Mutter in die Ferien zu meinem<br />

Vater ins Bündnerland. Es war kalt und<br />

meine Mutter hatte mich nur leicht angezogen.<br />

Als mein Vater mich sah, brachte<br />

er mich sofort ins Ferienhaus, um mich<br />

aufzuwärmen. Dort verbrachte ich eine<br />

Woche mit ihm und seinem Hund Belladonna.<br />

Es ist für mich eine schöne Erinnerung.<br />

Ich war mit meinem Vater und meinem<br />

Onkel in Elm am Skifahren. Bei der<br />

Abfahrt bin ich gestürzt und habe den<br />

Kopf angeschlagen. Ich wurde mit dem<br />

Rettungsschlitten ins Tal heruntergefahren.<br />

Als ich unten war, konnte ich aufstehen<br />

und hatte gar keine Schmerzen mehr.<br />

Alle waren natürlich sehr erstaunt über<br />

meine schnelle Heilung.<br />

Freizeit<br />

Ich habe gerne Freizeit! Ich gehe gerne<br />

schwimmen und Ski fahren. Ich habe es<br />

auch gerne gemütlich und gehe ins Kino.<br />

Am liebsten habe ich romantische Liebesfilme.<br />

Ich verbringe gerne meine Freizeit<br />

bei einem guten Essen. Ich geniesse nicht<br />

<strong>Natürlich</strong> | 3-2006 65

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