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Betrifft Gymnasium vom September 2012 - GEW Niedersachsen

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„Das Auto wird gestartet ohne einen erfahrenen Fahrer“<br />

Lernen und Pubertät<br />

Gebannt ließ sich am 22.11.2011 ein großes<br />

Publikum auf den sehr präzisen Vortrag<br />

„Pubertät und Lernen – Neurobiologie der<br />

Selbstregulation und ihre Besonderheiten<br />

in der Adoleszenz“ von Frau Dr. Zrinka Sosic-<br />

Vasic <strong>vom</strong> TransferZentrum für Neurowissenschaften<br />

und Lernen der<br />

Universität Ulm ein, denn: „Vorsicht! Teenager<br />

in der Pubertät sind unzurechnungsfähig,<br />

können alles, wissen alles und sind<br />

reizbar.“<br />

Die Pubertät ist die Zeit des Umbruchs <strong>vom</strong><br />

Kind zum Erwachsenen. Kennzeichen sind<br />

die lineare Zunahme des Größenwachstums,<br />

der hormonellen Entwicklung und des BMI<br />

(Body-Mass-Index: Maßzahl für die Bewertung<br />

des Körpergewichts des Menschen in<br />

Relation zu seiner Körpergröße). Synchron<br />

zu dieser Entwicklung verläuft aber nicht<br />

eine stetige Entfaltung der Neuroplastizität<br />

des Gehirns (Veränderungen von Eigenschaften<br />

der Synapsen, Nervenzellen oder<br />

auch ganzen Hirnarealen), was entsprechende<br />

Selbststeuerungs- und Kontrollmöglichkeiten<br />

ermöglichen würde. Stattdessen ist<br />

die Hirnentwicklung bis zum Erreichen einer<br />

neuen hohen Qualität am Ende der Pubertät<br />

von Abnahmen und Brüchen, aber auch<br />

Konsolidierungen und Neuaufbauten gekennzeichnet.<br />

Dies zeigt sich in äußerlichen<br />

Verhaltensweisen, die ja durch starke emotionale<br />

Schwankungen gekennzeichnet sind,<br />

die nicht nur Eltern, sondern auch LehrerInnen<br />

nur zu gut bekannt sind. Pubertierende<br />

wollen alles selbst können, haben aber große<br />

Schwierigkeiten dies zu realisieren, woraus<br />

sich eine hohe Risikobereitschaft ergibt.<br />

Exekutive Funktionen und schulischer Erfolg<br />

Sosic-Vasic beschreibt Kennzeichen des Erwachsenseins<br />

als<br />

• selbstregulatorische Fähigkeiten bzgl. des<br />

Verhaltens und der Emotionen und<br />

• die Befähigung, selbst unter star-<br />

ken Emotionen komplexe soziale Situationen<br />

zu meistern.<br />

Um über Selbstregulationsfähigkeit zu verfügen,<br />

also „sich im Griff zu haben“, bedarf<br />

es der Ausbildung exekutiver Funktionen<br />

des Gehirns, die sich kennzeichnen und<br />

messen lassen. Zur Verdeutlichung hatte das<br />

Plenum Aufgaben zu lösen, die sich auf ex-<br />

ekutive Funktionen des Gehirns beziehen,<br />

die des Arbeitsgedächtnisses (Fex-Back Aufgabe)<br />

und der kognitiven Flexibilität (Dots-<br />

Mixed-Task). Anhand des Films „Marshmallow-Test“<br />

(http://www.youtube.com/<br />

watch?v=6EjJsPylEOY) wurde Hemmung/<br />

Inhibition verdeutlicht: Der Psychologe<br />

Walter Mischel stellte in den sechziger Jahren<br />

vierjährige Kinder auf eine äußerst verlockende<br />

Selbstbeherrschungsprobe, um zu<br />

sehen, ob sie einen Belohnungsaufschub<br />

ausführen konnten. Sie wurden vor die<br />

Wahl gestellt, entweder einen vor ihnen liegenden<br />

Marshmallow sofort zu essen oder<br />

aber, wenn sie ca. 15-20 Minuten warteten,<br />

zusätzlich einen zweiten Marshmallow zu<br />

erhalten. Langzeituntersuchungen zeigten:<br />

Je länger ein Kind in der Lage war, der Aufgabe<br />

standzuhalten, umso besser bewältigte<br />

es später sein Leben, denn die Kinder mit<br />

höherem Gratifikationsaufschub zeigten im<br />

Teenageralter eine bessere Konzentration,<br />

mehr Intelligenz, einen planvolleren Umgang<br />

mit Aufgaben und bessere Noten bei<br />

Standardschultests. Stress, Versuchung und<br />

Frustration konnten sie nicht unterkriegen.<br />

Verallgemeinern lässt sich: Je schwächer<br />

die exekutiven Funktionen bei SchülerInnen<br />

ausgeprägt sind, umso schlechter sind<br />

auch die schulischen Leistungen, oder positiv<br />

formuliert: „Exekutive Funktionen sind<br />

ein starker Prädikator für akademischen<br />

Erfolg und soziale Integration.“ Sosic-Vasic<br />

zufolge belegen die Forschungsergebnisse<br />

Wabers (2003), dass exekutive Funktionen<br />

stärker akademischen Erfolg vorhersagen<br />

als die Tests in Bezug auf kognitive Fähigkeiten,<br />

z.B. IQ-Tests, denn Kinder mit niedrigen<br />

exekutiven Funktionen wiesen ein höheres<br />

Risiko für Schulabbrüche und emotionale<br />

Deprivationen auf.<br />

Das neurologische Dilemma der Pubertät<br />

Ausgangspunkt für die Beschreibung des<br />

neurologischen Dilemmas der Pubertät<br />

bildet das tragische Schicksal des Phineas<br />

Gage (* 1823; † 21. Mai 1860). Er war 1848<br />

Opfer eines schweren Unfalls geworden, bei<br />

dem eine drei Zentimeter dicke, lange Eisenstange<br />

von unten nach oben durch seinen<br />

Schädel schoss und eine große Wunde in<br />

Schädel, Weichteilen und Gehirn verursachte.<br />

Er überlebte den Unfall und die Wunde<br />

heilte. Sein Langzeitgedächtnis, Sprache<br />

und Motorik blieben zwar intakt, aber es<br />

traten aufgrund der Verletzung weitgehende<br />

Persönlichkeitsänderungen ein, die<br />

durch niedrige Selbstkontrolle und Selbstorganisationsfähigkeiten,<br />

hohe Impulsivität,<br />

verantwortungsloses Verhalten und chaotischen<br />

Alltag gekennzeichnet waren. Hinzu<br />

kamen auf der kognitiven Ebene hohe Vergesslichkeit<br />

und sehr kurze Aufmerksamkeitsspannen.<br />

Diese Verhaltensänderungen<br />

waren auf Verletzungen im orbitofrontalen<br />

und präfrontalen Kortex (Frontallappen)<br />

zurückzuführen, der die genannten exekutiven<br />

Funktionen steuert. Dieser Bereich<br />

des Gehirns braucht zu seiner Entwicklung<br />

am längsten und hat seine Ausreifung während<br />

der Pubertät, sodass viele pubertäre<br />

Merkwürdigkeiten im Verhalten hier ihre<br />

Ursachen finden: Dabei stehen relativ reife<br />

Hirnsysteme zur emotionalen Verarbeitung<br />

(subkortilale Strukturen/limbisches System)<br />

neben den relativ unreifen Hirnsystemen<br />

zur kognitiven und emotionalen Selbstregulation:<br />

Bereits sexuell reife Körper treffen<br />

also auf verminderte selbstregulatorische<br />

Fähigkeiten (emotional/kognitiv) bei gleichzeitig<br />

erhöhter emotionaler Reaktion und<br />

Risikobereitschaft. Dies erklärt auch überschäumende<br />

Emotionalität von Schülerinnen<br />

und Schülern, die jeder Lehrer kennt.<br />

Für die Pubertät präzisierte Sosic-Vasic<br />

mehrere Veränderungen genauer. Mit sechs<br />

Jahren hat das Gehirn bereits die Größe eines<br />

Erwachsenengehirns erreicht, es verändert<br />

sich in den folgenden 20 Jahren allerdings<br />

sehr. Bis zum Ende der Pubertät gilt:<br />

• Die Graue Substanz, die bis zum Beginn<br />

der Pubertät mächtig anwächst,<br />

wird ausgedünnt (Pruning). Bis zu 50%<br />

werden am Ende der Pubertät gelöscht<br />

sein, indem 30.000 Synapsen (Nervenverbindungen)<br />

verschwinden. Da neue<br />

Verbindungen entstehen, wird der präfrontale<br />

Kortex (PFK: Ort für Lernen, Impulskontrolle,<br />

Planungsfähigkeit) fast<br />

vollkommen neu organisiert, was viel<br />

Zeit kostet. Der Vorteil der Ausdünnung<br />

ist die Spezialisierung („Use it or loose<br />

it“), der Nachteil ist, dass die emotionalen<br />

Verarbeitungen im Vordergrund<br />

stehen, weil, wie bereits erwähnt wurde,<br />

die Jugendlichen stärker ihr im<br />

Vergleich zum PFK reiferes limbisches<br />

System nutzen.<br />

• Die Weiße Substanz wächst. Dies führt<br />

zu einer deutlich schnelleren Reizweiterleitung,<br />

was u. a. besonders wichtig<br />

für Gedächtnisleistungen ist. Allerdings<br />

werden auch die emotionalen Reize, die<br />

ja leicht verfügbar sind, schneller weitergeleitet.<br />

Das wird im Zusammenhang<br />

mit dem Ausschütten von Dopamin<br />

wichtig.<br />

• Das Dopamin ist ein Neurotransmitter,<br />

dessen Ausschüttung Glücksgefühle<br />

vermittelt. Lernen ohne Ausschüttung<br />

von Neurotransmittern ist schlicht nicht<br />

möglich. Die Wirkung des Dopamins

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