FORMEN DES WIDERSTANDS - Stadtgespräche Rostock
FORMEN DES WIDERSTANDS - Stadtgespräche Rostock
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<strong>FORMEN</strong> <strong>DES</strong> <strong>WIDERSTANDS</strong><br />
GEDRUCKTE<br />
GEDRUCKTE<br />
KÖRPERHALTUNG<br />
KÖRPERHALTUNG<br />
MAGAZIN<br />
FÜR FÜR BEWEGUNG,<br />
MOTIVATION UND UND<br />
DIE DIE NACHHALTIGE<br />
KULTIVIERUNG<br />
DER DER REGION ROSTOCK<br />
stadtgespraeche- stadtgespraeche- rostock.de rostock.de<br />
ISSN ISSN 0948-8839 0948-8839<br />
ERSCHEINT<br />
ERSCHEINT<br />
QUARTALSWEISE<br />
QUARTALSWEISE<br />
SEIT SEIT 1994 1994<br />
AUSGABE NR.<br />
Reinhard Kirpes über den Prozess gegen zwei <strong>Rostock</strong>er NATO-Gipfelgegner __/<br />
Steffen Vogt im Interview zum 1. Mai 2010 in <strong>Rostock</strong> __/<br />
Elke Steven: Zum Grundrecht auf Versammlungsfreiheit __/<br />
Claudia Lohse-Jarchow: Vom Widersprechen __/<br />
Johannes Saalfeld: Unterschriften für betagte Bäume __/<br />
Christine Lucyga: Wer ein Unrecht lange Zeit geschehen lässt, ... __/<br />
Olaf Reis: Gefühl und Gewaltenteilung __/<br />
Jens Langer: Der Widerstand der Familie Levy __/<br />
Jens Langer: Autobiografische Sprüche aus 70 Jahren __/<br />
Henning Rieger: Über Food-Coops ... __/<br />
Fred Mahlburg: 61,36 EURO und einiges mehr __/<br />
Tom Maercker: Der kleine Widerstand; bebildert __/<br />
16. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €
Wir erinnern uns: Die von der Pharma-Lobby und den Medien verursachte Schweinegrippe-Hysterie führte 2009 zu einer<br />
unsinnigen Zusatzverschuldung von Bund, Ländern und Krankenkassen wegen unnötiger Impfstoffbestellungen.<br />
AIDA verlangte im Juni 2010 das Ausfüllen des folgenden Fragebogen von Kita-Kinder-Eltern, deren Kinder das Schiff<br />
besichtigen wollen. Jungs, Ihr seid einfach immer zu lange auf See, um noch etwas mitzubekommen.<br />
KEINE ANZEIGE
00.1 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
immer wieder sind wir in den letzten<br />
Monaten und Wochen auf Situationen<br />
gestoßen, in denen Menschen ihre Unzufriedenheit<br />
artikuliert haben - mit lokalen<br />
wie nationalen oder globalen Entwicklungen.<br />
Viel zu oft beschränkt sich<br />
der Protest auf kritische Äußerungen vor<br />
dem Fernseher oder in privater Runde<br />
und bleibt so wirkungslos. In anderen<br />
Fällen engagieren sich Menschen, um der eigenen Meinung Gehör zu<br />
verschaffen und sind dann frustrierend schnell mit der Diskrepanz zwischen<br />
legalen Möglichkeiten dieser Artikulation und dem was ihnen<br />
selbst moralisch legitim bzw. notwendig erscheint konfrontiert. Ein<br />
deutliches Beispiel hierfür war die Sitzblockade, die am 1. Mai in <strong>Rostock</strong><br />
stattfand - auch sie eine Gratwanderung zwischen dem, was Viele<br />
für ein dringend nötiges Bekenntnis halten, dass seines Adressaten, die<br />
Nazis, so direkt wie möglich erreichen sollte, und dem, was legislativ<br />
und/oder judikativ akzeptiert wird.<br />
Grund genug, uns mit Formen des Widerstands, mit seinen Folgen und<br />
deren Bewertung genauer zu befassen - die im Heft zu findenden Beispiele<br />
sind folgerichtig sehr heterogen und regen doch alle zum gleichen<br />
Nachdenken an: Wieviel persönlichen Mut braucht es heutzutage, für<br />
eigene Überzeugungen zu kämpfen? Und wie geht man mit den Konflikten<br />
um, in die man dabei gerät? Wo überschreitet man Grenzen und<br />
wo sind es juristische, wo moralische? Lassen Sie sich inspirieren und<br />
motivieren & haben Sie einen schönen Sommer!<br />
Ihre Kristina Koebe<br />
Inhalt dieses Heftes<br />
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />
Widerstand zwecklos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />
Tom Maercker: Der kleine Widerstand . . . . . . . . . . 3<br />
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
Titelthema: Formen des Widerstands<br />
Reinhard Kirpes "Nach deutschem Recht ..." . . . . . 5<br />
Steffen Vogt im Interview zum 1. Mai in <strong>Rostock</strong> 9<br />
Elke Steven: Zum Grundrecht auf Versamm -<br />
lungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
Claudia Lohse-Jarchow: Vom Widersprechen . . 16<br />
Johannes Saalfeld: Unterschriften für betagte<br />
Bäume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />
Christine Lucyga: Wer ein Unrecht lange Zeit<br />
geschehen lässt, ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
Olaf Reis: Gefühl und Gewaltenteilung . . . . . . . . 22<br />
Jens Langer: Der Widerstand der Familie Levy . 28<br />
Jens Langer: Autobiografische Sprüche aus<br />
70 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />
Ideen für <strong>Rostock</strong><br />
Henning Rieger: Über Food-Coops … . . . . . . . . 32<br />
Tue Gutes und rede darüber<br />
Fred Mahlburg: 61,36 EURO und einiges mehr 34<br />
Rezension<br />
Jens Langer: <strong>Rostock</strong>er Erinnerungsarbeit . . . . . . 36<br />
Büchse aufmachen oder zulassen?<br />
FOTO: TOM MAERCKER
00.2 __ //// TITELINTRO | IMPRESSUM<br />
Widerstand zwecklos?<br />
Beispiele für erfolgreichen Widerstand<br />
ZUSAMMENGESTELLT VON KRISTINA KOEBE<br />
Erfolg nach jahrelangen Bemühungen: Bombodrom<br />
Am 23. August 1992 gründete sich die Bürgerinitiative (BI)<br />
FREIeHEIDe in Schweinrich. Sie wendet sich gegen die militärische<br />
Nutzung eines ehemaligen Truppenübungsplatz der<br />
sowjetischen Armee 100 km nordwestlich von Berlin durch die<br />
Bundeswehr.Das Areal hat eine Größe von 144 km2 (ca. 1/6<br />
von Berlin oder 1/3 der Fläche von Köln) und liegt in der Kyritz-Ruppiner<br />
Heide in Nordbrandenburg. Durch die beabsichtigte<br />
Nutzung als Bombenabwurfplatz ist aber auch die Region<br />
im Süden Mecklenburgs betroffen, da hier die Einflugschneisen<br />
geplant sind. Durch Lärm- und Schadstoff-Emissionen<br />
ist der Tourismus, der sich in den letzten Jahren als Standbein<br />
dieser malerischen Region entwickelt hat, bedroht.<br />
FREIeHEIDe ist inzwischen ein Symbol für kreativen, friedlichen<br />
Protest. Seit Jahren findet am Ostersonntag eine der größten<br />
Ostermarschaktionen in Deutschland in Fretzdorf statt.<br />
Die Frage des „Bombodrom“ ist kein lokales Problem - es ist<br />
ein BUN<strong>DES</strong>- ja sogar EUROPA-relevantes Thema! Bei bisher<br />
112 Protestveranstaltungen haben das mehr als 350.000<br />
Teilnehmer aus Nah und Fern bekräftigt. Mit dem 9.07.2009<br />
hat der Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU)<br />
die jahrelangen Versäumnisse seiner Vorgänger Volker Rühe<br />
(CDU), Rudolf Scharping und Peter Struck (beide SPD)<br />
nachgeholt und den Verzicht auf die Nutzung als Luft-/Bodenschießplatz<br />
erklärt. Somit kann nun die Region rund um den<br />
Platz die künftige Entwicklung planen und gestalten.<br />
Erfolgreiche Sitzblockade in Dresden<br />
Am 13. Februar diesen Jahres verhinderten mehr als 12.000<br />
Menschen zum ersten Mal den jährlichen Nazi-Aufmarsch in<br />
der sächsischen Landeshauptstadt. Über Stunden besetzten sie<br />
Straßen und Plätze in unmittelbarer Umgebung des Neustädter<br />
Bahnhofs. Gegen 17.00 Uhr brach die vor Ort aktive Polizei<br />
die Nazi-Veranstaltung schließlich wegen der Proteste ab.<br />
Für die Organisatoren der Blockade, das Bündnis „Nazifrei –<br />
Dresden stellt sich quer!”, ist die Verhinderung des Naziaufmarschs<br />
ein großer Erfolg. „Zwölftausend Menschen aus Dresden<br />
und aus der ganzen Bundesrepublik haben den Sammel-<br />
MITNICHTEN.<br />
punkt der Nazis abgeriegelt – Dank an alle, die sich an den<br />
Massenblockaden beteiligt haben und sich nicht einschüchtern<br />
ließen”, erklärte Bündnis-Sprecherin Lena Roth. Erstmalig, sei<br />
es gelungen, den größten Naziaufmarsch Europas zu stoppen.<br />
Ausschlaggebend für den Erfolg seien die Vielfalt und die Entschlossenheit<br />
des Bündnisses „Nazifrei – Dresden stellt sich<br />
quer!” sowie das klare Blockade-Konzept gewesen.<br />
Immer wieder neue Kampagnen: Campact<br />
Wie Campact wirkt, signalisiert schon der Name: Campaign &<br />
Action. Campact organisiert Kampagnen, bei denen sich Menschen<br />
via Internet in aktuelle politische Entscheidungen einmischen.<br />
Wenn Wirtschaftslobbyisten Gesetze diktieren wollen<br />
oder im Bundestag die Meinung der Bevölkerung nicht zählt,<br />
ist Campact zur Stelle. Schnelles Handeln verbindet Campact<br />
mit phantasievollen Aktionen, die Öffentlichkeit herstellen<br />
und Druck auf die Entscheidungsträger ausüben: für eine sozial<br />
gerechte, ökologisch nachhaltige und friedliche Gesellschaft.<br />
Campact startet Kampagnen, wenn Themen auf die politische<br />
Agenda kommen und Entscheidungen auf der Kippe stehen.<br />
Weil es keine Fachorganisation ist, arbeitet Campact meist mit<br />
Partnerorganisationen zusammen, etwa mit der Deutschen<br />
Umwelthilfe, dem NABU, Attac, Oxfam, LobbyControl und<br />
Mehr Demokratie. Wirksame Bündnisse zu schmieden, gehört<br />
zum Grundprinzip von Campact. Der Campact-Newsletter<br />
verbindet derzeit mehr als 230.000 politisch interessierte und<br />
aktive Menschen. Sie unterzeichnen Appelle und Petitionen,<br />
informieren Freunde und unterstützen die Campact-Kampagnen<br />
durch Spenden und Förderbeiträge. Die Campact-Aktiven<br />
bilden gemeinsam ein wirksames Gegengewicht zur Macht<br />
der Wirtschafts- und anderer Lobbies und sichern die Unabhängigkeit<br />
von Campact. www.campact.de
Wogegen man sich eigentlich immer mal wieder wehren müsste:<br />
Der kleine<br />
TOM MAERCKER<br />
Widerstand<br />
Unser Alltag ist geprägt von vielen Einflüssen, vom Widerstand eher selten. Zu einfach<br />
und angenehm ist das Leben zwischen Vollkomfort und Rundumbetreuung.<br />
Selbst die, die quasi nichts oder wenig haben - viele von Ihnen bekanntermaßen<br />
zwangsweise ausgeschlossen vom selbstbestimmten Nahrungserwerb - leiden weder<br />
Hunger noch Durst, haben Anspruch auf Bildung, Gesundheitsvorsorge, Wohnraum,<br />
Kleidung, Kommunikation und Entertainment. Und so kommen wir gedanklich<br />
nicht einmal in die Nähe von Überlegungen darüber, wofür unsere Vorfahren gearbeitet,<br />
gekämpft und gelitten haben. Und nicht selten auch gestorben sind.<br />
Allerdings merken wir auch ohne den kleinen Hunger morgens halb zehn in Deutschland,<br />
dass mit unserem materiell inzwischen recht angenehmen Leben nicht alles in<br />
Ordnung, das vermeintliche Glück getrübt ist und wir uns so richtig nicht erfreuen<br />
können an den gebratenen Tauben, die um unseren Mund buhlen. Es sind die weichen<br />
Faktoren, die uns Kummer bereiten oder die vage Vermutung, dass wir vielleicht<br />
doch irgendwann einmal feststellen müssen, dass man Geld nicht essen kann. Was also<br />
fehlt uns denn zum Glück?<br />
Um „Glück“ überhaupt wahrnehmen zu können, braucht es auch dessen Gegenteil,<br />
was nach binär-christlicher Wahrheit dann „Unglück“ wäre, im richtigen Leben aber<br />
„Mühe“ genannt werden könnte (auch geläufig unter den Spielarten „Aufwand“,<br />
„sich bemühen“, „investieren“, „arbeiten“, „kommunizieren“, „aktiv sein“, „teilen“, „ein<br />
Wagnis eingehen“ und dabei ein „Ergebnis erzielen“). Allein etwas zu tun, schafft bereits<br />
Befriedigung, womit der Weg schon das Ziel wäre. Und bei Erfolg auch: Glück.<br />
Und je weniger entfremdet die Mühe, desto mehr Glück.<br />
Um dem Müßiggang, dem Zaudern und Hadern zu widerstehen, bedarf es also weder<br />
Bomben oder Gewalt. Manchmal reicht es schon, immer wieder mal sein Leben zu reflektieren<br />
und einfach nur aktiv zu werden, sich zu bemühen. Und damit sind es Kleinigkeiten,<br />
die uns zum Widerstandskämpfer machen und uns dabei unser richtiges<br />
Leben wiedergeben. Wir möchten Sie ausdrücklich ermuntern zu einem Widerstand,<br />
der Spaß macht.<br />
Heinz-Rudolf Kunze, einst Star meiner Jugendrebellion, dichtete wohlgesprochen,<br />
dass wir genau betrachtet doch öfter mit Bogie's Kippen auf den Lippen entschlafen<br />
sind, „als mit Rosa im Kanal ersoffen, Che war der am schlechtesten angezogene<br />
Mann Amerikas und der weiße Leib Marilyns die Langstreckenrakete schlechthin, die<br />
unsere Köpfe gesprengt und den Krieg längst entschieden hat.“<br />
Maßnahme 1: Schauen Sie bewusst und kritisch auf das, was mit Milliardenaufwand<br />
täglich in Sie hineingepumpt wird an fragwürdigen Botschaften, an MUST-HAVEs,<br />
MUST-DOs und MUST-BEs. Schlagen Sie dem täglichen Marketing-Brainwash ein<br />
Schnäppchen und machen explizit Dinge, die nichts mit Konsumieren zu tun haben.<br />
Maßnahme 2: Wenn Sie unsicher sind, welche Dinge das sind, versuchen Sie sich einfach<br />
mal wieder - schön locker und entspannt natürlich - daran zu erinnern, ob es<br />
glückliche Momente in Zeiten gab, als „Konsum“ noch genau das Gegenteil bedeutete<br />
- nämlich mäßig gefüllte Regale und die lapidare Auskunft „Ha’m wa nich!“<br />
Außerdem ... haben wie Ihnen ein paar Denkanstöße aus dem lokalen Umfeld fotografisch<br />
aufbereitet und über diese Ausgabe verteilt. Nennen wir sie der Einfachheit<br />
halber die „Widerstandsgalerie“.<br />
Impressum<br />
<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 59:<br />
„Formen des Widerstands”<br />
Ausgabe Juni 2010<br />
(Redaktionsschluss: 10. Juni 2010)<br />
Herausgeber (seit 2010)<br />
<strong>Stadtgespräche</strong> e.V. in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative<br />
für eine solidarische Gesellschaft e.V. <strong>Rostock</strong><br />
und der Geschichtswerkstatt <strong>Rostock</strong> e.V.<br />
Redaktion und Abonnement (seit 2010)<br />
PF 10 40 66<br />
18006 <strong>Rostock</strong><br />
Fax: 03212-1165028 (seit 2010)<br />
E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />
Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />
Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />
Tom Maercker<br />
Dr. Kristina Koebe<br />
Redaktion:<br />
Dr. Kristina Koebe<br />
Tom Maercker<br />
Dr. Peter Koeppen<br />
Dr. Jens Langer<br />
Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />
und werden von den Autorinnen und Autoren<br />
selbst verantwortet.<br />
Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />
Mediadaten:<br />
Gründung: 1994<br />
Erscheinung: 16. Jahrgang<br />
ISSN: 0948-8839<br />
Auflage: 250 Exemplare<br />
Erscheinung: quartalsweise<br />
Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />
Herstellung: KDD<br />
Anzeigenpreise (Kurzfassung)<br />
(ermäßigt / gültig für 2010)<br />
3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />
4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />
Details auf unserer Website im Internet<br />
Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />
Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 41/80<br />
die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />
Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />
Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5<br />
Foto-Studio Zimmert, Lange Str. 12<br />
Printzentrum, <strong>Rostock</strong>er Hof, Kröpeliner Str. 26<br />
Bankverbindung (seit 2010)<br />
(für Abo-Überweisungen und Spenden)<br />
Kto.: 1203967<br />
BLZ: 13090000<br />
bei der <strong>Rostock</strong>er VR-Bank<br />
Abonnement:<br />
Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />
Jahressoliabo (4 Ausgaben): 20,00 €<br />
Einen Aboantrag finden Sie auf S. 26 (bzw. als<br />
PDF-Datei zum Ausdrucken und Ausfüllen auf<br />
unserer Website im Internet).
WIDERSTAND GEGEN<br />
RUNDUMDIEUHRSHOPPING<br />
Es war einmal eine Zeit, da gab es den Markttag, saisonal Geerntetes und Speisekammern. Jedes hatte seine Zeit und<br />
seinen Geschmack, man wusste viel von Zubereitung und Lagerung. Heute ist das einer Dauerverfügbarkeit gewichen,<br />
von dessen Schattenseiten wir immer weniger überzeugt sein können.<br />
Liebt lieber Euer Personal! Also: Abends nicht hingehen. Regionalprodukte kaufen. Foodkoops gründen.<br />
FOTO: TOM MAERCKER
00.5 __ //// TITELTHEMA<br />
„Nach deutschem Recht<br />
wäre kaum eine niedrige-<br />
re Bestrafung zu erreichen<br />
gewesen“<br />
REINHARD KIRPES IST FACHANWALT FÜR STRAFRECHT UND ZUGELASSEN AM INTERNATIONALEN STRAFGERICHTSHOF<br />
(ITCA) IN DEN HAAG. KONTAKT ÜBER DIE REDAKTION<br />
Als im November 2009 die Nachricht veröffentlicht wurde, dass die beiden als Gipfelgegner zum NATO-Gipfel<br />
gereisten <strong>Rostock</strong>er zu einer Haftstrafe von 4 Jahren verurteilt wurden, sorgte dies bei Vielen für große<br />
Bestürzung. Die Presseberichterstattung zum Thema ließ viele Fragen offen, so dass es auch jetzt, ein halbes<br />
Jahr später, schwer ist, sich ein umfassendes Bild von den Ereignissen in Strasbourg, den Vorgängen<br />
die zur Verurteilung führten sowie den politischen Hintergründen zu machen. Die <strong>Stadtgespräche</strong> haben<br />
RA Reinhard Kirpes aus Offenburg darum gebeten, seine Sicht auf die Dinge darzulegen – er ist einer der<br />
beiden Verteidiger der Verurteilten.<br />
Am 3. und 4, April 2009 fand, grenzüberschreitend, in Kehl<br />
und Strasbourg ein NATO-Gipfeltreffen statt, welches schon<br />
seit Monaten allseits akribisch vorbereitet worden war. Nach<br />
einigen politischen Diskussionen wurde den Gegnern dieses<br />
Gipfels gestattet, am Rande von Strasbourg ein Camp zu beziehen,<br />
welches in den Tagen des Gipfeltreffens Schauplatz einiger<br />
Auseinandersetzungen gewesen ist.<br />
Ich selbst war am Mittwoch, dem 1. April, und am Freitag,<br />
dem 3. April 2009, vor Ort. Die Einsatzkräfte, das heißt entgegen<br />
den offiziellen Verlautbarungen Deutsche und Franzosen<br />
gemeinsam, sowohl was Personen als auch Gerät anging, waren<br />
massiv präsent und griffen bei dem geringsten Anlass hart<br />
durch. So genannte Vermummte waren in der Minderzahl, haben<br />
gleichwohl die politische Diskussion im Gefolge der Auseinandersetzungen<br />
rund um die Europabrücke in<br />
Kehl/Strasbourg vor allem in den französischen Medien beherrscht.<br />
Das Phänomen der in Deutschland so bezeichneten<br />
black blocks war bis dato in Frankreich nicht bekannt.<br />
Am Samstag, dem 4. April 2009, war ich in Strasbourg vor Ort.<br />
Ich hatte dort übernachtet, weil mir als Einheimischem klar<br />
war, dass sich abzeichnende Demonstrationen und Auseinandersetzungen<br />
sehr schnell auf den Bereich der Europabrücke<br />
konzentrieren wurden, welche dann auch früh gesperrt worden<br />
ist. Auf deutscher Seite waren mehrere Tausend Polizeibeamte<br />
im Einsatz, Straßen wurden gesperrt, Kontrollstellen eingerichtet,<br />
Grenzübergänge überwacht: Auf kaltem Wege wurde das<br />
Demonstrationsrecht schlicht außer Kraft gesetzt. Ich hielt<br />
und halte alle Beteuerungen der politisch Beteiligen, man werde<br />
das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit achten, für reine,<br />
gar zynische Lippenbekenntnisse: Das - nicht erklärte – Ziel<br />
war, Demonstrationen durch das Schaffen von Fakten zu verhindern.<br />
Diese Rechnung ist auf deutscher Seite auch aufgegangen.<br />
Auf französischer Seite zogen ab 10.00 Uhr am Samstagmorgen<br />
einige Demonstrationszüge, aus verschiedenen Richtungen<br />
kommend, zum vorgesehenen Kundgebungsplatz unweit der
00.6 __ //// TITELTHEMA<br />
Europabrücke. Die Straßburger Innenstadt war dabei weiträumig<br />
abgeriegelt. Ich wurde Augenzeuge als eine Gruppe vorwiegend<br />
griechischer Demonstranten vor der Vauban-Brücke,<br />
welche in Richtung Kehl eines der Straßburger Hafenbecken<br />
überspannt, von polizeilichen Einsatzkräften gestoppt wurde,<br />
ohne dass es aus meiner Sicht den geringsten Anlass dafür gegeben<br />
hätte.<br />
Es wurde massiv Tränengas eingesetzt und es wurden Blendgranaten<br />
abgefeuert, ohne dass die Situation diesen martialischen<br />
Einsatz auch nur ansatzweise gerechtfertigt hätte: Es schien<br />
mir die reine Provokation. Die Rechnung ging auf, es folgte<br />
Reaktion und Gegenreaktion, die Brücke über das Vauban-<br />
Bekken wurde für Stunden gesperrt. Nachdem sich die Situation<br />
etwas entspannt hatte, wurde der Weg Richtung Kundgebungsplatz<br />
frei gegeben. Dort eskalierte dann die Situation. Es<br />
gelang mir, zusammen mit einer Kollegin bis zur Europabrücke<br />
vorzudringen, auf der allerdings bereits Barrikaden brannten.<br />
Wir wurden von der deutschen Polizei zunächst am Weitergehen<br />
gehindert. Das änderte sich erst, als wir den Beamten unsere<br />
Anwaltsausweise zeigten und mit rechtlichen Schritten<br />
drohten. Von unserer Position aus hatten wir das gesamte Gelände<br />
im Überblick, auch als die Zollabfertigungsgebäude<br />
rechts der Brücke, das ehemalige Zollgebäude für Personenkontrollen<br />
auf einer Verkehrsinsel hinter der Brücke zusammen<br />
mit dem dort gelegenen Cafe und der Apotheke sowie das Hotel<br />
Ibis in Flammen aufgingen. Bis heute ist unklar, aus welchen<br />
Gründen es fast zwei Stunden dauerte, bis Löschzüge auch von<br />
deutscher Seite aus vorrücken konnten. Darüber, ob und weshalb<br />
dies politisch gewollt war, wird immer noch spekuliert. Sicher<br />
ist nur, dass die Vorfälle Bilder lieferten, welche erneut<br />
Anlass für altbekannte martialische Sprüche des derzeitigen<br />
Staatspräsidenten schufen. Und Stimmung machten für neue,<br />
von ihm seit seiner Zeit als Innenminister systematisch betriebene<br />
Strafverschärfungen.<br />
Im Zusammenhang mit diesen Vorfällen wurden mehrere deutsche<br />
Staatsangehörige festgenommen, darunter auch zwei Personen,<br />
die aus <strong>Rostock</strong> stammen, zum Tatzeitpunkt 22 und 18<br />
Jahre alt. Diese beiden Personen habe ich zusammen mit meinem<br />
Strasbourger Kollegen Emmanuel HOEN verteidigt. Beide<br />
Personen legten unmittelbar nach ihrer Festnahme ein umfassendes<br />
Geständnis ab; nach einem Rechtsbeistand hatten sie<br />
zu diesem Zeitpunkt nicht verlangt.<br />
Dieses Geständnis wiederholten sie auch bei zwei Anhörungen<br />
vor der Ermittlungsrichterin wie in der Hauptverhandlung.<br />
Hier scheinen mir einige Erläuterungen zum Strafverfahren in<br />
Frankreich notwendig: Während in Deutschland die Staatsanwaltschaft,<br />
eine hierarchisch gegliederte Behörde und weisungsgebunden<br />
von unten nach oben die „Herrin des Verfahrens“<br />
ist, obliegen in Frankreich bislang die Ermittlungen unabhängigen<br />
Ermittlungsrichtern, welche das Verfahren eigenständig,<br />
ungebunden und weisungsfrei führen. Bislang deshalb,<br />
weil der amtierende Staatspräsident Frankreichs derzeit eine<br />
„Reform“ des Strafverfahrens dahingehend betreibt, dass die<br />
Staatsanwaltschaft weisungsgebunden und politisch abhängig<br />
die Ermittlungen übernimmt und führt. Diese „Reform“ sorgt<br />
für einige Unruhe unter Frankreichs Richtern und Rechtsanwälten.<br />
Das Vorverfahren gegen die beiden aus <strong>Rostock</strong> stammenden<br />
Personen wurde fair und sehr sorgfältig geführt, ermittelt wurde<br />
akribisch, jedoch erkennbar objektiv. Beweisanträge und Beweisangebote<br />
müssen nach französischem Recht im Ermittlungsverfahren<br />
präsentiert werden, was auch durch die Verteidiger<br />
der beiden <strong>Rostock</strong>er geschah. Nach Abschluss der Ermittlungen<br />
wird das Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft<br />
und der Verteidigung vorgelegt, die dann noch einen<br />
Monat Zeit haben, Einwendungen vorzubringen. Danach fertigt<br />
die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift und legt sie dem<br />
anzurufenden Gericht, in diesem Falle der zuständigen Strafkammer<br />
bei dem Landgericht in Strasbourg, vor.<br />
Am 16. November 2009 wurde verhandelt, es erging folgendes<br />
Urteil: Die beiden <strong>Rostock</strong>er wurden als Mittäter, jedoch ohne<br />
Teil einer Bande zu sein, zu jeweils 4 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt,<br />
gem. Art, 311/1 und 331/4 des französischen Strafgesetzbuchs.<br />
Qualifiziert, das heißt erschwert, war der Grundtatbestand<br />
des schweren Diebstahls durch den Einsatz eines auch<br />
für Personen gemeingefährlichen Mittels, nämlich des In-<br />
Brand-Setzens, welches sodann zur Zerstörung fremder Vermögenswerte<br />
geführt hat.<br />
Die Strafandrohung nach diesen Vorschriften reicht bis zu 10<br />
Jahren Freiheitsstrafe. Von diesen 4 Jahren hat das Gericht per<br />
Urteil bereits ein Jahr der Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt;<br />
angerechnet wird die Zeit der verbrachten Untersuchungshaft,<br />
ein weiterer Strafabschlag wurde durch die Justizvollzugsanstalt<br />
Strasbourg vorgenommen. Die Hälfte der sodann<br />
verbleibenden Reststrafe kann nach einer entsprechenden<br />
Anhörung der beiden Personen, die im Juni dieses Jahres stattfinden<br />
wird, ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt werden, sodass<br />
beide mit einer Freilassung im September 2010 rechnen dürfen.<br />
Zum Vergleich: Nach deutschem Recht würde hier § 300 a<br />
Abs. 2 iVm Abs. 1 Ziff. 3 StGB (schwere Brandstiftung) und §<br />
125 a Abs. 1 Ziff. 2 StGB (besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs)<br />
zum Tragen kommen. § 306 a normiert einen<br />
Verbrechenstatbestand; die Mindeststrafe beträgt also 1 Jahr,<br />
die Höchststrafe 15 Jahre, § 38 Abs. 28tGB.<br />
Nach meiner Auffassung wäre selbst dann, wenn die jüngere<br />
der beiden Personen als Heranwachsende zu einer Jugendstrafe<br />
verurteilt worden wäre - nach französischem Recht wird ab<br />
dem 18. Lebensjahr generell nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt<br />
-, kaum eine niedrigere Bestrafung zu erreichen gewesen.<br />
Dazu muss man wissen, dass derjenige, der zu einer Jugendbzw.<br />
Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt wird,<br />
diese nach deutschem Recht prinzipiell absitzen muss. Eine<br />
Aussetzung der Vollstreckung nach frühestens der Hälfte der<br />
Verbüßung der verhängten Strafe ist nur unter ganz besonderen<br />
Umständen möglich, § 57 Abs. 2 Ziff. 2 StGB. Diese Vorschrift<br />
kommt aller Erfahrung nach eher selten zur Anwendung, si-
cher dann aber nicht, wenn es sich um die Verwirkung so genannter<br />
gemeingefährlicher Straftaten handelt. Nach deutschem<br />
Recht verurteilt, hätten die beiden Personen also voraussichtlich<br />
2/3 der verhängten Strafe absitzen müssen. Das französische<br />
Recht hingegen ermöglicht, wie oben ausgeführt, ihre<br />
Entlassung nach weniger als der Hälfte der Verbüßung ihrer<br />
Strafe.<br />
Zwei zusätzliche Punkte möchte ich noch kurz ansprechen:<br />
Auf Bitten der französischen Ermittlungsrichterin hatte die<br />
Staatsanwaltschaft <strong>Rostock</strong> im Umfeld der beiden Personen in<br />
<strong>Rostock</strong> ermittelt. Es erstaunt schon, mit welchem unangemessenen<br />
Aufwand diese Ermittlungen in <strong>Rostock</strong> betrieben worden<br />
sind. Es wurden Wohnungen durchsucht, das soziale Umfeld<br />
ausgeleuchtet, Zeugen geladen und gegebenenfalls<br />
Zwangsgelder verhängt – kurz: es wurde sich nach bester deutscher<br />
Tradition gebärdet, als habe man Terroristen am juristischen<br />
Wickel. Ich wünschte mir, als Strafverteidiger, als Jurist<br />
wie als politisch denkender Mensch, dass die Aufmerksamkeit,<br />
die der „Linken“ zuteil wird, auch auf der anderen Seite des politischen<br />
Spektrums angewandt wird.<br />
Als langjährigem Beobachter der juristischen Szene fällt mir<br />
schon auf, welch hektische Aktivitäten bei Polizei und Staatsanwaltschaft<br />
ausgelöst werden, wenn der vermeintliche Feind<br />
„links“ steht, und mit welcher Nachsicht Rechte und Nazis behandelt<br />
werden: Sie bleiben weitgehend unbehelligt, treffen<br />
auf ungewöhnliche Milde bei Gericht und sind keiner Partei eine<br />
ernsthafte und nachhaltige politische Diskussion wert.<br />
Just wenige Tage vor dem Strafprozess in Strasbourg hat die<br />
„Frankfurter Rundschau“ einen Bericht veröffentlicht, der folgende<br />
Fakten nannte: Seit 1993 sind mehr als 140 Opfer rechter<br />
Gewalt gestorben. Todesopfer linker Gewalt sind nicht bekannt.<br />
Ich habe mir erlaubt, auch dem Strafgericht in Strasbourg<br />
diese Tatsachen nahe zu bringen, um den Aufwand, den<br />
die Staatsanwaltschaft <strong>Rostock</strong> in diesem Falle glaubte betreiben<br />
zu müssen, ins rechte Licht zu rücken.<br />
Die beschriebenen Zahlen und Fakten sind in Frankreich wie<br />
anderswo leider unbekannt, aus einem einfachen Grunde: Die<br />
Verbrechen der Nazis, Neonazis und Rechtsextremen werden<br />
mit dem gnädigen Mantel des politischen Schweigens bedeckt.<br />
Wir kennen diese unselige Tradition in Deutschland seit Beginn<br />
der Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts; keiner<br />
hat sie bisher ernsthaft zu ändern versucht.<br />
Der andere Punkt betrifft die so genannte Unterstützer-Szene:<br />
So als seien die 70er Jahre wieder auferstanden, wurden die beiden<br />
Personen aus <strong>Rostock</strong> zu „politischen Gefangenen“ gemacht,<br />
die sie nie waren und als die sie sich auch nie begriffen<br />
haben. Ohne Rücksicht auf ihre Situation wurden Aktivitäten<br />
entfaltet, die sie nicht wollten, Zeitschriften zugesandt, die sie<br />
nicht interessierten, kurz, sie wurden den kruden Interessen<br />
dieser Szene unterworfen, die sie zu ihren eigennützigen Zwekken<br />
instrumentalisierte.<br />
Dieses Verhalten war dazu angetan, dem Ermittlungsverfahren<br />
eher zu schaden als zu nützen. Es hätte der Eindruck entstehen<br />
können, dass die beiden Personen der so genannten gewaltbereiten<br />
Szene angehörten, dass sie Mitglieder eines „schwarzen<br />
Blocks“ seien und gar aus Sicht der französischen Behörden in<br />
ein terroristisches Umfeld hätten gerückt werden können. Wie<br />
schnell dies geschieht und wie groß die politische Bereitschaft<br />
der Ermittlungsbehörden vor allem in Deutschland dazu ist,<br />
sollte eigentlich jeder einigermaßen politisch Interessierte gerade<br />
in Deutschland wissen.<br />
Von Solidarität mit den beiden Personen keine Spur, noch weniger<br />
von der notwendigen Zurückhaltung in Bezug auf ihre<br />
delikate Situation. Das interessierte offenbar niemanden.<br />
Hochstilisiert aus durchsichtigen Gründen zu politischen Gefangenen,<br />
blieb ihre Person wie ihre Persönlichkeit, blieben ihr<br />
sozialer Hintergrund und die Notwendigkeit einer besonnenen<br />
Verteidigung völlig außen vor.<br />
Es wurde versucht, die Verteidigungsstrategie mit zu bestimmen,<br />
es wurde gefaselt von „politischer Verteidigung“, ohne<br />
diese zu definieren. Es schien keinerlei Rolle zu spielen, wie<br />
sich die juristische Situation darstellte und welches Risiko einer<br />
sehr hohen Verurteilung für die beiden Personen bestand. Ich<br />
persönlich wurde mehrfach angegangen, die Arbeit der Verteidigung,<br />
von keinerlei Sachkenntnis getrübt, kritisiert. Es wurde<br />
versucht, auf beide Verteidiger Druck auszuüben. Beide Personen<br />
haben mir bei einem kürzlichen Zusammentreffen gar berichtet,<br />
es sei eine „Petition“ gegen mich verfasst und ihnen zugesandt<br />
worden mit der Bitte, diese „Petition“ zu unterschreiben<br />
- was beide nicht taten.<br />
Ich halte das alles für äußerst fragwürdig und jenseits dessen,<br />
was man eine solidarische Unterstützung nennen könnte. Ich<br />
bin froh, dass die beiden Personen relativ glimpflich davon gekommen<br />
sind, dass die französischen Ermittlungspersonen<br />
kein Kapital geschlagen haben zu ihren Lasten, aufgrund der<br />
durchaus suspekten Aktionen aus der Unterstützerszene, und<br />
dass die beiden voraussichtlich bereits in wenigen Monaten frei<br />
sein werden.<br />
Darauf, und nur darauf kommt es an. Das und nur das kann das<br />
Ziel einer professionellen Verteidigung sein. Die politische Diskussion<br />
kann und soll, wenn überhaupt, dann nach dem Ende<br />
aller Verfahren geführt werden. Ich bin gerne bereit, mich einer<br />
solchen Diskussion zu stellen, vorausgesetzt, ein Minimum an<br />
Rationalität ist sichergestellt und es besteht ein ernsthafter<br />
Wille zur politischen Auseinandersetzung. ¬<br />
---<br />
Anmerkung der Redaktion: Da Reinhard Kirpes nicht nur eine<br />
kritische Analyse der Gesamtsituation liefert, sondern auch die<br />
(<strong>Rostock</strong>er) Unterstützer-Szene deutlich attackiert, haben wir<br />
Vertreter der unterstützenden Gruppen ihrerseits um eine Stellungnahme<br />
gebeten. Diese wird, so das Ergebnis längerer Debatten<br />
innerhalb der Gruppe, jedoch erst erscheinen, wenn die Gefangenen<br />
auf freiem Fuß sind (was hoffentlich in wenigen Wochen<br />
der Fall ist) und damit keine Nachteile für sie zu befürchten<br />
sind. Wir bleiben mit den Beteiligten im Gespräch und werden<br />
weiter über die Angelegenheit berichten.
WIDERSTAND GEGEN<br />
DAUERWERBESENDUNGEN<br />
Wer sich mal wieder amerikanischer Prüderie gepaart mit westlicher Dekadenz und christlicher Arroganz in Form einer<br />
Dauerwerbesendung versichern will, sollte sich drei Stunden Zeit und viel Alkohol mit ins Kino nehmen. „Sex and the<br />
City 2“ toppt alles, was wir nie über die humanistischen Grundwerte des US-amerikanischer Lifestyles wissen wollten.<br />
Not in our name! Konsequenz: Ausschalten. Gutbuch lesen.<br />
FOTO: TOM MAERCKER
00.9 __ //// TITELTHEMA<br />
„Wir haben gezeigt, dass<br />
mutige Dinge möglich und<br />
praktikabel sind“<br />
Steffen Vogt im Interview über den 1. Mai 2010 in <strong>Rostock</strong><br />
STEFFEN VOGT ARBEITET FÜR ÖKOHAUS E. V. ROSTOCK UND BERÄT SEIT ZWÖLF JAHREN FLÜCHTLINGE IN ROSTOCKER<br />
GEMEINSCHAFTSUNTERKÜNFTEN. IN BILDUNGSVERANSTALTUNGEN INFORMIERT ER ZU DEM THEMENBEREICH MIGRATI-<br />
ON, FLUCHT UND ASYL. RASSISMUS UND DIE FREMDENFEINDLICHE PROPAGANDA DER NPD SIND FÜR IHN ERSCHEINUN-<br />
GEN, MIT DENEN ER SICH IN DIESEM ARBEITSBEREICH ZWANGSLÄUFIG AUSEINANDERSETZEN MUSS.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie würdest Du die Ereignisse<br />
des 1.Mai 2010 zusammenfassen?<br />
Steffen Vogt: Es gab verschiedene Ereignisse und Aktionen an<br />
verschiedenen Orten: Eine angemeldete Nazidemo, eine angemeldete<br />
Kundgebung mit Infoständen und ein bisschen Begleitprogramm<br />
in Lütten Klein in der Warnowallee, ein Fest im<br />
Fischerdorf und die DGB-Demo, die vom Werftdreieck zum<br />
Gewerkschaftshaus führte. Das waren die angemeldeten Aktivitäten.<br />
Und darüber hinaus gab es eine Sitzblockade, die, was<br />
in der Natur der Sache liegt, sehr wohl angekündigt, aber nicht<br />
angemeldet war.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie verlief die Nazidemo? Ist es,<br />
wie von der Polizei geplant, gelungen, sie vollständig<br />
von den Protesten zu separieren?<br />
Steffen Vogt: Nicht ganz. Die Nazidemo hat in einem bewohnten<br />
Stadtteil stattgefunden, d.h. sie war zwar von allen anderen<br />
Aktionen des Tages isoliert, fand aber nicht im luftleeren<br />
Raum statt. Die Massenblockade hat verhindert, dass die Nazis<br />
durch Lütten Klein laufen konnten – und das war ja das große<br />
angekündigte Ziel. Schon im Vorfeld war klar, dass wir in der<br />
<strong>Rostock</strong>-spezifischen Situation und der kurzen Vorbereitungszeit<br />
keine 1500 oder 2000 Blockierer aktivieren können. Und<br />
dass es zahlenmäßig nicht möglich sein würde, die umliegenden<br />
Stadtteile völlig vor den Nazis zu bewahren. Tatsächlich<br />
stellt sich hier ja weniger die Qualitäts- als die Quantitätsfrage -<br />
mit doppelt so vielen Menschen hätten wir auch wesentlich<br />
mehr erreichen können.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie viele Menschen haben sich an<br />
der Blockade beteiligt? Woran lag es, dass es nicht<br />
doppelt so viele waren?<br />
Steffen Vogt: Die Zahl der Blockadeteilnehmer lag zwischen<br />
500 und 700. Hinzu kamen die Leute, die an diesem Tag dauerhaft<br />
am Kundgebungsort waren. Und die vielen, vielen Lütten-Kleiner,<br />
die, teilweise über lange Zeit und sehr aufmerksam,<br />
beobachtet haben, was an diesem Tag passierte. Sie haben<br />
ihre Solidarität bekundet, zum Beispiel indem sie etwas zu<br />
Trinken brachten, mit Transparenten auf dem Balkon standen.<br />
Es war so, wie wir es uns gewünscht hatten - keine abgekoppelte<br />
Aktion von Außenstehenden, sondern eine gemeinsame Ak-
0.10 __ //// TITELTHEMA<br />
tion mit den Bewohnern des Stadtteils. Um mit den Leuten ins<br />
Gespräch zu kommen, gab es im Vorfeld Infostände und Treffen<br />
mit Vertretern der Ortsbeiräte. Wir haben von Beginn an<br />
klargemacht, dass wir vor Ort aktiv sein wollen und das Fischerdorf<br />
für uns keine Alternative ist, weil es außerhalb des<br />
Wohngebiets liegt. Man kann einen Naziaufmarsch nicht verhindern,<br />
indem man alle Leute die an Protest interessiert sind<br />
aus dem Wohngebiet heraus- und an einen anderen Ort<br />
schleust.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Ließ sich dieser Veranstaltungsort<br />
problemlos realisieren?<br />
Steffen Vogt: Leider gab es Widerstände von Seiten der Stadt.<br />
Wir hatten zwar im Vorfeld ein sehr offenes Kooperationsgespräch<br />
mit der <strong>Rostock</strong>er Versammlungsbehörde und der Polizei.<br />
Daraufhin waren wir unsererseits kompromissbereit und<br />
haben zugestimmt, den Kundgebungsort innerhalb des Stadtgebiets<br />
noch einmal zu verlegen, um die seitens der Polizei geäußerten<br />
Bedenken zu entkräften. Es schien nichts gegen einen<br />
Versammlungsplatz außerhalb des Marschrings der Nazis zu<br />
sprechen. Doch dann wurde auf einmal, kurz vor dem 1. Mai,<br />
von Seiten der Stadt behauptet, es kämen gewaltbereite Autonome<br />
aus Hamburg nach <strong>Rostock</strong>. Völliger Quatsch. Wir hatten<br />
einen breiten Aktionskonsens, in dem sich übrigens auch<br />
viele Antifa-Gruppen zur absoluten Gewaltfreiheit bekannt<br />
haben.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Warum so eine Fehleinschätzung<br />
seitens Polizei und Verwaltung?<br />
Steffen Vogt: Grund dafür ist, glaube ich, die grundsätzliche<br />
Haltung der Stadt: Am liebsten gar kein Problem haben wollen.<br />
Dies führt zu jener Nichtpositionierung der Stadt, die in<br />
Bezug auf Naziaufmärsche schon über Jahre hinweg zu verzeichnen<br />
ist. Natürlich ist es einfach, immer ganz viele Polizisten<br />
zwischen die Parteien zu stellen und alles so weiträumig zu<br />
trennen, dass jede Sicht- oder Hörverbindung fehlt. Das hat<br />
aber dankenswerter Weise das Oberverwaltungsgericht sehr<br />
viel sachlicher beurteilt. Eine Kundgebung in Sicht- und Hörweite<br />
der Nazidemonstration wurde genehmigt – was dann gar<br />
nicht relevant war, weil die Route am Ende anders verlief.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Die Berichterstattung über den 1.<br />
Mai 2010 hat sich darauf konzentriert, die wirkungsvolle<br />
Verhinderung von Gewalt durch die<br />
staatlichen Organe zu loben. Wie beurteilst Du die<br />
Darstellung in der Lokalpresse?<br />
Steffen Vogt: In der Tat ging es in den meisten Beiträgen mehr<br />
um die Frage der Gewaltfreiheit als um das eigentliche inhaltliche<br />
Anliegen der Proteste. Schon im Vorfeld wurde ja eine völlig<br />
unscharfe und unbegründete Angst vor Gewalt geschürt.<br />
Aus welchem Grund malt man so ein Gespenst an die Wand?<br />
Die Journalisten, die vorher pausenlos von befürchteter Gewalt<br />
schreiben, müssen sich ja hinterher fragen lassen, ob sie enttäuscht<br />
sind, dass diese nun ausgeblieben ist. Hättet ihr es gern<br />
anders gehabt, war das Eure Intention? Was sonst steckt dahinter,<br />
wenn man einer Bewegung wie bei dieser Blockade wiederholt<br />
latente Gewalt unterstellt.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Dabei gab es bei der Zusammensetzung<br />
der Akteure ja von Beginn an wenig Grund<br />
für solche Unterstellungen - ?<br />
Steffen Vogt: Stimmt. Es waren u. a. die DGB Jugend, SOBI,<br />
das Peter-Weiß-Haus, Ökohaus, Mau und JAZ, die Linke, das<br />
Netzwerk für Courage und Demokratie und andere dabei. Eine<br />
große Bandbreite von Akteuren, die seit Jahren in <strong>Rostock</strong> im<br />
sozialen Bereich sehr professionell arbeiten. Also keineswegs<br />
„linke Spinner“ – es ist sehr bedauerlich, wenn Journalisten<br />
und anderen Leuten nichts anderes einfällt, als so eine Vereinfachung.<br />
Dafür fallen mir zwei mögliche Gründe ein: Entweder<br />
die Journalisten halten die Leute für so dumm, dass sie solche<br />
Plattitüden brauchen, oder sie selbst brauchen derartige<br />
Plattheiten, weil sie sonst mehr recherchieren müssten, um einen<br />
guten Artikel zu Papier zu bringen.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Hättest Du Dir von der Stadt eine<br />
klarere Positionierung gewünscht? 2010 und auch<br />
2006 oder in Bezug auf die Proteste gegen den Naziladen?<br />
Steffen Vogt: Die Demo von 2006 würde ich nicht der Stadt anlasten<br />
- hier ging um andere Spiele, da wurde G8 geprobt, unter<br />
dem Motto „Wie kriege ich die Innenstadt bürgerfrei?“. Erfolgreich,<br />
aber trotzdem eine große Peinlichkeit, dass sich die Stadt<br />
dafür hergegeben hat.<br />
Aber zur generellen Haltung: Die Stadt besteht ja aus Menschen<br />
– und so müssen wir in Bezug auf viele Akteure feststellen,<br />
dass an den entscheidenden Stellen der notwendige Mut<br />
und die notwendige Entschlossenheit fehlen. Und das kreide<br />
ich auch der Stadt als Institution an: Sie könnte durchaus klar<br />
Position beziehen und solche Aktionen wohlwollend unterstützen.<br />
Dazu brauche ich keinen Roland Methling in der Sitzblockade<br />
– es geht um eine klare Positionierung, nicht nur von<br />
Seiten des Oberbürgermeisters, sondern durch die gesamte<br />
Stadtpolitik. Die Verwaltung darf natürlich nur in ihrem Rahmen<br />
agieren, aber es gibt einen politischen Willen, der durch<br />
die Stadt artikuliert werden kann und sollte. Und da gibt es eine<br />
mir unverständliche Ängstlichkeit, hinter der ich die Haltung<br />
„wenn ich etwas mache, besteht die Gefahr dass etwas<br />
schief geht“ vermute. Aber wenn ich nichts riskiere, muss ich<br />
auch als Bürgerschaftsabgeordneter am Ende konstatieren, dass<br />
ich nicht zu den Mutigen gehört habe, die den Naziaufmarsch<br />
verhindert oder gestört haben. Glücklicherweise hat die Stadt<br />
genug mutige Bürger und eine funktionierende soziokulturelle<br />
Struktur, die so etwas auf die Beine bringt – aber es waren eben
nicht die Parteien, weder SPD, noch FDP oder Grüne, die die<br />
Blockade unterstützt haben.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Liegt es an dieser fehlenden Positionierung,<br />
dass es <strong>Rostock</strong> nicht gelingt, die Auffassung<br />
„Nazis wollen wir hier nicht haben“ glaubhaft<br />
nach außen zu vertreten?<br />
Steffen Vogt: Da würde mich tatsächlich interessieren, warum<br />
das proklamierte Gesichtzeigen nicht tatsächlich stattfindet.<br />
Ich weiß nicht, wo die Ängste liegen. Und es sind nicht nur die<br />
Parteien und Bürgerschaftsabgeordneten, die im Vorfeld dummes<br />
Zeug geredet haben, sondern auch Teile der Kirche, die<br />
ganz undankbare Öffentlichkeitsarbeit gemacht haben - auch<br />
ein Pastor oder eine Pastorin sollte wissen, wann es Zeit ist<br />
nichts zu sagen. Wenn eine Pastorin in der Ostseezeitung mit<br />
den Worten zitiert wird, man wolle sich nicht von irgendwelchen<br />
linken Gruppen vereinnahmen lassen, dann ist das einfach<br />
ganz großer Blödsinn. Für solchen Quatsch sollte sie sich<br />
bei den Akteuren entschuldigen. Ebenso wie für das Gerede<br />
von zunehmender Gewalt von Links UND Rechts. Das ist unredlich<br />
- es hat in <strong>Rostock</strong> bei Demonstrationen oder Blockaden<br />
gegen Nazis in den letzten zehn Jahren niemals an irgendeiner<br />
Stelle Gewalt gegeben. Die Leute sollten sich die Mühe<br />
machen, mit den Gruppen ins Gespräch zu kommen, statt solche<br />
Unwahrheiten zu streuen.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Ist es nicht so, dass solche Grenzziehungen<br />
eher dazu beitragen, eine klarere Außenwirkung<br />
der Stadt <strong>Rostock</strong> zu verhindern?<br />
Steffen Vogt: Die Akteure, die für diese Unklarheit gesorgt haben,<br />
müssen sich vergegenwärtigen, dass sie es mit einer Bevölkerung<br />
zu tun haben, die eine Stellungnahme erwartet. Oder<br />
der diese Stellungnahme gut tun würde. Und ich denke, dass<br />
die <strong>Rostock</strong>er Bevölkerung ein Recht darauf hat, dass ihre Abgeordneten<br />
sich positionieren - ebenso wie die Gemeindemitglieder<br />
der evangelischen Kirche von ihren Pastoren eine rechtschaffende<br />
Äußerung erwarten können. Wobei meine Kritik an<br />
der Kirche sich nur auf Einzelpersonen bezieht. Der Landessuperintendent<br />
hat sich sehr klar positioniert, die Blockade ebenso<br />
unterstützt wie Tilman Jeremias – dafür sind wir sehr dankbar,<br />
das war hilfreich.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Zu Deinem Vorwurf, auch an einige<br />
Parteien, sich mit unzureichenden Formen des Widerstandes<br />
zufriedenzugeben: Was sind, nach Deiner<br />
Auffassung, heutzutage sinnvolle Formen politischen<br />
Widerstands?<br />
Steffen Vogt: Die effektiven Möglichkeiten sich gegen Nazis zu<br />
engagieren sind ja sehr vielfältig. Und ich werde das Problem<br />
nicht durch Verhinderung eines Naziaufmarschs lösen – auch<br />
nicht durch Verhinderung von zehn Aufmärschen. Trotzdem<br />
ist das wichtig. Wenn wir antreten, um in dieser Stadt den Nazis<br />
die Stirn zu bieten, ist das billiger nicht zu haben. Ein Infostand<br />
verhindert keinen Naziaufmarsch. Und den zu verhindern<br />
war wichtig, weil es völlig inakzeptabel ist, den Nazis Lütten<br />
Klein als Zentrum des Nordwestens als Plattform für ihre<br />
verfassungsfeindliche Propaganda anzubieten. Und wenn ich<br />
nicht will, dass die Nazis durch Lütten Klein trommeln und<br />
posaunen, muss ich mich fragen, wie ich das verhindern kann.<br />
Ich halte die Blockade für die einzige wirkungsvolle Form - ein<br />
Fest an einem anderen Ort nicht. Und wenn der Ort dann<br />
noch so weit entfernt liegt wie die Marschroute des DGB, kann<br />
ich auch gegen die Verbreitung der Malaria am Nordpol demonstrieren.<br />
Wir haben zu dieser Frage eine klare Position. Wir sind ja tatsächlich<br />
in dem Dilemma, dass die ganz klar als verfassungsfeindlich<br />
eingestufte NPD die Verfassung bemühen möchte,<br />
um ihre Propaganda zu verbreiten. Dagegen gibt es, so lange<br />
die NPD nicht verboten ist, nur Zivilcourage und zivilen Ungehorsam.<br />
Wenn dann andere Mittel gegriffen haben, um das<br />
Problem des Rechtsextremismus einzudämmen, werden wir<br />
auch keine Blockade mehr brauchen.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie bewertest Du die Rolle der Polizei<br />
an diesem 1. Mai 2010?<br />
Steffen Vogt: Auf den 1. Mai bezogen sehe ich die Rolle der Polizei<br />
insgesamt nicht als problematisch. Es war dort keine provokative<br />
Polizeipräsenz, kein aggressives Auftreten, wie wir es<br />
in anderen Fällen schon hatten. Und die Mehrheit der Beamten<br />
vor Ort war gesprächsbereit, das war in Ordnung. Problematisch<br />
waren zwei Dinge am Rande: Die herbeigeredete Gefährdungslage,<br />
die ein Verbot der Kundgebung rechtfertigen<br />
sollte. Und die Nazidemo in Groß Klein, bei der es zu Übergriffen<br />
aus der Demo heraus kam, z. B. gegen Journalisten, die<br />
die Polizei nicht ausreichend geschützt hat. Hier hätten wir uns<br />
eine ähnliche Polizeipräsenz wie noch am Vorabend in Lichtenhagen<br />
gewünscht.<br />
Bei aller Kritik: Wir haben nicht nur für den 1. Mai und Lütten<br />
Klein etwas erreicht, sondern ein weiteres Beispiel für die<br />
Stadt geliefert, dass es machbar ist – dass mutige Dinge möglich<br />
und praktikabel sind. Wir erhoffen uns ein Aufwachen<br />
von Leuten in politischer Verantwortung. Und ein Aufwachen<br />
von Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt, die sich, trotz Sympathie<br />
mit dem Anliegen, vorsichtig verhalten haben. Der 1.<br />
Mai hat gezeigt: Eine Blockade ist nichts Schlimmes, sie funktioniert<br />
und hat nichts mit Gewalt zu tun. Es können sich auch<br />
viele Bürger daran beteiligen. Und je mehr Menschen sich an<br />
einer Massenblockade beteiligen, desto sicherer ist, dass sie kein<br />
Reinfall wird. Sondern eine klare politische Langzeitwirkung<br />
hat. Insofern erhoffe ich mir für die Zukunft so Einiges. ¬
WIDERSTAND GEGEN<br />
FASTFOOD<br />
Über Fastfood sind alle Fakten bekannt oder recherchierbar, die Konsumenten unübersehbar und allgegenwärtig. Das<br />
Marketing verspricht nachweislich mehr, als es halten kann. Und weder Schmuddel-Plastik-Ambiente, noch das Unterwegs-aus-der-Box-essen<br />
versprechen Genuss pur.<br />
Konsequenz: Wieder Klappstulle und Apfel! Und Slowfood: Foodcoop gründen. Kochen lernen.<br />
FOTO: TOM MAERCKER
0.13 __ //// TITELTHEMA<br />
Zum Grundrecht auf<br />
Versammlungsfreiheit<br />
ELKE STEVEN, KOMITEE FÜR GRUNDRECHTE UND DEMOKRATIE<br />
Der Streit um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist alt.<br />
Die Zweifel an der uneingeschränkten Geltung eines Grundrechts,<br />
dessen Inanspruchnahme fast zwangsläufig für Unruhe<br />
sorgt, kommen schon im Grundgesetz zum Ausdruck. Zwar<br />
haben „alle Deutschen“ „das Recht, sich ohne Anmeldung oder<br />
Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ (Art. 8, 1<br />
GG), aber Absatz 2 lässt bereits Einschränkungen für „Versammlungen<br />
unter freiem Himmel“ zu. Eine solche Beschränkung<br />
beschloss das Parlament 1953 mit dem Versammlungsgesetz,<br />
das Demonstrationen als staatliches Sicherheitsrisiko vorstellt,<br />
die es zu kontrollieren und zu beschränken gilt. Allerdings<br />
beschränkt das Versammlungsgesetz das Grundrecht<br />
nicht mehr auf die Staatsangehörigen.<br />
Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG, verbunden<br />
mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5<br />
GG), garantiert den Bürgern und Bürgerinnen eine der wenigen<br />
Möglichkeiten, öffentlich Einfluss auf die politische Diskussion<br />
zu nehmen. Ansonsten blieben sie Stimmvieh für die<br />
Wahlen. Dieses Grundrecht soll vor allem die Andersdenkenden<br />
schützen, denn sie, nicht diejenigen die mit dem mainstream<br />
übereinstimmen, bedürfen diesen Schutzes. Ohne die<br />
manchmal aufmüpfig-selbstbewusste Inanspruchnahme des<br />
Grundrechts wäre es 1985 wohl kaum zu dem grundlegenden<br />
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gekommen,<br />
mit dem dieses das Grundrecht gegen all die politisch-polizeilichen<br />
Übergriffe zu schützen versuchte.<br />
Seitdem sollte jede Ordnungsbehörde wissen, dass dieses<br />
Grundrecht nicht einfach gegen andere Rechte, Bedürfnisse<br />
und Wünsche aufgerechnet werden kann. Für Auflagen oder<br />
gar Verbote gelten hohe Hürden. Gefährdungen der öffentlichen<br />
Sicherheit müssen konkret und präzise nachgewiesen werden,<br />
um Verbote auszusprechen. Allgemeine Störungen im alltäglichen<br />
Ablauf müssen hingenommen werden. Tatsächlich<br />
aber sind die Auseinandersetzung und die ordnungspolitischen<br />
Versuche, das Versammlungsrecht auszuhebeln, Alltag in der<br />
Bundesrepublik Deutschland geblieben.<br />
Mit dem Vorwurf der Gewalttätigkeit wird jeder Protest diskreditiert,<br />
der die Ordnung nur etwas stört, der die Finger in<br />
die Wunde menschenrechtswidriger, undemokratischer Politik<br />
legt. Die Gewalt der Bürger nähme zu, ist eine immer wiederkehrende<br />
Behauptung welche zur Forderung nach immer mehr<br />
Eingriffs- und Strafverfolgungsmöglichkeiten führt.<br />
Vom polizeilichen Umgang mit Demon strationen<br />
Oft können Demonstrationen sich nicht ungehindert äußern.<br />
Zugangskontrollen schrecken ab. Videoaufnahmen sind bei<br />
fehlenden Anhaltspunkten für eine erhebliche Gefährdung der<br />
öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtswidrig (Verwaltungsgericht<br />
Münster, August 2009). Werden Demonstrationen<br />
als geschlossene Kessel geführt, so wird den Demonstrierenden<br />
die Möglichkeit genommen, Öffentlichkeit zu erreichen.<br />
Die Grundrechte aushebelnden polizeilichen Maßnahmen betreffen<br />
die Teilnehmer um so eher, um so mehr sie provozieren,<br />
um so mehr sie Themen ansprechen, die grundlegende gesellschaftliche<br />
Fragen thematisieren. In den 1980er Jahren wurden
0.14 __ //// TITELTHEMA<br />
die Teilnehmer an den Sitzblockaden der Friedensbewegung<br />
wegen „nötigender Gewalt“ verurteilt. Erst das BVerfG hat<br />
1995 dafür gesorgt, dass die Verurteilungen aufgehoben werden<br />
mussten, da mit Sitzblockaden keine Gewalt ausgeübt werde.<br />
Die Auseinandersetzungen um diese Bewertungen gehen jedoch<br />
bis heute weiter.<br />
Unmittelbare polizeiliche Gewalt, Wasserwerfer, Pfefferspray<br />
und Schlagstöcke wurden auch gegen die friedlich über die<br />
Wiesen strebenden Demonstrierenden beim Protest gegen den<br />
G8-Gipfel in Heiligendamm eingesetzt. Seit es die „Rebell<br />
Clowns Army“ gibt, stört deren irritierend-provozierendes<br />
Spiel mit theatralisch-clownesken Elementen die Polizei erheblich.<br />
Schnell wurden sie zum Ziel polizeilicher Übergriffe.<br />
2008 wurden die ersten polizeilichen Auflagen erteilt, in denen<br />
Clowns die Teilnahme an Demonstrationen quasi verboten<br />
wurde. Noch die absurdesten Auflagen – Clowns dürfen Polizeibeamten<br />
nicht näher als drei oder fünf Meter kommen –<br />
machen deutlich, dass die friedliche Irritation wie auch die Versuche<br />
Konfrontationen zu reduzieren, als bedrohlich wahrgenommen<br />
werden. Die Gerichtsurteile zu solchen Auflagen sind<br />
jedoch noch widersprüchlich.<br />
Mit Auflagen das Versammlungsrecht aushebeln<br />
Immer wieder greifen die Ordnungsbehörden zu dem Mittel<br />
der Einschränkung des Versammlungsrechts durch Auflagen.<br />
Detailliert wird festgelegt, was alles bei der jeweiligen Versammlung<br />
verboten ist, wie sich die Teilnehmenden zu verhalten<br />
haben, was der Versammlungsleiter durchsetzen muss. Solche<br />
Auflagen verschaffen der Polizei vor allem Gründe, in die<br />
Versammlungen nach eigenem Gutdünken einzugreifen. Sie<br />
hebeln das Selbstbestimmungsrecht über den Verlauf der Versammlungen<br />
aus. Sie dürften nur erlassen werden, wenn Grund<br />
zur Annahme besteht, dass Gefahren von einer Versammlung<br />
ausgehen. Sie sollen Versammlungen ermöglichen, wenn anderenfalls<br />
habhafte Gründe für deren Verbot bestünden. Sie sollen<br />
also das Recht auf Versammlungsfreiheit schützen.<br />
In der Praxis werden solche Auflagen meist ohne solche rechtfertigenden<br />
Gründe erlassen. Der Bayerische Gerichtshof<br />
München urteilte 2007, dass 21 von 25 in Mittenwald 2006 erlassene<br />
Auflagen gesetzwidrig seien. Das hindert die Ordnungsbehörden<br />
allerdings nicht, sie bei nächster Gelegenheit<br />
wieder zu erlassen. Im Jahr 2008 wurde deutlich, dass sie darüber<br />
hinaus ein willkommenes Mittel sind, rechtlich gegen Versammlungsleiter<br />
vorzugehen. Immerhin beruhte der Brokdorf-<br />
Beschluss des BVerfG 1985 auch auf der Auseinandersetzung<br />
um Rechte und Pflichten des Versammlungsleiters. Das Verfassungsgericht<br />
machte deutlich, dass nicht eine Person die Verantwortung<br />
für das vielfältige Geschehen bei einer großen Demonstration<br />
übernehmen kann, zu der viele verschiedene<br />
Gruppen aufrufen. Es forderte, den Schutz des Versammlungsrechts<br />
weit auszulegen. Störungen von Einzelnen oder einzelnen<br />
Gruppen seien zu beheben, ohne die gesamte Versammlung<br />
aufzulösen.<br />
Mit der Erteilung von Auflagen versuchen die Ordnungsbehörden<br />
nun, diese orientierende Rechtsprechung auszuhebeln.<br />
Versammlungsleiter sollten dafür verantwortlich gemacht werden,<br />
dass alle Auflagen - von der Länge der Transparentstangen<br />
bis zur Geh-Geschwindigkeit der Teilnehmenden - eingehalten<br />
werden. Anderenfalls wären sie verpflichtet, die Versammlung<br />
aufzulösen. Das, was die Polizei nicht darf, nämlich die Versammlung<br />
aus nichtigen Gründen auflösen, soll nun der Versammlungsleiter<br />
tun. In mindestens vier Städten standen im<br />
Jahr 2008 Versammlungsleiter vor Gericht – in Karlsruhe,<br />
München, <strong>Rostock</strong> und Friedrichshafen.<br />
Mit Gesetzen gegen das Versammlungsrecht<br />
Seit der Föderalismusreform 2006 ist auch das Versammlungsrecht<br />
in die Obhut der Länder gegeben. Das alte Versammlungsgesetz<br />
des Bundes kann durch neue Versammlungsgesetze<br />
der Länder ersetzt werden. Das Bayerische Versammlungsgesetz<br />
stellte einen ersten Angriff auf das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit<br />
dar. Es versuchte gegen alle „extremistischen“<br />
Gruppen und Versammlungen polizeiliche Eingriffsbefugnisse<br />
auf der Grundlage von Generalklauseln und unbestimmten<br />
Rechtsbegriffen zu schaffen. Rechtssicherheit wäre<br />
für die Bürger nicht mehr gegeben. Das BVerfG hat in einer<br />
Eilentscheidung dieses Gesetz für verfassungswidrig erkannt.<br />
So begrüßenswert die Eilentscheidung ist, so ist sie doch kein<br />
Grund, sich erfreut zurückzulegen. Wie in so vielen Fällen von<br />
Recht sichernden Verfassungsgerichtsentscheidungen, werden<br />
die Grenzen des Grundrechts enger werden. Das nun vorliegende<br />
neue bayerische Versammlungsgesetz wie auch der Entwurf<br />
des niedersächsischen Gesetzes gewähren vor allem den<br />
Ordnungsbehörden Ermessensspielräume und Eingriffsbefugnisse.<br />
Der Streit um das Recht auf Versammlungsfreiheit wird letztlich<br />
auf der Straße ausgetragen. Das Recht ist immer neu bedroht.<br />
Es bedarf der Menschen, die immer neue Formen des<br />
provozierenden Eintretens für Menschenrechte und Demokratie<br />
entwickeln, die sich das Recht nicht nehmen lassen, sich<br />
„ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen<br />
zu versammeln“. ¬<br />
---<br />
Literatur:<br />
Komitee für Grundrechte und Demokratie:<br />
http://www.grundrechtekomitee.de/taxonomy/term/20<br />
Grundrechte-Report 2010 – zur Lage der Bürger- und Menschenrechte<br />
in Deutschland; Hrsg.: Till Müller-Heidelberg u.a.,<br />
Frankfurt/M 2010
WIDERSTAND GEGEN<br />
ONEWAY-KOMMUNIKATION<br />
Wirtschaft und Medien reden gern von der Kommunikationsgesellschaft, meinen aber nicht den gleichberechtigten Austausch<br />
fundierter Argumente zum Gewinnen neuer Erkenntnisse, sondern lediglich die Inanspruchnahme elektronischer<br />
Dienste zum Zwecke der Kostenerzeugung.<br />
Konsequenz: Glotze abschalten. Handy auf Standby. Und sich wieder verabreden.<br />
FOTO: TOM MAERCKER
0.16 __ //// TITELTHEMA<br />
Vom Widersprechen<br />
CLAUDIA LOHSE-JARCHOW LEBT MIT IHREM MANN IN GREIFSWALD UND FÜHLT SICH ROSTOCK VERBUNDEN, VON WO SIE<br />
2001 FORTZOG UND WO IHRE FAMILIE BIS HEUTE LEBT. FRAU LOHSE-JARCHOW WAR ÜBER SIEBEN JAHRE EHRENAMTLICH<br />
BEI DER ÖKOMENISCHEN TELEFONSEELSORGE IN ROSTOCK UND GREIFSWALD AKTIV. IM MOMENT ARBEITET SIE GEMEIN-<br />
SAM MIT IHREM MANN AN EINEM PHOTO-TEXT-PROJEKT ÜBER ALTE MÄNNER.<br />
Im Januar 1978 wurde ich in ein Vorpommersches Pfarrhaus<br />
hineingeboren. Meine Kindheit wurde bewacht von einer kupfergrünen<br />
Kirchturmspitze, die über die Pfarrhofmauer in unseren<br />
Garten schaute. In den Gottesdiensten lernte ich die Liturgie<br />
und die Gebete bevor ich sie verstand. Die christlichen<br />
Rituale wurzelten in mich ein, ganz von selbst, so wie ich in sie.<br />
Ich bin eine Gläubige, ich bin ein Kirchenmensch. Als ich sieben<br />
Jahre alt war, zogen wir nach <strong>Rostock</strong> um, wieder in ein<br />
Pfarrhaus, diesmal in ein mecklenburgisches, in dem 1989<br />
Menschen ein- und ausgingen, die eine Revolution organisierten.<br />
Widerspruch hat also in meiner Familie Tradition. In den<br />
späten DDR-Jahren habe mich in der Schule im Widersprechen<br />
geübt. „Soldaten sind vorbeimarschiert“ habe ich nicht<br />
mitgesungen. Und ich wusste, dass im Falle einer Auseinandersetzung<br />
meine Eltern immer hinter mir stehen, um meine Position<br />
zu stärken.<br />
Mein Vater bezeichnet mich als eine der kritischsten Predigthörerinnen,<br />
die er kennt. Es war meiner Schwester und mir liebes<br />
Ritual, seine Predigt und den gesamten Gottesdienst beim<br />
Essen auseinanderzunehmen und sie unserer harschen Kritik zu<br />
unterziehen. Ich denke, mein Vater hat es mit einer Mischung<br />
aus liebevoller Nachsicht, Unmut und Kapitulation vor der eigenen<br />
Pädagogik erlitten.<br />
Durch eine Körperbehinderung lebe ich im Rollstuhl. Zu widersprechen<br />
gehört auch deshalb zu meinem Alltag. Das Leben<br />
birgt eine Aneinanderreihung von Entscheidungen - und besonders<br />
als Hilfsbedürftige trifft man viele davon nicht selbst.<br />
So hilft es zu widerspechen, sich selbst zu spüren und für andere<br />
spürbar zu werden. Natürlich geht es aber auch hier, wie beinahe<br />
immer, um das Gleichgewicht der Kräfte. Mit dem Erwachsenwerden<br />
habe ich die Bedeutung von Gnade schätzen<br />
gelernt. Inzwischen sehe ich meinen Vater und seine Predigten<br />
mit mehr Milde. Ich kann Nachsicht üben und schweige<br />
manchmal diplomatisch, wenn es jemand gut mit mir meint,<br />
auch wenn ich mich darin nicht wiederfinde. Manchmal traue<br />
ich mich auch schlicht und einfach nicht, meine Sicht der Dinge<br />
laut zu äußern. Und manchmal eben doch. Umso erfreulicher,<br />
wenn es in Herzensangelegenheiten gelingt.<br />
Vor neun Jahren zog ich zu meinem Mann nach Greifswald.<br />
Ich lebe nun wieder auf dem Boden der Pommerschen Landeskirche.<br />
Wie es üblich ist, wurde ich als Kirchenmitglied nach<br />
meinem Umzug in die zuständige Kirchgemeinde vor Ort umgemeldet.<br />
In meinem Falle von einer Landeskirche in die andere.<br />
Übergänge sind mitunter schwierig. Für kritische Predigthörerinnen<br />
erst recht. Ich gewöhnte mich wieder an die Liturgie<br />
der Unierten Kirche, die in Pommern gesungen wird und<br />
fand Pastoren, die mir liegen. Ich begann, wie in <strong>Rostock</strong>, in<br />
der ökumenischen TelefonSeelsorge mitzuarbeiten und fand<br />
dort ein geistliches Zuhause.<br />
Im Februar 2006 wurde die Pfarrstelle zur Leitung der Greifswalder<br />
TelefonSeelsorge ebenso wie die des Hospizpastors ersatzlos<br />
gestrichen. 100 Ehrenamtliche TelefonSeelsorger blieben<br />
zunächst ohne Leitung, inzwischen gibt es wieder eine Leiterin,<br />
keine Pastorin, mit einer halben Stelle. Im selben Atemzug<br />
installierte die Pommersche Landeskirche eine volle Pfarrstelle<br />
im „Institut für Evangelisation und Gemeindeentwicklung“,<br />
wo man sich mit der niedrigschwelligen Hinwendung<br />
zur ungetauften Bevölkerung befasst, um diese als Kirchenmitglieder<br />
zu gewinnen. Diese Entwicklung ärgerte mich zutiefst.<br />
Nach meiner Erfahrung wird durch die TelefonSeelsorge und<br />
andere Einrichtungen wertvolle kirchliche Arbeit geleistet. Sicher<br />
geschieht dieser Dienst an den Menschen im Stillen und<br />
hat auch nicht sogleich scharenweise Kircheneintritte zur Folge.<br />
Einer der Grundsätze am Seelsorgetelefon ist, dass Anrufer<br />
nicht missioniert werden. Und doch begegnen die Ehrenamtlichen<br />
den Anrufenden vor dem Hintergrund kirchlicher Tradi-
tion. Sie sind Stimmen, Gesichter, Hände und Füße der Kirche.<br />
Sie brauchen hauptamtliche Pflege und Begleitung.<br />
Der wenig würdigende Umgang mit Ehrenamtlichen und<br />
zwangsläufig also den Bedürftigen selbst schmerzt mich noch<br />
immer.<br />
Zu diesem Schmerz und Ärger gesellte sich Entrüstung, als ich<br />
erfuhr, dass die Pommersche Kirche keine Männer und Frauen<br />
zum Pfarramt zulässt, die sich zu Ihrer Homosexualität bekennen.<br />
In der Mecklenburgischen Landeskirche ist die sexuelle<br />
Orientierung von Pastoren kein Einstellungskriterium. Als<br />
Rollstuhlfahrerin gehöre ich selbst zu einer Minderheit. Und<br />
so wuchs in mir die Erkenntnis, dass ich keiner Kirche angehören<br />
kann, die Minderheiten diskriminiert.<br />
Ich habe die Kirche eigentlich nie als einen Verein betrachtet,<br />
aus dem ich einfach austrete, wenn mir die Satzung nicht passt.<br />
Viel mehr ist die Evangelische Kirche für mich der kleinste gemeinsame<br />
Nenner einer Vielzahl christlicher Strömungen. Im<br />
Sommer 2006 ließ ich mich nach Mecklenburg umgemeinden.<br />
Ich wollte nicht die Kirche verlassen, sondern die Landeskirche.<br />
So schrieb ich dem Pommerschen Bischof und erklärte<br />
ihm meine Gründe. Ich erhielt eine freundlich bedauernde<br />
Antwort, zwischen deren Zeilen ich auch Erleichterung las, einen<br />
Widerspruchsgeist weniger am Landeskirchlichen Hals zu<br />
haben.<br />
Von unserem Greifswalder Garten aus schauen wir durch den<br />
Zaun in den Garten des Konsistoriums. Über den Zaun hinweg<br />
sehen wir das Verwaltungsgebäude der Pommerschen Kirchenleitung,<br />
hinter dessen Fenstern Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit<br />
schaltet und waltet, berät, sich beraten lässt und seine<br />
Entscheidungen trifft. Die Käfer aus unserem Garten landen<br />
im selben Vogelmagen wie die von nebenan, die Würmer scheren<br />
sich nicht um Grundstücksgrenzen und bevölkern das Erdreich<br />
von hier nach dort und von kreuz nach quer. Von dem<br />
Gift, das der Konsistoriumsgärtner jedes Jahr an die Rasenkante<br />
spritzt, sterben die Pflanzen auf meiner Seit des Zauns ebenso.<br />
Der Bischof und ich werden vom Regen aus derselben Wolke<br />
nass, wir glauben wahrscheinlich an den selben Gott, aber<br />
wir gehören nicht der selben Landeskirche an. Das ist ein gutes<br />
Gefühl. Und ein wehmütiges dazu. Ich habe widersprochen,<br />
ich habe mich positioniert und entschieden, nicht dazugehören<br />
zu wollen. Ein wenig bedaure ich manchmal, dass ich zwar<br />
widersprochen habe, aber gegangen bin. Seit einer Weile gehen<br />
mein Mann und ich gern in einer kleinen Greifswalder Gemeinde<br />
zum Gottesdienst. Durch meine Umgemeindung kann<br />
ich dort aber nicht an den Wahlen zum Gemeinekirchenrat<br />
teilnehmen und könnte auch nicht kandidieren.<br />
Zu widersprechen hat immer damit zu tun, wach zu sein, Dinge<br />
zu hinterfragen und sie anders zu machen, als erwartet wird.<br />
Es bedeutet, der Erwartung etwas entgegen zu setzen. Zu widersprechen<br />
hat mit Entscheidungen zu tun. Eine Entscheidung<br />
für etwas ist immer auch eine Entscheidung gegen etwas.<br />
Und so macht zu widersprechen frei - aber auch einsam. Widerspruchsgeister<br />
tun gut daran, eine Portion Trotz zu besitzen,<br />
aber auch Gelassenheit. Sonst wird aus dem Widersprechen<br />
schnell ein Wadenbeißen.<br />
Meine Gelassenheit lässt mich voll Vorfreude auf die Vereinigung<br />
der Mecklenburgischen, Pommerschen und Nordelbischen<br />
Landeskirche in ein paar Jahren schauen. Dann werden<br />
sich in Punkto Homosexualität und Pfarramt hoffentlich die<br />
beiden westlicheren Landeskirchen mit ihrem moderaten Umgang<br />
durchsetzen. Das gebe der Geist, der weht, wo er will -<br />
mitunter der Erwartung entgegen. ¬
WIDERSTAND GEGEN<br />
VERRECHTLICHUNG<br />
Innen- und Steintor-Vorstadt gelten als offenkundiger Nistplatz unendlich vieler Anwaltskanzleien, deren Arbeitsgrundlage<br />
eine möglichst unklare Rechtslage, juristische Schlupflöcher und frustrierte Menschen sind. Und: Zu jedem<br />
Problem ein unverständliches Gesetz mit Verordnungen und Ausnahmen.<br />
Konsequenz: Mehr Lebensfreude! Miteinander reden, argumentieren, sich einigen, entschuldigen, verzeihen.<br />
FOTO: TOM MAERCKER
0.19 __ //// TITELTHEMA<br />
Unterschriften für<br />
betagte Bäume<br />
JOHANNES SAALFELD IST MITGLIED <strong>DES</strong> KREISVORSTAN<strong>DES</strong> VON BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.<br />
In der Warnemünder Mühlenstraße stehen seit über 120 Jahren<br />
67 Kopflinden. Früher, als Warnemünde noch an der heutigen<br />
Richard-Wagner-Straße endete, führte die Allee von der Kirchenpforte<br />
nach Westen aus dem kleinen Fischerdorf Richtung<br />
Stoltera hinaus. Heute stehen die Linden mitten im Ortskern<br />
und unter ihrem Blätterdach unterschreiben nebeneinander<br />
90jährige Warnemünderinnen und 16jährige <strong>Rostock</strong>er Schüler<br />
das Bürgerbegehren für den Erhalt dieser alten, unbeweglichen<br />
Bäume. Seit 17. Mai sammeln die Bündnisgrünen und<br />
viele Bürger und Bürgerinnen in ihrer Freizeit Unterschriften,<br />
weil die Allee im Zuge anstehender Straßenbaumaßnahmen gefällt<br />
werden soll. Innerhalb der ersten zweieinhalb Wochen kamen<br />
so 4.000 vollständige Unterschriftensätze zusammen.<br />
Angeschoben haben das Bürgerbegehren die Bündnisgrünen<br />
Dr. Ursula Karlowski, Johann-Georg Jaeger und Dr. Harald<br />
Terpe. Denn nach vielen Gesprächen mit den Versorgungsträgern<br />
und Sachverständigen wurde deutlich, dass der Erhalt der<br />
Bäume technisch möglich ist und sich für die Stadt finanziell<br />
neutral gestalten würde. Jüngste Baumgutachten der Stadt gaben<br />
der Vitalität der Bäume sogar gute Noten. Und trotzdem<br />
sollen sie fallen. Grund dafür sind Bedenken aus der Stadtverwaltung,<br />
die Bäume würden den Baustress nicht überstehen.<br />
Hinzukommen ästhetische Aspekte, wonach neue Bäume ein<br />
geschlosseneres und einheitlicheres Bild abgeben würden. Diesen<br />
Bedenken und Ansichten folgten erst der Ortsbeirat und<br />
dann die Bürgerschaft. Warum wurde dennoch ein Bürgerbegehren<br />
gegen diese Entscheidungen demokratisch legitimierter<br />
Gremien auf den Weg gebracht? Die Kommunalverfassung<br />
sieht ein Bürgerbegehren als demokratisches Korrektivinstrument<br />
vor. Bürgerbegehren stellen die Möglichkeit dar, zu kon-<br />
kreten Sachfragen Meinungsbilder zwischen den Wahlen einzuholen<br />
und ihnen eine gewisse Verbindlichkeit zu verleihen.<br />
Da zum Zeitpunkt der Entscheidungen in Ortsbeirat und Bürgerschaft<br />
nicht alle Informationen auf dem Tisch lagen und<br />
viele Bürgerinnen und Bürger mit der Situation unzufrieden<br />
waren, hielten die Bündnisgrünen ein Bürgerbegehren für angemessen<br />
– ist es doch nicht nur Korrektivinstrument, sondern<br />
es vermittelt auch zwischen einem Teil der Bevölkerung und ihren<br />
Repräsentanten.<br />
Es geht bei dem Bürgerbegehren auch um etwas mehr als nur<br />
67 Kopflinden. Es geht um den prinzipiellen Umgang mit den<br />
<strong>Rostock</strong>er Straßenbäumen. Straßensanierungen werden seit<br />
langer Zeit unter Erhalt des „Straßenbegleitgrüns“ verwirklicht,<br />
andernfalls wären Bäume neben der Straße immer nur<br />
maximal 40 Jahre alt. Daran sollte unsere Generation nichts<br />
ändern. Darüber hinaus geht es aber auch um die Achtung vor<br />
dem Alter. Wir können nicht einfach alles aus dem Stadtbild<br />
herausschneiden und sägen, was alt und krumm ist. Genauso<br />
wie Menschen nicht immer makellos sind, ist es die Natur<br />
schon lange nicht. Natürlich wäre es pragmatischer, bei einer<br />
grundlegenden Sanierung auch gleich neue Bäume anzupflanzen.<br />
Aber nicht alles, was sich dem administrativen Rationalismus<br />
widersetzt, ist zugleich auch irrational. Wer sich über die<br />
sachlichen, fiskalischen und technischen Argumente für den<br />
Erhalt der Allee weiter informieren will, kann sich auf der<br />
Homepage des Bürgerbegehrens unter www.kopflinden.de einen<br />
Überblick verschaffen. ¬
WIDERSTAND GEGEN<br />
GELDVERMEHRUNGSSYSTEME<br />
Die Bank verdient immer - so eine alte Weisheit. Hatten Geldverleiher noch nie einen guten Ruf, haben es einige Geldinstitute<br />
geschafft, aus unseren Ersparnissen eine Waffe zu machen, mit der sie weltweit in unserem Namen Schaden anrichten.<br />
Nicht mit unserem Geld! Konsequenz: Kredite, Geldanlagen, Altersvorsorge, Konto wechseln.<br />
FOTO: TOM MAERCKER
0.21 __ //// TITELTHEMA<br />
Wer ein Unrecht lange Zeit<br />
geschehen lässt, bahnt<br />
dem nächsten den Weg<br />
CHRISTINE LUCYGA<br />
Das World Press-Photo 2003 von Jean-Marc Bouju zeigt einen<br />
Mann und ein kleines Kind, allein in einer Wüste hinter einem<br />
Stacheldrahtverhau. Sie sitzen auf dem kahlen, nackten Sandboden,<br />
ohne Wasser, ohne Essen, ohne Gepäck. Man sieht die<br />
brütende Hitze und man spürt die Qual der Beiden. Der Vater<br />
hält schützend sein leidendes Kind im Arm. Er legt ihm die<br />
Hand auf die Stirn; eine Geste der Liebe und Fürsorge, die<br />
auch wir kennen. Der Mann ist jung, wie seine Hände und Füße<br />
erkennen lassen, aber wir sehen sein Gesicht nicht, denn der<br />
ganze Kopf ist vollständig mit einer hohen, schwarzen, im Nakken<br />
zusammengebundenen Kapuze aus Plastik verhüllt. Das<br />
Atmen muss darunter zum Ersticken qualvoll sein.<br />
Auf diese Weise wurden - oft willkürlich festgenommene -<br />
„Terrorverdächtige“ auf dem Weg in die US-Militärgefängnisse<br />
und nach Guantanamo verhüllt. Aber kann ein Terrorist sein,<br />
wer sein Kind so liebevoll beschützt? Es ist ein Bild aus einem<br />
Krieg, der noch heute als „Kampf gegen den Terror“ deklariert<br />
wird (obwohl er mehr Terror als zuvor hervorgebracht hat) und<br />
zu dessen Rechtfertigung Begriffe wie Freiheit, Demokratie,<br />
und Menschenwürde herhalten mussten.<br />
Dem widerspricht das Foto. Es zeigt wie Freiheit genommen<br />
und Menschenwürde missachtet wird. Ohne Achtung von<br />
Menschenwürde kann es keine Demokratie geben. Wenn wir<br />
aber schweigend zulassen, dass in anderen Regionen der Welt<br />
durch das Militär von Industriestaaten, die sich demokratisch<br />
nennen, Unrecht geschieht und toleriert wird, dann hört unser<br />
Demokratieverständnis vor der eigenen Haustür auf. Wie sehr<br />
hatten wir die Demokratie vor 20 Jahren ersehnt und gewaltlos<br />
erkämpft. Wie stolz klingt noch heute der Satz, der den Widerstand<br />
gegen die Arroganz der Macht ohne Wenn und Aber ausdrückte<br />
und der diese Macht zu Fall brachte: „Wir sind das<br />
Volk!“<br />
Haben wir diesen Satz verlernt? Dabei gibt es doch in unserer<br />
brüchig gewordenen Demokratie Vieles, dem zu widersprechen<br />
und dem sich zu widersetzen ist. Nun möchte ich noch<br />
einmal auf das Foto zurückkommen: Es erinnert mich an den<br />
moralischen Zwiespalt, dem ich mit vielen Abgeordneten von<br />
SPD und Grünen im Dezember 2001 durch das faktisch erzwungene<br />
Ja zu einem ersten Einsatz der Bundeswehr in Afgha-<br />
nistan ausgesetzt war. Obwohl zu diesem Zeitpunkt das Taliban-Regime<br />
militärisch bereits besiegt war, und eine Teilnahme<br />
der Bundeswehr an Kampfhandlungen ausgeschlossen wurde,<br />
hätten wir, in guter parlamentarischer Tradition, unsere Zustimmung<br />
verweigert. Mit der – erstmals so praktizierten -<br />
Kopplung der Abstimmung an die Vertrauensfrage des Kanzlers<br />
hieß die Entscheidung nun: Welches ist das kleinerer Übel?<br />
Ein „Ja“, zugleich für Rot-Grün oder ein „Nein“, das mit dem<br />
Sturz der rot-grünen Regierung<br />
den Weg für die Konservativen freimachen würde, die damals<br />
militärisch zu mehr bereit waren, auch im Irak. Aber die Zweifel<br />
und der moralische Zwiespalt werden bleiben. Daran wird<br />
auch das gern beschworene Bild glücklicher befreiter afghanischer<br />
Mädchen, in neuen Mädchenschulen, nichts ändern.<br />
(Das erste Kriegsopfer ist bekanntlich die Wahrheit.) Denn<br />
schon längst ist der Terror, und mit ihm der Krieg, zurückgekehrt<br />
und fordert seine Opfer. Der Kampf gegen den Terror<br />
kann weder mit militärischen Mitteln noch mit Einschüchterungen<br />
a la Guantanamo gewonnen werden. Im Gegenteil: Es<br />
gibt durch Guantanamo mehr Hass, der sich durch Terror artikulieren<br />
könnte.<br />
Zu Recht haben wir Europäer die Auflösung der Internierungslager<br />
gefordert. Deshalb ist es inkonsequent und halbherzig,<br />
geschundenen, ehemals Internierten die Aufnahme hierzulande<br />
zu verweigern, zumal doch die Messlatte für eine Aufnahme<br />
schon sehr hoch hängt.<br />
Oft frage ich mich, was wohl aus den beiden Menschen auf<br />
meinem Presse-Foto geworden seien mag. Können sie die Erinnerung<br />
an die erlittenen Demütigungen je verdrängen? Werden<br />
sie uns ein Leben lang dafür hassen, dass wir dieses Unrecht zugelassen<br />
haben? „Wer ein Unrecht lange Zeit geschehen lässt,<br />
bahnt dem nächsten den Weg!“ sagte Willy Brandt. Was im<br />
Umkehrschluss bedeutet: „Sage Nein, misch dich ein!“ denn:<br />
„Wir sind das Volk“. ¬<br />
---<br />
Das Fotos finden Sie u.a. unter:<br />
www.geo.de/GEO/fotografie/fotogalerien/2121.html
0.22 __ //// TITELTHEMA<br />
Gefühl und<br />
Gewaltenteilung<br />
OLAF REIS<br />
Gefühl und Gewaltenteilung<br />
Wir sind erschüttert. Eine nicht enden könnende Reihe sexuell<br />
missbrauchter, verunsicherter, in die Krankheit gestürzter Kinder<br />
zieht an uns vorüber. Kinder, die ihre Stimme erst fanden,<br />
als sie keine mehr waren. Geschichten, die Rache verlangen,<br />
wenigstens Gerechtigkeit, und Sühne. Schicksale, die auch in<br />
nicht betroffenen Vätern und Müttern Mordlust, Rachedurst,<br />
und den Ruf nach Kreuzigung laut werden lassen. Pontius Pilatus<br />
reibt sich verwundert die Augen, dann hebt er vielleicht seine<br />
Stimme.<br />
Schuldig sind immer Erwachsene, mögen sie zölibatäre Pfarrer,<br />
entgrenzte Reformpädagogen, gewinnsüchtige Kinderpornoproduzenten<br />
oder kaltäugige Kinderhändler sein. Schuldig sind<br />
sie, denn sie konnten sich entscheiden, sie hatten eine WAHL.<br />
Sie mögen vorher mit ihrem Gott gerungen haben oder ihr<br />
Heil in der Kommune gesucht haben; Sie mögen ihres Berufes<br />
wegen nicht mehr mit ihrer Mutter reden oder es erst mit<br />
Rauschgifthandel versucht haben - Sie alle aber haben sich entschieden<br />
es zu tun und also Täter zu werden. Die aber, die ihr<br />
gestern noch kreuzigen wolltet, die seelisch Kranken, die geistig<br />
Behinderten, oder die zu jungen TäterInnen – sie sind diejenigen,<br />
die sich nur eingeschränkt entscheiden können oder<br />
gar nicht – sie mögen sehr gefährlich sein, aber schuldig sind<br />
sie nicht.<br />
Doch wer möchte hören, dass der gestrige Zorn ungerecht war<br />
wenn der heutige der gerechte ist? Wenn endlich Zorn, Gewalt<br />
und Recht in eins fallen? Wer ließe sich die Gelegenheit des<br />
Handelns entgehen, das lange gesuchte Engagement für eine<br />
verbesserte Gemeinschaft angesichts der himmelschreienden<br />
Verbrechen am Kostbarsten, was die Gesellschaft hervorzubringen<br />
imstande ist, an den Nachfahren? Endlich einmal ist in<br />
der unübersichtlichen Heutwelt klar, wer böse ist (der<br />
SCHÄNDER) und wer gut (das Kind, der Jugendliche) – er-<br />
kennbar daran, dass sich 99.99% der Zeitgenossen darin einig<br />
sind, dass Kinder unfähig zur Konsensualität und damit immer<br />
Opfer sind?<br />
Nein, hier soll nicht das Argument aufgemacht werden, dass<br />
diese Ansicht wie jede andere historisch, also veränderlich ist.<br />
Das Recht, welches wir uns selbst gegeben haben, gilt in im Augenblick<br />
der Tat und es ist belanglos wie die alten Griechen,<br />
Nabokow oder Stephan George über die sexuelle Beziehung<br />
mit und zu Kindern gedacht haben mögen.<br />
Gott und Verbrechen<br />
Das Argument ist ein anderes, größeres: Dass es selbst angesichts<br />
des vorletzten Tabubruches in der Postmoderne - dem<br />
Angriff auf das Kind - ein Verbrechen ist, in Zorn zu geraten<br />
und dort zu bleiben. Unser gerechter Zorn soll das Verbrechen<br />
sein? Der Satz wird etwas annehmbarer, wenn er theologisch<br />
umformuliert und der Zorn zur „Sünde“ wird. Sünde und Verbrechen<br />
sind zunächst zweierlei, denn sie haben unterschiedliche<br />
Adressaten. [Die Botschaft Jesu ist deshalb erträglicher als<br />
die juristische Botschaft weil darin nicht Menschen über Menschen<br />
richten, sondern dieses RECHT bei Gott liegt. An ihn<br />
ist auch die Sünde adressiert. Wenn sich aber entweder bereits<br />
William von Ockham beim Rasieren geschnitten hätte oder<br />
Nietzsche Recht hatte, als er Gottes Hirntod feststellte, die<br />
Herz-Lungen-Maschine aber nicht abschaltete? Dann bliebe<br />
das Recht bei den Menschen und der Verstoß dagegen das Verbrechen.<br />
Das „Banale“ entsteht im Augenblick von Gottes Tod,<br />
denn hier wird Sünde zum Verbrechen degradiert].<br />
Nehmen wir an, Nietzsche hätte richtig mit seiner Diagnose<br />
gelegen und der allwissende unermessliche Adressat wäre nicht<br />
mehr da. Wer aber dürfte sich dann erheben, um Richter sein?
Die Ermesslichkeit des Menschen (seine Begrenztheit) und die<br />
Annahme von der Gleichheit aller lebenden Menschen ließe<br />
nur die Möglichkeit, alle Menschen am Recht und der Rechtssprechung<br />
zu beteiligen. Diese Beteiligung aller, die Demokratie,<br />
jedoch braucht bei Strafe ihres Untergangs Regeln, damit<br />
der „Diskurs“ nicht zur Debatte, zum Streit, zur Schlammschlacht,<br />
und schließlich zur Kreuzigung eskaliert. Diese Diskursregeln,<br />
denen Habermas sein Leben gewidmet hat, betreffen<br />
nicht die Inhalte oder Nicht-Inhalte des Diskurses, sondern<br />
NUR seine Form. Eher im Gegenteil darf in einem funktionierenden<br />
sozialen Diskurs GAR NICHTS ausgelassen werden.<br />
Die ethische Begrenzung des Diskurses betrifft also nur die Regeln<br />
der Diskursführung bei gleichzeitiger Pflicht, sie auf alle<br />
Themen gleichermaßen anzuwenden.<br />
Gerade hochvalente Felder/Themen wie Sexualität entwickeln<br />
in dem Augenblick, da sie aus der Kommunikation bzw. der<br />
Demokratie ausgelassen werden, hohe Eigendynamiken und<br />
hüllen sich in Dunkelheit. Es ist unglaublich, dass trotz van de<br />
Velde, Masters & Johnson, 1968, FKK, Hite-Report, Frauenbewegung<br />
und XXL-Bekenntnisbüchern und Ratgebern diese<br />
Dunkelheit noch immer dieselbe zu sein scheint wie die der<br />
Schatten im Freudschen Arbeitszimmer. Noch immer / und gerade<br />
wegen des vielen Redens darüber / sind die Körperteile<br />
zwischen linker und rechter Leiste das Fremde, das Exotische,<br />
das Feuchtgebiet. So bedarf es der ständig neuen Erforschung<br />
und eben in dieser Kanalisierung der humanen Neugier liegt<br />
der Herrschaftsmechanismus. In Abwandlung des Uljanowschen<br />
Religionssatzes gilt: Die Sexualität ist das Opium<br />
fürs Volk. Diese narkotisierende Wirkung entfaltet sie eben<br />
nur, wenn sie als „Geheimnis“ konstruiert wird.<br />
Dem gebürtigen Ostelben stößt die gegenwärtige Retabuisierung<br />
der Sexualität mit allen Risiken und Nebenwirkungen für<br />
die uns umgebende Symbolwelt durchaus noch auf, spätestens<br />
dann wenn FKK- in Hundestrände umgewandelt werden. Erst<br />
beim Zappen durch die Unterleibswelt der Frauentäusche, heißen<br />
Stühle und Anmach-Soaps dämmert es uns, dass die Vermassung<br />
des Tabus ständig neue Unterschichten schafft, einen<br />
Diskurs, in dem sich das sich selbst reproduzierende Prekariat<br />
lieber das Frontalhirn als die Eier abschneidet. Die mediale Gewalt<br />
liegt also in der Schaffung einer limbischen Subkultur, die<br />
die (pseudo)kopulierende Bevölkerung auf ewig von der sozialen<br />
Teilhabe abkoppelt.<br />
Damit zurück zum Argument, dass der anhaltende Zorn über<br />
den sexuellen Missbrauch das eigentliche Verbrechen sei. Warum?<br />
Weil die Wut blind oder zumindest vertunnelt ist. So<br />
schwer erträglich es ist: Der Volkszorn ist essenzieller Teil des<br />
Tabus, welches die Sexualität umgibt. Das zornige Individuum<br />
wird nicht in der Lage sein, das Tabu zu brechen, sondern es<br />
macht das Geheimnis nur mächtiger. Für die Gruppe aber ist<br />
die Wut der Gerechten das Ende der Demokratie. Wie gesagt,<br />
der Diskurs braucht Regeln, denn nur so kann er eine erfolgreiche<br />
„soziale Technologie“ (Stanislaw Lem, Summa Technologiae)<br />
sein die geeignet ist, die Menschengesellschaft zu erhalten<br />
[sie an die sich ändernden planetaren Bedingungen anzupassen].<br />
Regelkreise<br />
Zwei Diskursregeln scheinen unverzichtbar für das Funktionieren<br />
der sozialen Technologie: die nicht enden könnende Suche<br />
nach Wahrheit und das Streben nach Gelassenheit wenn wir<br />
ihrer ansichtig werden sollten. Beide Regeln bedingen einander,<br />
denn die naturgemäß unendliche Suche nach Wahrheit<br />
wird von unkontrollierten Emotionen unterbrochen, sei es das<br />
Adrenalin der für sicher gehaltenen Erkenntnis oder der Dopaminmangel<br />
des erschöpften Zweifels, aber auch die Nicht-Inhibition<br />
des für gerecht gehaltenen Zorns usw.<br />
Sobald es dem Erkennenden jedoch gelingt, die Gelassenheit<br />
wiederzufinden, stellt sich schnell heraus, dass die Suche nach<br />
der Wahrheit wieder aufgenommen und fortgesetzt werden<br />
kann. Sozietäten unterliegen darüber hinaus Gruppenprozessen<br />
[beispielsweise wird Schuld oft in Form von Outgroups<br />
symbolisiert, der Sündenbock der Missbrauchs-Diskussion<br />
heißt gerade Papst, und seitdem gilt das „wir sind …“ nicht<br />
mehr]. Gruppen können es also schwerer haben mit der Wahrheit<br />
als Individuen, dennoch: Bei Strafe ihres Untergangs darf<br />
eine Gesellschaft ihre Erkenntnisse nicht für ewig gesichert halten.<br />
Das ist kein flachgespültes Playdoyer für die Herrschaft<br />
der Kognition, der Vernunft, der Ratio usw. Ohne Emotionen<br />
wird sich die - gegenwärtige - Menschengesellschaft kaum fortentwickeln,<br />
auch wenn mancher Technokrat das für besser hielte.<br />
Die Französische Revolution wurde durch die Vernunft der<br />
Enzyklopädisten zwar vorbereitet, ausgelöst aber wurde sie von<br />
der Romantik Rosseaus und dem Zorn der Waschfrauen. Auch<br />
die postmoderne Reflexivität bleibt ohne Konsequenz wenn<br />
keine emotionale Valenz entsteht [Wegbereiter der Grünen Bewegung<br />
ist eben nicht der Club of Rome, sondern Alexandra<br />
mit „Mein Freund der Baum ist tot“]. Das Gefühl bleibt Agens<br />
der Veränderung, bleibt es jedoch ungeregelt, hemmt es genau<br />
jene Veränderung, die es einst initiiert hatte. Die gegenwärtig<br />
in Deutschland zu verfolgende Auseinandersetzung um sexuellen<br />
Missbrauch von Kindern ist Äonen von einem aufgeklärten<br />
Diskurs entfernt – und das ist der Grund für das Entsetzen,<br />
mehr noch als die unfassbaren Taten. Die Opfer, Täter; Beteiligten<br />
und Unbeteiligten verlieren sich in Zorn, Schuld und<br />
Geschrei.<br />
Natürlich fällt nebenher auf, wie sehr sich einzelne Institutionen<br />
neben oder sogar über das MenschenRecht stellen, entweder<br />
weil sie eine Reformideologie „rein“ erhalten wollen oder<br />
sich gar gottnäher (deswegen durfte Nietzsche Gott auch nicht<br />
ganz sterben lassen, denn er steht als einziger über dem Recht<br />
und die Nähe zu ihm ist die Entfernung vom irdischen Menschenrecht)<br />
wähnen als andere. Wer glaube, es handele sich bei<br />
der Schule um eine transparente oder tabufreie Institution,<br />
wird frühestens als Schüler, spätestens als Elternteil eines Besseren<br />
belehrt. Noch 2004, als ich für die Zeitschrift „Schüler“ einen<br />
Artikel über Resilienz, also Widerstandskraft, bei Schülern<br />
schrieb, musste ich das Duckmäusertum erleben, welches ausgerechnet<br />
bis in die Redaktionsstuben einer Schülerzeitschrift<br />
(die mir bis dahin als Sinnbild eines journalistischen Freiheitsdranges<br />
erschien) reichte. In meinem Manuskript hatte ich le-
0.24 __ //// TITELTHEMA<br />
bensnahe schulische Vorbilder für Resilienz erwähnt, z. B. die<br />
„Lehrerin, die sich gegen sexuelle Übergriffe ihres Direktors<br />
wehrt“. Ohne dass es mir mitgeteilt worden wäre, erschien der<br />
Beitrag um dieses Beispiel gekürzt, obwohl ich die Abstimmung<br />
mit dem Autor zur Endfassung angemahnt hatte.<br />
Tothemd und Tabu<br />
Es gibt eine Art des gelassenen Diskurses, der sich – theoretisch<br />
– direkt auf die Wahrheit richtet. Diese Kommunikationsform<br />
heißt Wissenschaft. Seit Galilei arbeitet sie daran, sich Regeln<br />
zu geben, die Empirie und Theorie miteinander verbinden. So<br />
schön einerseits. Andererseits gilt nach wie vor der Satz, dass<br />
Wissen = Macht ist. Nach wie vor gründen sich viele Mächte<br />
auf das Nicht-Wissen der Ohnmächtigen. Damals wie heute.<br />
Die Wissenschaft wiederum weiß von sich, dass sie nur innerhalb<br />
der Machtdiskurse existiert, denn sie kann in ihrer modernen<br />
Form nicht mehr außerhalb der Gesellschaft existieren (als<br />
es noch als Wissenschaft galt, in der Höhle zu sitzen und über<br />
deren Wände nachzudenken, da ging das vielleicht noch).<br />
Von allen möglichen Geldgebern jedoch, die sie bisher hatte,<br />
ist die Demokratie immer noch das kleinste Übel. In ihr hat die<br />
Wissenschaft – theoretisch - selbst eine Stimme. In praxi<br />
spricht die Wissenschaft meistens nicht selbst (nicht einmal<br />
der Wissenschaftler spricht selbst) sondern sie findet ihren<br />
Ausdruck im Mund der PolitikerInnen. Doch auch hier schafft<br />
größtmögliche Vielfalt, Verschiedenheit und die Teilung der<br />
Gewalten die besten Voraussetzungen, dass möglichst wenig<br />
Information verloren geht.<br />
Die großen Durchbrüche in der Wissenschaftsgeschichte waren<br />
häufig an das Aufkommen neuer Klassen und eine damit<br />
verbundene Diversifikation des Diskurses gebunden. Der bisher<br />
vielfältigste und stimmenreichste Diskurs entstand mit der<br />
Demokratie. Freilich ist auch die Demokratie nicht frei von<br />
Fehlern, von Dunkelheiten, Geheimnissen und Intrigen. Dennoch<br />
kommt diese Staatsform - theoretisch – der erfolgreichen<br />
Sozialtechnologie am nächsten, da sie – theoretisch – nicht<br />
ausgrenzt, sondern eingemeindet. Auf dem Weg zur notwendigen<br />
planetaren Verwaltung kommt man an der Demokratie<br />
nicht vorbei - und das ist immer noch der beste Grund für sie.<br />
Letztlich definiert sich ihre Ethik aus dem Ziel der Erhaltung<br />
der menschlichen Gattung und ihrer Lebensgrundlagen. Auch<br />
in dieser gottlosen Ethik gehört deshalb das Kind zum Kostbarsten,<br />
was die Gesellschaft hervorbringt.<br />
Bisher ist das so und wird solange noch so sein wie die natürlichen<br />
Ressourcen für alle Menschen reichen, die da leben und<br />
geboren werden. Bei ungefähr gleichbleibend schneller Technikevolution<br />
könnte das exponentielle Wachstum der Menschenzahl<br />
uns dennoch bald an die Grenze der traditionellen Ethik<br />
führen [Manchmal lohnt es sich philosophisches Quartett zu<br />
spielen, aber da lauern schon wieder einige Tabus, die interessanterweise<br />
umso kräftiger wirken, je mehr Herr Sloterdijk gegen<br />
sie anmoderiert]. Schon allein weil es diese Möglichkeit<br />
gibt, ist die „Menschheit“ gut beraten, sich selbst und ihrem<br />
möglichen Untergang – gelassen – ins Auge zu sehen. Das betrifft<br />
auch und vor allem den Wert und den Umgang mit Emotionen<br />
und ihrer Funktion, unter anderem der Sexualität.<br />
Umso erstaunlicher ist es, dass die Wissenschaft es bis heute<br />
kaum vermocht hat, dem Sexus beizukommen. Seitdem die<br />
westliche Sexualität an einem Wiener Schreibtisch literarisiert<br />
statt verwissenschaftlicht wurde, glaubt die westliche Welt an<br />
anale, orale und überhaupt lebenswichtige sexuelle Phasen, diverse<br />
Komplexe und überhaupt die Macht der Finsternis / des<br />
Unbewussten.<br />
Paradoxerweise ist genau dieses literarische System der größte<br />
Teil jenes Tabus, welches es selbst beschreiben und aufbrechen<br />
wollte. Denn seit Freud bleibt die Sexualität auf der Couch, im<br />
Essay oder bei Woody Allen und kommt nur äußerst selten ins<br />
Labor herüber. Ausgerechnet das System des Aufklärers Freud<br />
(der das revolutionäre, vollkommen antibürgerliche System der<br />
Laienanalyse für alle und jeden! entwickelte, was freilich das<br />
Ende der Symbolindustrie gewesen wäre) mutierte so zum<br />
Herrschaftswissen, zur Kiezindustrie, zum Drehbuch und zur<br />
Bild-Beilage. Damit sind die Voraussetzungen für den Runden<br />
Tisch, den sich die Ministerinnen teilen, nicht die besten.<br />
Scio me nihil scire<br />
In verschiedenen Literaturrecherchen zum Thema kindliche<br />
Sexualität ergaben sich weite Lücken und vollkommen unerforschte<br />
Tiefseen. Eine geschlossene Phänomenologie der<br />
kindlichen Sexualität ließ sich auftreiben. Die meisten psychologischen,<br />
medizinischen, soziologischen Lehrbücher sparten<br />
das Thema aus oder erwähnten es nur im Zusammenhang mit<br />
der sich entwickelnden Geschlechtsidentität. Selbst das Sexualwissen<br />
(„woher kommen die Kinder?“ usw.) von Kindern wurde<br />
in Deutschland eher selten untersucht – das Sexualverhalten<br />
noch seltener.<br />
Die sich nun abzeichnende Debatte zum sexuellen Missbrauch<br />
leidet also von Anfang an unter einem Informationsdefizit.<br />
Wenn es keine Wissenschaft zur sexuellen Normalität gibt,<br />
kann sich jeder Diskursant auf seine Meinungen, den soeben<br />
gelesenen Ratgeber, seine ideologischen Dogmen und andere<br />
Begrenztheiten wie auf Wahrheiten berufen. Es ist unwahrscheinlich,<br />
dass akademische Gelassenheit am Runden Tisch<br />
herrschen wird, zu dem die Ministerinnen für den 23.4. geladen<br />
haben. Unsere Klinik wird dennoch daran sitzen, auch<br />
wenn es nicht viel mehr zu sagen gibt als dieses: Natürlich ist es<br />
richtig, Kinder mittels innerer Stärke („ablehnen können“) und<br />
mittels ihres Wissens („was ist erlaubt, was nicht?“) gegen<br />
Missbrauch zu wappnen. Natürlich ist es richtig, davon auszugehen,<br />
dass sich vor allem ideologische Institutionen, seien es<br />
Priestercollegien, Odenwälder, Sportvereine, Waldörfer …<br />
durch Intransparenz vom demokratischen Diskurs abzukoppeln<br />
versuchen und zur Selbstorganisation neigen. Aber richtig<br />
ist leider auch, dass wir weder gesichertes Wissen um den resilienten<br />
Effekt von „innerer Stärke“ noch vom hilfreichen Effekt<br />
fundierten Sexualwissens haben.
Bei letzterem wissen wir noch nicht einmal viel von seiner aktuellen<br />
Beschaffenheit. Es gibt kaum Wissenschaft, die sich mit<br />
der Beschreibung, der Funktionalität, der sozialen Verteilung,<br />
oder der Entwicklung von Sexualität, geschweige denn von ihrem<br />
Missbrauch, beschäftigen würde. Es gibt Studien über die<br />
lang anhaltenden Folgen bei Opfern sexuellen Missbrauchs<br />
und über die Prognose bei Sexualstraftätern. Es gibt Studien<br />
zur Häufigkeit kindlichen Missbrauchserlebens (siehe Tabelle)<br />
– dort aber wird die Wahrscheinlichkeit des Missbrauchserlebnisses<br />
mit dem Auftreten so genannter sexualisierter (als erwachsenen<br />
geltender) Verhaltensweisen operationalisiert.<br />
Als wir dieses Dunkelfeld mit einigen psychologischen Diplom-<br />
und Doktorarbeiten verkleinern wollten, erwies sich das<br />
wissenschaftliche Gewand als Mantel des Tabus: Ein Professor<br />
für Entwicklungspsychologie an einer norddeutschen Universität<br />
weigerte sich nach Auskunft einer Studentin, solche „pornographischen“<br />
Themen anzunehmen bzw. zu betreuen. Nicht<br />
nur das; er setzte KollegInnen unter Druck, das Gleiche zu tun.<br />
Wenn also bereits die Wissenschaft in Zorn gerät, darf man<br />
von den StudienteilnehmerInnen nicht mehr allzu viel verlangen.<br />
Unsere Studien an <strong>Rostock</strong>er und Greifswalder Einrichtungen<br />
liefen nur schwer an. Etwa zwei Drittel der angesprochenen<br />
Eltern von ABC-Schützlingen machten von ihrem<br />
Recht auf Teilnahmeverweigerung (trotz Datenschutzraumes,<br />
ethischer Unbedenklichkeitserklärung und schulamtlicher Zustimmung)<br />
Gebrauch, ein weiteres Viertel war bereit, selbst<br />
Auskunft zu geben, hielt es aber für gefährlich, wenn ihre Kinder<br />
zum Thema gefragt werden würden. Offenbar hatten sie alle<br />
die Vorstellung, dass ihre Kinder „Opfer“ eines Vertrauensverhältnisses<br />
(zwischen WissenschaftlerIn und Kind) werden<br />
würden.<br />
Unsere Grenze ist unsere Heimat<br />
Ich heiße nicht Kehlmann und betreibe meine Autoexegese<br />
eher lustlos. Dennoch: Als ich diesen Satz vor 15 Jahren in diesem<br />
Journal schrieb, trieb mich auch die Ahnung vom Horror<br />
der Grenzenlosigkeit, der plötzlich über Neufünfland hereingebrochen<br />
war. Und wieder berührt mich die Entgrenzung und<br />
der in ihr liegende Wahnsinn. Denn der Missbrauch von Kindern<br />
hat sich modernisiert und als Vertrauen getarnt. Es ist die<br />
unheilige Verquickung von Schutzmotiv, Gewalt und Abschirmung<br />
gegen die Umwelt, welches die unsäglichen Grenzübertretungen<br />
zeitgemäß macht.<br />
Ob Kirche oder Reformpädagogik, alle diese Institutionen fungieren<br />
pseudofamiliär und damit gefährdet die intrafamiliale<br />
Durchlässigkeit der Körpergrenzen, das Kuscheln, Schmusen,<br />
Waschen, Zubettgehen usw. zur Machtausübung und eigenen<br />
Vorteilsnahme auszunutzen. Die Machthaber gerieren sich<br />
gleichzeitig als „Freund“, als Trostspender, als Berater, Beichtvater,<br />
„Coach“ und Beschützer. „Kindnähe“ und Professionalität<br />
spannen ein Problemfeld auf, das mehrerer Auffangnetze<br />
bedarf um zu funktionieren. Zwar gibt es ein juristisches Netz,<br />
doch das braucht den Ankläger. Nach dem Menschengesetz<br />
verpflichtet die Kenntnis eines Missbrauchs niemanden, auch<br />
die Kirche nicht, diesen anzuzeigen. Wie Familien auch, entwickeln<br />
Institutionen jedoch ihre eigene Realität und schirmen<br />
sich vor der Nachbarschaft ab. Ein Unterschied ist, dass in<br />
nicht-familiären Institutionen das Inzest-Tabu [welches sich<br />
weder von Gott noch Freud, sondern aus den Regeln des Menschenparks<br />
herleitet] nicht gilt.<br />
Die Grenze zwischen leiblichen Eltern und Kindern ist evolutionär<br />
anders bestimmt, denn Inzest führt in den Tod. Schon<br />
die Anwesenheit eines Stiefvaters lässt die Stieftochter sexuell<br />
früher reifen und das Risiko eines innerfamiliären Missbrauchs<br />
in die Höhe schnellen, weshalb die Patchworkfamilie auch andere<br />
Körperwelten konstruieren muss, was sie in der Regel<br />
auch vermag [wieder ein unerforschtes Gebiet]. Wir alle wissen,<br />
dass Inzest- und Gewalttabus auch und vor allem in Familien<br />
durchbrochen werden, immer dann, wenn Gewalt, Drogen,<br />
Schweigen, Unterdrückung, dissoziale Motivlagen, Ohnmacht,<br />
Verzweiflung usw. den Schutzraum von innen aushöhlen.<br />
Die Forschung ist sich einig, dass das größte Risiko für einen<br />
innerfamiliären Missbrauch jedoch der AUSFALL DER<br />
MUTTER ist, denn sie zieht die Grenzen um das Kind herum,<br />
die es selbst nicht setzen oder verteidigen kann.<br />
Die Mütter also definieren unsere Heimat, siehe Mamajew-Hügel.<br />
Die Moderne aber bewältigt ihre „Unübersichtlichkeit“<br />
und enorm gesteigerte Mobilität vor allem mit dem Gedanken<br />
der Entgrenzung. Konstrukte wie „Privatheit“ verändern sich,<br />
wenn die Familienministerin feststellt dass es sich im Bundestag<br />
schlechter twittern lässt. Die Grenzenlosigkeit, ein Mythos,<br />
den das Bürgertum den Rennaissancefürsten abnahm, um Bewegung<br />
(unaufhörliches Wachstum, Kolonisation, Ich-Entfaltung,<br />
pursuit of happiness, soziale Mobilität usw.) zu spiritualisieren<br />
(weshalb Nietzsche in Gott das RUHENDE sterben<br />
ließ, oder wie der Papst einst sagte „Wir stehen den Menschen<br />
im Weg“), richtet sich eben – sobald vor dem Individuum<br />
nichts Erstrebenswertes mehr liegt – nach innen. Wenn jedoch<br />
auch innerhalb des Individuums entgrenzt wird, kann das Prinzip<br />
der Gewaltenteilung nicht mehr angewandt werden, denn<br />
nichts anderes tut der Wille, die Einsicht, die Ethik usw. als<br />
Grenzen setzen, auch und vor allem in uns selbst.<br />
Die Gewaltenteilung in uns selbst, also das Finden der Gelassenheit,<br />
ist unmittelbare Voraussetzung für die Teilung der Gewalten<br />
in der Gesellschaft. Grenzen wiederum sind die absolute<br />
Voraussetzung der Demokratie und einer erfolgreichen Sozialtechnologie,<br />
und deshalb muss der Umgang mit ihnen gelernt<br />
werden. Die Debatte um den sexuellen Missbrauch bietet also<br />
eine viel bessere Möglichkeit, der von Beck beschworenen Reflexivität<br />
der Moderne Geltung zu verschaffen, als es beispielsweise<br />
der Diskurs um die begrenzten Ressourcen des Planeten<br />
ist.<br />
Natürlich sind Sexual- und Ressourcendebatte verbunden,<br />
denn einerseits trägt die Abkopplung der Sexualität von der<br />
Reproduktion durch effektive Kontrazeption zur Ressourcenverlängerung<br />
bei (da weniger Esser und Verschmutzer entstehen),<br />
andererseits bringt die limbische Kultur weniger selbstbewusste<br />
Akteure hervor – und wenn, dann wird kognitive Elite
0.26 __ //// TITELTHEMA | ABOBESTELLUNG<br />
oft an sexuelle Askese gebunden, womit die Selbstbewusstheit<br />
auch wieder zum Teufel geht. Der Missbrauchsdiskurs geht<br />
dennoch tiefer als der grüne: Er berührt uns alle unmittelbarer,<br />
unseren Umgang mit Gefühlen, auf allen sozialen Ebenen, er<br />
geht ins Herz der Zukunft, er betrifft die Teilung der Gewalten;<br />
er beschwört die Gefahr der limbischen Kultur, die von einer<br />
emotionslosen Maschinenwelt gesteuert wird.<br />
Es wäre bereits ein ungeheurer Fortschritt, wenn der Runde<br />
Tisch der Ministerinnen eine Einigkeit darüber zustande<br />
brächte, dass sich alle Akteure schonungslos ins Auge sähen.<br />
Immerhin, es sind Frauen, die eingeladen haben: eine Witwe,<br />
eine Tochter, und eine Moraltheologin. Ich wäre mit sichtbaren<br />
Müttern zufriedener gewesen. Doch wer weiß, ob die Akteurinnen<br />
rechtzeitig an den Tisch kommen, denn seitdem ein<br />
isländischer Vulkan Asche spuckt, entschleunigt sich der deutsche<br />
Luftverkehr. Die himmlische Katastrophe aber macht die<br />
irdische kenntlich, denn so verstieg sich heute, am 19.4.2010,<br />
Abonnement<br />
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eine Zeitung, die „Welt“ heißt: „Mobilität und Entgrenzung<br />
aber sind ein Menschenrecht.“ –<br />
Ich bleibe dabei, selbst wenn ich mich von der „Welt“ abkehren<br />
sollte: Grenze ist Heimat, vor allem und gerade in der Demokratie,<br />
und die Demokratie ist die Rücknahme der Renaissance:<br />
Das Maß ist das Ding aller Menschen. ¬<br />
---<br />
Die <strong>Stadtgespräche</strong> gratulieren Olaf Reis zum Forschungspreis des<br />
Norddeutschen Suchtforschungsverbundes, der ihm insbesondere<br />
für seine Untersuchungen zum Komatrinken in <strong>Rostock</strong> und Güstrow<br />
verliehen wurde<br />
AUSSCHNEIDEN, AUSFÜLLEN, UNTERSCHREIBEN UND BITTE PER POST/FAX AN DIE REDAKTIONSADRESSE (ODER SIE BESTELLEN IM INTERNET: WWW.STADTGESPRAECHE-ROSTOCK.DE)<br />
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des Widerrufs.<br />
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WIDERSTAND GEGEN<br />
FREIZEITKOMMERZIALISIERUNG<br />
Wer seinen Kindern vermitteln möchte, dass das Leben eine einzige Shopping-Mall ist, besucht am Samstag die Rostokker<br />
Innenstadt, die Vorstadt-Center oder Karl’s Erlebnis-Dorf.Die außerdem zunehmende Kommerzialisierung der Freiflächen,<br />
Parks, Strände und städtischen Einrichtungen vermittelt, worauf es im Leben ankommt: Geld.<br />
Besser: Nachbarkinder einladen, Drachen bauen, Kreide, Murmeln, Gummitwist?<br />
FOTO: TOM MAERCKER
0.28 __ //// TITELTHEMA<br />
Der Widerstand<br />
der Familie Levy<br />
Überleben in Tessin, Bad Sülze und <strong>Rostock</strong><br />
JENS LANGER<br />
Am 7. April wurde vor dem Haus Patriotischer Weg 16 ein<br />
Stolperstein verlegt. Er ist dem Gedächtnis der <strong>Rostock</strong>er Bürgerin<br />
Ina Levy gewidmet. Es war der vierte an dieser Stelle;<br />
denn hier befand sich eine letzte Wohnstätte jüdischer Familien,<br />
bevor sie in die KZs deportiert und dort ermordet wurden -<br />
Ina Levy am 7.April 1943 in Theresienstadt.<br />
Rabbi da sind die Kinder / mit blühenden Elefanten/ Sie wollten<br />
nicht in dein Haus/ die sich und den Schmetterling/beim Namen<br />
nannten/ Komm Rabbi/Komm du heraus/ und höre sie flüstern/<br />
Hase und Lamm/ geboren am// am// Tanz mit den Steinen//<br />
Hörst du die Moldau weinen// Tanz Rabbi/tanz einen<br />
Traum/ Rabbi tanz/ Terezin (Fred Mahlburg).<br />
An diesem Apriltag 2010 nahmen zwei Enkelkinder der Rostokkerin<br />
an der Gedenk-Tat teil. Hans-Ludwig Levy erinnerte<br />
an seine Großmutter. Eine gepflegte alte Dame, wie er sich erinnert,<br />
die sich noch für ihre letzte Reise überlegte, welchen<br />
Hut sie dabei tragen sollte. Kein Gedanke an Mord, jedenfalls<br />
keiner, der ausgesprochen wurde. Der Sohn durfte seine Mutter<br />
im Zug bis Neustrelitz begleiten. Man hatte die Nachricht<br />
vom Beginn der Deportation der Juden gehört, sich das<br />
Schlimmste aber nicht ausmalen wollen und können. Fünf<br />
Kinder hatten die alten Levys. Drei von ihnen wurden ermordet.<br />
Eine Tochter konnte fliehen. Hans-Ludwig Levys Vater<br />
überlebte als Ehemann einer evangelischen Deutschen in einer<br />
sogenannten privilegierten Mischehe. „Unsere Mutter durfte<br />
nicht sterben. Ohne sie wären wir dem Tod ausgeliefert“, wird<br />
der Sohn fast vier Wochen später im Max-Samuel-Haus am<br />
Schillerplatz sagen. Auch eine Scheidung hätte die Familie vernichtet.<br />
Von Seiten der NS-Frauenschaft gab es Überlegungen<br />
dazu. Eine Nachbarin berichtete darüber.<br />
Am 5.Mai wurde das Max-Samuel-Haus wieder einmal zur Begegnungsstätte<br />
mit jüdischer Geschichte, vergegenwärtigt in<br />
diesem Familienschicksal. Was war noch zu erwarten, nachdem<br />
die <strong>Rostock</strong>er Medien im Zusammenhang mit der Verlegung<br />
des Stolpersteins relativ ausführlich ihrer Berichtspflicht genügt<br />
hatten? Wer wollte noch mehr wissen?<br />
Die Veranstaltung am frühen Nachmittag war erstaunlich gut<br />
besucht. Die <strong>Rostock</strong>er Medien hatten sich verausgabt und<br />
fehlten ganz. Die Teilnehmer dieser Begegnung - darunter auch<br />
Prof. Dr. Wolfgang Methling und einige Jugendliche - saßen in<br />
der Ausstellung zu den <strong>Rostock</strong>er Stolpersteinen gegenüber einem<br />
Foto von Ina Levy. Darunter der Enkel und sein Gesprächspartner,<br />
Frank Schröder vom Veranstalter. In anderthalb<br />
Stunden entfaltete sich ein Dialog von hohen Graden. Ein<br />
grausiges Kapitel <strong>Rostock</strong>er Lebens in durch Zurückhaltung<br />
exzellenter Darstellung - und das bei aller Deutlichkeit. Kein<br />
Event, aber ein Ereignis! Ungewöhnliche Klasse für <strong>Rostock</strong> -<br />
und zu wessen Strafe medial marginalisiert? Der achtzigjährige<br />
Herr Levy entwickelte eine stille Sprachkultur ohne große Geste<br />
und gerade so eindrucksvoll bis zur Atemlosigkeit in der
Zuhörerschaft. Er registrierte jede Abweichung vom verordneten<br />
Hass und jede Nachlässigkeit in der Anwendung möglicher<br />
Schärfe als eine Chance zum Luftholen - in vergifteter Atmosphäre.<br />
Dieses alles spielte sich ab in unserem Mecklenburg von damals,<br />
in Tessin, Bad Sülze und <strong>Rostock</strong>. Als die Eltern sich angesichts<br />
drohender Endlösung zur Taufe ihrer Kinder entschlossen<br />
hatten, fragte der Pastor die anmeldende Mutter im<br />
Gespräch zur Vorbereitung der Taufe, ob sie diese für ihre Kinder<br />
anstrebe, weil sie Jesus Christus als ihren Herrn über Tod<br />
und Leben anerkenne oder weil sie sich Vorteile davon verspreche.<br />
„Wenn sich daraus für meine Kinder ein Vorteil ergeben<br />
sollte, so will ich das als Gottes Fügung akzeptieren,“ lautete die<br />
Antwort - so rabbinisch wie jesuan. Auch die Frage lässt sich<br />
verstehen, wenn man will, hatte doch schon Heine die Taufe<br />
als Entreebillett in die bürgerliche Gesellschaft verstanden.<br />
Aber anders sind Zeit und Gesellschaft. In ihr gibt es viel<br />
schlimmere Dinge als die Frage (Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche<br />
und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“, Manfred Gailus<br />
(Hg.), 2008.) Es gab zeitgenössische Solidarität jenseits der<br />
Mehrheiten (z. B. M. Gailus, Mir aber zerriß es das Herz. Der<br />
stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, 2010) und es gibt die<br />
späte aktuelle Solidarität: Im thüringischen Mühlhausen wird<br />
die jüdische Synagoge im Auftrag der Jüdischen Landesge-<br />
Wir sind an Peter und Paul 2009 in Toitenwinkel versammelt.<br />
Damit sind wir an einen Ursprungsort meiner Identität zurückgekommen.<br />
Denn von Mitte der sechziger Jahre an bis zu<br />
meiner Heirat 1973 habe ich mich jeden Sonntag zu Kaffee<br />
und Abendbrot aufgemacht ins Pfarrhaus Toitenwinkel, zunächst<br />
von Kritzkow, später von <strong>Rostock</strong>-Süd aus. Christel und<br />
Uwe Schnell haben das vielleicht nicht immer freudig, doch<br />
stets freundlich und vor allem geduldig ausgehalten.<br />
In Kritzkow bekam ich nach etwa einem Jahr Residenz einen<br />
Besuch von Landesbischof D. Dr. Beste DD, der mich daselbst<br />
auch Buß- und Bettag 1966 ordiniert hatte. Nach der Besichtigung<br />
von Hof und Garten setzten wir uns zu einem Gespräch<br />
ins Amtszimmer. Nach einiger Zeit erklärte mir unser Bischof:<br />
meinde von der Evangelischen Kirche betreut. In der <strong>Rostock</strong>er<br />
Synagoge wird zum Oktober ein schleswig-holsteinischer Pastor<br />
seine Ausstellung über Alltagsleben im biblischen Land<br />
aufbauen. Alles nicht zum Herausreden, aber zum Lernen.<br />
Lässt sich sagen, dass der Widerstand dieser Familie sich im<br />
Willen zu überleben zeigte? Der alte Herr erzählte von der<br />
Sorge des Schülers Hans-Ludwig, sich aus den alltäglichen Demütigungen<br />
zu erheben. Die Mühen der Ebenen und dann die,<br />
selbst in ungewöhnlichen Zeiten ungewöhnliche, Begegnung<br />
mit der untergetauchten Berlinerin Ingeborg Goldschmidt, die<br />
ihr Leben nur waghalsig retten konnte. Das alles war. Das alles<br />
wurde präsent.<br />
Am 20. Mai wird vor dem Haus im Patriotischen Weg ein neuer<br />
Gedenkstein übergeben. Es ist dort der vierte, insgesamt der<br />
siebenundzwanzigste, und er ist Ida Marchand gewidmet.<br />
Hans-Ludwig Levy hat ihn gestiftet. Widerspruch bleibt angesagt<br />
gegen das Vergessen, für uns Vergesser, gegen Verdränger<br />
und Vernebler. Heute muss man sich nicht verstecken. Heute<br />
muss man nicht schweigen. Hört Levy. Redet. Zeigt euch. ¬<br />
Autobiografische Sprüche aus 70 Jahren<br />
Das Öffentliche am Privaten: Erinnerungen im Freundeskreis<br />
JENS LANGER<br />
„Lieber Bruder, alles sehr schön. Aber der Garten! Hier fehlt<br />
eine tüchtige Pfarrfrau.“ Ich , überrascht und verlegen: „Bruder<br />
Beste, da müsste ich aber zuerst eine wissen.“ Er: „Ich wüsste da<br />
schon eine.“ Es gelang uns, das Gespräch im Unverbindlichen<br />
zu belassen. Meine spätere und jüngere Frau war immer an einem<br />
Garten interessiert, hatte meistens aber keinen.<br />
So viel Interesse für mein Leben war gar nicht selbstverständlich.<br />
Am Anfang schien es bedroht. In der Stunde Null im frühen<br />
Mai 1945 hörte unsere Familie in der unserer benachbarten<br />
Wohnung meiner Großmutter Anna Bull (Kasernenstr. 40,<br />
parterre links) zusammen mit einer Bekannten, wie sich die<br />
Reichspropaganda über Drahtfunk, siegesgewiss, wegen der<br />
zeitweisen Überlegenheit des Feindes, verabschiedete: „Wir
0.30 __ //// TITELTHEMA<br />
melden uns in Bälde zurück.“ Es muss den Erwachsenen klar<br />
gewesen sein, daß 12 Jahre jetzt ein für allemal ausgereicht hatten,<br />
als meine Mutter in die Stille sagte:“ Nun kommen gleich<br />
die Russen und schneiden den Kindern die Kehle durch.“ Mein<br />
Vater protestierte schwach, und ich habe mich inzwischen oft<br />
daran erinnert, wie ich mich in mein Schicksal fügte. Ich verstand<br />
nicht, wieso mein Spielen und Freuen so beendet werden<br />
sollte. Aber ich war bereit, mich zu fügen. Mein großer Bruder<br />
Niels, fünfzehnjährig, war im Krieg, der nun zu Ende schien,<br />
und lebte vielleicht gar nicht mehr.<br />
Die Vorhersage meiner Mutter traf nicht ein, und ich spielte<br />
wieder auf der Straße mit Peter, Bodo, Henner, Wilfried, Wölfi<br />
und wurde von Hermann Wilcken verkloppt. Peter Schmidt<br />
rette mir einmal das Leben, als ich die dritte oder vierte Klasse<br />
besuchte, vor allem aber am Kabutzenhof in der Nähe des<br />
Trockendocks im Eis eingebrochen war. (Unser Enkel Aaron<br />
Lajos Cotaru will das nicht glauben, obwohl Peter es ihm auf<br />
Anfrage telefonisch bestätigt hat.)<br />
Ich geriet unter den Einfluss eines anderen Lebens, zunächst<br />
von zu Haus gefördert, später behindert, als es sozusagen überhand<br />
nahm. Da tauchten fremde Landschaften auf - Gott,<br />
Bethlehem, Reformation, Reich Gottes. Mich an den Verlandungen<br />
dieser Theorievokabeln aufzuhalten, wurde ich zunächst<br />
gefördert und auch genötigt, soweit es die virtuelle<br />
Mehrheitskonfession betraf. Das schätzte ich eine Zeitlang<br />
mehr als gering ein, wo es sich tatsächlich doch um ein erhebliches<br />
und vor allem folgenreiches Kapital handelte. Tante Fiffi,<br />
unsere Mitbewohnerin seit grauen Tagen, Frieda Möller Prestin,<br />
hatte 1956 Albert Schweitzers autobiografische Schriften<br />
gelesen und warnte mich vor Überschwang: „Min Jung, dat's<br />
all unsäker, bloot de Geist, de bliwwt.“ Also entschloss ich mich<br />
etwa in der neunten Klasse Theologie zu studieren.<br />
Anna Bull war enttäuscht - immer noch kein Mediziner in der<br />
Familie -, wusste aber: „Wenn du Pastor wirst, treten noch die<br />
letzten Leute aus der Kirche aus.“ In ihrer Gegnerschaft war sie<br />
mit der Schulleitung verbunden, ohne es zu wissen. Diese hatte<br />
in ihrer Beurteilung für die Studienbewerbung nämlich geschrieben:<br />
„Er will Theologie studieren. Diesem Ziel ordnet er<br />
alles unter. Empfehlung zum Studium: keine.“ Unterschrift.<br />
Das sollte für alle Zeiten und Universitäten gelten. Dabei<br />
konnte die schulische Einrichtung des Unpädagogischen Rates<br />
noch gar nicht wissen, hätte es aber für möglich gehalten und<br />
hat mich gewiss auch dahingehend beeinflusst, dass ich später ,<br />
etwa 1961 zur Ostseewoche auf einem Warnemünder Strandweg<br />
in der Nähe des Hotels Stolteraa Lotte und Walter Ulbricht<br />
samt Entourage begegnete, um diese Mächtigen kühl und<br />
grußlos zu passieren. Als ich Claus Gerloff abends besuchte<br />
und ihn um seine Meinung fragte, ob ich ein altes Ehepaar<br />
nicht hätte doch grüßen sollen, sagte er einfach: „Wie kannst<br />
du so etwas fragen! Walter Ulbricht grüßen wir nicht.“<br />
Ich kam zunächst am Theologischen Seminar der Leipziger<br />
Mission unter. Eine große Stadt! Ausgangspunkt wichtiger Begegnungen<br />
und lebenslanger Freundschaften, ein Jahr lang am<br />
Wochenende Bachmotetten des Thomanerchors, deftige Kost<br />
im Konvikt aus der Küche der Hausdame Frau von Horn. Von<br />
letzterer konnte sich auch meine Schwester Wiebke mit einigen<br />
Schulkolleginnen auf der Durchreise überzeugen, was ihr,<br />
wieder in ihrer Lehrstelle, der <strong>Rostock</strong>er Bezirksbibliothek,<br />
ideologischen Ärger einbrachte. Kleinlichkeit lässt keine Mickrigkeit<br />
aus.<br />
Ich wollte aber, dass ich mein Ziel erreichte, die Widerlegung<br />
derer, die mir mein Leben vorschreiben wollten. Ich schrieb an<br />
D. Moritz Mitzenheim, den Thüringer Landesbischof, der um<br />
seiner Gemeinden willen weit ins Appeasement ging, kobaltblauschwarz<br />
war, aber als rot galt. Zum 6.10. 1959 wurde ich<br />
ins Prorektorat für Studienangelegenheiten der Universität Jena<br />
bestellt. Ich weiß nicht, welche Absprachen und Zusagen es<br />
zwischen Mitzenheim und D. Dr. Erich Hertzsch, dem Jenenser<br />
Dekan, gegeben hat und was zwischen dem Universitätssachbearbeiter<br />
und dem Dekan verabredet worden ist und was<br />
nicht. Dieser Beamte erklärte mir nämlich: „Sie wollen immatrikuliert<br />
werden, aber ihre Akten sind gar nicht hier.“ Noch bevor<br />
mein Hochgefühl der Zielankunft zerstoben war, fügte er<br />
hinzu: „Dann machen wir es eben ohne Unterlagen.“ Wer er<br />
auch war, ich setze ihm hier ein Denkzeichen. So kam ich immer<br />
weiter in die Welt außerhalb <strong>Rostock</strong>s, und als ich eines<br />
Tages wieder dort war, attestierte mir der frühere Prorektor für<br />
Studienangelegenheiten Roger öffentlich und offiziell die venia<br />
legendi. Das war 1988. 1958 hatte er die definitiv endgültige<br />
Ablehnung meiner Studienbewerbung unterschrieben.<br />
„Dich holen sie noch 'mal ab,“ sagte meine Mutter, wenn sie<br />
meine politische Renitenz hörte. Ebenso stereotyp antwortete<br />
ich ihr: „Die kriegen wir eines Tages alle.“ Die waren sie.<br />
Am 5.12.1989 war ich Ko-Vorsitzender des „Unabhängigen<br />
Untersuchungsausschusses zur Sicherstellung und Überprüfung<br />
der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes<br />
für Nationale Sicherheit“ im Bezirk <strong>Rostock</strong> (UUA). Jetzt hatten<br />
wir sie alle. Was machen? Mehrfach pro Woche saß der<br />
Ausschuss zur Beratung in unserer Wohnung in der Friedrich-<br />
Engels-Str. 20. Wir informierten fast wöchentlich in den Medien<br />
und den Gottesdiensten zur Veränderung der Gesellschaft<br />
über den Fortgang unserer Arbeit, veröffentlichten darüber ein<br />
Buch und veranlassten die Entwaffnung sowie die ordnungsgemäße<br />
Entlassung der ca. 2000köpfigen Belegschaft der Bezirksbehörde<br />
und ihrer Kreisstellen. Nun soll es aber ein Ende mit<br />
1989 haben; denn Peter Schmidt hat mehrfach betont: „Wer<br />
bei 1989 stehen geblieben ist, der ist schon gestrandet.“<br />
Fast am Schluss soll mein Vater zu Worte kommen. Er vertrat<br />
die ja recht praktische Ansicht: Man kann alles machen. Man<br />
darf es nur nicht übertreiben. In Abgrenzung vom mächtigen<br />
Vater setzte ich dem für mich entgegen: Man soll nicht alles<br />
machen. Aber manchmal muss man übertreiben. Dabei hat<br />
mich auch die große Erzählung des Meisters aus dem Neuen<br />
Testament beeinflusst, der ja in seinen Parabeln orientalisch zu<br />
übertreiben wusste, um Dinge ganz klar zu benennen. Eine<br />
Übertreibung hat mir Wolfgang Hegewald zukommen lassen.<br />
Eine dichterische Übertreibung, die spitzzüngig und einfühlsam<br />
ein Lebensgefühl nach Bobrowskis Art zwischen der
Schwere des Tages und himmlischer Freiheit auferstehen lässt.<br />
Die Verschränkung von Personen und Zeiten, von Ausgeliefertsein<br />
und Einstehen für sich selbst samt einem unverschämt<br />
säkularen Gottvertrauen ohne jeden Hauch von Miefigkeit<br />
schaffen eine Dichtung aus bodenständiger licentia poetica, die<br />
ebenso stutzen lässt, wie sie beflügelt:<br />
Nach Wustrow! Nach Wustrow!<br />
Im August 1968 reiste ich nach Wustrow, an die Ostsee. Es hieß:<br />
Rüstzeit. Mit Helmut, Karin, Fred, Timo und Tina fuhr ich, im<br />
August 1968, in das Kaff auf dem Darß, zur Rüstzeit. In Wahrheit<br />
hatte ich mich wegen Simone, nur wegen Simone, in die ich,<br />
notorisch unglücklich, verliebt war, angemeldet. Pastor Arvid<br />
Brömse aus <strong>Rostock</strong> leitete die Rüstzeit. Er führte uns in die materialistische<br />
Bibelinterpretation ein. Simone aber, derentwegen<br />
ich da war, kam um Timos willen, des begabten Kruzianers, den<br />
sie im Jahr zuvor auf der Rüstzeit kennengelernt hatte, nach<br />
Wustrow. Pastor Brömse, er war damals neunundzwanzig, weckte<br />
uns in der Frühe mit seiner Trompete. Fünfzehn Jahre später<br />
wird Timo, als Dirigent bald zu Ruhm gekommen, am Pfeiler einer<br />
Autobahnbrücke in der Nähe von Essen gestorben sein. Staunend<br />
las ich, Peter Müller, 17, im August 1968, Pastor Arvid<br />
Brömse,29, ein Wort wie Eschatologie von den Lippen ab, in<br />
Wustrow. Das Rüstzeitheim lag neben der Kirche, am Bodden.<br />
Manchmal gefiel es Pastor Brömse, mit nichts als seiner blauen<br />
Dreieckbadehose bekleidet, am Strand von Wustrow auf und ab<br />
zu hüpfen und zu rufen: Trari, Trara, die Post ist da, und was<br />
hat sie uns denn gebracht? Einen Brief von unserem lieben Apostel<br />
Paulus! Abends lief ich, allein, in die Dünen und hoffte, Simone<br />
würde es bemerken, vergebens. Die Wüste, hatte ich von Pastor<br />
Brömse gelernt, sei ein bevorzugter Ort für Offenbarungen.<br />
Wenn Pastor Brömse im Meer gebadet hatte, durften ihm die<br />
Mädchen, Karin oder Simone, beispielsweise, vor unseren Augen<br />
die Haare kämmen. Der Kitzel der Illegalität erregte uns alle.<br />
Die Rüstzeit war, vom Rat der Gemeinde Wustrow, Abteilung<br />
Inneres, oder wem auch sonst, nicht genehmigt worden.<br />
Der Abschnittsbevollmächtigte von Wustrow, auch Der Binsensheriff<br />
genannt, hatte gedroht, er werde das klerikale Nest ausheben<br />
lassen. Pastor Brömse hatte uns, die Teilnehmer - immer<br />
Glieder, niemals Mitglieder, denn wir gehörten keiner Organisation,<br />
und schon gar keiner feindlichen, an - , über den Stand der<br />
Dinge unterrichtet, vor der ersten Lektion in Sachen materialistische<br />
Bibelinterpretation. Wir wussten, dass wir unser Abitur riskierten,<br />
als wir, alle, beschlossen, dass wir uns auf die Betten legen<br />
wollten, wenn sie kämen, um uns zu holen. Jedem von uns stand<br />
es frei, abzureisen, und keiner hätte es einem anderen angekreidet.<br />
Alle blieben. Fred knutschte mit Karin, auf Schritt und Tritt.<br />
Timo weihte Simone nachts am Strand in die Wonnen des Tonsatzes<br />
ein. Tina und Helmut ließen sich nicht aus den Augen. Timo<br />
brachte mir, immerhin, bei, was unter einer unharmonischen<br />
Verwechslung zu verstehen sei, und ich wollte unbedingt von Pastor<br />
Brömse erfahren, welche Rolle, nach Auffassung der materialistischen<br />
Bibelinterpretation, der Heilige Geist in Wirklichkeit<br />
spiele. Einige Jahre später sahen wir uns alle wieder, als Fred und<br />
Tina, zwei Wustrow-Veteranen, heirateten und bevor Timo bei<br />
Essen, hinter der Grenze, an einem Betonpfeiler starb.<br />
Der 20. August war ein Dienstag. Wir lagen in den Betten, als<br />
die Panzer kamen. Niemand beachtete uns. Sie überrollten uns<br />
nur. Und die Bibel hat doch recht, sagte einer, kleinlaut und trotzig.<br />
Streng wies Pastor Brömse die Schlagzeile zurück .<br />
Wolfgang Hegewald, Ein obskures Nest, Leipzig 1997, S. 108f<br />
Eine maßlose Übertreibung und nichts als die reine Wahrheit!<br />
¬
0.32 __ //// IDEEN FÜR ROSTOCK<br />
Ideen für <strong>Rostock</strong> ___________ Neue Ideen machen eine Stadt bunt und lebendig. Wie offen ist<br />
<strong>Rostock</strong> für Neues? Wie konnten sich neue Ideen und Konzepte in der Vergangenheit etablieren? Mit welchen<br />
Schwierigkeiten hatten sie zu kämpfen? Welche neuen Ideen kursieren zurzeit? Die <strong>Stadtgespräche</strong><br />
stellen etablierte und neue Projekte vor. In diesem Heft: Die Gründung einer Food-Coop in <strong>Rostock</strong><br />
Über Food-Coops …<br />
HENNING RIEGER<br />
Die Art und Weise unserer Ernährung hat großen Einfluss auf<br />
unsere Gesundheit und unser individuelles Wohlbefinden. Die<br />
Bedingungen, unter denen unsere Nahrungsmittel hergestellt<br />
und gehandelt werden, sind Spiegel unserer Gesellschaft und<br />
wirken direkter auf uns zurück, als es auf den ersten Blick<br />
scheint.<br />
Nachteile, die durch den Preisdruck bei konventioneller Landwirtschaft<br />
und industrieller „Tierproduktion“ entstehen, wekken<br />
bei vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern Interesse an<br />
Lebensmitteln aus kontrolliert biologischem Anbau. Wichtig<br />
sind ihnen häufig auch Vertrauen in die angegebene Produktionsweise<br />
und die gerechte Bezahlung der Erzeuger und Erzeugerinnen<br />
ohne unnötigen Zwischenhandel. Kurze Transportwege,<br />
und der schonende, bestenfalls nachhaltige Umgang mit<br />
natürlichen Ressourcen spielen in Zeiten des globalisierten<br />
Warenverkehrs eine ebenso große Rolle bei der Wahl der Zutaten<br />
für die nächste Mahlzeit.<br />
Zugegeben, kaum jemand geht mit all diesen Hintergedanken<br />
durch einen Supermarkt. Das Resultat wäre eine panikartige<br />
Flucht aus ebenjenem. Supermärkte sind vor allem in einer<br />
Hinsicht optimiert und das ziemlich gut: niedrige Preise. Eine<br />
gangbare Alternative, die Nachfrage unter den eingangs erwähnten<br />
Kriterien zu bedienen, bieten Lebensmittelkooperativen,<br />
umgangssprachlich auch Food-Coops genannt.<br />
Lebensmittelkooperawasfürdinger?<br />
Food-Coops sind Einkaufsgemeinschaften, die ökologisch hergestellte<br />
Produkte aus der Region und fair gehandelte Waren<br />
aus Übersee direkt und ohne teuren Zwischenhandel beziehen.<br />
Die Mitglieder organisieren selbstständig den Ankauf, die Lagerung<br />
und die Verteilung der Produkte (vorwiegend Lebensmittel)<br />
untereinander. Dadurch schaffen sie sich ein Angebot<br />
qualitativ hochwertiger und ökologisch nachhaltiger Produkte<br />
ohne viel Aufpreis.<br />
Food-Coops entstammen den sozialen Bewegungen, aus denen<br />
auch Tauschringe, Wohnprojekte und andere solidarische Gemeinschaften<br />
hervorgingen. So spielt die Idee von Kooperation<br />
zur Überwindung des Konkurrenzdenkens bei Food-Coops eine<br />
wesentliche Rolle. Food-Coops sind eben nicht nur eine<br />
praktische und günstige Einkaufsmöglichkeit, sondern darüber<br />
hinaus Orte eines weitergehenden sozialen Austausches, ein<br />
Basar für Neuigkeiten und Informationen. Damit bilden Food-<br />
Coops einen Gegensatz zu profitorientierten Unternehmen,<br />
handelt es sich doch um freiwillige Zusammenschlüsse von<br />
gleichberechtigten Mitgliedern, die verantwortungsvoll miteinander<br />
umgehen. Spätestens hier wird deutlich, warum Supermarkt<br />
und Food-Coop nicht vergleichbar sind.<br />
Die selbstorganisierte Struktur einer Food-Coop orientiert<br />
sich hinsichtlich Angebotspektrum und Arbeitsabläufen an<br />
den Interessen ihrer Mitglieder. Häufig werden Lieferbeziehungen<br />
zu regionalen Lebensmittelproduzenten aufgebaut, um<br />
die Umweltfolgekosten durch lange Transportwege zu minimieren.<br />
Dies trägt auch zur Stärkung der regionalen Wirtschaft<br />
bei und hält anfallende Arbeit in der Region. Die sozialen Produktionsbedingungen<br />
spielen damit neben der Umweltverträglichkeit<br />
eine wichtige Rolle. Angestrebt wird ein faires Handelsmodell<br />
von den Erzeugenden bis zu den Verbraucherinnen<br />
und Verbrauchern.<br />
Warum der Aufwand?<br />
Was bringt Menschen nun dazu, sich in Food-Coops zu engagieren?<br />
Betrachten wir die Frage jeweils aus individueller, ökologischer,<br />
sowie gesellschaftlicher Sicht. Food-Coops ermöglichen<br />
es den beteiligten Menschen, günstige und anhand vorher<br />
festgelegter Kriterien hergestellte und verteilte Nahrungsmittel<br />
zu beziehen. Typische Kriterien betreffen dabei die ökologische<br />
und soziale Nachhaltigkeit.<br />
Viele Food-Coop-Mitglieder legen nicht nur persönlich Wert<br />
auf biologische Ernährung, sondern wollen insgesamt eine Produktionsweise<br />
fördern, die auf die Erhaltung des gesamten<br />
Ökosystems abzielt. Darum möchten sie den Einsatz von Pestiziden<br />
und Düngemitteln verringern, biologischen und regionalen<br />
Landbau fördern und unnötige Transportwege vermeiden.<br />
Food-Coops sind Abnehmer für regional hergestellte Nahrung<br />
und stärken damit die regionale Landwirtschaft, die meist in<br />
kleineren Höfen organisiert ist. Durch direkte Beziehungen zu<br />
diesen regionalen Produzenten können die Mitglieder saisonale<br />
Besonderheiten im Angebot und darüber hinaus den Her-
stellungsprozess ihrer Lebensmittel genauer kennen lernen. Aus<br />
Sicht der Erzeugenden verbessern routinierte Food-Coops die<br />
Planungssicherheit beim Anbau.<br />
An Food-Coops Beteiligte möchten in der Regel selbst Einfluss<br />
auf Prozesse, Angebot und Struktur der Food-Coop nehmen.<br />
Durch die Selbstorganisation ist dies möglich. Durch sie ist die<br />
Food-Coop Veränderungen gegenüber offener als beispielsweise<br />
der Supermarkt um die Ecke.<br />
Gesamtgesellschaftlich spielen Food-Coops eine wissensvermittelnde<br />
Rolle. Verbraucherinnen und Verbraucher werden<br />
sensibilisiert und auch Freunde, Bekannte und Neugierige<br />
durch Vorbildfunktion einbezogen. Jede Food-Coop versorgt<br />
also nicht nur ihre Mitglieder, sondern ist gleichzeitig auch Bildungsträger.<br />
In der Zusammenarbeit mit anderen Food-Coops<br />
kommt es zu Wissenstransfers und Synergieeffekten. Dieses<br />
Wissen ist von Vorteil und Vorraussetzung für viele Entscheidungen<br />
hin zu in einer nachhaltigeren, kreislauforientierten,<br />
ressourcenschonenden Lebensweise.<br />
Entwicklung der Food-Coops<br />
Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts<br />
war die Möglichkeit, an biologisch erzeugte Produkte zu gelangen,<br />
noch sehr begrenzt. Das trifft insbesondere auf den ländlichen<br />
Raum zu, wo der Einkauf von kontrolliert biologisch angebauter<br />
Ware fast unmöglich war. Aber auch in vielen Städten<br />
war das Angebot noch sehr klein. Dies war Motivation genug,<br />
sich den Mühen der Organisation der Warenbeschaffung zu<br />
unterziehen. Dabei spielte der Bezug von Lebensmitteln direkt<br />
von den Erzeugerinnen und Erzeugern in den meisten Fällen<br />
die gleiche Rolle wie der vom Großhändler.<br />
Der Blüte der Food-Coops folgte der Boom der Naturkostläden.<br />
Für viele Menschen ging damit der Sinn einer Lebensmittelkooperative<br />
verloren, denn im Naturkostladen war die Ware<br />
meist einfacher zu bekommen. Tatsächlich verschwanden viele<br />
der Kooperativen in der ersten Hälfte der 80er Jahre wieder.<br />
Andere, die gesellschaftspolitischer motiviert waren, festigten<br />
ihre Strukturen und zeigten hohe Kontinuität. In der BRD gab<br />
es 1985 schätzungsweise 400 Kooperativen. Manche Regionalverteiler<br />
setzten weit mehr als die Hälfte ihres Umsatzes über<br />
Food-Coops ab.<br />
Seit Mitte der 80er Jahre und der Sättigung des Bioladenmarktes<br />
wuchsen in der Naturkostszene die Widerstände gegen<br />
Food-Coops, da diese als zunehmende Konkurrenz wahrgenommen<br />
wurden. Über die Jahre wurde der Einkauf von Großhandelsware<br />
immer schwieriger, weil die Großhändler lieber<br />
Bio-Läden bedienten. Viele Kooperativen sind unter dem<br />
wachsenden Druck verschwunden. Aber einige haben sich mit<br />
Einsatz und Phantasie eine Nische gesucht, in der sie überleben<br />
konnten.<br />
Food-Coops in <strong>Rostock</strong><br />
Seit einigen Jahren wächst das Interesse an Food-Coops wieder.<br />
Nicht zuletzt auf Grund der medial breitgetretenen Lebensmittelskandale<br />
und dem Wunsch nach „sauberem“ Essen. Ein<br />
wenig Wirtschaftskrise spielt wahrscheinlich auch eine Rolle.<br />
In <strong>Rostock</strong> ist die Situation nach meiner persönlichen Einschätzung<br />
momentan so, dass die Zahl der Food-Coop-Interessierten<br />
größer ist, als die Versorgungskapazität der vorhandenen<br />
Lebensmittelkooperative(n).<br />
Öffentlich sichtbar ist hier nur die Food-Coop „Beifuß“, die es<br />
nun schon seit einigen Jahren mit beglückwünschenswerter<br />
Kontinuität in der Wismarschen Straße gibt. Sie stößt aber<br />
langsam an ihre Grenzen, was Lagerfläche und innere Organisation<br />
angeht, und wirbt deswegen nicht mehr aktiv um neue<br />
Mitglieder. Daneben existieren noch wenige kleinere Food-<br />
Coops, mittels derer sich WGs und andere Lebensgemeinschaften<br />
versorgen. Die Dunkelziffer dürfte allerdings nicht<br />
allzu hoch sein.<br />
Die frische Food-Coop „Kau Wat“ (FCKW) hat sich im<br />
Herbst 2009 zusammen gefunden und nun einen Raum im Peter-Weiss-Haus<br />
bezogen. Sie befindet sich immer noch in der<br />
Gründungsphase und wird wohl erst zum Sommer eine stabiles<br />
Gefüge und damit ein reibungsloses Bestellsystem für die Mitglieder<br />
ermöglichen.<br />
Ich will auch. Wie kann ich mitmachen?<br />
Das schöne und essentielle am Food-Coop Prinzip ist, dass jede<br />
und jeder mit ein paar Freunden selbst eine gründen kann. Dazu<br />
ist einiges Vorwissen hilfreich, gilt es doch zahlreiche Hürden<br />
zu nehmen. Wichtig ist bei jeder Food-Coop, dass alle<br />
Mitglieder auch etwas Zeit in die Arbeitsabläufe, Organisation<br />
und die weitere Entwicklung stecken. Was auf den ersten Blick<br />
müßig aussieht hat den Vorteil, dass Food-Coops immer von<br />
den Mitgliedern für die Mitglieder gestaltet werden. Nebenbei<br />
werden Kontakte geknüpft, Rezepte ausgetauscht, gemeinsame<br />
Aktionen unternommen … – ein Stück gelebte Solidarität.<br />
Eine exzellente Anlaufstelle im Internet ist das „Foodcoopedia“<br />
Wiki1. Der Name lässt es schon erahnen, Foodcoopedia funktioniert<br />
nach dem gleichen Schema wie Wikipedia, der weltweit<br />
größten, gemeinschaftlich erstellten Enzyklopädie. So ist<br />
seit 2004 eine umfangreiche Sammlung von Food-Coops, Lieferanten,<br />
Herstellern und allgemeinen Informationen entstanden.<br />
Das Prinzip des gemeinsamen Agierens in einer Food-<br />
Coop setzt sich also auch im Internet bei Foodcoopedia fort.<br />
Außerdem gibt es zwei lesenswerte Bücher zum Thema. „Das<br />
Food-Coop Handbuch“2, sowie der Food-Coop Gründungsleitfaden<br />
„fair, bio, selbstbestimmt“3. Mit diesen Informationen<br />
gerüstet ist die eigene Food-Coop nur noch eine Frage der<br />
Zeit. ¬<br />
--p.s.:<br />
Dieser Text darf bei Namensnennung beliebig vervielfältigt<br />
und verändert werden, solange er unter gleicher Lizenz (CC-bysa)<br />
weiter gegeben wird.(http://creativecommons.org/licenses/bysa/3.0/de).<br />
Viel Spaß dabei!
0.34 __ //// TUE GUTES<br />
Tue Gutes und rede darüber ___________ Unter dieser Rubrik werden die <strong>Stadtgespräche</strong> ab<br />
diesem Heft über Beispiele tätiger Solidarität und Hilfe in <strong>Rostock</strong> berichten und alle, die dazu in der Lage<br />
sind, um Unterstützung bitten. Wir beginnen mit einem Beitrag zur aktuellen Situation in Lettland und informieren<br />
über eine bereits mehrere Jahre laufende Hilfsaktion.<br />
Wir bitten unsere Leserinnen und Leser um Weiterverbreitung der Informationen und Aufrufe und gleichzeitig<br />
um die Zusendung neuer Beiträge, die zeigen, wie, wo und warum <strong>Rostock</strong>erinnen und <strong>Rostock</strong>er<br />
anderen Menschen helfen und welche Möglichkeit besteht, sie dabei zu unterstützen. Das tun wir in dem<br />
Wissen, dass eine solche Hilfe am Weiterbestehen von Unrecht, Armut und Ungerechtigkeit grundsätzlich<br />
nichts ändern kann. Wir wissen jedoch, dass auch kleine Beiträge möglichst vieler Frauen und Männer so<br />
manches bewirken können und anderen Menschen helfen, Mut zu behalten und Notsituationen zu überstehen.<br />
61,36 EURO<br />
und einiges mehr<br />
FRED MAHLBURG<br />
Als wir im Spätsommer 2009 nach einem längeren Aufenthalt<br />
aus Lettland abreisten, waren die Auswirkungen der Finanzund<br />
Wirtschaftskrise bereits unübersehbar. Betriebe mussten<br />
schließen, Geschäfte standen leer, Banken waren bereits in<br />
Konkurs gegangen. Familien, die ein Jahr zuvor noch in halbwegs<br />
gesicherten Verhältnissen gelebt hatten, mussten jetzt zu<br />
den sozial Schwachen gezählt werden, die einen Antrag stellten<br />
auf eine kostenlose tägliche Schulmahlzeit für ihre Kinder. Die<br />
kleine Stadt, in der wir regelmäßig einen Teil des Jahres leben,<br />
verfügt nicht über die finanziellen Mittel, um allen berechtigten<br />
Anträgen zu entsprechen. „Für manche Kinder wird dies<br />
die einzige Mahlzeit des Tages sein“, sagt eine Freundin, die im<br />
Sozialausschuss mitarbeitet.<br />
Mindestlöhne und -renten wurden herabgesetzt und zusätzlich<br />
besteuert. Lehrergehälter - beispielsweise - waren dramatisch,<br />
das heißt um etwa 40 %, gekürzt worden. Medizinische Ein-<br />
richtungen mussten den Umfang ihrer Leistungen ganz erheblich<br />
reduzieren oder aber überhaupt geschlossen werden. Nur<br />
ein Bruchteil der dringend notwendigen Operationen konnte<br />
noch durchgeführt werden. Die tägliche Ernährung der stationär<br />
aufgenommenen Patienten war selbst auf niedrigstem Niveau<br />
in Frage gestellt.<br />
Ohne Kredite der EU und des IWF wäre Lettland mit dem<br />
Staatsbankrott konfrontiert. Die Kredite sind jedoch an harte<br />
Sparauflagen gebunden. Gleichzeitig geriet das kleine Land vor<br />
Rumänien an die Spitze der europäischen Korruptionsstatistik.<br />
Das heißt, ein skrupelloser Teil der regierenden „Klasse“ hält<br />
sich schadlos angesichts der Not breiter Schichten der Bevölkerung.<br />
„Wir sind wieder auf den Entwicklungsstand in der Mitte<br />
der neunziger Jahre zurückgeworfen“, sagte die lettische Freundin.
Bereits 1996 hatten die Teilnehmer einer Studienreise der<br />
Evangelischen Akademie M-V unter dem Eindruck der sozialen<br />
Probleme im Lande spontan einen Hilfsfond begründetet,<br />
in den einige der Mitbegründer bis heute regelmäßige Spenden<br />
einzahlen. Andere haben sich mit Einzel- oder Mehrfachspenden<br />
angeschlossen. Eine Schweriner Rentnerin hatte noch zur<br />
DM-Zeit einen Dauerauftrag über eine runde Summe erteilt.<br />
Der läuft jetzt mit 61,36 EURO jährlich weiter.<br />
Durch die vertrauensvollen, freundschaftlichen Beziehungen<br />
zu lettischen Partnerinnen und Partnern konnten wir gewährleisten,<br />
das sämtliche Spenden hundertprozentig Menschen zugute<br />
kamen, die Hilfe besonders nötig hatten. Dabei wurde nur<br />
in ganz besonderen Fällen Bargeld an Familien weitergegeben.<br />
Meistens ging es um die Bereitstellung von Sachwerten oder<br />
um die Bezahlung notwendiger Leistungen.<br />
Zwei weitere Initiativen in <strong>Rostock</strong> haben sich in den zurückliegenden<br />
Jahren an diesen konkreten Hilfsprojekten beteiligt:<br />
Die Bürgerinitiative für eine solidarische Gesellschaft und der<br />
Verein der Freunde und Förderer des Max-Samuel-Hauses.<br />
So konnten die Kleinkinder einer Kinderkrankenstation mit<br />
spezieller Nahrung versorgt werden. Blinde Diabetiker erhielten<br />
medizinische Hilfsmittel. Einzelne arme Familien konnten<br />
bei den Kosten für medizinische Behandlungen und nötige<br />
Kuraufenthalte entlastet werden. Mütter, die ein behindertes<br />
Kind zu Hause betreuen, wurden unterstützt. Eine alte Frau,<br />
die als Einzige ihrer Familie das Konzentrationslager Stutthof<br />
überlebt hatte, erhielt in ihren letzten Lebensjahren eine kleine<br />
zusätzliche Rente. Ihre Familie hatte während der deutschen<br />
Besatzung versucht, junge jüdische Männer zu retten. Ebenso<br />
konnte auch einem bejahrten jüdischer Künstler in Riga ein<br />
wenig geholfen werden. Und ein bekannter jüdischer Historiker<br />
wurde beim Aufbau eines Dokumentationszentrums „Juden<br />
in Lettland“ unterstützt, als dies noch nahezu gänzlich seine<br />
„Privatangelegenheit“ war, was sich inzwischen zum Glück<br />
geändert hat.<br />
In den zurückliegenden Jahren haben sich die Hilfeleistungen<br />
besonders auf Kinder aus sozial schwächsten Familien konzentriert.<br />
Dabei ging es vor allem um eine Erstausstattung für<br />
Schulanfänger, um warme und strapazierfähige Winterbekleidung<br />
einschließlich Schuhen für Schülerinnen und Schüler der<br />
unteren Klassen, um Ferienaufenthalte für ärmste Kinder und<br />
eben um die kostenlose warme Mahlzeit in der Schule.<br />
Die Regionalstiftung in Talsi erhielt zum Beispiel 1015,00<br />
EUR, die für die Erstausstattung von Schulanfängern aus sozial<br />
schwächsten Familien und für alleinbetreuende Mütter mit behinderten<br />
Kindern eingesetzt wurden. Inzwischen konnten wir<br />
in Aizpute die weitere Finanzierung von Schulessen für bisher<br />
sieben Kinder bis zum Sommer 2010 zusagen. Und wir würden<br />
diese Zusage gern noch ausweiten. Wie nötig dies ist, geht aus<br />
einem jüngsten Telefonat mit der Stiftung in Talsi hervor: Die<br />
Stiftung kann vor Ort kaum noch Geld einwerben. Deshalb<br />
werden dort jetzt Lebensmittel, gebrauchte Kleidung und<br />
Haushaltsgegenstände gesammelt und verteilt. In manchen Familien<br />
ist die regelmäßige Ernährung nicht mehr gewährleistet.<br />
Besonders genannt wurde uns eine Mutter mit vier Kindern,<br />
von denen zwei unter einer Stoffwechselkrankheit leiden. Wir<br />
haben aus den noch vorhandenen Restmitteln des Kurlandfonds<br />
Hilfe zugesagt und inzwischen 2.000,00 EUR übergeben<br />
können.<br />
Oft konnten wir dabei die Hilfe ergänzen, die engagierte Leute<br />
im Lande selber zu organisieren suchten: So der Sozialausschuss<br />
einer Kleinstadt, anderen Ortes eine Bürgerstiftung oder<br />
die Leitung einer ländlichen Grundschule. Und es soll nicht<br />
unerwähnt bleiben, dass bei der Bereitstellung von Winterschuhen<br />
ein <strong>Rostock</strong>er Schuhhaus mehrfach großzügig half.<br />
Manche von uns wissen, dass es einen ernst zu nehmenden biblischen<br />
Rat gibt: Wenn du anderen Menschen Gutes tust,<br />
dann prahle nicht damit, lass vielmehr deine linke Hand nicht<br />
wissen, was die rechte tut. Andererseits hat auch der Vorschlag<br />
etwas für sich: Tue Gutes und rede davon! Wir haben uns zu<br />
einem „dritten Weg“ entschlossen: Wir nennen zwar keine Namen,<br />
wir veröffentlichen es jedoch, dass Menschen in <strong>Rostock</strong>,<br />
aber nicht nur aus <strong>Rostock</strong>, anderen Menschen, in Lettland<br />
beispielsweise, Gutes taten und tun. Wir tun das, um es mit der<br />
Bitte zu verbinden: Beteiligen Sie sich doch, damit aus dem<br />
Wenigen ein wenig mehr wird! ¬<br />
___<br />
Die nächste Adresse für Ihre Mithilfe ist die Bürgerinitiative für<br />
eine solidarische Gesellschaft e.V., die auch Begründerin und Mitherausgeberin<br />
der <strong>Stadtgespräche</strong> ist.<br />
Bankverbindung: Evangelische Kreditgenossenschaft eG<br />
BLZ: 52060410,<br />
Kt.Nr.: 7350082<br />
Verwendungszweck: Lettlandhilfe<br />
Eventuelle Nachfragen richten Sie bitten über E-Mail an<br />
stadtgespraeche@gmx.de bzw. auf dem Postweg an:<br />
Bürgerinitiative für eine solidarische Gesellschaft e.V.<br />
Dr. Jens Langer<br />
Lange Str. 16<br />
18055 <strong>Rostock</strong>.
0.36 __ //// REZENSION<br />
Gerechtigkeit<br />
<strong>Rostock</strong>er Erinnerungsarbeit<br />
JENS LANGER<br />
Mit Hingabe fasst Arvid Schnauer Ergebnisse und Beobachtungen<br />
des <strong>Rostock</strong>er Gerechtigkeitsausschusses aus der Zeit<br />
1989/90 zusammen. Ein zweiter Teil über die Jahre Ende<br />
1990-1994 soll folgen. Schon der Untertitel zeigt die unterschiedliche<br />
Art der Quellen an, auf die das Buch zurückgreift.<br />
Nach einleitenden Bemerkungen widmet sich fast ein Drittel<br />
der Darstellung der Entstehung und Konsolidierung des GA<br />
durch erste Regelungen und Vereinbarungen. Der GA wurde<br />
noch von der SED-geführten Stadtverordnetenversammlung<br />
gegründet. Der Vorschlag dazu kam gruseligerweise vom OIBE<br />
Wolfgang Schnur (hier als IM bezeichnet). Also ein changierendes<br />
Gründungsorakel, das Druck von der Staatsmacht nehmen<br />
sollte. Hat es wohl auch getan, wie es ihn ebenso erhöhen<br />
konnte. Das alles führte zu Unsicherheiten und Anlaufschwierigkeiten.<br />
Nicht dazu gehörte die Unfähigkeit des zugeteilten<br />
Sekretärs, die Schreibmaschine zu bedienen („oder das gehörte<br />
nicht zu seinen Aufgaben“, S. 42).<br />
Trotz aller Gängelungen setzt sich der Emanzipationswille der<br />
authentischen GA-Mitglieder durch. Alles in allem Sysiphusarbeit,<br />
die den Verfasser heute an Überschätzung der Kräfte denken<br />
lässt. Im dritten Abschnitt des Buches stellt er Beispiele aus<br />
der Arbeit vor: Immobilienverkäufe und Waffenhandel, die<br />
komfortable Politikkulisse im Hotel „Neptun“ und darum herum,<br />
die mit rechtsstaatlichen Korrekturen erst vor wenigen<br />
Jahren durch die ehrenvolle Verabschiedung von Direktor<br />
Wenzel in den Ruhestand endete. Da Schnauer mit Recht insgesamt<br />
die engagierte Mitarbeit von evangelischen Kirchenleuten<br />
betont, wäre es hier der komplexen Interessenlage angemessen<br />
gewesen, die Rolle von Evangelischer Kirche und Wolfgang<br />
Schäuble beim Untertauchen des Hotelgastes Schalck-Golodkowski<br />
in der BRD wenigstens zu erwähnen.<br />
Dieser Schalck, Vorfahr der globalisierten Ökonomie, war systemrelevant<br />
und schutzwürdig. Zu den behandelten Anliegen<br />
gehören auch Rehabilitationsverlangen aus Schule und Universität<br />
sowie der Umgang mit Seefahrtsbüchern als politischem<br />
Druckmittel. Dazu kommt schließlich die Überprüfung von<br />
Wahlfälschung aus dem Mai 1989.<br />
Das vierte Kapitel befasst sich mit der möglichen Einflussnahme<br />
des MfS auf den GA. „Meine aktuellen Recherchen (...) haben<br />
ergeben, dass im November 1989 keines der GA-Mitglieder<br />
als inoffizieller Mitarbeiter des MfS tätig war. Es gab allerdings<br />
einige Mitglieder, deren vorübergehende IM-Tätigkeit<br />
thematisiert worden ist bzw. durch Aktenfunde öffentlich wurde.“<br />
(S.100) Der (vorläufig) abschließende Teil bringt Resümees<br />
einzelner GA-Mitglieder. Sie äußern sich erfreulich differenziert<br />
und gehen auch auf Rechtsunsicherheiten ein. „Neid<br />
und Missgunst haben zu mancher Überspitzung geführt.<br />
[…]Insgesamt war die Arbeit des GA vom Ergebnis her unbefriedigend.“<br />
(S. 114). Der Verfasser selbst äußert in seinem umfassenden<br />
Abschlußbericht vom 27.10.1990 vor der Bürgerschaft:<br />
„Sie haben sicher aus meinen Worten herausgehört,<br />
dass wir ziemlich resigniert sind darüber, dass die wirklich brisanten<br />
Fälle, die, um derentwillen wir einmal angefangen hatten<br />
zu arbeiten, nicht gelöst oder zu einem Abschluss gebracht<br />
werden konnten.“ (S. 140) Einigermaßen überrascht es, dass die<br />
Mitglieder des GA eine rückwirkende kollektive Aufwandsentschädigung<br />
von zusammen 10.000 Mark erhielten. War das<br />
noch das Neue Denken oder schon das ganz neue?<br />
Dem Band ist eine zweite Auflage zu wünschen. Für das dann<br />
nochmals nötige Lektorat fallen mir einige Aufgaben ein, z.B.:<br />
Die Namensnennung handelnder Personen sollte einheitlich<br />
erfolgen, sofern nicht juristische Bedenken bestehen. Hans<br />
Rentmeister war nicht Regierungsbeauftragter für die MfS-<br />
Auflösung im Bezirk <strong>Rostock</strong>, sondern für die Rettung systemrelevanter<br />
Strukturen überhaupt zuständig und Ende 1989 bereits<br />
der zweite Mann in dieser Funktion (Anm. 28, S. 43).<br />
Frau Nichtweiß war bekennende evangelische Christin (S.65).<br />
¬<br />
---<br />
Arvid Schnauer: Zur Arbeit des <strong>Rostock</strong>er Gerechtigkeitsausschusses.<br />
Teil 1: 1989/90. Erinnerungen. Notate. Dokumente.<br />
Hrg.: Die Landesbeauftragte für MV für die Unterlagen des<br />
MfS, Schwerin 2009. 157 S. 978-3-933255-30-3
WIDERSTAND GEGEN<br />
SCHNÄPPCHENJAGD<br />
Qualität entsteht durch verwendete Materialien und aufgewandte Zeit. Wenn wir also nach Preiswertem suchen, entwerten<br />
wir nicht nur die Arbeitskraft, sondern billigen ausdrücklich schlechte Arbeitsbedingungen und gefährliche Arbeitsmittel.<br />
Konsequenz: Wertvoll vor Ort kaufen oder Selbermachen. Nähkurs!<br />
FOTO: TOM MAERCKER
WIDERSTAND GEGEN<br />
ENTSOLIDARISIERUNG<br />
Es gab Zeiten, da wurde dem Proletarier noch mit Achtung begegnet, da galt die Arbeiterklassenehre mehr als ein<br />
Ehegelöbnis. In Zeiten globalisierter Ausbeutung definieren wir uns heute lieber über Moden, Fußballvereine, Fernsehserien,<br />
Politik und Religion. Freiheitlich-demokratisch vereinzelt, beherrschbar und konsumorientiert.<br />
Mehr Gleichheit und Brüderlichkeit! Und das Recht durchsetzen, von der Arbeit leben zu können.<br />
FOTO: TOM MAERCKER