Betrifft Gymnasium vom September 2012 - GEW Niedersachsen
Betrifft Gymnasium vom September 2012 - GEW Niedersachsen
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Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
<strong>September</strong><br />
<strong>2012</strong><br />
das neue Schuljahr hat begonnen, der Verlauf wird rhythmisiert durch Stundenpläne, Ferien, Zeugnisse, Klassenarbeiten und Klausuren,<br />
Abitur, Schulfahrten, Veranstaltungen und Exkursionen, Gesamt- und Fachkonferenzen. Besonderheiten an Schulen, Mitarbeit in Ausschüssen<br />
und Arbeitsgruppen und individuelles Engagement fügen Termine für Einzelne hinzu. Viele KolIegInnen haben derzeit das<br />
Gefühl: Wir haben immer weniger Zeit, wir sind immer mehr gehetzt und fühlen uns permanent gestresst. Dafür gibt es viele Ursachen:<br />
Schwieriger werdende SchülerInnen, immer höher steigende Ansprüche der Eltern, enge Vorgaben der Kerncurricula, Auflagen<br />
des Zentralabiturs und die vielen Unterrichtsstunden, die aufgrund der Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr weit in den Nachmittag<br />
hineinreichen. Hinzu kommt eine mentale Seite der Ermüdung, da die unreflektierte Output-Steuerung der Eigenverantwortlichen Schule<br />
zunehmend Freiheiten nimmt und immer mehr unsinnige Auflagen (z. B. bundesweites Zentralabitur) hinzufügt. Lehren und Lernen kann<br />
aber nur gelingen, wenn LehrerInnen Zeit haben, zu SchülerInnen eine Beziehung aufzubauen, die Nähe und Distanz situativ sinnvoll<br />
auspendelt. Es muss Zeit sein, in Ruhe zu unterrichten, zu wiederholen und Defizite auszugleichen. Es muss aber auch Zeit bleiben, um<br />
Interessen von SchülerInnen aufzunehmen und sich entfalten zu lassen.<br />
In <strong>Niedersachsen</strong> finden im Januar <strong>2012</strong> Landtagswahlen statt. Es bleibt zu hoffen, dass neue politische Konstellationen dazu führen,<br />
dass durch eine veränderte Schulpolitik endlich am <strong>Gymnasium</strong> RUHE eintritt. Das soll nicht heißen, dass alles so bleiben soll, wie es jetzt<br />
ist, sondern dass Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass in Gelassenheit mit einem hohen Leistungsanspruch sinnvoll gelehrt,<br />
gelernt und gelebt werden kann. Die Fachgruppe <strong>Gymnasium</strong> der <strong>GEW</strong> hat hierzu zahlreiche Vorschläge unterbreitet. Positive Rückmeldungen<br />
der bildungspolitischen Sprecherinnen der jetzigen Oppositionsparteien haben wir auf der letzten Jahreshauptversammlung<br />
erhalten. Man hat uns versichert, eine neue Schulpolitik in engem Dialog mit der <strong>GEW</strong> entfalten zu wollen. Darauf müssen wir setzen!<br />
Landtag: Streit ums Turbo-Abitur<br />
<strong>Niedersachsen</strong>-CDU bleibt bei G8<br />
Schulpolitiker in einzelnen Bundesländern rudern zurück<br />
Für Kultusminister Bernd Althusmann (CDU)<br />
ist die Verkürzung der Schulzeit in <strong>Niedersachsen</strong><br />
auf 12 Jahre trotz Anlaufschwierigkeiten<br />
ein Erfolg. In einer Landtagsdebatte<br />
kurz vor den Sommerferien verteidigte er<br />
das Turbo-Abitur gegen heftige Kritik der<br />
Opposition. Bei den Absolventen des Abiturs<br />
nach 12 und nach 13 Jahren hätten<br />
sich bei den Prüfungen vor einem Jahr nahezu<br />
keine Unterschiede feststellen lassen.<br />
Zudem seien die Lehrpläne „entrümpelt“<br />
worden, so dass die SchülerInnen in weniger<br />
Zeit auch weniger Stoff zu bearbeiten<br />
hätten. Die erste Begründung in Bezug auf<br />
die Stabilität der Leistungen ist mit sinnvoller<br />
Empirie nicht nachweisbar. Die Kolleg-<br />
Innen wissen außerdem, dass die Aussage<br />
in Bezug auf die „Entrümpelung“ (Was für<br />
ein furchtbar unangemessenes Wort für<br />
ein schwer zu lösendes Problem!) in dieser<br />
Form nicht stimmt und einfach nur als<br />
dreist zu bezeichnen ist. Selbstverständlich<br />
unterstützt Ministerpräsident McAllister in<br />
all diesen Fragen ausdrücklich seinen Kultusminister.<br />
<strong>Niedersachsen</strong> halte stur an der Schulzeitverkürzung<br />
fest und denke anders als ande-<br />
re Bundesländer nicht über eine Flexibilisierung<br />
der Abiturregelungen nach, obwohl<br />
SchülerInnen überlastet seien, kritisierte<br />
die Grünen-Bildungsexpertin Ina Korter.<br />
„In den G8-Gymnasien hat sich das Lernen<br />
weitgehend zum Fast-Food-Lernen entwickelt:<br />
Schnell auswendig lernen, schnell<br />
ausspucken, schnell vergessen!“ Die Grünen<br />
wollen die Fehlentwicklungen mit dem<br />
Turbo-Abitur durch neue Konzepte für flexiblere<br />
Lernzeiten korrigieren. Das Abitur<br />
müsse an IGSen und Gymnasien auch nach<br />
13 Jahren möglich sein.<br />
Die Linksfraktion schloss sich zwar der<br />
Kritik der Grünen an, will statt einer Flexibilisierung<br />
aber die Abschaffung des<br />
Turbo-Abiturs. Dies wolle die Mehrheit<br />
der Bevölkerung, betonte die Abgeordnete<br />
Christa Reichwald.<br />
Von der SPD gibt es zurzeit keine offizielle<br />
Beschlusslage der Partei. Der SPD-Abgeordnete<br />
Claus-Peter Poppe meinte, dass mit<br />
einem ständigen Hin und Her niemandem<br />
gedient sei: „Rein in die Kartoffeln, raus aus<br />
den Kartoffeln - das ist kein probates Mittel.“<br />
Die Gymnasien sollen beim Turbo-Abi<br />
bleiben, die Gesamtschulen aber zum alten<br />
Werner Fink<br />
Abi zurückkehren dürfen. McAllisters Herausforderer<br />
Stephan Weil (SPD) hatte angeregt,<br />
künftig das Abitur nach acht und nach<br />
neun Jahren parallel anzubieten.<br />
Alternativen zu G8 in anderen Bundesländern<br />
Während bei den Regierungsfraktionen in<br />
<strong>Niedersachsen</strong> die seit langem vorgetragene<br />
Kritik auf taube Ohren stößt, zweifeln<br />
immer mehr westdeutsche Bundesländer<br />
am Erfolg von G8 und versuchen, den entstandenen<br />
Missständen zu begegnen. Die<br />
Wege der Bundesländer sind dabei unterschiedlich,<br />
und es zeigt sich insgesamt,<br />
dass keiner der Wege zu einer sinnvollen<br />
Lösung führt. Man hat sich in eine Dilemma-Situation<br />
hineinmanövriert, da traditionelle<br />
Denkweisen zur 12- oder 13-jährigen<br />
Schulzeit nicht in eine sinnvolle und praktikable<br />
Synchronisation beider Formen überführt<br />
werden können.<br />
In Rheinland-Pfalz lässt die dortige Kultusministerin<br />
Doris Ahnen (SPD) den achtjährigen<br />
Weg zum Abitur ausschließlich an
Gymnasien zu, die ihren Unterricht bis in<br />
den Nachmittag rhythmisiert haben. Der<br />
kürzere Weg zum Abitur dürfe weder die<br />
SchülerInnen noch die LehrerInnen überfordern.<br />
G9 gilt nach wie vor als Regelfall,<br />
nur 19 Ganztagsgymnasien vergaben das<br />
Abitur nach acht Jahren.<br />
Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein<br />
stellen den Gymnasien unter bestimmten<br />
Bedingungen frei, zu G9 zurückzukehren.<br />
Aber die Alternative wird nur<br />
bedingt angenommen. In Nordrhein-Westfallen<br />
haben sich nur 13 von 600 Gymnasien<br />
zur Umkehr entschieden. In Schleswig-<br />
Holstein waren es 15 von 100, diese aber<br />
mit sehr positivem Echo. Die Schülerzahl an<br />
G9-Schulen ist gestiegen.<br />
Im Juli gab Hessens Ministerpräsident<br />
Bouffier (CDU) gemeinsam mit der neu eingeführten<br />
Kultusministerin Beer (FDP) das<br />
Versprechen ab, dass alle Gymnasien zum<br />
Schuljahresbeginn 2013/2014 die Wahl<br />
zwischen G8 und G9 bekommen sollen. Die<br />
Öffentlichkeit hatte es als ungerecht empfunden,<br />
dass die kooperativen Gesamtschulen<br />
in Hessen die Wahl zwischen G8 und G9<br />
hatten, die Gymnasien aber nicht. Grundsätzlich<br />
geben aber Bouffier und Beer G8<br />
den Vorzug.<br />
Die Landesregierung in Baden-Württemberg<br />
hat entgegen ihrem Wahlversprechen,<br />
flächendeckend G9-Züge einzuführen, die<br />
Zahl der Modellschulen, die nach den Sommerferien<br />
an den Start gehen sollen, auf 44<br />
beschränkt. Die Anmeldezahlen an den ersten<br />
22 Modellschulen lagen deutlich über<br />
dem Angebot. Das Angebot gilt an sich nur<br />
für vierzügige Gymnasien, die dann zwei<br />
G8- und zwei G9-Züge führen. Nur sieben<br />
von 22 Modellschulen haben ganz auf G9<br />
umgestellt. An den Modellschulen besuchen<br />
2.178 SchülerInnen den G9-Zug und<br />
502 einen G8-Zug.<br />
Die Stadtstaaten verfolgen das Modell der<br />
zwei Wege zum Abitur: An Bremens<br />
Ober-, Hamburgs Stadtteil- und Berlins<br />
Sekundarschulen legen die SchülerInnen<br />
nach neun Jahren das Abitur ab, an den herkömmlichen<br />
Gymnasien nach acht Jahren.<br />
Ein Weg, der bekanntermaßen den integrierten<br />
Gesamtschulen in <strong>Niedersachsen</strong><br />
versagt ist.<br />
Nach zwei mehrstündigen G8-Gipfeln in<br />
der Staatskanzlei haben Ministerpräsident<br />
Seehofer und Kultusminister Spaenle (CSU)<br />
in Bayern grünes Licht für ein „Intensivierungsjahr“<br />
gegeben, in dem <strong>vom</strong> Schuljahr<br />
2013/2014 an SchülerInnen mit Schwächen<br />
in der 8., 9. oder 10. Klasse die Chance<br />
erhalten, ein Jahr lang „intelligent zu wiederholen“,<br />
ohne dass das als Sitzenbleiben<br />
zählt. Das Abitur würde dann nach 13 Jahren<br />
absolviert, eine stille Rückkehr zu G9<br />
bei letztendlich unverändertem Lehrplan.<br />
Auch starke SchülerInnen sollen das „Intensivjahr“<br />
einlegen können, wenn sie z. B. ins<br />
Ausland gehen wollen. Die ca. 400 Gymna-<br />
sien in Bayern erhalten für die Umsetzung<br />
je einen halbe Lehrerstelle.<br />
<strong>GEW</strong> kritisiert die Entwicklungen in den<br />
anderen Bundesländern<br />
Das bayrische Modell fixiert ein „Sitzenbleiben“<br />
in der Sek I, wie immer man es<br />
verbrämt, G8 bleibt im Kern unangetastet.<br />
Tatsächliches Sitzenbleiben und das Wiederholen<br />
eines Schuljahres auf freiwilliger<br />
Basis gab es aber ohnehin bereits unter G8-<br />
Bedingungen.<br />
Wenn Nachmittagsunterricht als Kompensation<br />
für das 13. Schuljahr begriffen wird,<br />
ist nicht verstanden, dass der „Nachmittag“<br />
eigentlich unbekannte Lebens- und Lernräume<br />
eröffnen kann und besonders den<br />
Benachteiligten zugutekommen soll. Nun<br />
wird auf enge Kompensationsprogression<br />
reduziert, was in der Form nicht gelingen<br />
kann.<br />
Wenn 12 oder 13 Schuljahre an einem<br />
<strong>Gymnasium</strong> parallel laufen oder sich eine<br />
Schule für 12 oder 13 Jahre entscheiden<br />
soll, werden Eltern und SchülerInnen zu<br />
frühzeitigen Entscheidungen gezwungen,<br />
denn eine längere Schulzeit bezieht sich<br />
auf die Sek I, die man in sechs oder sieben<br />
Jahren mit unterschiedlicher Lernprogression<br />
durchlaufen kann. Die Sek II bleibt mit<br />
zwei Schuljahren unverändert bestehen.<br />
Kinder und Jugendliche entwickeln sich<br />
aber nicht linear, sondern mit Rückschritten,<br />
Fortschritten, auch Sprüngen nach<br />
„vorn“ und manchmal auch für eine Weile<br />
nach „hinten“. Das 12- oder 13-jährige Modell,<br />
auch in seinen Mischformen, geht aber<br />
von einem „konstanten“ Begabungs- oder<br />
Intelligenzbegriff und linear verlaufenden<br />
Lernprozessen aus, was längst als wissenschaftlich<br />
überholt gilt und nicht haltbar<br />
ist.<br />
Das Modell Hamburgs, Berlins und Bremens<br />
könnte eine Zwischenlösung darstellen,<br />
löst die Probleme der Gymnasien aber<br />
nicht.<br />
Die <strong>GEW</strong> <strong>Niedersachsen</strong> fordert sinnvolle<br />
Alternativen zu G8<br />
Die von der Öffentlichkeit und insbesondere<br />
auch von der <strong>GEW</strong> beharrlich vorgetragene<br />
Kritik am Turbo-Abitur zeigt Wirkung.<br />
Zahlreiche Reform-Vorschläge sind aber<br />
organisatorisch so kompliziert, dass sie für<br />
die Kollegien neue Belastungen schaffen,<br />
ohne positive pädagogische Wirkungen in<br />
Aussicht zu stellen.<br />
Die Mehrheit der Bundesbürger wünscht<br />
sich laut einer Emnid-Umfrage <strong>vom</strong> Juni<br />
<strong>2012</strong> die Rückkehr zum Abitur nach 13<br />
Jahren. 53 Prozent votierten für G9, in<br />
Westdeutschland sogar 59 Prozent, nur 41<br />
Prozent bzw. 33 Prozent befürworten das<br />
aktuelle System (Focus-online, 7.7.<strong>2012</strong>).<br />
Die <strong>GEW</strong> möchte weiter Einfluss nehmen<br />
auf die öffentliche Diskussion, aber auch<br />
auf die, die hinter „verschlossenen Türen“<br />
geführt werden.<br />
Die <strong>GEW</strong> Niedersachen geht bei ihrem<br />
Reformvorschlag von einer Bildungsvorstellung<br />
aus, die an einem traditionellen<br />
humanistischen Bildungsbegriff anknüpft,<br />
ihn aber weiterentwickelt. Damit SchülerInnen<br />
auf dieser Grundlage Erfahrungs-,<br />
Handlungs- und Orientierungskompetenzen<br />
erwerben können, sind vielfältige fächerübergreifende<br />
und projektorientierte<br />
Lernformen nötig, die aber Fachunterricht<br />
zum Erwerb von Basiswissen nicht ersetzen<br />
sollen. Die zurzeit vorgegebenen Inhalte,<br />
der G8-Zeitdruck und die Lern- und Prüfungsformen<br />
sind sehr einengend sowohl<br />
für SchülerInnen als auch für die Unterrichtenden.<br />
Die Bedingungen müssen so verändert<br />
werden, dass ausreichend Zeit für<br />
nachhaltiges Lernen gegeben und schülerorientiertes<br />
Lernen ermöglicht wird. Identitäts-<br />
und sinnstiftende Lern-, Arbeits- und<br />
Lebensprozesse müssen die Regel werden.<br />
Das <strong>Gymnasium</strong> muss grundsätzlich flexible<br />
Lernzeiten möglich machen, denn auch<br />
das <strong>Gymnasium</strong> hat die Aufgabe, dafür zu<br />
sorgen, dass Heterogenität nicht zur Selektion<br />
führt. G8 gehört als Regelfall abgeschafft.<br />
An dessen Stelle tritt eine flexible<br />
Schulzeit mit der Möglichkeit, Lernzeiten zu<br />
individualisieren.<br />
Für die Sek I muss gelten, dass die Rahmenbedingungen<br />
für Lehren und Lernen<br />
verbessert werden. Die Verkleinerung der<br />
Klassen kann nur ein erster Schritt sein.<br />
Mit den Anforderungsprofilen des zehnten<br />
Jahrgangs schließt die Sek I ab.<br />
Für die Sek II hat die <strong>GEW</strong> <strong>Niedersachsen</strong><br />
einen weitreichenden Reformvorschlag erarbeitet,<br />
dessen Umsetzung allerdings eine<br />
Veränderung der geltenden KMK-Bestimmungen<br />
erfordert. Im Rahmen der zurzeit<br />
geltenden KMK-Bestimmungen sollen die<br />
Anzahl der Prüfungsfächer auf vier beschränkt<br />
werden, eine zeitliche Differenzierung<br />
zwischen Leistungs- und Grundkursen<br />
(fünf und drei Stunden) erfolgen und neue<br />
Formen von Beurteilungen und Leistungsmessungen<br />
ermöglicht werden.<br />
Die Sek II endet mit dem Erwerb des Abiturs.<br />
Sie beginnt nach Jahrgang 10 und<br />
kann in zwei, drei oder vier Jahren durchlaufen<br />
werden.<br />
Die <strong>GEW</strong> schlägt Runde Tische und Pilotprojekte<br />
zur Weiterentwicklung des <strong>Gymnasium</strong>s<br />
vor, um in Ruhe Regelungen entwickeln<br />
und ausprobieren zu können, die den<br />
oben referierten Grundsätzen entsprechen.<br />
Auf die Erfahrungen aus anderen Bundesländern<br />
soll und muss dabei zurückgegriffen<br />
werden. Von reformerischen Schnellschüssen<br />
haben alle die Nase gestrichen<br />
voll!<br />
Henner Sauerland/Werner Fink
„Das Auto wird gestartet ohne einen erfahrenen Fahrer“<br />
Lernen und Pubertät<br />
Gebannt ließ sich am 22.11.2011 ein großes<br />
Publikum auf den sehr präzisen Vortrag<br />
„Pubertät und Lernen – Neurobiologie der<br />
Selbstregulation und ihre Besonderheiten<br />
in der Adoleszenz“ von Frau Dr. Zrinka Sosic-<br />
Vasic <strong>vom</strong> TransferZentrum für Neurowissenschaften<br />
und Lernen der<br />
Universität Ulm ein, denn: „Vorsicht! Teenager<br />
in der Pubertät sind unzurechnungsfähig,<br />
können alles, wissen alles und sind<br />
reizbar.“<br />
Die Pubertät ist die Zeit des Umbruchs <strong>vom</strong><br />
Kind zum Erwachsenen. Kennzeichen sind<br />
die lineare Zunahme des Größenwachstums,<br />
der hormonellen Entwicklung und des BMI<br />
(Body-Mass-Index: Maßzahl für die Bewertung<br />
des Körpergewichts des Menschen in<br />
Relation zu seiner Körpergröße). Synchron<br />
zu dieser Entwicklung verläuft aber nicht<br />
eine stetige Entfaltung der Neuroplastizität<br />
des Gehirns (Veränderungen von Eigenschaften<br />
der Synapsen, Nervenzellen oder<br />
auch ganzen Hirnarealen), was entsprechende<br />
Selbststeuerungs- und Kontrollmöglichkeiten<br />
ermöglichen würde. Stattdessen ist<br />
die Hirnentwicklung bis zum Erreichen einer<br />
neuen hohen Qualität am Ende der Pubertät<br />
von Abnahmen und Brüchen, aber auch<br />
Konsolidierungen und Neuaufbauten gekennzeichnet.<br />
Dies zeigt sich in äußerlichen<br />
Verhaltensweisen, die ja durch starke emotionale<br />
Schwankungen gekennzeichnet sind,<br />
die nicht nur Eltern, sondern auch LehrerInnen<br />
nur zu gut bekannt sind. Pubertierende<br />
wollen alles selbst können, haben aber große<br />
Schwierigkeiten dies zu realisieren, woraus<br />
sich eine hohe Risikobereitschaft ergibt.<br />
Exekutive Funktionen und schulischer Erfolg<br />
Sosic-Vasic beschreibt Kennzeichen des Erwachsenseins<br />
als<br />
• selbstregulatorische Fähigkeiten bzgl. des<br />
Verhaltens und der Emotionen und<br />
• die Befähigung, selbst unter star-<br />
ken Emotionen komplexe soziale Situationen<br />
zu meistern.<br />
Um über Selbstregulationsfähigkeit zu verfügen,<br />
also „sich im Griff zu haben“, bedarf<br />
es der Ausbildung exekutiver Funktionen<br />
des Gehirns, die sich kennzeichnen und<br />
messen lassen. Zur Verdeutlichung hatte das<br />
Plenum Aufgaben zu lösen, die sich auf ex-<br />
ekutive Funktionen des Gehirns beziehen,<br />
die des Arbeitsgedächtnisses (Fex-Back Aufgabe)<br />
und der kognitiven Flexibilität (Dots-<br />
Mixed-Task). Anhand des Films „Marshmallow-Test“<br />
(http://www.youtube.com/<br />
watch?v=6EjJsPylEOY) wurde Hemmung/<br />
Inhibition verdeutlicht: Der Psychologe<br />
Walter Mischel stellte in den sechziger Jahren<br />
vierjährige Kinder auf eine äußerst verlockende<br />
Selbstbeherrschungsprobe, um zu<br />
sehen, ob sie einen Belohnungsaufschub<br />
ausführen konnten. Sie wurden vor die<br />
Wahl gestellt, entweder einen vor ihnen liegenden<br />
Marshmallow sofort zu essen oder<br />
aber, wenn sie ca. 15-20 Minuten warteten,<br />
zusätzlich einen zweiten Marshmallow zu<br />
erhalten. Langzeituntersuchungen zeigten:<br />
Je länger ein Kind in der Lage war, der Aufgabe<br />
standzuhalten, umso besser bewältigte<br />
es später sein Leben, denn die Kinder mit<br />
höherem Gratifikationsaufschub zeigten im<br />
Teenageralter eine bessere Konzentration,<br />
mehr Intelligenz, einen planvolleren Umgang<br />
mit Aufgaben und bessere Noten bei<br />
Standardschultests. Stress, Versuchung und<br />
Frustration konnten sie nicht unterkriegen.<br />
Verallgemeinern lässt sich: Je schwächer<br />
die exekutiven Funktionen bei SchülerInnen<br />
ausgeprägt sind, umso schlechter sind<br />
auch die schulischen Leistungen, oder positiv<br />
formuliert: „Exekutive Funktionen sind<br />
ein starker Prädikator für akademischen<br />
Erfolg und soziale Integration.“ Sosic-Vasic<br />
zufolge belegen die Forschungsergebnisse<br />
Wabers (2003), dass exekutive Funktionen<br />
stärker akademischen Erfolg vorhersagen<br />
als die Tests in Bezug auf kognitive Fähigkeiten,<br />
z.B. IQ-Tests, denn Kinder mit niedrigen<br />
exekutiven Funktionen wiesen ein höheres<br />
Risiko für Schulabbrüche und emotionale<br />
Deprivationen auf.<br />
Das neurologische Dilemma der Pubertät<br />
Ausgangspunkt für die Beschreibung des<br />
neurologischen Dilemmas der Pubertät<br />
bildet das tragische Schicksal des Phineas<br />
Gage (* 1823; † 21. Mai 1860). Er war 1848<br />
Opfer eines schweren Unfalls geworden, bei<br />
dem eine drei Zentimeter dicke, lange Eisenstange<br />
von unten nach oben durch seinen<br />
Schädel schoss und eine große Wunde in<br />
Schädel, Weichteilen und Gehirn verursachte.<br />
Er überlebte den Unfall und die Wunde<br />
heilte. Sein Langzeitgedächtnis, Sprache<br />
und Motorik blieben zwar intakt, aber es<br />
traten aufgrund der Verletzung weitgehende<br />
Persönlichkeitsänderungen ein, die<br />
durch niedrige Selbstkontrolle und Selbstorganisationsfähigkeiten,<br />
hohe Impulsivität,<br />
verantwortungsloses Verhalten und chaotischen<br />
Alltag gekennzeichnet waren. Hinzu<br />
kamen auf der kognitiven Ebene hohe Vergesslichkeit<br />
und sehr kurze Aufmerksamkeitsspannen.<br />
Diese Verhaltensänderungen<br />
waren auf Verletzungen im orbitofrontalen<br />
und präfrontalen Kortex (Frontallappen)<br />
zurückzuführen, der die genannten exekutiven<br />
Funktionen steuert. Dieser Bereich<br />
des Gehirns braucht zu seiner Entwicklung<br />
am längsten und hat seine Ausreifung während<br />
der Pubertät, sodass viele pubertäre<br />
Merkwürdigkeiten im Verhalten hier ihre<br />
Ursachen finden: Dabei stehen relativ reife<br />
Hirnsysteme zur emotionalen Verarbeitung<br />
(subkortilale Strukturen/limbisches System)<br />
neben den relativ unreifen Hirnsystemen<br />
zur kognitiven und emotionalen Selbstregulation:<br />
Bereits sexuell reife Körper treffen<br />
also auf verminderte selbstregulatorische<br />
Fähigkeiten (emotional/kognitiv) bei gleichzeitig<br />
erhöhter emotionaler Reaktion und<br />
Risikobereitschaft. Dies erklärt auch überschäumende<br />
Emotionalität von Schülerinnen<br />
und Schülern, die jeder Lehrer kennt.<br />
Für die Pubertät präzisierte Sosic-Vasic<br />
mehrere Veränderungen genauer. Mit sechs<br />
Jahren hat das Gehirn bereits die Größe eines<br />
Erwachsenengehirns erreicht, es verändert<br />
sich in den folgenden 20 Jahren allerdings<br />
sehr. Bis zum Ende der Pubertät gilt:<br />
• Die Graue Substanz, die bis zum Beginn<br />
der Pubertät mächtig anwächst,<br />
wird ausgedünnt (Pruning). Bis zu 50%<br />
werden am Ende der Pubertät gelöscht<br />
sein, indem 30.000 Synapsen (Nervenverbindungen)<br />
verschwinden. Da neue<br />
Verbindungen entstehen, wird der präfrontale<br />
Kortex (PFK: Ort für Lernen, Impulskontrolle,<br />
Planungsfähigkeit) fast<br />
vollkommen neu organisiert, was viel<br />
Zeit kostet. Der Vorteil der Ausdünnung<br />
ist die Spezialisierung („Use it or loose<br />
it“), der Nachteil ist, dass die emotionalen<br />
Verarbeitungen im Vordergrund<br />
stehen, weil, wie bereits erwähnt wurde,<br />
die Jugendlichen stärker ihr im<br />
Vergleich zum PFK reiferes limbisches<br />
System nutzen.<br />
• Die Weiße Substanz wächst. Dies führt<br />
zu einer deutlich schnelleren Reizweiterleitung,<br />
was u. a. besonders wichtig<br />
für Gedächtnisleistungen ist. Allerdings<br />
werden auch die emotionalen Reize, die<br />
ja leicht verfügbar sind, schneller weitergeleitet.<br />
Das wird im Zusammenhang<br />
mit dem Ausschütten von Dopamin<br />
wichtig.<br />
• Das Dopamin ist ein Neurotransmitter,<br />
dessen Ausschüttung Glücksgefühle<br />
vermittelt. Lernen ohne Ausschüttung<br />
von Neurotransmittern ist schlicht nicht<br />
möglich. Die Wirkung des Dopamins
wird im Nucleus Accumbens (Region<br />
des Belohnungssystems und<br />
Ort emotionaler Lernprozesse und<br />
der Motivation) mit gesteuert, reguliert<br />
und herabgesetzt, d.h. in der<br />
Pubertät sind Belohnungen schwerer<br />
zu erreichen. Im PFK muss die<br />
Ausschüttung des Dopamins erhöht<br />
werden, denn die Bewertungen von<br />
Informationen durch den Nucleus<br />
Accumbens springen verzögert an.<br />
Die Jugendlichen brauchen also einen<br />
wesentlich stärkeren Kick, um<br />
ein Glücksgefühl zu bekommen,<br />
und deswegen ist ihre Risikobereitschaft<br />
sehr hoch.<br />
Pädagogisch-didaktische Konsequenzen<br />
Die Umbauarbeiten des Gehirns in der<br />
Pubertät erklären viele Verhaltensweisen<br />
Jugendlicher: „Das Auto wird gestartet<br />
ohne einen erfahrenen Fahrer“.<br />
Damit soll jedoch nicht jedes Verhalten<br />
entschuldigt werden. Sosic-Vasic verweist<br />
auf pädagogische Konsequenzen:<br />
1. Die selbstregulativen Fähigkeiten<br />
müssen insgesamt trainiert und gefördert<br />
werden, Gelegenheiten zum<br />
Training des Frontalhirns müssen<br />
gewissermaßen inszeniert werden;<br />
Veranstaltungen der<br />
Fachgruppe Gymnasien<br />
Forum <strong>Gymnasium</strong> <strong>2012</strong><br />
Das digitale Klassenzimmer: Fluch und<br />
Segen für das<br />
Lernen im 21. Jahrhundert!?<br />
Christian Füller, Pisaversteher, taz.die tageszeitung<br />
Ulf Blanke, Tabletlehrer an der IGS Volkmarode<br />
Die Schulen stehen vor einem neuen Zeitalter des Lernens: Der<br />
didaktischen Arbeit mit dem Web2.0, seinen sozialen Netzwerken<br />
und neuen Endgeräten wie Tablet-Computern. Sind nun alle<br />
bisherigen Methoden veraltet? Was kommt auf den Lehrer neuen<br />
Typs zu? Pisaversteher Christian Füller wird Chancen, Risiken und<br />
Illusionen des Lernen2.0 benennen. Ulf Blanke wird die konkrete<br />
Schulpraxis einer Tablet-Klasse plausibel machen. Beide Referenten<br />
stehen danach zu einer ausführlichen kritischen Diskussion<br />
zur Verfügung.<br />
Montag, 19. November <strong>2012</strong>, 10.00 h bis 16.00 h.<br />
Freizeitheim Vahrenwald, Hannover, Vahrenwalderstr. 92<br />
U- /Stadtbahnlinien 1, 2. Bahnstation: Dragonerstraße<br />
Anmeldungen: Karin Fabian, <strong>GEW</strong> <strong>Niedersachsen</strong>,<br />
Berliner Allee 16, 30175 Hannover<br />
Tel.: 0511-3380442 - K.Fabian@gew-nds.de<br />
Teilnahmegebühr: <strong>GEW</strong>-Mitglieder: 7,50 € - Nichtmitglieder der<br />
<strong>GEW</strong>: 20,00 € – ReferendarInnen, die Mitglied der <strong>GEW</strong> sind:<br />
2,50 € – ReferendarInnen, die Nicht-Mitglied der <strong>GEW</strong> sind: 5,00 €.<br />
2. Lern- und soziale Erfahrungen muss jeder<br />
Jugendliche selbst machen, weil es<br />
geübt werden muss;<br />
3. Klare Regeln und Konsequenzen, positive<br />
wie negative, müssen die Jugendlichen<br />
selbst tragen.<br />
Wie kann Schule die Selbsterfahrungsmöglichkeiten<br />
zur Schulung exekutiver Befähigungen<br />
fördern? Die herkömmliche Schule<br />
ist hier gefragt, sich zu verändern, denn abschließende<br />
Vorschläge deuten eine qualitativ<br />
modifizierte und neue Schule an:<br />
• Auf „E3 “: Eigenständigkeit/Autonomie,<br />
Eingebundenheit und Erfolgserlebnisse<br />
als Voraussetzung für erfolgreiches<br />
Lernen wird verwiesen.<br />
• Jugendliche sollen das Spielen planen<br />
können, sich erproben können. Es<br />
geht um Inszenierungen zur Erfahrung<br />
von Selbstregulation, also auch um das<br />
Schaffen offener Lernsituationen (z. B.<br />
Montessoriorientierung).<br />
• Jugendliche benötigen Räume zum Reflektieren:<br />
Sie sprechen über das WIE:<br />
(Wie wusstest Du, dass das geht?); Jugendliche<br />
sprechen über die Arbeit anderer<br />
Jugendlicher.<br />
In der Kleingruppenarbeit, die sich an den<br />
Vortrag anschloss, wurden Umsetzungsmöglichkeiten<br />
und Hemmnisse diskutiert<br />
und abschließend vorgestellt. Fantasievolle<br />
Denkansätze gibt es viele, es<br />
bleibt aber das drängende Problem der<br />
Implementierung, wodurch sich eine<br />
aufzunehmende Thematik für kommende<br />
Seminare anbietet.<br />
Werner Fink, Paul Schubert<br />
Gruppenarbeitsergebnisse:<br />
Umsetzungsmöglichkeiten: Stärken der<br />
SchülerInnen erkennen und ausbauen;<br />
Projektarbeit; Wochenplan; Lerntagebuch;<br />
Lernkarten; Kompetenzraster (für SchülerInnenhand);<br />
Lernblöcke statt Stundenraster;<br />
Stationenlernen; Methodenlernen;<br />
Kooperatives Lernen.<br />
Offene Fragen: Wie lassen sich KollegInnen/Schulleitungen/Eltern<br />
überzeugen?<br />
Wie kann ich Lernen initiieren, das „E 3 “<br />
aufnimmt? Wie verändert sich meine LehrerInnenrolle?<br />
Wie lassen sich sinnvolle<br />
Rahmenbedingungen schaffen?<br />
Anstiftung zum Lernerfolg, Teil II:<br />
Selbstwirksam lernen für alle<br />
Beteiligten?<br />
Dr. Carina Renold-Fuchs<br />
Learning Factory (http://www.learningfactory.ch)<br />
Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen – Universität<br />
Ulm (http://www.znl-ulm.de)<br />
Montag, 1. Oktober, 15.00 h, bis Dienstag, 2. Oktober, 15.00 h<br />
Verden - Jugendhof Sachsenhain<br />
Lernen scheint mit vielen Reibungsverlusten einherzugehen, bemessen<br />
am Nachhilfemarkt, am Kulissenlernen in der Schule und<br />
am Belastungserleben von Lehrkräften (vgl. Lethinen 1994 und<br />
DAX-Studie zur Lehrergesundheit 2011). Ist es denk- und machbar,<br />
schulisches Lernen anders zu gestalten? Wie ist es möglich, den<br />
Lehrplan-Forderungen ebenso gerecht zu werden wie dem Sinnerleben<br />
von allen Beteiligten?<br />
Carina Renold-Fuchs schöpft aus dem Erfahrungswissen und aus<br />
der Lernprozessforschung. Sie zeigt anhand eigener Umsetzungspraxis<br />
an einem <strong>Gymnasium</strong>, dass mit einem veränderten Lehrer-<br />
Innenverhalten selbstwirksames Lernen gelingen kann. Somit<br />
werden auch Anregungen für mögliches Lern-Coaching gegeben.<br />
Anmeldungen: Karin Fabian, <strong>GEW</strong> <strong>Niedersachsen</strong>, Berliner Allee<br />
16, 30175 Hannover<br />
Tel.: 0511-3380442 - K.Fabian@gew-nds.de<br />
Für alle <strong>GEW</strong>-Mitglieder ist die Teilnahme am zweitägigen Seminar<br />
kostenlos.<br />
Teilnahmegebühr: Nicht-Mitglieder der <strong>GEW</strong>: 50,00 € – ReferendarInnen,<br />
die nicht Mitglied der <strong>GEW</strong> sind: 25,00 €.<br />
Impressum: V.i.S.d.P. Henner Sauerland, <strong>GEW</strong> <strong>Niedersachsen</strong>, Auflage 18.800