Regionale Gebrauchsstandards
Regionale Gebrauchsstandards
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„Standard und Substandard<br />
in der deutschen Sprache“ (V)<br />
Variation in der Standardsprache (2):<br />
<strong>Regionale</strong> „<strong>Gebrauchsstandards</strong>“
Stufenmodell:<br />
Abstufungen im Bereich der Standardlautung<br />
- kodifizierte Norm<br />
- subsistente Norm eines regionalen <strong>Gebrauchsstandards</strong><br />
- subsistente Norm einer regionalen Umgangssprache<br />
Kodifizierte Norm der deutschen Aussprache (Orthophonie)<br />
1) Standardlautung<br />
2) Bühnenaussprache<br />
Siebs (bis 1969): Aussprache-Duden (2000):<br />
Reine Hochlautung Standardlautung<br />
Gemäßigte Hochlautung Bühnenaussprache<br />
„Überlautung“ (Diktat, überdeutliches Sprechen bei Lärm usw.)
Abgrenzung von Standardlautung und Umgangslautung<br />
Umgangslautung (nach Duden-Aussprachewörterbuch 2000)<br />
- Bindung an Alltagssituationen<br />
- für „anspruchslose Themen“<br />
Aber:<br />
einik, Predikt, wichtik, Schurnalist, Kemie = süddt. Aussprache<br />
Glass, Batt ‚Bad’, Kriech, gesaacht = norddt. Aussprache<br />
= nicht auf bestimmte Situationskontexte oder Themen beschränkt<br />
= auch unter „Laborbedingungen“ (Vorleseaussprache)<br />
= auch in der höchstmöglichen Sprachlage gebildeter Sprecher<br />
Kriterium für die Zuordnung zur Umgangslautung: Regionalität
Abgrenzung von Standardlautung und Umgangslautung<br />
Andere Beispiele für „Umgangslautung“ aus dem Aussprache-Duden:<br />
lejen ‚legen’, Sorje ‚Sorge’<br />
Schanze ‚Chance’, Angsambl ‚Ensemble’, Täng ‚Teint’<br />
= markierte Formen, als Abweichungen erkennbar, tendenziell als<br />
„salopp“ bewertet<br />
= Stereotypen für bestimmte Regionen<br />
Inkonsequenz der Zuordnungen im Aussprache-Duden:<br />
z.B. Keese ‚Käse‘ = Standardlautung<br />
Baddd, grobb ‚Bad, grob‘ = Umgangslautung<br />
Ordnunk, Flicht = gar nicht angeführt<br />
Abhängigkeit der kategoriellen Zuordnung vom angelegten Kriterium:<br />
Überregionalität vs. Unmarkiertheit
Gesprochenes Standarddeutsch<br />
Methodologische Schwierigkeit: Standardsprachlichkeit empirisch nicht<br />
messbar<br />
Elizitierung der höchstmöglichen Sprachlage eines Sprechers unter<br />
Laborbedingungen > Kontrolle möglicher Einflussfaktoren:<br />
- Aufnahmeort<br />
- Anwesenheit anderer Sprecher<br />
- Vorhandensein eines Mikrofons und eines Aufnahmegeräts<br />
- Gesprächsthema<br />
- Bezug auf schriftliche Vorlagen<br />
Vorleseaussprache > hohe sprachliche Selbstkontrolle
<strong>Regionale</strong> Differenzierung der Standardlautung<br />
Kennosuke Ezawa: Die Opposition stimmhafter und stimmloser<br />
Verschlußlaute im Deutschen. Tübingen 1972<br />
- Aufnahmen mit 90 Studierenden, 1958-1961<br />
- Vorlesen eines ca. 5-minütigen Texts von Heinrich Böll<br />
- Ergebnisse: vgl. die folgenden Karten:<br />
(1) Karte S. 93: Tag/Tach: Konzentration auf den nieder- und<br />
mitteldeutschen Raum<br />
(2) Karte S. 94: Weg/Weech: nur im nd. Raum<br />
(3) Karte S. 95: völlig/völlik: im mittel- und süddeutschen Raum, nur<br />
selten in Norddeutschland (hier als Hyperkorrektion interpretiert)<br />
(4) Karte S. 107: klein/glein: im mittel- und süddeutschen Raum, nur<br />
sporadisch in Norddeutschland
Ergebnisse:<br />
<strong>Regionale</strong> Differenzierung der Standardlautung<br />
1) zahlreiche Abweichungen von der kodifizierten (orthophonischen) Norm<br />
2) kein überregionales Standarddeutsch<br />
Abgrenzung der Vorleseaussprache zu den regionalen Umgangssprachen<br />
ist unklar<br />
Werner König: „Atlas zur Aussprache des Schriftdeutschen in der<br />
Bundesrepublik Deutschland“ (1989)<br />
- 44 Gewährspersonen<br />
- Studierende/Hochschulabsolventen aus Freiburg/Br.<br />
- Alter 21-29 Jahre<br />
- mindestens ein Elternteil mit Abitur<br />
- am jeweiligen Ort geboren und aufgewachsen
<strong>Regionale</strong> Differenzierung der Standardlautung<br />
Fünf „Kontextstile“ (König 1989, S. 17; nach Labov):<br />
1) Spontane Sprechweise (Interview und spontane Unterhaltungen),<br />
2) Vorlesesprache eines zusammenhängenden Textes (Grundgesetz),<br />
3) Vorleseaussprache Wortliste (1480 Einzelwörter),<br />
4) Vorleseaussprache Minimalpaare (ca. 100 Minimalpaare),<br />
5) Vorleseaussprache Einzellaute.<br />
Zunahme des „self-monitoring“ (sprachliche Selbstkontrolle) von 1) bis 5).<br />
Ausgewertet nur die Sprachproben 3) - 5) (mit starker sprachlicher<br />
Selbstkontrolle = kein natürliches Sprechen)<br />
Ergebnis (wie Ezawa 1971):<br />
- zahlreiche Divergenzen zur Standardlautung<br />
- starke regionale Differenziertheit
<strong>Regionale</strong> Differenzierung der Standardlautung<br />
Beispielkarten aus Königs Aussprache-Atlas (Bd. 2):<br />
1) Sichel-Sohn-Seil (sth.-stl.) (Karte S. 241)<br />
2) China/Schina/Kina, Chemie/Schemie/Kemie (Karten S. 249)<br />
3) Pferd-Pflanze/Ferd-Flanze (Karte S. 259)<br />
4) Pappe-plappern-Stoppel-Wappen (Fortis/Lenis-Aussprache des pp)<br />
(Karte S. 262)<br />
5) Gemälde-genügsam (Präfix ge- mit Schwa/mit Vollvokal [e]) (Karte S.<br />
317)<br />
6) Kiste (Endung -e mit Schwa/mit Vollvokal [e]) (Karte S. 321)<br />
7) Garten-Sarg/Gaaten-Saag (Karte S. 194) („Rhotazierung“ = r-Färbung<br />
des vorangehenden Vokals)
<strong>Regionale</strong> Differenzierung der Standardlautung<br />
Hohe soziale Akzeptanz für regionale Aussprachen.<br />
Peter von Polenz (Dt. Sprachgeschichte ..., Bd. 3, 1999, S. 262):<br />
„Der bildungsbürgerlich-nationalstaatliche Versuch [einer Normierung der<br />
Hochlautung] um 1900 war eine soziolinguistisch und<br />
sprachpragmatisch auf die Dauer unhaltbare Illusion, die der<br />
deutschen Sprache als plurizentrischer und plurinationaler Sprache in<br />
einer pluralistischen Gesellschaft nicht mehr angemessen ist.“
Bewertung von Regionalvarietäten<br />
Schmid 1973: Studie zur Bewertung von Dialekten / städtischen<br />
Umgangssprachen<br />
Beliebtheitsskala dialektaler/umgangssprachlicher Varietäten<br />
München West-Berlin Hamburg<br />
1. Bairisch (49) 1. Hochsprache (47) 1. Hochsprache (43)<br />
2. Hochsprache (58) 2. Hamburgisch (48) 2. Bairisch (49)<br />
3. Berlinisch (62) 3. Berlinisch (65) 3. Berlinisch (66)<br />
4. Hamburgisch (65) 4. Bairisch (74) 4. Hamburgisch (76)
Mihm (1985): Studie zur Auffälligkeit und Bewertung von Merkmalen der<br />
Umgangssprache im Ruhrgebiet<br />
Aussprache (Beispiel) Erkannt von ... % der Befragten<br />
Mudder 96<br />
dat, wat, et 85<br />
gekloppt 83<br />
meinse ‚meinen Sie’ 73<br />
kuckn 69<br />
krichte 26<br />
Kriech 25<br />
gefraacht 13<br />
fuachbar 11<br />
dammals 6<br />
Fahkaate 5<br />
ärs ‚erst’ 0<br />
schonn 0<br />
Kiinder, uunsere 0
Syntaktische und morphologische Merkmale<br />
gesprochener Sprache<br />
Überblicksarbeiten zur gesprochenen Standardsprache:<br />
Johannes Schwitalla: Gesprochenes Deutsch. 2. Aufl. Berlin 2003.<br />
Reinhard Fiehler et al.: Eigenschaften gesprochener Sprache.<br />
Tübingen 2004.<br />
Aber: Keine besondere regionale oder situative Spezifizierung der<br />
besprochenen Merkmale.<br />
Beispiele aus der Syntax:<br />
Elliptische Sätze: Ich rein, er schon am Lachen ...<br />
Verberststellung: Fing die an zu brüllen.<br />
Linksherausstellung: Die Fahrerei, nervt dich das nicht?<br />
Rechtsherausstellung: wo wir zum Essen gegangen sind, mein Kollege<br />
und ich
Syntaktische und morphologische Merkmale<br />
gesprochener Sprache<br />
Satzverschränkungen: In Köln weiß ich, dass es eins gibt.<br />
Anakoluthe: Ich finde es unverständlich wenn - das geht einfach nicht.<br />
Abbrüche und Selbstkorrekturen: eine Bestätigung von, vom Pastor<br />
weil, obwohl, wobei mit Verbzweitstellung: ... obwohl, da habe ich<br />
schon gestaunt!<br />
Morphosyntax:<br />
Präferenz des Perfekts gegenüber dem Präteritum: und dann hat er<br />
gesagt ...<br />
Präferenz des Plusquamperfekts gegenüber dem Präteritum: Gestern<br />
war ich im Kino gewesen<br />
Präferenz des Indikativs statt des Konjunktiv I: Er sagt, er ist kein Dieb.<br />
Präferenz des Konjunktivs II statt des Konjunktivs I: Er sagt, er wär kein<br />
Dieb.
Syntaktische und morphologische Merkmale<br />
gesprochener Sprache<br />
Tendenzielle Überregionalität vieler syntaktischer/morphologischer<br />
Spezifika gesprochener Sprache<br />
Bewusstheit der Merkmale, Verknüpfung mit grammatischer<br />
Inkorrektheit („schlechtes Deutsch“)<br />
Beispiele:<br />
- Kasusabweichungen: nache Schule, mitte ganze Organisiererei<br />
- Verlaufsform: am Brüllen sein<br />
- tun-Periphrase: Er tut schreiben<br />
- Pluralformen: die Kinders<br />
- Ersatz des Genitivattributs: mein Vater sein Auto<br />
- Dativ nach wegen: wegen dem Geld<br />
- Distanzstellung bei Pronominaladverbien: Da find ich nichts bei
<strong>Regionale</strong> Verbreitung lexikalischer Merkmale<br />
gesprochener Standardsprache<br />
Drei Atlanten zur regionalen Verbreitung nicht-dialektaler Lexik:<br />
1) „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ von Jürgen Eichhoff<br />
(1977-2000, basierend auf Befragungen der Jahre 1971-1976 und<br />
1977-1987),<br />
2) „Wortgeographie der städtischen Alltagssprache in Hessen“ von<br />
Hans Friebertshäuser und Heinrich Dingeldein (1988, Befragungen<br />
bis 1984)<br />
3) „Wortatlas der städtischen Umgangssprache. Zur territorialen<br />
Differenzierung der Sprache in Mecklenburg-Vorpommern,<br />
Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen“ von<br />
Helmut Protze (1997, Befragungen 1977-1980)<br />
Methodische Basis: Fragebogenerhebungen<br />
> 3 Beispielkarten
Variation in der deutschen Standardsprache: Fazit<br />
1) Ausspracheatlas und Wortatlanten = Kompetenzerhebungen<br />
(keine Erkenntnisse über Gebrauch standardsprachlicher Formen)<br />
2) klare Abgrenzung von regionalen <strong>Gebrauchsstandards</strong> und<br />
regionalen Umgangssprachen gegenwärtig nicht möglich<br />
3) gesprochene Standardsprache = variationsreich, schriftfern und<br />
regional geprägt<br />
(vs. idealisierte Hochsprache: variationsarm, schriftnah,<br />
überregional)<br />
Brauchen wir eine „Hochlautung“?