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FORMEN DES WIDERSTANDS - Stadtgespräche Rostock

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<strong>FORMEN</strong> <strong>DES</strong> <strong>WIDERSTANDS</strong><br />

GEDRUCKTE<br />

GEDRUCKTE<br />

KÖRPERHALTUNG<br />

KÖRPERHALTUNG<br />

MAGAZIN<br />

FÜR FÜR BEWEGUNG,<br />

MOTIVATION UND UND<br />

DIE DIE NACHHALTIGE<br />

KULTIVIERUNG<br />

DER DER REGION ROSTOCK<br />

stadtgespraeche- stadtgespraeche- rostock.de rostock.de<br />

ISSN ISSN 0948-8839 0948-8839<br />

ERSCHEINT<br />

ERSCHEINT<br />

QUARTALSWEISE<br />

QUARTALSWEISE<br />

SEIT SEIT 1994 1994<br />

AUSGABE NR.<br />

Reinhard Kirpes über den Prozess gegen zwei <strong>Rostock</strong>er NATO-Gipfelgegner __/<br />

Steffen Vogt im Interview zum 1. Mai 2010 in <strong>Rostock</strong> __/<br />

Elke Steven: Zum Grundrecht auf Versammlungsfreiheit __/<br />

Claudia Lohse-Jarchow: Vom Widersprechen __/<br />

Johannes Saalfeld: Unterschriften für betagte Bäume __/<br />

Christine Lucyga: Wer ein Unrecht lange Zeit geschehen lässt, ... __/<br />

Olaf Reis: Gefühl und Gewaltenteilung __/<br />

Jens Langer: Der Widerstand der Familie Levy __/<br />

Jens Langer: Autobiografische Sprüche aus 70 Jahren __/<br />

Henning Rieger: Über Food-Coops ... __/<br />

Fred Mahlburg: 61,36 EURO und einiges mehr __/<br />

Tom Maercker: Der kleine Widerstand; bebildert __/<br />

16. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €


Wir erinnern uns: Die von der Pharma-Lobby und den Medien verursachte Schweinegrippe-Hysterie führte 2009 zu einer<br />

unsinnigen Zusatzverschuldung von Bund, Ländern und Krankenkassen wegen unnötiger Impfstoffbestellungen.<br />

AIDA verlangte im Juni 2010 das Ausfüllen des folgenden Fragebogen von Kita-Kinder-Eltern, deren Kinder das Schiff<br />

besichtigen wollen. Jungs, Ihr seid einfach immer zu lange auf See, um noch etwas mitzubekommen.<br />

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00.1 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

immer wieder sind wir in den letzten<br />

Monaten und Wochen auf Situationen<br />

gestoßen, in denen Menschen ihre Unzufriedenheit<br />

artikuliert haben - mit lokalen<br />

wie nationalen oder globalen Entwicklungen.<br />

Viel zu oft beschränkt sich<br />

der Protest auf kritische Äußerungen vor<br />

dem Fernseher oder in privater Runde<br />

und bleibt so wirkungslos. In anderen<br />

Fällen engagieren sich Menschen, um der eigenen Meinung Gehör zu<br />

verschaffen und sind dann frustrierend schnell mit der Diskrepanz zwischen<br />

legalen Möglichkeiten dieser Artikulation und dem was ihnen<br />

selbst moralisch legitim bzw. notwendig erscheint konfrontiert. Ein<br />

deutliches Beispiel hierfür war die Sitzblockade, die am 1. Mai in <strong>Rostock</strong><br />

stattfand - auch sie eine Gratwanderung zwischen dem, was Viele<br />

für ein dringend nötiges Bekenntnis halten, dass seines Adressaten, die<br />

Nazis, so direkt wie möglich erreichen sollte, und dem, was legislativ<br />

und/oder judikativ akzeptiert wird.<br />

Grund genug, uns mit Formen des Widerstands, mit seinen Folgen und<br />

deren Bewertung genauer zu befassen - die im Heft zu findenden Beispiele<br />

sind folgerichtig sehr heterogen und regen doch alle zum gleichen<br />

Nachdenken an: Wieviel persönlichen Mut braucht es heutzutage, für<br />

eigene Überzeugungen zu kämpfen? Und wie geht man mit den Konflikten<br />

um, in die man dabei gerät? Wo überschreitet man Grenzen und<br />

wo sind es juristische, wo moralische? Lassen Sie sich inspirieren und<br />

motivieren & haben Sie einen schönen Sommer!<br />

Ihre Kristina Koebe<br />

Inhalt dieses Heftes<br />

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

Widerstand zwecklos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />

Tom Maercker: Der kleine Widerstand . . . . . . . . . . 3<br />

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

Titelthema: Formen des Widerstands<br />

Reinhard Kirpes "Nach deutschem Recht ..." . . . . . 5<br />

Steffen Vogt im Interview zum 1. Mai in <strong>Rostock</strong> 9<br />

Elke Steven: Zum Grundrecht auf Versamm -<br />

lungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Claudia Lohse-Jarchow: Vom Widersprechen . . 16<br />

Johannes Saalfeld: Unterschriften für betagte<br />

Bäume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

Christine Lucyga: Wer ein Unrecht lange Zeit<br />

geschehen lässt, ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

Olaf Reis: Gefühl und Gewaltenteilung . . . . . . . . 22<br />

Jens Langer: Der Widerstand der Familie Levy . 28<br />

Jens Langer: Autobiografische Sprüche aus<br />

70 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29<br />

Ideen für <strong>Rostock</strong><br />

Henning Rieger: Über Food-Coops … . . . . . . . . 32<br />

Tue Gutes und rede darüber<br />

Fred Mahlburg: 61,36 EURO und einiges mehr 34<br />

Rezension<br />

Jens Langer: <strong>Rostock</strong>er Erinnerungsarbeit . . . . . . 36<br />

Büchse aufmachen oder zulassen?<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.2 __ //// TITELINTRO | IMPRESSUM<br />

Widerstand zwecklos?<br />

Beispiele für erfolgreichen Widerstand<br />

ZUSAMMENGESTELLT VON KRISTINA KOEBE<br />

Erfolg nach jahrelangen Bemühungen: Bombodrom<br />

Am 23. August 1992 gründete sich die Bürgerinitiative (BI)<br />

FREIeHEIDe in Schweinrich. Sie wendet sich gegen die militärische<br />

Nutzung eines ehemaligen Truppenübungsplatz der<br />

sowjetischen Armee 100 km nordwestlich von Berlin durch die<br />

Bundeswehr.Das Areal hat eine Größe von 144 km2 (ca. 1/6<br />

von Berlin oder 1/3 der Fläche von Köln) und liegt in der Kyritz-Ruppiner<br />

Heide in Nordbrandenburg. Durch die beabsichtigte<br />

Nutzung als Bombenabwurfplatz ist aber auch die Region<br />

im Süden Mecklenburgs betroffen, da hier die Einflugschneisen<br />

geplant sind. Durch Lärm- und Schadstoff-Emissionen<br />

ist der Tourismus, der sich in den letzten Jahren als Standbein<br />

dieser malerischen Region entwickelt hat, bedroht.<br />

FREIeHEIDe ist inzwischen ein Symbol für kreativen, friedlichen<br />

Protest. Seit Jahren findet am Ostersonntag eine der größten<br />

Ostermarschaktionen in Deutschland in Fretzdorf statt.<br />

Die Frage des „Bombodrom“ ist kein lokales Problem - es ist<br />

ein BUN<strong>DES</strong>- ja sogar EUROPA-relevantes Thema! Bei bisher<br />

112 Protestveranstaltungen haben das mehr als 350.000<br />

Teilnehmer aus Nah und Fern bekräftigt. Mit dem 9.07.2009<br />

hat der Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU)<br />

die jahrelangen Versäumnisse seiner Vorgänger Volker Rühe<br />

(CDU), Rudolf Scharping und Peter Struck (beide SPD)<br />

nachgeholt und den Verzicht auf die Nutzung als Luft-/Bodenschießplatz<br />

erklärt. Somit kann nun die Region rund um den<br />

Platz die künftige Entwicklung planen und gestalten.<br />

Erfolgreiche Sitzblockade in Dresden<br />

Am 13. Februar diesen Jahres verhinderten mehr als 12.000<br />

Menschen zum ersten Mal den jährlichen Nazi-Aufmarsch in<br />

der sächsischen Landeshauptstadt. Über Stunden besetzten sie<br />

Straßen und Plätze in unmittelbarer Umgebung des Neustädter<br />

Bahnhofs. Gegen 17.00 Uhr brach die vor Ort aktive Polizei<br />

die Nazi-Veranstaltung schließlich wegen der Proteste ab.<br />

Für die Organisatoren der Blockade, das Bündnis „Nazifrei –<br />

Dresden stellt sich quer!”, ist die Verhinderung des Naziaufmarschs<br />

ein großer Erfolg. „Zwölftausend Menschen aus Dresden<br />

und aus der ganzen Bundesrepublik haben den Sammel-<br />

MITNICHTEN.<br />

punkt der Nazis abgeriegelt – Dank an alle, die sich an den<br />

Massenblockaden beteiligt haben und sich nicht einschüchtern<br />

ließen”, erklärte Bündnis-Sprecherin Lena Roth. Erstmalig, sei<br />

es gelungen, den größten Naziaufmarsch Europas zu stoppen.<br />

Ausschlaggebend für den Erfolg seien die Vielfalt und die Entschlossenheit<br />

des Bündnisses „Nazifrei – Dresden stellt sich<br />

quer!” sowie das klare Blockade-Konzept gewesen.<br />

Immer wieder neue Kampagnen: Campact<br />

Wie Campact wirkt, signalisiert schon der Name: Campaign &<br />

Action. Campact organisiert Kampagnen, bei denen sich Menschen<br />

via Internet in aktuelle politische Entscheidungen einmischen.<br />

Wenn Wirtschaftslobbyisten Gesetze diktieren wollen<br />

oder im Bundestag die Meinung der Bevölkerung nicht zählt,<br />

ist Campact zur Stelle. Schnelles Handeln verbindet Campact<br />

mit phantasievollen Aktionen, die Öffentlichkeit herstellen<br />

und Druck auf die Entscheidungsträger ausüben: für eine sozial<br />

gerechte, ökologisch nachhaltige und friedliche Gesellschaft.<br />

Campact startet Kampagnen, wenn Themen auf die politische<br />

Agenda kommen und Entscheidungen auf der Kippe stehen.<br />

Weil es keine Fachorganisation ist, arbeitet Campact meist mit<br />

Partnerorganisationen zusammen, etwa mit der Deutschen<br />

Umwelthilfe, dem NABU, Attac, Oxfam, LobbyControl und<br />

Mehr Demokratie. Wirksame Bündnisse zu schmieden, gehört<br />

zum Grundprinzip von Campact. Der Campact-Newsletter<br />

verbindet derzeit mehr als 230.000 politisch interessierte und<br />

aktive Menschen. Sie unterzeichnen Appelle und Petitionen,<br />

informieren Freunde und unterstützen die Campact-Kampagnen<br />

durch Spenden und Förderbeiträge. Die Campact-Aktiven<br />

bilden gemeinsam ein wirksames Gegengewicht zur Macht<br />

der Wirtschafts- und anderer Lobbies und sichern die Unabhängigkeit<br />

von Campact. www.campact.de


Wogegen man sich eigentlich immer mal wieder wehren müsste:<br />

Der kleine<br />

TOM MAERCKER<br />

Widerstand<br />

Unser Alltag ist geprägt von vielen Einflüssen, vom Widerstand eher selten. Zu einfach<br />

und angenehm ist das Leben zwischen Vollkomfort und Rundumbetreuung.<br />

Selbst die, die quasi nichts oder wenig haben - viele von Ihnen bekanntermaßen<br />

zwangsweise ausgeschlossen vom selbstbestimmten Nahrungserwerb - leiden weder<br />

Hunger noch Durst, haben Anspruch auf Bildung, Gesundheitsvorsorge, Wohnraum,<br />

Kleidung, Kommunikation und Entertainment. Und so kommen wir gedanklich<br />

nicht einmal in die Nähe von Überlegungen darüber, wofür unsere Vorfahren gearbeitet,<br />

gekämpft und gelitten haben. Und nicht selten auch gestorben sind.<br />

Allerdings merken wir auch ohne den kleinen Hunger morgens halb zehn in Deutschland,<br />

dass mit unserem materiell inzwischen recht angenehmen Leben nicht alles in<br />

Ordnung, das vermeintliche Glück getrübt ist und wir uns so richtig nicht erfreuen<br />

können an den gebratenen Tauben, die um unseren Mund buhlen. Es sind die weichen<br />

Faktoren, die uns Kummer bereiten oder die vage Vermutung, dass wir vielleicht<br />

doch irgendwann einmal feststellen müssen, dass man Geld nicht essen kann. Was also<br />

fehlt uns denn zum Glück?<br />

Um „Glück“ überhaupt wahrnehmen zu können, braucht es auch dessen Gegenteil,<br />

was nach binär-christlicher Wahrheit dann „Unglück“ wäre, im richtigen Leben aber<br />

„Mühe“ genannt werden könnte (auch geläufig unter den Spielarten „Aufwand“,<br />

„sich bemühen“, „investieren“, „arbeiten“, „kommunizieren“, „aktiv sein“, „teilen“, „ein<br />

Wagnis eingehen“ und dabei ein „Ergebnis erzielen“). Allein etwas zu tun, schafft bereits<br />

Befriedigung, womit der Weg schon das Ziel wäre. Und bei Erfolg auch: Glück.<br />

Und je weniger entfremdet die Mühe, desto mehr Glück.<br />

Um dem Müßiggang, dem Zaudern und Hadern zu widerstehen, bedarf es also weder<br />

Bomben oder Gewalt. Manchmal reicht es schon, immer wieder mal sein Leben zu reflektieren<br />

und einfach nur aktiv zu werden, sich zu bemühen. Und damit sind es Kleinigkeiten,<br />

die uns zum Widerstandskämpfer machen und uns dabei unser richtiges<br />

Leben wiedergeben. Wir möchten Sie ausdrücklich ermuntern zu einem Widerstand,<br />

der Spaß macht.<br />

Heinz-Rudolf Kunze, einst Star meiner Jugendrebellion, dichtete wohlgesprochen,<br />

dass wir genau betrachtet doch öfter mit Bogie's Kippen auf den Lippen entschlafen<br />

sind, „als mit Rosa im Kanal ersoffen, Che war der am schlechtesten angezogene<br />

Mann Amerikas und der weiße Leib Marilyns die Langstreckenrakete schlechthin, die<br />

unsere Köpfe gesprengt und den Krieg längst entschieden hat.“<br />

Maßnahme 1: Schauen Sie bewusst und kritisch auf das, was mit Milliardenaufwand<br />

täglich in Sie hineingepumpt wird an fragwürdigen Botschaften, an MUST-HAVEs,<br />

MUST-DOs und MUST-BEs. Schlagen Sie dem täglichen Marketing-Brainwash ein<br />

Schnäppchen und machen explizit Dinge, die nichts mit Konsumieren zu tun haben.<br />

Maßnahme 2: Wenn Sie unsicher sind, welche Dinge das sind, versuchen Sie sich einfach<br />

mal wieder - schön locker und entspannt natürlich - daran zu erinnern, ob es<br />

glückliche Momente in Zeiten gab, als „Konsum“ noch genau das Gegenteil bedeutete<br />

- nämlich mäßig gefüllte Regale und die lapidare Auskunft „Ha’m wa nich!“<br />

Außerdem ... haben wie Ihnen ein paar Denkanstöße aus dem lokalen Umfeld fotografisch<br />

aufbereitet und über diese Ausgabe verteilt. Nennen wir sie der Einfachheit<br />

halber die „Widerstandsgalerie“.<br />

Impressum<br />

<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 59:<br />

„Formen des Widerstands”<br />

Ausgabe Juni 2010<br />

(Redaktionsschluss: 10. Juni 2010)<br />

Herausgeber (seit 2010)<br />

<strong>Stadtgespräche</strong> e.V. in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative<br />

für eine solidarische Gesellschaft e.V. <strong>Rostock</strong><br />

und der Geschichtswerkstatt <strong>Rostock</strong> e.V.<br />

Redaktion und Abonnement (seit 2010)<br />

PF 10 40 66<br />

18006 <strong>Rostock</strong><br />

Fax: 03212-1165028 (seit 2010)<br />

E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />

Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />

Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Redaktion:<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Peter Koeppen<br />

Dr. Jens Langer<br />

Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />

und werden von den Autorinnen und Autoren<br />

selbst verantwortet.<br />

Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />

Mediadaten:<br />

Gründung: 1994<br />

Erscheinung: 16. Jahrgang<br />

ISSN: 0948-8839<br />

Auflage: 250 Exemplare<br />

Erscheinung: quartalsweise<br />

Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />

Herstellung: KDD<br />

Anzeigenpreise (Kurzfassung)<br />

(ermäßigt / gültig für 2010)<br />

3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />

4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />

Details auf unserer Website im Internet<br />

Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />

Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 41/80<br />

die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />

Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />

Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5<br />

Foto-Studio Zimmert, Lange Str. 12<br />

Printzentrum, <strong>Rostock</strong>er Hof, Kröpeliner Str. 26<br />

Bankverbindung (seit 2010)<br />

(für Abo-Überweisungen und Spenden)<br />

Kto.: 1203967<br />

BLZ: 13090000<br />

bei der <strong>Rostock</strong>er VR-Bank<br />

Abonnement:<br />

Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />

Jahressoliabo (4 Ausgaben): 20,00 €<br />

Einen Aboantrag finden Sie auf S. 26 (bzw. als<br />

PDF-Datei zum Ausdrucken und Ausfüllen auf<br />

unserer Website im Internet).


WIDERSTAND GEGEN<br />

RUNDUMDIEUHRSHOPPING<br />

Es war einmal eine Zeit, da gab es den Markttag, saisonal Geerntetes und Speisekammern. Jedes hatte seine Zeit und<br />

seinen Geschmack, man wusste viel von Zubereitung und Lagerung. Heute ist das einer Dauerverfügbarkeit gewichen,<br />

von dessen Schattenseiten wir immer weniger überzeugt sein können.<br />

Liebt lieber Euer Personal! Also: Abends nicht hingehen. Regionalprodukte kaufen. Foodkoops gründen.<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.5 __ //// TITELTHEMA<br />

„Nach deutschem Recht<br />

wäre kaum eine niedrige-<br />

re Bestrafung zu erreichen<br />

gewesen“<br />

REINHARD KIRPES IST FACHANWALT FÜR STRAFRECHT UND ZUGELASSEN AM INTERNATIONALEN STRAFGERICHTSHOF<br />

(ITCA) IN DEN HAAG. KONTAKT ÜBER DIE REDAKTION<br />

Als im November 2009 die Nachricht veröffentlicht wurde, dass die beiden als Gipfelgegner zum NATO-Gipfel<br />

gereisten <strong>Rostock</strong>er zu einer Haftstrafe von 4 Jahren verurteilt wurden, sorgte dies bei Vielen für große<br />

Bestürzung. Die Presseberichterstattung zum Thema ließ viele Fragen offen, so dass es auch jetzt, ein halbes<br />

Jahr später, schwer ist, sich ein umfassendes Bild von den Ereignissen in Strasbourg, den Vorgängen<br />

die zur Verurteilung führten sowie den politischen Hintergründen zu machen. Die <strong>Stadtgespräche</strong> haben<br />

RA Reinhard Kirpes aus Offenburg darum gebeten, seine Sicht auf die Dinge darzulegen – er ist einer der<br />

beiden Verteidiger der Verurteilten.<br />

Am 3. und 4, April 2009 fand, grenzüberschreitend, in Kehl<br />

und Strasbourg ein NATO-Gipfeltreffen statt, welches schon<br />

seit Monaten allseits akribisch vorbereitet worden war. Nach<br />

einigen politischen Diskussionen wurde den Gegnern dieses<br />

Gipfels gestattet, am Rande von Strasbourg ein Camp zu beziehen,<br />

welches in den Tagen des Gipfeltreffens Schauplatz einiger<br />

Auseinandersetzungen gewesen ist.<br />

Ich selbst war am Mittwoch, dem 1. April, und am Freitag,<br />

dem 3. April 2009, vor Ort. Die Einsatzkräfte, das heißt entgegen<br />

den offiziellen Verlautbarungen Deutsche und Franzosen<br />

gemeinsam, sowohl was Personen als auch Gerät anging, waren<br />

massiv präsent und griffen bei dem geringsten Anlass hart<br />

durch. So genannte Vermummte waren in der Minderzahl, haben<br />

gleichwohl die politische Diskussion im Gefolge der Auseinandersetzungen<br />

rund um die Europabrücke in<br />

Kehl/Strasbourg vor allem in den französischen Medien beherrscht.<br />

Das Phänomen der in Deutschland so bezeichneten<br />

black blocks war bis dato in Frankreich nicht bekannt.<br />

Am Samstag, dem 4. April 2009, war ich in Strasbourg vor Ort.<br />

Ich hatte dort übernachtet, weil mir als Einheimischem klar<br />

war, dass sich abzeichnende Demonstrationen und Auseinandersetzungen<br />

sehr schnell auf den Bereich der Europabrücke<br />

konzentrieren wurden, welche dann auch früh gesperrt worden<br />

ist. Auf deutscher Seite waren mehrere Tausend Polizeibeamte<br />

im Einsatz, Straßen wurden gesperrt, Kontrollstellen eingerichtet,<br />

Grenzübergänge überwacht: Auf kaltem Wege wurde das<br />

Demonstrationsrecht schlicht außer Kraft gesetzt. Ich hielt<br />

und halte alle Beteuerungen der politisch Beteiligen, man werde<br />

das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit achten, für reine,<br />

gar zynische Lippenbekenntnisse: Das - nicht erklärte – Ziel<br />

war, Demonstrationen durch das Schaffen von Fakten zu verhindern.<br />

Diese Rechnung ist auf deutscher Seite auch aufgegangen.<br />

Auf französischer Seite zogen ab 10.00 Uhr am Samstagmorgen<br />

einige Demonstrationszüge, aus verschiedenen Richtungen<br />

kommend, zum vorgesehenen Kundgebungsplatz unweit der


00.6 __ //// TITELTHEMA<br />

Europabrücke. Die Straßburger Innenstadt war dabei weiträumig<br />

abgeriegelt. Ich wurde Augenzeuge als eine Gruppe vorwiegend<br />

griechischer Demonstranten vor der Vauban-Brücke,<br />

welche in Richtung Kehl eines der Straßburger Hafenbecken<br />

überspannt, von polizeilichen Einsatzkräften gestoppt wurde,<br />

ohne dass es aus meiner Sicht den geringsten Anlass dafür gegeben<br />

hätte.<br />

Es wurde massiv Tränengas eingesetzt und es wurden Blendgranaten<br />

abgefeuert, ohne dass die Situation diesen martialischen<br />

Einsatz auch nur ansatzweise gerechtfertigt hätte: Es schien<br />

mir die reine Provokation. Die Rechnung ging auf, es folgte<br />

Reaktion und Gegenreaktion, die Brücke über das Vauban-<br />

Bekken wurde für Stunden gesperrt. Nachdem sich die Situation<br />

etwas entspannt hatte, wurde der Weg Richtung Kundgebungsplatz<br />

frei gegeben. Dort eskalierte dann die Situation. Es<br />

gelang mir, zusammen mit einer Kollegin bis zur Europabrücke<br />

vorzudringen, auf der allerdings bereits Barrikaden brannten.<br />

Wir wurden von der deutschen Polizei zunächst am Weitergehen<br />

gehindert. Das änderte sich erst, als wir den Beamten unsere<br />

Anwaltsausweise zeigten und mit rechtlichen Schritten<br />

drohten. Von unserer Position aus hatten wir das gesamte Gelände<br />

im Überblick, auch als die Zollabfertigungsgebäude<br />

rechts der Brücke, das ehemalige Zollgebäude für Personenkontrollen<br />

auf einer Verkehrsinsel hinter der Brücke zusammen<br />

mit dem dort gelegenen Cafe und der Apotheke sowie das Hotel<br />

Ibis in Flammen aufgingen. Bis heute ist unklar, aus welchen<br />

Gründen es fast zwei Stunden dauerte, bis Löschzüge auch von<br />

deutscher Seite aus vorrücken konnten. Darüber, ob und weshalb<br />

dies politisch gewollt war, wird immer noch spekuliert. Sicher<br />

ist nur, dass die Vorfälle Bilder lieferten, welche erneut<br />

Anlass für altbekannte martialische Sprüche des derzeitigen<br />

Staatspräsidenten schufen. Und Stimmung machten für neue,<br />

von ihm seit seiner Zeit als Innenminister systematisch betriebene<br />

Strafverschärfungen.<br />

Im Zusammenhang mit diesen Vorfällen wurden mehrere deutsche<br />

Staatsangehörige festgenommen, darunter auch zwei Personen,<br />

die aus <strong>Rostock</strong> stammen, zum Tatzeitpunkt 22 und 18<br />

Jahre alt. Diese beiden Personen habe ich zusammen mit meinem<br />

Strasbourger Kollegen Emmanuel HOEN verteidigt. Beide<br />

Personen legten unmittelbar nach ihrer Festnahme ein umfassendes<br />

Geständnis ab; nach einem Rechtsbeistand hatten sie<br />

zu diesem Zeitpunkt nicht verlangt.<br />

Dieses Geständnis wiederholten sie auch bei zwei Anhörungen<br />

vor der Ermittlungsrichterin wie in der Hauptverhandlung.<br />

Hier scheinen mir einige Erläuterungen zum Strafverfahren in<br />

Frankreich notwendig: Während in Deutschland die Staatsanwaltschaft,<br />

eine hierarchisch gegliederte Behörde und weisungsgebunden<br />

von unten nach oben die „Herrin des Verfahrens“<br />

ist, obliegen in Frankreich bislang die Ermittlungen unabhängigen<br />

Ermittlungsrichtern, welche das Verfahren eigenständig,<br />

ungebunden und weisungsfrei führen. Bislang deshalb,<br />

weil der amtierende Staatspräsident Frankreichs derzeit eine<br />

„Reform“ des Strafverfahrens dahingehend betreibt, dass die<br />

Staatsanwaltschaft weisungsgebunden und politisch abhängig<br />

die Ermittlungen übernimmt und führt. Diese „Reform“ sorgt<br />

für einige Unruhe unter Frankreichs Richtern und Rechtsanwälten.<br />

Das Vorverfahren gegen die beiden aus <strong>Rostock</strong> stammenden<br />

Personen wurde fair und sehr sorgfältig geführt, ermittelt wurde<br />

akribisch, jedoch erkennbar objektiv. Beweisanträge und Beweisangebote<br />

müssen nach französischem Recht im Ermittlungsverfahren<br />

präsentiert werden, was auch durch die Verteidiger<br />

der beiden <strong>Rostock</strong>er geschah. Nach Abschluss der Ermittlungen<br />

wird das Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft<br />

und der Verteidigung vorgelegt, die dann noch einen<br />

Monat Zeit haben, Einwendungen vorzubringen. Danach fertigt<br />

die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift und legt sie dem<br />

anzurufenden Gericht, in diesem Falle der zuständigen Strafkammer<br />

bei dem Landgericht in Strasbourg, vor.<br />

Am 16. November 2009 wurde verhandelt, es erging folgendes<br />

Urteil: Die beiden <strong>Rostock</strong>er wurden als Mittäter, jedoch ohne<br />

Teil einer Bande zu sein, zu jeweils 4 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt,<br />

gem. Art, 311/1 und 331/4 des französischen Strafgesetzbuchs.<br />

Qualifiziert, das heißt erschwert, war der Grundtatbestand<br />

des schweren Diebstahls durch den Einsatz eines auch<br />

für Personen gemeingefährlichen Mittels, nämlich des In-<br />

Brand-Setzens, welches sodann zur Zerstörung fremder Vermögenswerte<br />

geführt hat.<br />

Die Strafandrohung nach diesen Vorschriften reicht bis zu 10<br />

Jahren Freiheitsstrafe. Von diesen 4 Jahren hat das Gericht per<br />

Urteil bereits ein Jahr der Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt;<br />

angerechnet wird die Zeit der verbrachten Untersuchungshaft,<br />

ein weiterer Strafabschlag wurde durch die Justizvollzugsanstalt<br />

Strasbourg vorgenommen. Die Hälfte der sodann<br />

verbleibenden Reststrafe kann nach einer entsprechenden<br />

Anhörung der beiden Personen, die im Juni dieses Jahres stattfinden<br />

wird, ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt werden, sodass<br />

beide mit einer Freilassung im September 2010 rechnen dürfen.<br />

Zum Vergleich: Nach deutschem Recht würde hier § 300 a<br />

Abs. 2 iVm Abs. 1 Ziff. 3 StGB (schwere Brandstiftung) und §<br />

125 a Abs. 1 Ziff. 2 StGB (besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs)<br />

zum Tragen kommen. § 306 a normiert einen<br />

Verbrechenstatbestand; die Mindeststrafe beträgt also 1 Jahr,<br />

die Höchststrafe 15 Jahre, § 38 Abs. 28tGB.<br />

Nach meiner Auffassung wäre selbst dann, wenn die jüngere<br />

der beiden Personen als Heranwachsende zu einer Jugendstrafe<br />

verurteilt worden wäre - nach französischem Recht wird ab<br />

dem 18. Lebensjahr generell nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt<br />

-, kaum eine niedrigere Bestrafung zu erreichen gewesen.<br />

Dazu muss man wissen, dass derjenige, der zu einer Jugendbzw.<br />

Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt wird,<br />

diese nach deutschem Recht prinzipiell absitzen muss. Eine<br />

Aussetzung der Vollstreckung nach frühestens der Hälfte der<br />

Verbüßung der verhängten Strafe ist nur unter ganz besonderen<br />

Umständen möglich, § 57 Abs. 2 Ziff. 2 StGB. Diese Vorschrift<br />

kommt aller Erfahrung nach eher selten zur Anwendung, si-


cher dann aber nicht, wenn es sich um die Verwirkung so genannter<br />

gemeingefährlicher Straftaten handelt. Nach deutschem<br />

Recht verurteilt, hätten die beiden Personen also voraussichtlich<br />

2/3 der verhängten Strafe absitzen müssen. Das französische<br />

Recht hingegen ermöglicht, wie oben ausgeführt, ihre<br />

Entlassung nach weniger als der Hälfte der Verbüßung ihrer<br />

Strafe.<br />

Zwei zusätzliche Punkte möchte ich noch kurz ansprechen:<br />

Auf Bitten der französischen Ermittlungsrichterin hatte die<br />

Staatsanwaltschaft <strong>Rostock</strong> im Umfeld der beiden Personen in<br />

<strong>Rostock</strong> ermittelt. Es erstaunt schon, mit welchem unangemessenen<br />

Aufwand diese Ermittlungen in <strong>Rostock</strong> betrieben worden<br />

sind. Es wurden Wohnungen durchsucht, das soziale Umfeld<br />

ausgeleuchtet, Zeugen geladen und gegebenenfalls<br />

Zwangsgelder verhängt – kurz: es wurde sich nach bester deutscher<br />

Tradition gebärdet, als habe man Terroristen am juristischen<br />

Wickel. Ich wünschte mir, als Strafverteidiger, als Jurist<br />

wie als politisch denkender Mensch, dass die Aufmerksamkeit,<br />

die der „Linken“ zuteil wird, auch auf der anderen Seite des politischen<br />

Spektrums angewandt wird.<br />

Als langjährigem Beobachter der juristischen Szene fällt mir<br />

schon auf, welch hektische Aktivitäten bei Polizei und Staatsanwaltschaft<br />

ausgelöst werden, wenn der vermeintliche Feind<br />

„links“ steht, und mit welcher Nachsicht Rechte und Nazis behandelt<br />

werden: Sie bleiben weitgehend unbehelligt, treffen<br />

auf ungewöhnliche Milde bei Gericht und sind keiner Partei eine<br />

ernsthafte und nachhaltige politische Diskussion wert.<br />

Just wenige Tage vor dem Strafprozess in Strasbourg hat die<br />

„Frankfurter Rundschau“ einen Bericht veröffentlicht, der folgende<br />

Fakten nannte: Seit 1993 sind mehr als 140 Opfer rechter<br />

Gewalt gestorben. Todesopfer linker Gewalt sind nicht bekannt.<br />

Ich habe mir erlaubt, auch dem Strafgericht in Strasbourg<br />

diese Tatsachen nahe zu bringen, um den Aufwand, den<br />

die Staatsanwaltschaft <strong>Rostock</strong> in diesem Falle glaubte betreiben<br />

zu müssen, ins rechte Licht zu rücken.<br />

Die beschriebenen Zahlen und Fakten sind in Frankreich wie<br />

anderswo leider unbekannt, aus einem einfachen Grunde: Die<br />

Verbrechen der Nazis, Neonazis und Rechtsextremen werden<br />

mit dem gnädigen Mantel des politischen Schweigens bedeckt.<br />

Wir kennen diese unselige Tradition in Deutschland seit Beginn<br />

der Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts; keiner<br />

hat sie bisher ernsthaft zu ändern versucht.<br />

Der andere Punkt betrifft die so genannte Unterstützer-Szene:<br />

So als seien die 70er Jahre wieder auferstanden, wurden die beiden<br />

Personen aus <strong>Rostock</strong> zu „politischen Gefangenen“ gemacht,<br />

die sie nie waren und als die sie sich auch nie begriffen<br />

haben. Ohne Rücksicht auf ihre Situation wurden Aktivitäten<br />

entfaltet, die sie nicht wollten, Zeitschriften zugesandt, die sie<br />

nicht interessierten, kurz, sie wurden den kruden Interessen<br />

dieser Szene unterworfen, die sie zu ihren eigennützigen Zwekken<br />

instrumentalisierte.<br />

Dieses Verhalten war dazu angetan, dem Ermittlungsverfahren<br />

eher zu schaden als zu nützen. Es hätte der Eindruck entstehen<br />

können, dass die beiden Personen der so genannten gewaltbereiten<br />

Szene angehörten, dass sie Mitglieder eines „schwarzen<br />

Blocks“ seien und gar aus Sicht der französischen Behörden in<br />

ein terroristisches Umfeld hätten gerückt werden können. Wie<br />

schnell dies geschieht und wie groß die politische Bereitschaft<br />

der Ermittlungsbehörden vor allem in Deutschland dazu ist,<br />

sollte eigentlich jeder einigermaßen politisch Interessierte gerade<br />

in Deutschland wissen.<br />

Von Solidarität mit den beiden Personen keine Spur, noch weniger<br />

von der notwendigen Zurückhaltung in Bezug auf ihre<br />

delikate Situation. Das interessierte offenbar niemanden.<br />

Hochstilisiert aus durchsichtigen Gründen zu politischen Gefangenen,<br />

blieb ihre Person wie ihre Persönlichkeit, blieben ihr<br />

sozialer Hintergrund und die Notwendigkeit einer besonnenen<br />

Verteidigung völlig außen vor.<br />

Es wurde versucht, die Verteidigungsstrategie mit zu bestimmen,<br />

es wurde gefaselt von „politischer Verteidigung“, ohne<br />

diese zu definieren. Es schien keinerlei Rolle zu spielen, wie<br />

sich die juristische Situation darstellte und welches Risiko einer<br />

sehr hohen Verurteilung für die beiden Personen bestand. Ich<br />

persönlich wurde mehrfach angegangen, die Arbeit der Verteidigung,<br />

von keinerlei Sachkenntnis getrübt, kritisiert. Es wurde<br />

versucht, auf beide Verteidiger Druck auszuüben. Beide Personen<br />

haben mir bei einem kürzlichen Zusammentreffen gar berichtet,<br />

es sei eine „Petition“ gegen mich verfasst und ihnen zugesandt<br />

worden mit der Bitte, diese „Petition“ zu unterschreiben<br />

- was beide nicht taten.<br />

Ich halte das alles für äußerst fragwürdig und jenseits dessen,<br />

was man eine solidarische Unterstützung nennen könnte. Ich<br />

bin froh, dass die beiden Personen relativ glimpflich davon gekommen<br />

sind, dass die französischen Ermittlungspersonen<br />

kein Kapital geschlagen haben zu ihren Lasten, aufgrund der<br />

durchaus suspekten Aktionen aus der Unterstützerszene, und<br />

dass die beiden voraussichtlich bereits in wenigen Monaten frei<br />

sein werden.<br />

Darauf, und nur darauf kommt es an. Das und nur das kann das<br />

Ziel einer professionellen Verteidigung sein. Die politische Diskussion<br />

kann und soll, wenn überhaupt, dann nach dem Ende<br />

aller Verfahren geführt werden. Ich bin gerne bereit, mich einer<br />

solchen Diskussion zu stellen, vorausgesetzt, ein Minimum an<br />

Rationalität ist sichergestellt und es besteht ein ernsthafter<br />

Wille zur politischen Auseinandersetzung. ¬<br />

---<br />

Anmerkung der Redaktion: Da Reinhard Kirpes nicht nur eine<br />

kritische Analyse der Gesamtsituation liefert, sondern auch die<br />

(<strong>Rostock</strong>er) Unterstützer-Szene deutlich attackiert, haben wir<br />

Vertreter der unterstützenden Gruppen ihrerseits um eine Stellungnahme<br />

gebeten. Diese wird, so das Ergebnis längerer Debatten<br />

innerhalb der Gruppe, jedoch erst erscheinen, wenn die Gefangenen<br />

auf freiem Fuß sind (was hoffentlich in wenigen Wochen<br />

der Fall ist) und damit keine Nachteile für sie zu befürchten<br />

sind. Wir bleiben mit den Beteiligten im Gespräch und werden<br />

weiter über die Angelegenheit berichten.


WIDERSTAND GEGEN<br />

DAUERWERBESENDUNGEN<br />

Wer sich mal wieder amerikanischer Prüderie gepaart mit westlicher Dekadenz und christlicher Arroganz in Form einer<br />

Dauerwerbesendung versichern will, sollte sich drei Stunden Zeit und viel Alkohol mit ins Kino nehmen. „Sex and the<br />

City 2“ toppt alles, was wir nie über die humanistischen Grundwerte des US-amerikanischer Lifestyles wissen wollten.<br />

Not in our name! Konsequenz: Ausschalten. Gutbuch lesen.<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.9 __ //// TITELTHEMA<br />

„Wir haben gezeigt, dass<br />

mutige Dinge möglich und<br />

praktikabel sind“<br />

Steffen Vogt im Interview über den 1. Mai 2010 in <strong>Rostock</strong><br />

STEFFEN VOGT ARBEITET FÜR ÖKOHAUS E. V. ROSTOCK UND BERÄT SEIT ZWÖLF JAHREN FLÜCHTLINGE IN ROSTOCKER<br />

GEMEINSCHAFTSUNTERKÜNFTEN. IN BILDUNGSVERANSTALTUNGEN INFORMIERT ER ZU DEM THEMENBEREICH MIGRATI-<br />

ON, FLUCHT UND ASYL. RASSISMUS UND DIE FREMDENFEINDLICHE PROPAGANDA DER NPD SIND FÜR IHN ERSCHEINUN-<br />

GEN, MIT DENEN ER SICH IN DIESEM ARBEITSBEREICH ZWANGSLÄUFIG AUSEINANDERSETZEN MUSS.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie würdest Du die Ereignisse<br />

des 1.Mai 2010 zusammenfassen?<br />

Steffen Vogt: Es gab verschiedene Ereignisse und Aktionen an<br />

verschiedenen Orten: Eine angemeldete Nazidemo, eine angemeldete<br />

Kundgebung mit Infoständen und ein bisschen Begleitprogramm<br />

in Lütten Klein in der Warnowallee, ein Fest im<br />

Fischerdorf und die DGB-Demo, die vom Werftdreieck zum<br />

Gewerkschaftshaus führte. Das waren die angemeldeten Aktivitäten.<br />

Und darüber hinaus gab es eine Sitzblockade, die, was<br />

in der Natur der Sache liegt, sehr wohl angekündigt, aber nicht<br />

angemeldet war.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie verlief die Nazidemo? Ist es,<br />

wie von der Polizei geplant, gelungen, sie vollständig<br />

von den Protesten zu separieren?<br />

Steffen Vogt: Nicht ganz. Die Nazidemo hat in einem bewohnten<br />

Stadtteil stattgefunden, d.h. sie war zwar von allen anderen<br />

Aktionen des Tages isoliert, fand aber nicht im luftleeren<br />

Raum statt. Die Massenblockade hat verhindert, dass die Nazis<br />

durch Lütten Klein laufen konnten – und das war ja das große<br />

angekündigte Ziel. Schon im Vorfeld war klar, dass wir in der<br />

<strong>Rostock</strong>-spezifischen Situation und der kurzen Vorbereitungszeit<br />

keine 1500 oder 2000 Blockierer aktivieren können. Und<br />

dass es zahlenmäßig nicht möglich sein würde, die umliegenden<br />

Stadtteile völlig vor den Nazis zu bewahren. Tatsächlich<br />

stellt sich hier ja weniger die Qualitäts- als die Quantitätsfrage -<br />

mit doppelt so vielen Menschen hätten wir auch wesentlich<br />

mehr erreichen können.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie viele Menschen haben sich an<br />

der Blockade beteiligt? Woran lag es, dass es nicht<br />

doppelt so viele waren?<br />

Steffen Vogt: Die Zahl der Blockadeteilnehmer lag zwischen<br />

500 und 700. Hinzu kamen die Leute, die an diesem Tag dauerhaft<br />

am Kundgebungsort waren. Und die vielen, vielen Lütten-Kleiner,<br />

die, teilweise über lange Zeit und sehr aufmerksam,<br />

beobachtet haben, was an diesem Tag passierte. Sie haben<br />

ihre Solidarität bekundet, zum Beispiel indem sie etwas zu<br />

Trinken brachten, mit Transparenten auf dem Balkon standen.<br />

Es war so, wie wir es uns gewünscht hatten - keine abgekoppelte<br />

Aktion von Außenstehenden, sondern eine gemeinsame Ak-


0.10 __ //// TITELTHEMA<br />

tion mit den Bewohnern des Stadtteils. Um mit den Leuten ins<br />

Gespräch zu kommen, gab es im Vorfeld Infostände und Treffen<br />

mit Vertretern der Ortsbeiräte. Wir haben von Beginn an<br />

klargemacht, dass wir vor Ort aktiv sein wollen und das Fischerdorf<br />

für uns keine Alternative ist, weil es außerhalb des<br />

Wohngebiets liegt. Man kann einen Naziaufmarsch nicht verhindern,<br />

indem man alle Leute die an Protest interessiert sind<br />

aus dem Wohngebiet heraus- und an einen anderen Ort<br />

schleust.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Ließ sich dieser Veranstaltungsort<br />

problemlos realisieren?<br />

Steffen Vogt: Leider gab es Widerstände von Seiten der Stadt.<br />

Wir hatten zwar im Vorfeld ein sehr offenes Kooperationsgespräch<br />

mit der <strong>Rostock</strong>er Versammlungsbehörde und der Polizei.<br />

Daraufhin waren wir unsererseits kompromissbereit und<br />

haben zugestimmt, den Kundgebungsort innerhalb des Stadtgebiets<br />

noch einmal zu verlegen, um die seitens der Polizei geäußerten<br />

Bedenken zu entkräften. Es schien nichts gegen einen<br />

Versammlungsplatz außerhalb des Marschrings der Nazis zu<br />

sprechen. Doch dann wurde auf einmal, kurz vor dem 1. Mai,<br />

von Seiten der Stadt behauptet, es kämen gewaltbereite Autonome<br />

aus Hamburg nach <strong>Rostock</strong>. Völliger Quatsch. Wir hatten<br />

einen breiten Aktionskonsens, in dem sich übrigens auch<br />

viele Antifa-Gruppen zur absoluten Gewaltfreiheit bekannt<br />

haben.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Warum so eine Fehleinschätzung<br />

seitens Polizei und Verwaltung?<br />

Steffen Vogt: Grund dafür ist, glaube ich, die grundsätzliche<br />

Haltung der Stadt: Am liebsten gar kein Problem haben wollen.<br />

Dies führt zu jener Nichtpositionierung der Stadt, die in<br />

Bezug auf Naziaufmärsche schon über Jahre hinweg zu verzeichnen<br />

ist. Natürlich ist es einfach, immer ganz viele Polizisten<br />

zwischen die Parteien zu stellen und alles so weiträumig zu<br />

trennen, dass jede Sicht- oder Hörverbindung fehlt. Das hat<br />

aber dankenswerter Weise das Oberverwaltungsgericht sehr<br />

viel sachlicher beurteilt. Eine Kundgebung in Sicht- und Hörweite<br />

der Nazidemonstration wurde genehmigt – was dann gar<br />

nicht relevant war, weil die Route am Ende anders verlief.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Die Berichterstattung über den 1.<br />

Mai 2010 hat sich darauf konzentriert, die wirkungsvolle<br />

Verhinderung von Gewalt durch die<br />

staatlichen Organe zu loben. Wie beurteilst Du die<br />

Darstellung in der Lokalpresse?<br />

Steffen Vogt: In der Tat ging es in den meisten Beiträgen mehr<br />

um die Frage der Gewaltfreiheit als um das eigentliche inhaltliche<br />

Anliegen der Proteste. Schon im Vorfeld wurde ja eine völlig<br />

unscharfe und unbegründete Angst vor Gewalt geschürt.<br />

Aus welchem Grund malt man so ein Gespenst an die Wand?<br />

Die Journalisten, die vorher pausenlos von befürchteter Gewalt<br />

schreiben, müssen sich ja hinterher fragen lassen, ob sie enttäuscht<br />

sind, dass diese nun ausgeblieben ist. Hättet ihr es gern<br />

anders gehabt, war das Eure Intention? Was sonst steckt dahinter,<br />

wenn man einer Bewegung wie bei dieser Blockade wiederholt<br />

latente Gewalt unterstellt.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Dabei gab es bei der Zusammensetzung<br />

der Akteure ja von Beginn an wenig Grund<br />

für solche Unterstellungen - ?<br />

Steffen Vogt: Stimmt. Es waren u. a. die DGB Jugend, SOBI,<br />

das Peter-Weiß-Haus, Ökohaus, Mau und JAZ, die Linke, das<br />

Netzwerk für Courage und Demokratie und andere dabei. Eine<br />

große Bandbreite von Akteuren, die seit Jahren in <strong>Rostock</strong> im<br />

sozialen Bereich sehr professionell arbeiten. Also keineswegs<br />

„linke Spinner“ – es ist sehr bedauerlich, wenn Journalisten<br />

und anderen Leuten nichts anderes einfällt, als so eine Vereinfachung.<br />

Dafür fallen mir zwei mögliche Gründe ein: Entweder<br />

die Journalisten halten die Leute für so dumm, dass sie solche<br />

Plattitüden brauchen, oder sie selbst brauchen derartige<br />

Plattheiten, weil sie sonst mehr recherchieren müssten, um einen<br />

guten Artikel zu Papier zu bringen.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Hättest Du Dir von der Stadt eine<br />

klarere Positionierung gewünscht? 2010 und auch<br />

2006 oder in Bezug auf die Proteste gegen den Naziladen?<br />

Steffen Vogt: Die Demo von 2006 würde ich nicht der Stadt anlasten<br />

- hier ging um andere Spiele, da wurde G8 geprobt, unter<br />

dem Motto „Wie kriege ich die Innenstadt bürgerfrei?“. Erfolgreich,<br />

aber trotzdem eine große Peinlichkeit, dass sich die Stadt<br />

dafür hergegeben hat.<br />

Aber zur generellen Haltung: Die Stadt besteht ja aus Menschen<br />

– und so müssen wir in Bezug auf viele Akteure feststellen,<br />

dass an den entscheidenden Stellen der notwendige Mut<br />

und die notwendige Entschlossenheit fehlen. Und das kreide<br />

ich auch der Stadt als Institution an: Sie könnte durchaus klar<br />

Position beziehen und solche Aktionen wohlwollend unterstützen.<br />

Dazu brauche ich keinen Roland Methling in der Sitzblockade<br />

– es geht um eine klare Positionierung, nicht nur von<br />

Seiten des Oberbürgermeisters, sondern durch die gesamte<br />

Stadtpolitik. Die Verwaltung darf natürlich nur in ihrem Rahmen<br />

agieren, aber es gibt einen politischen Willen, der durch<br />

die Stadt artikuliert werden kann und sollte. Und da gibt es eine<br />

mir unverständliche Ängstlichkeit, hinter der ich die Haltung<br />

„wenn ich etwas mache, besteht die Gefahr dass etwas<br />

schief geht“ vermute. Aber wenn ich nichts riskiere, muss ich<br />

auch als Bürgerschaftsabgeordneter am Ende konstatieren, dass<br />

ich nicht zu den Mutigen gehört habe, die den Naziaufmarsch<br />

verhindert oder gestört haben. Glücklicherweise hat die Stadt<br />

genug mutige Bürger und eine funktionierende soziokulturelle<br />

Struktur, die so etwas auf die Beine bringt – aber es waren eben


nicht die Parteien, weder SPD, noch FDP oder Grüne, die die<br />

Blockade unterstützt haben.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Liegt es an dieser fehlenden Positionierung,<br />

dass es <strong>Rostock</strong> nicht gelingt, die Auffassung<br />

„Nazis wollen wir hier nicht haben“ glaubhaft<br />

nach außen zu vertreten?<br />

Steffen Vogt: Da würde mich tatsächlich interessieren, warum<br />

das proklamierte Gesichtzeigen nicht tatsächlich stattfindet.<br />

Ich weiß nicht, wo die Ängste liegen. Und es sind nicht nur die<br />

Parteien und Bürgerschaftsabgeordneten, die im Vorfeld dummes<br />

Zeug geredet haben, sondern auch Teile der Kirche, die<br />

ganz undankbare Öffentlichkeitsarbeit gemacht haben - auch<br />

ein Pastor oder eine Pastorin sollte wissen, wann es Zeit ist<br />

nichts zu sagen. Wenn eine Pastorin in der Ostseezeitung mit<br />

den Worten zitiert wird, man wolle sich nicht von irgendwelchen<br />

linken Gruppen vereinnahmen lassen, dann ist das einfach<br />

ganz großer Blödsinn. Für solchen Quatsch sollte sie sich<br />

bei den Akteuren entschuldigen. Ebenso wie für das Gerede<br />

von zunehmender Gewalt von Links UND Rechts. Das ist unredlich<br />

- es hat in <strong>Rostock</strong> bei Demonstrationen oder Blockaden<br />

gegen Nazis in den letzten zehn Jahren niemals an irgendeiner<br />

Stelle Gewalt gegeben. Die Leute sollten sich die Mühe<br />

machen, mit den Gruppen ins Gespräch zu kommen, statt solche<br />

Unwahrheiten zu streuen.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Ist es nicht so, dass solche Grenzziehungen<br />

eher dazu beitragen, eine klarere Außenwirkung<br />

der Stadt <strong>Rostock</strong> zu verhindern?<br />

Steffen Vogt: Die Akteure, die für diese Unklarheit gesorgt haben,<br />

müssen sich vergegenwärtigen, dass sie es mit einer Bevölkerung<br />

zu tun haben, die eine Stellungnahme erwartet. Oder<br />

der diese Stellungnahme gut tun würde. Und ich denke, dass<br />

die <strong>Rostock</strong>er Bevölkerung ein Recht darauf hat, dass ihre Abgeordneten<br />

sich positionieren - ebenso wie die Gemeindemitglieder<br />

der evangelischen Kirche von ihren Pastoren eine rechtschaffende<br />

Äußerung erwarten können. Wobei meine Kritik an<br />

der Kirche sich nur auf Einzelpersonen bezieht. Der Landessuperintendent<br />

hat sich sehr klar positioniert, die Blockade ebenso<br />

unterstützt wie Tilman Jeremias – dafür sind wir sehr dankbar,<br />

das war hilfreich.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Zu Deinem Vorwurf, auch an einige<br />

Parteien, sich mit unzureichenden Formen des Widerstandes<br />

zufriedenzugeben: Was sind, nach Deiner<br />

Auffassung, heutzutage sinnvolle Formen politischen<br />

Widerstands?<br />

Steffen Vogt: Die effektiven Möglichkeiten sich gegen Nazis zu<br />

engagieren sind ja sehr vielfältig. Und ich werde das Problem<br />

nicht durch Verhinderung eines Naziaufmarschs lösen – auch<br />

nicht durch Verhinderung von zehn Aufmärschen. Trotzdem<br />

ist das wichtig. Wenn wir antreten, um in dieser Stadt den Nazis<br />

die Stirn zu bieten, ist das billiger nicht zu haben. Ein Infostand<br />

verhindert keinen Naziaufmarsch. Und den zu verhindern<br />

war wichtig, weil es völlig inakzeptabel ist, den Nazis Lütten<br />

Klein als Zentrum des Nordwestens als Plattform für ihre<br />

verfassungsfeindliche Propaganda anzubieten. Und wenn ich<br />

nicht will, dass die Nazis durch Lütten Klein trommeln und<br />

posaunen, muss ich mich fragen, wie ich das verhindern kann.<br />

Ich halte die Blockade für die einzige wirkungsvolle Form - ein<br />

Fest an einem anderen Ort nicht. Und wenn der Ort dann<br />

noch so weit entfernt liegt wie die Marschroute des DGB, kann<br />

ich auch gegen die Verbreitung der Malaria am Nordpol demonstrieren.<br />

Wir haben zu dieser Frage eine klare Position. Wir sind ja tatsächlich<br />

in dem Dilemma, dass die ganz klar als verfassungsfeindlich<br />

eingestufte NPD die Verfassung bemühen möchte,<br />

um ihre Propaganda zu verbreiten. Dagegen gibt es, so lange<br />

die NPD nicht verboten ist, nur Zivilcourage und zivilen Ungehorsam.<br />

Wenn dann andere Mittel gegriffen haben, um das<br />

Problem des Rechtsextremismus einzudämmen, werden wir<br />

auch keine Blockade mehr brauchen.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie bewertest Du die Rolle der Polizei<br />

an diesem 1. Mai 2010?<br />

Steffen Vogt: Auf den 1. Mai bezogen sehe ich die Rolle der Polizei<br />

insgesamt nicht als problematisch. Es war dort keine provokative<br />

Polizeipräsenz, kein aggressives Auftreten, wie wir es<br />

in anderen Fällen schon hatten. Und die Mehrheit der Beamten<br />

vor Ort war gesprächsbereit, das war in Ordnung. Problematisch<br />

waren zwei Dinge am Rande: Die herbeigeredete Gefährdungslage,<br />

die ein Verbot der Kundgebung rechtfertigen<br />

sollte. Und die Nazidemo in Groß Klein, bei der es zu Übergriffen<br />

aus der Demo heraus kam, z. B. gegen Journalisten, die<br />

die Polizei nicht ausreichend geschützt hat. Hier hätten wir uns<br />

eine ähnliche Polizeipräsenz wie noch am Vorabend in Lichtenhagen<br />

gewünscht.<br />

Bei aller Kritik: Wir haben nicht nur für den 1. Mai und Lütten<br />

Klein etwas erreicht, sondern ein weiteres Beispiel für die<br />

Stadt geliefert, dass es machbar ist – dass mutige Dinge möglich<br />

und praktikabel sind. Wir erhoffen uns ein Aufwachen<br />

von Leuten in politischer Verantwortung. Und ein Aufwachen<br />

von Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt, die sich, trotz Sympathie<br />

mit dem Anliegen, vorsichtig verhalten haben. Der 1.<br />

Mai hat gezeigt: Eine Blockade ist nichts Schlimmes, sie funktioniert<br />

und hat nichts mit Gewalt zu tun. Es können sich auch<br />

viele Bürger daran beteiligen. Und je mehr Menschen sich an<br />

einer Massenblockade beteiligen, desto sicherer ist, dass sie kein<br />

Reinfall wird. Sondern eine klare politische Langzeitwirkung<br />

hat. Insofern erhoffe ich mir für die Zukunft so Einiges. ¬


WIDERSTAND GEGEN<br />

FASTFOOD<br />

Über Fastfood sind alle Fakten bekannt oder recherchierbar, die Konsumenten unübersehbar und allgegenwärtig. Das<br />

Marketing verspricht nachweislich mehr, als es halten kann. Und weder Schmuddel-Plastik-Ambiente, noch das Unterwegs-aus-der-Box-essen<br />

versprechen Genuss pur.<br />

Konsequenz: Wieder Klappstulle und Apfel! Und Slowfood: Foodcoop gründen. Kochen lernen.<br />

FOTO: TOM MAERCKER


0.13 __ //// TITELTHEMA<br />

Zum Grundrecht auf<br />

Versammlungsfreiheit<br />

ELKE STEVEN, KOMITEE FÜR GRUNDRECHTE UND DEMOKRATIE<br />

Der Streit um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist alt.<br />

Die Zweifel an der uneingeschränkten Geltung eines Grundrechts,<br />

dessen Inanspruchnahme fast zwangsläufig für Unruhe<br />

sorgt, kommen schon im Grundgesetz zum Ausdruck. Zwar<br />

haben „alle Deutschen“ „das Recht, sich ohne Anmeldung oder<br />

Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ (Art. 8, 1<br />

GG), aber Absatz 2 lässt bereits Einschränkungen für „Versammlungen<br />

unter freiem Himmel“ zu. Eine solche Beschränkung<br />

beschloss das Parlament 1953 mit dem Versammlungsgesetz,<br />

das Demonstrationen als staatliches Sicherheitsrisiko vorstellt,<br />

die es zu kontrollieren und zu beschränken gilt. Allerdings<br />

beschränkt das Versammlungsgesetz das Grundrecht<br />

nicht mehr auf die Staatsangehörigen.<br />

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG, verbunden<br />

mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5<br />

GG), garantiert den Bürgern und Bürgerinnen eine der wenigen<br />

Möglichkeiten, öffentlich Einfluss auf die politische Diskussion<br />

zu nehmen. Ansonsten blieben sie Stimmvieh für die<br />

Wahlen. Dieses Grundrecht soll vor allem die Andersdenkenden<br />

schützen, denn sie, nicht diejenigen die mit dem mainstream<br />

übereinstimmen, bedürfen diesen Schutzes. Ohne die<br />

manchmal aufmüpfig-selbstbewusste Inanspruchnahme des<br />

Grundrechts wäre es 1985 wohl kaum zu dem grundlegenden<br />

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gekommen,<br />

mit dem dieses das Grundrecht gegen all die politisch-polizeilichen<br />

Übergriffe zu schützen versuchte.<br />

Seitdem sollte jede Ordnungsbehörde wissen, dass dieses<br />

Grundrecht nicht einfach gegen andere Rechte, Bedürfnisse<br />

und Wünsche aufgerechnet werden kann. Für Auflagen oder<br />

gar Verbote gelten hohe Hürden. Gefährdungen der öffentlichen<br />

Sicherheit müssen konkret und präzise nachgewiesen werden,<br />

um Verbote auszusprechen. Allgemeine Störungen im alltäglichen<br />

Ablauf müssen hingenommen werden. Tatsächlich<br />

aber sind die Auseinandersetzung und die ordnungspolitischen<br />

Versuche, das Versammlungsrecht auszuhebeln, Alltag in der<br />

Bundesrepublik Deutschland geblieben.<br />

Mit dem Vorwurf der Gewalttätigkeit wird jeder Protest diskreditiert,<br />

der die Ordnung nur etwas stört, der die Finger in<br />

die Wunde menschenrechtswidriger, undemokratischer Politik<br />

legt. Die Gewalt der Bürger nähme zu, ist eine immer wiederkehrende<br />

Behauptung welche zur Forderung nach immer mehr<br />

Eingriffs- und Strafverfolgungsmöglichkeiten führt.<br />

Vom polizeilichen Umgang mit Demon strationen<br />

Oft können Demonstrationen sich nicht ungehindert äußern.<br />

Zugangskontrollen schrecken ab. Videoaufnahmen sind bei<br />

fehlenden Anhaltspunkten für eine erhebliche Gefährdung der<br />

öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtswidrig (Verwaltungsgericht<br />

Münster, August 2009). Werden Demonstrationen<br />

als geschlossene Kessel geführt, so wird den Demonstrierenden<br />

die Möglichkeit genommen, Öffentlichkeit zu erreichen.<br />

Die Grundrechte aushebelnden polizeilichen Maßnahmen betreffen<br />

die Teilnehmer um so eher, um so mehr sie provozieren,<br />

um so mehr sie Themen ansprechen, die grundlegende gesellschaftliche<br />

Fragen thematisieren. In den 1980er Jahren wurden


0.14 __ //// TITELTHEMA<br />

die Teilnehmer an den Sitzblockaden der Friedensbewegung<br />

wegen „nötigender Gewalt“ verurteilt. Erst das BVerfG hat<br />

1995 dafür gesorgt, dass die Verurteilungen aufgehoben werden<br />

mussten, da mit Sitzblockaden keine Gewalt ausgeübt werde.<br />

Die Auseinandersetzungen um diese Bewertungen gehen jedoch<br />

bis heute weiter.<br />

Unmittelbare polizeiliche Gewalt, Wasserwerfer, Pfefferspray<br />

und Schlagstöcke wurden auch gegen die friedlich über die<br />

Wiesen strebenden Demonstrierenden beim Protest gegen den<br />

G8-Gipfel in Heiligendamm eingesetzt. Seit es die „Rebell<br />

Clowns Army“ gibt, stört deren irritierend-provozierendes<br />

Spiel mit theatralisch-clownesken Elementen die Polizei erheblich.<br />

Schnell wurden sie zum Ziel polizeilicher Übergriffe.<br />

2008 wurden die ersten polizeilichen Auflagen erteilt, in denen<br />

Clowns die Teilnahme an Demonstrationen quasi verboten<br />

wurde. Noch die absurdesten Auflagen – Clowns dürfen Polizeibeamten<br />

nicht näher als drei oder fünf Meter kommen –<br />

machen deutlich, dass die friedliche Irritation wie auch die Versuche<br />

Konfrontationen zu reduzieren, als bedrohlich wahrgenommen<br />

werden. Die Gerichtsurteile zu solchen Auflagen sind<br />

jedoch noch widersprüchlich.<br />

Mit Auflagen das Versammlungsrecht aushebeln<br />

Immer wieder greifen die Ordnungsbehörden zu dem Mittel<br />

der Einschränkung des Versammlungsrechts durch Auflagen.<br />

Detailliert wird festgelegt, was alles bei der jeweiligen Versammlung<br />

verboten ist, wie sich die Teilnehmenden zu verhalten<br />

haben, was der Versammlungsleiter durchsetzen muss. Solche<br />

Auflagen verschaffen der Polizei vor allem Gründe, in die<br />

Versammlungen nach eigenem Gutdünken einzugreifen. Sie<br />

hebeln das Selbstbestimmungsrecht über den Verlauf der Versammlungen<br />

aus. Sie dürften nur erlassen werden, wenn Grund<br />

zur Annahme besteht, dass Gefahren von einer Versammlung<br />

ausgehen. Sie sollen Versammlungen ermöglichen, wenn anderenfalls<br />

habhafte Gründe für deren Verbot bestünden. Sie sollen<br />

also das Recht auf Versammlungsfreiheit schützen.<br />

In der Praxis werden solche Auflagen meist ohne solche rechtfertigenden<br />

Gründe erlassen. Der Bayerische Gerichtshof<br />

München urteilte 2007, dass 21 von 25 in Mittenwald 2006 erlassene<br />

Auflagen gesetzwidrig seien. Das hindert die Ordnungsbehörden<br />

allerdings nicht, sie bei nächster Gelegenheit<br />

wieder zu erlassen. Im Jahr 2008 wurde deutlich, dass sie darüber<br />

hinaus ein willkommenes Mittel sind, rechtlich gegen Versammlungsleiter<br />

vorzugehen. Immerhin beruhte der Brokdorf-<br />

Beschluss des BVerfG 1985 auch auf der Auseinandersetzung<br />

um Rechte und Pflichten des Versammlungsleiters. Das Verfassungsgericht<br />

machte deutlich, dass nicht eine Person die Verantwortung<br />

für das vielfältige Geschehen bei einer großen Demonstration<br />

übernehmen kann, zu der viele verschiedene<br />

Gruppen aufrufen. Es forderte, den Schutz des Versammlungsrechts<br />

weit auszulegen. Störungen von Einzelnen oder einzelnen<br />

Gruppen seien zu beheben, ohne die gesamte Versammlung<br />

aufzulösen.<br />

Mit der Erteilung von Auflagen versuchen die Ordnungsbehörden<br />

nun, diese orientierende Rechtsprechung auszuhebeln.<br />

Versammlungsleiter sollten dafür verantwortlich gemacht werden,<br />

dass alle Auflagen - von der Länge der Transparentstangen<br />

bis zur Geh-Geschwindigkeit der Teilnehmenden - eingehalten<br />

werden. Anderenfalls wären sie verpflichtet, die Versammlung<br />

aufzulösen. Das, was die Polizei nicht darf, nämlich die Versammlung<br />

aus nichtigen Gründen auflösen, soll nun der Versammlungsleiter<br />

tun. In mindestens vier Städten standen im<br />

Jahr 2008 Versammlungsleiter vor Gericht – in Karlsruhe,<br />

München, <strong>Rostock</strong> und Friedrichshafen.<br />

Mit Gesetzen gegen das Versammlungsrecht<br />

Seit der Föderalismusreform 2006 ist auch das Versammlungsrecht<br />

in die Obhut der Länder gegeben. Das alte Versammlungsgesetz<br />

des Bundes kann durch neue Versammlungsgesetze<br />

der Länder ersetzt werden. Das Bayerische Versammlungsgesetz<br />

stellte einen ersten Angriff auf das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit<br />

dar. Es versuchte gegen alle „extremistischen“<br />

Gruppen und Versammlungen polizeiliche Eingriffsbefugnisse<br />

auf der Grundlage von Generalklauseln und unbestimmten<br />

Rechtsbegriffen zu schaffen. Rechtssicherheit wäre<br />

für die Bürger nicht mehr gegeben. Das BVerfG hat in einer<br />

Eilentscheidung dieses Gesetz für verfassungswidrig erkannt.<br />

So begrüßenswert die Eilentscheidung ist, so ist sie doch kein<br />

Grund, sich erfreut zurückzulegen. Wie in so vielen Fällen von<br />

Recht sichernden Verfassungsgerichtsentscheidungen, werden<br />

die Grenzen des Grundrechts enger werden. Das nun vorliegende<br />

neue bayerische Versammlungsgesetz wie auch der Entwurf<br />

des niedersächsischen Gesetzes gewähren vor allem den<br />

Ordnungsbehörden Ermessensspielräume und Eingriffsbefugnisse.<br />

Der Streit um das Recht auf Versammlungsfreiheit wird letztlich<br />

auf der Straße ausgetragen. Das Recht ist immer neu bedroht.<br />

Es bedarf der Menschen, die immer neue Formen des<br />

provozierenden Eintretens für Menschenrechte und Demokratie<br />

entwickeln, die sich das Recht nicht nehmen lassen, sich<br />

„ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen<br />

zu versammeln“. ¬<br />

---<br />

Literatur:<br />

Komitee für Grundrechte und Demokratie:<br />

http://www.grundrechtekomitee.de/taxonomy/term/20<br />

Grundrechte-Report 2010 – zur Lage der Bürger- und Menschenrechte<br />

in Deutschland; Hrsg.: Till Müller-Heidelberg u.a.,<br />

Frankfurt/M 2010


WIDERSTAND GEGEN<br />

ONEWAY-KOMMUNIKATION<br />

Wirtschaft und Medien reden gern von der Kommunikationsgesellschaft, meinen aber nicht den gleichberechtigten Austausch<br />

fundierter Argumente zum Gewinnen neuer Erkenntnisse, sondern lediglich die Inanspruchnahme elektronischer<br />

Dienste zum Zwecke der Kostenerzeugung.<br />

Konsequenz: Glotze abschalten. Handy auf Standby. Und sich wieder verabreden.<br />

FOTO: TOM MAERCKER


0.16 __ //// TITELTHEMA<br />

Vom Widersprechen<br />

CLAUDIA LOHSE-JARCHOW LEBT MIT IHREM MANN IN GREIFSWALD UND FÜHLT SICH ROSTOCK VERBUNDEN, VON WO SIE<br />

2001 FORTZOG UND WO IHRE FAMILIE BIS HEUTE LEBT. FRAU LOHSE-JARCHOW WAR ÜBER SIEBEN JAHRE EHRENAMTLICH<br />

BEI DER ÖKOMENISCHEN TELEFONSEELSORGE IN ROSTOCK UND GREIFSWALD AKTIV. IM MOMENT ARBEITET SIE GEMEIN-<br />

SAM MIT IHREM MANN AN EINEM PHOTO-TEXT-PROJEKT ÜBER ALTE MÄNNER.<br />

Im Januar 1978 wurde ich in ein Vorpommersches Pfarrhaus<br />

hineingeboren. Meine Kindheit wurde bewacht von einer kupfergrünen<br />

Kirchturmspitze, die über die Pfarrhofmauer in unseren<br />

Garten schaute. In den Gottesdiensten lernte ich die Liturgie<br />

und die Gebete bevor ich sie verstand. Die christlichen<br />

Rituale wurzelten in mich ein, ganz von selbst, so wie ich in sie.<br />

Ich bin eine Gläubige, ich bin ein Kirchenmensch. Als ich sieben<br />

Jahre alt war, zogen wir nach <strong>Rostock</strong> um, wieder in ein<br />

Pfarrhaus, diesmal in ein mecklenburgisches, in dem 1989<br />

Menschen ein- und ausgingen, die eine Revolution organisierten.<br />

Widerspruch hat also in meiner Familie Tradition. In den<br />

späten DDR-Jahren habe mich in der Schule im Widersprechen<br />

geübt. „Soldaten sind vorbeimarschiert“ habe ich nicht<br />

mitgesungen. Und ich wusste, dass im Falle einer Auseinandersetzung<br />

meine Eltern immer hinter mir stehen, um meine Position<br />

zu stärken.<br />

Mein Vater bezeichnet mich als eine der kritischsten Predigthörerinnen,<br />

die er kennt. Es war meiner Schwester und mir liebes<br />

Ritual, seine Predigt und den gesamten Gottesdienst beim<br />

Essen auseinanderzunehmen und sie unserer harschen Kritik zu<br />

unterziehen. Ich denke, mein Vater hat es mit einer Mischung<br />

aus liebevoller Nachsicht, Unmut und Kapitulation vor der eigenen<br />

Pädagogik erlitten.<br />

Durch eine Körperbehinderung lebe ich im Rollstuhl. Zu widersprechen<br />

gehört auch deshalb zu meinem Alltag. Das Leben<br />

birgt eine Aneinanderreihung von Entscheidungen - und besonders<br />

als Hilfsbedürftige trifft man viele davon nicht selbst.<br />

So hilft es zu widerspechen, sich selbst zu spüren und für andere<br />

spürbar zu werden. Natürlich geht es aber auch hier, wie beinahe<br />

immer, um das Gleichgewicht der Kräfte. Mit dem Erwachsenwerden<br />

habe ich die Bedeutung von Gnade schätzen<br />

gelernt. Inzwischen sehe ich meinen Vater und seine Predigten<br />

mit mehr Milde. Ich kann Nachsicht üben und schweige<br />

manchmal diplomatisch, wenn es jemand gut mit mir meint,<br />

auch wenn ich mich darin nicht wiederfinde. Manchmal traue<br />

ich mich auch schlicht und einfach nicht, meine Sicht der Dinge<br />

laut zu äußern. Und manchmal eben doch. Umso erfreulicher,<br />

wenn es in Herzensangelegenheiten gelingt.<br />

Vor neun Jahren zog ich zu meinem Mann nach Greifswald.<br />

Ich lebe nun wieder auf dem Boden der Pommerschen Landeskirche.<br />

Wie es üblich ist, wurde ich als Kirchenmitglied nach<br />

meinem Umzug in die zuständige Kirchgemeinde vor Ort umgemeldet.<br />

In meinem Falle von einer Landeskirche in die andere.<br />

Übergänge sind mitunter schwierig. Für kritische Predigthörerinnen<br />

erst recht. Ich gewöhnte mich wieder an die Liturgie<br />

der Unierten Kirche, die in Pommern gesungen wird und<br />

fand Pastoren, die mir liegen. Ich begann, wie in <strong>Rostock</strong>, in<br />

der ökumenischen TelefonSeelsorge mitzuarbeiten und fand<br />

dort ein geistliches Zuhause.<br />

Im Februar 2006 wurde die Pfarrstelle zur Leitung der Greifswalder<br />

TelefonSeelsorge ebenso wie die des Hospizpastors ersatzlos<br />

gestrichen. 100 Ehrenamtliche TelefonSeelsorger blieben<br />

zunächst ohne Leitung, inzwischen gibt es wieder eine Leiterin,<br />

keine Pastorin, mit einer halben Stelle. Im selben Atemzug<br />

installierte die Pommersche Landeskirche eine volle Pfarrstelle<br />

im „Institut für Evangelisation und Gemeindeentwicklung“,<br />

wo man sich mit der niedrigschwelligen Hinwendung<br />

zur ungetauften Bevölkerung befasst, um diese als Kirchenmitglieder<br />

zu gewinnen. Diese Entwicklung ärgerte mich zutiefst.<br />

Nach meiner Erfahrung wird durch die TelefonSeelsorge und<br />

andere Einrichtungen wertvolle kirchliche Arbeit geleistet. Sicher<br />

geschieht dieser Dienst an den Menschen im Stillen und<br />

hat auch nicht sogleich scharenweise Kircheneintritte zur Folge.<br />

Einer der Grundsätze am Seelsorgetelefon ist, dass Anrufer<br />

nicht missioniert werden. Und doch begegnen die Ehrenamtlichen<br />

den Anrufenden vor dem Hintergrund kirchlicher Tradi-


tion. Sie sind Stimmen, Gesichter, Hände und Füße der Kirche.<br />

Sie brauchen hauptamtliche Pflege und Begleitung.<br />

Der wenig würdigende Umgang mit Ehrenamtlichen und<br />

zwangsläufig also den Bedürftigen selbst schmerzt mich noch<br />

immer.<br />

Zu diesem Schmerz und Ärger gesellte sich Entrüstung, als ich<br />

erfuhr, dass die Pommersche Kirche keine Männer und Frauen<br />

zum Pfarramt zulässt, die sich zu Ihrer Homosexualität bekennen.<br />

In der Mecklenburgischen Landeskirche ist die sexuelle<br />

Orientierung von Pastoren kein Einstellungskriterium. Als<br />

Rollstuhlfahrerin gehöre ich selbst zu einer Minderheit. Und<br />

so wuchs in mir die Erkenntnis, dass ich keiner Kirche angehören<br />

kann, die Minderheiten diskriminiert.<br />

Ich habe die Kirche eigentlich nie als einen Verein betrachtet,<br />

aus dem ich einfach austrete, wenn mir die Satzung nicht passt.<br />

Viel mehr ist die Evangelische Kirche für mich der kleinste gemeinsame<br />

Nenner einer Vielzahl christlicher Strömungen. Im<br />

Sommer 2006 ließ ich mich nach Mecklenburg umgemeinden.<br />

Ich wollte nicht die Kirche verlassen, sondern die Landeskirche.<br />

So schrieb ich dem Pommerschen Bischof und erklärte<br />

ihm meine Gründe. Ich erhielt eine freundlich bedauernde<br />

Antwort, zwischen deren Zeilen ich auch Erleichterung las, einen<br />

Widerspruchsgeist weniger am Landeskirchlichen Hals zu<br />

haben.<br />

Von unserem Greifswalder Garten aus schauen wir durch den<br />

Zaun in den Garten des Konsistoriums. Über den Zaun hinweg<br />

sehen wir das Verwaltungsgebäude der Pommerschen Kirchenleitung,<br />

hinter dessen Fenstern Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit<br />

schaltet und waltet, berät, sich beraten lässt und seine<br />

Entscheidungen trifft. Die Käfer aus unserem Garten landen<br />

im selben Vogelmagen wie die von nebenan, die Würmer scheren<br />

sich nicht um Grundstücksgrenzen und bevölkern das Erdreich<br />

von hier nach dort und von kreuz nach quer. Von dem<br />

Gift, das der Konsistoriumsgärtner jedes Jahr an die Rasenkante<br />

spritzt, sterben die Pflanzen auf meiner Seit des Zauns ebenso.<br />

Der Bischof und ich werden vom Regen aus derselben Wolke<br />

nass, wir glauben wahrscheinlich an den selben Gott, aber<br />

wir gehören nicht der selben Landeskirche an. Das ist ein gutes<br />

Gefühl. Und ein wehmütiges dazu. Ich habe widersprochen,<br />

ich habe mich positioniert und entschieden, nicht dazugehören<br />

zu wollen. Ein wenig bedaure ich manchmal, dass ich zwar<br />

widersprochen habe, aber gegangen bin. Seit einer Weile gehen<br />

mein Mann und ich gern in einer kleinen Greifswalder Gemeinde<br />

zum Gottesdienst. Durch meine Umgemeindung kann<br />

ich dort aber nicht an den Wahlen zum Gemeinekirchenrat<br />

teilnehmen und könnte auch nicht kandidieren.<br />

Zu widersprechen hat immer damit zu tun, wach zu sein, Dinge<br />

zu hinterfragen und sie anders zu machen, als erwartet wird.<br />

Es bedeutet, der Erwartung etwas entgegen zu setzen. Zu widersprechen<br />

hat mit Entscheidungen zu tun. Eine Entscheidung<br />

für etwas ist immer auch eine Entscheidung gegen etwas.<br />

Und so macht zu widersprechen frei - aber auch einsam. Widerspruchsgeister<br />

tun gut daran, eine Portion Trotz zu besitzen,<br />

aber auch Gelassenheit. Sonst wird aus dem Widersprechen<br />

schnell ein Wadenbeißen.<br />

Meine Gelassenheit lässt mich voll Vorfreude auf die Vereinigung<br />

der Mecklenburgischen, Pommerschen und Nordelbischen<br />

Landeskirche in ein paar Jahren schauen. Dann werden<br />

sich in Punkto Homosexualität und Pfarramt hoffentlich die<br />

beiden westlicheren Landeskirchen mit ihrem moderaten Umgang<br />

durchsetzen. Das gebe der Geist, der weht, wo er will -<br />

mitunter der Erwartung entgegen. ¬


WIDERSTAND GEGEN<br />

VERRECHTLICHUNG<br />

Innen- und Steintor-Vorstadt gelten als offenkundiger Nistplatz unendlich vieler Anwaltskanzleien, deren Arbeitsgrundlage<br />

eine möglichst unklare Rechtslage, juristische Schlupflöcher und frustrierte Menschen sind. Und: Zu jedem<br />

Problem ein unverständliches Gesetz mit Verordnungen und Ausnahmen.<br />

Konsequenz: Mehr Lebensfreude! Miteinander reden, argumentieren, sich einigen, entschuldigen, verzeihen.<br />

FOTO: TOM MAERCKER


0.19 __ //// TITELTHEMA<br />

Unterschriften für<br />

betagte Bäume<br />

JOHANNES SAALFELD IST MITGLIED <strong>DES</strong> KREISVORSTAN<strong>DES</strong> VON BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.<br />

In der Warnemünder Mühlenstraße stehen seit über 120 Jahren<br />

67 Kopflinden. Früher, als Warnemünde noch an der heutigen<br />

Richard-Wagner-Straße endete, führte die Allee von der Kirchenpforte<br />

nach Westen aus dem kleinen Fischerdorf Richtung<br />

Stoltera hinaus. Heute stehen die Linden mitten im Ortskern<br />

und unter ihrem Blätterdach unterschreiben nebeneinander<br />

90jährige Warnemünderinnen und 16jährige <strong>Rostock</strong>er Schüler<br />

das Bürgerbegehren für den Erhalt dieser alten, unbeweglichen<br />

Bäume. Seit 17. Mai sammeln die Bündnisgrünen und<br />

viele Bürger und Bürgerinnen in ihrer Freizeit Unterschriften,<br />

weil die Allee im Zuge anstehender Straßenbaumaßnahmen gefällt<br />

werden soll. Innerhalb der ersten zweieinhalb Wochen kamen<br />

so 4.000 vollständige Unterschriftensätze zusammen.<br />

Angeschoben haben das Bürgerbegehren die Bündnisgrünen<br />

Dr. Ursula Karlowski, Johann-Georg Jaeger und Dr. Harald<br />

Terpe. Denn nach vielen Gesprächen mit den Versorgungsträgern<br />

und Sachverständigen wurde deutlich, dass der Erhalt der<br />

Bäume technisch möglich ist und sich für die Stadt finanziell<br />

neutral gestalten würde. Jüngste Baumgutachten der Stadt gaben<br />

der Vitalität der Bäume sogar gute Noten. Und trotzdem<br />

sollen sie fallen. Grund dafür sind Bedenken aus der Stadtverwaltung,<br />

die Bäume würden den Baustress nicht überstehen.<br />

Hinzukommen ästhetische Aspekte, wonach neue Bäume ein<br />

geschlosseneres und einheitlicheres Bild abgeben würden. Diesen<br />

Bedenken und Ansichten folgten erst der Ortsbeirat und<br />

dann die Bürgerschaft. Warum wurde dennoch ein Bürgerbegehren<br />

gegen diese Entscheidungen demokratisch legitimierter<br />

Gremien auf den Weg gebracht? Die Kommunalverfassung<br />

sieht ein Bürgerbegehren als demokratisches Korrektivinstrument<br />

vor. Bürgerbegehren stellen die Möglichkeit dar, zu kon-<br />

kreten Sachfragen Meinungsbilder zwischen den Wahlen einzuholen<br />

und ihnen eine gewisse Verbindlichkeit zu verleihen.<br />

Da zum Zeitpunkt der Entscheidungen in Ortsbeirat und Bürgerschaft<br />

nicht alle Informationen auf dem Tisch lagen und<br />

viele Bürgerinnen und Bürger mit der Situation unzufrieden<br />

waren, hielten die Bündnisgrünen ein Bürgerbegehren für angemessen<br />

– ist es doch nicht nur Korrektivinstrument, sondern<br />

es vermittelt auch zwischen einem Teil der Bevölkerung und ihren<br />

Repräsentanten.<br />

Es geht bei dem Bürgerbegehren auch um etwas mehr als nur<br />

67 Kopflinden. Es geht um den prinzipiellen Umgang mit den<br />

<strong>Rostock</strong>er Straßenbäumen. Straßensanierungen werden seit<br />

langer Zeit unter Erhalt des „Straßenbegleitgrüns“ verwirklicht,<br />

andernfalls wären Bäume neben der Straße immer nur<br />

maximal 40 Jahre alt. Daran sollte unsere Generation nichts<br />

ändern. Darüber hinaus geht es aber auch um die Achtung vor<br />

dem Alter. Wir können nicht einfach alles aus dem Stadtbild<br />

herausschneiden und sägen, was alt und krumm ist. Genauso<br />

wie Menschen nicht immer makellos sind, ist es die Natur<br />

schon lange nicht. Natürlich wäre es pragmatischer, bei einer<br />

grundlegenden Sanierung auch gleich neue Bäume anzupflanzen.<br />

Aber nicht alles, was sich dem administrativen Rationalismus<br />

widersetzt, ist zugleich auch irrational. Wer sich über die<br />

sachlichen, fiskalischen und technischen Argumente für den<br />

Erhalt der Allee weiter informieren will, kann sich auf der<br />

Homepage des Bürgerbegehrens unter www.kopflinden.de einen<br />

Überblick verschaffen. ¬


WIDERSTAND GEGEN<br />

GELDVERMEHRUNGSSYSTEME<br />

Die Bank verdient immer - so eine alte Weisheit. Hatten Geldverleiher noch nie einen guten Ruf, haben es einige Geldinstitute<br />

geschafft, aus unseren Ersparnissen eine Waffe zu machen, mit der sie weltweit in unserem Namen Schaden anrichten.<br />

Nicht mit unserem Geld! Konsequenz: Kredite, Geldanlagen, Altersvorsorge, Konto wechseln.<br />

FOTO: TOM MAERCKER


0.21 __ //// TITELTHEMA<br />

Wer ein Unrecht lange Zeit<br />

geschehen lässt, bahnt<br />

dem nächsten den Weg<br />

CHRISTINE LUCYGA<br />

Das World Press-Photo 2003 von Jean-Marc Bouju zeigt einen<br />

Mann und ein kleines Kind, allein in einer Wüste hinter einem<br />

Stacheldrahtverhau. Sie sitzen auf dem kahlen, nackten Sandboden,<br />

ohne Wasser, ohne Essen, ohne Gepäck. Man sieht die<br />

brütende Hitze und man spürt die Qual der Beiden. Der Vater<br />

hält schützend sein leidendes Kind im Arm. Er legt ihm die<br />

Hand auf die Stirn; eine Geste der Liebe und Fürsorge, die<br />

auch wir kennen. Der Mann ist jung, wie seine Hände und Füße<br />

erkennen lassen, aber wir sehen sein Gesicht nicht, denn der<br />

ganze Kopf ist vollständig mit einer hohen, schwarzen, im Nakken<br />

zusammengebundenen Kapuze aus Plastik verhüllt. Das<br />

Atmen muss darunter zum Ersticken qualvoll sein.<br />

Auf diese Weise wurden - oft willkürlich festgenommene -<br />

„Terrorverdächtige“ auf dem Weg in die US-Militärgefängnisse<br />

und nach Guantanamo verhüllt. Aber kann ein Terrorist sein,<br />

wer sein Kind so liebevoll beschützt? Es ist ein Bild aus einem<br />

Krieg, der noch heute als „Kampf gegen den Terror“ deklariert<br />

wird (obwohl er mehr Terror als zuvor hervorgebracht hat) und<br />

zu dessen Rechtfertigung Begriffe wie Freiheit, Demokratie,<br />

und Menschenwürde herhalten mussten.<br />

Dem widerspricht das Foto. Es zeigt wie Freiheit genommen<br />

und Menschenwürde missachtet wird. Ohne Achtung von<br />

Menschenwürde kann es keine Demokratie geben. Wenn wir<br />

aber schweigend zulassen, dass in anderen Regionen der Welt<br />

durch das Militär von Industriestaaten, die sich demokratisch<br />

nennen, Unrecht geschieht und toleriert wird, dann hört unser<br />

Demokratieverständnis vor der eigenen Haustür auf. Wie sehr<br />

hatten wir die Demokratie vor 20 Jahren ersehnt und gewaltlos<br />

erkämpft. Wie stolz klingt noch heute der Satz, der den Widerstand<br />

gegen die Arroganz der Macht ohne Wenn und Aber ausdrückte<br />

und der diese Macht zu Fall brachte: „Wir sind das<br />

Volk!“<br />

Haben wir diesen Satz verlernt? Dabei gibt es doch in unserer<br />

brüchig gewordenen Demokratie Vieles, dem zu widersprechen<br />

und dem sich zu widersetzen ist. Nun möchte ich noch<br />

einmal auf das Foto zurückkommen: Es erinnert mich an den<br />

moralischen Zwiespalt, dem ich mit vielen Abgeordneten von<br />

SPD und Grünen im Dezember 2001 durch das faktisch erzwungene<br />

Ja zu einem ersten Einsatz der Bundeswehr in Afgha-<br />

nistan ausgesetzt war. Obwohl zu diesem Zeitpunkt das Taliban-Regime<br />

militärisch bereits besiegt war, und eine Teilnahme<br />

der Bundeswehr an Kampfhandlungen ausgeschlossen wurde,<br />

hätten wir, in guter parlamentarischer Tradition, unsere Zustimmung<br />

verweigert. Mit der – erstmals so praktizierten -<br />

Kopplung der Abstimmung an die Vertrauensfrage des Kanzlers<br />

hieß die Entscheidung nun: Welches ist das kleinerer Übel?<br />

Ein „Ja“, zugleich für Rot-Grün oder ein „Nein“, das mit dem<br />

Sturz der rot-grünen Regierung<br />

den Weg für die Konservativen freimachen würde, die damals<br />

militärisch zu mehr bereit waren, auch im Irak. Aber die Zweifel<br />

und der moralische Zwiespalt werden bleiben. Daran wird<br />

auch das gern beschworene Bild glücklicher befreiter afghanischer<br />

Mädchen, in neuen Mädchenschulen, nichts ändern.<br />

(Das erste Kriegsopfer ist bekanntlich die Wahrheit.) Denn<br />

schon längst ist der Terror, und mit ihm der Krieg, zurückgekehrt<br />

und fordert seine Opfer. Der Kampf gegen den Terror<br />

kann weder mit militärischen Mitteln noch mit Einschüchterungen<br />

a la Guantanamo gewonnen werden. Im Gegenteil: Es<br />

gibt durch Guantanamo mehr Hass, der sich durch Terror artikulieren<br />

könnte.<br />

Zu Recht haben wir Europäer die Auflösung der Internierungslager<br />

gefordert. Deshalb ist es inkonsequent und halbherzig,<br />

geschundenen, ehemals Internierten die Aufnahme hierzulande<br />

zu verweigern, zumal doch die Messlatte für eine Aufnahme<br />

schon sehr hoch hängt.<br />

Oft frage ich mich, was wohl aus den beiden Menschen auf<br />

meinem Presse-Foto geworden seien mag. Können sie die Erinnerung<br />

an die erlittenen Demütigungen je verdrängen? Werden<br />

sie uns ein Leben lang dafür hassen, dass wir dieses Unrecht zugelassen<br />

haben? „Wer ein Unrecht lange Zeit geschehen lässt,<br />

bahnt dem nächsten den Weg!“ sagte Willy Brandt. Was im<br />

Umkehrschluss bedeutet: „Sage Nein, misch dich ein!“ denn:<br />

„Wir sind das Volk“. ¬<br />

---<br />

Das Fotos finden Sie u.a. unter:<br />

www.geo.de/GEO/fotografie/fotogalerien/2121.html


0.22 __ //// TITELTHEMA<br />

Gefühl und<br />

Gewaltenteilung<br />

OLAF REIS<br />

Gefühl und Gewaltenteilung<br />

Wir sind erschüttert. Eine nicht enden könnende Reihe sexuell<br />

missbrauchter, verunsicherter, in die Krankheit gestürzter Kinder<br />

zieht an uns vorüber. Kinder, die ihre Stimme erst fanden,<br />

als sie keine mehr waren. Geschichten, die Rache verlangen,<br />

wenigstens Gerechtigkeit, und Sühne. Schicksale, die auch in<br />

nicht betroffenen Vätern und Müttern Mordlust, Rachedurst,<br />

und den Ruf nach Kreuzigung laut werden lassen. Pontius Pilatus<br />

reibt sich verwundert die Augen, dann hebt er vielleicht seine<br />

Stimme.<br />

Schuldig sind immer Erwachsene, mögen sie zölibatäre Pfarrer,<br />

entgrenzte Reformpädagogen, gewinnsüchtige Kinderpornoproduzenten<br />

oder kaltäugige Kinderhändler sein. Schuldig sind<br />

sie, denn sie konnten sich entscheiden, sie hatten eine WAHL.<br />

Sie mögen vorher mit ihrem Gott gerungen haben oder ihr<br />

Heil in der Kommune gesucht haben; Sie mögen ihres Berufes<br />

wegen nicht mehr mit ihrer Mutter reden oder es erst mit<br />

Rauschgifthandel versucht haben - Sie alle aber haben sich entschieden<br />

es zu tun und also Täter zu werden. Die aber, die ihr<br />

gestern noch kreuzigen wolltet, die seelisch Kranken, die geistig<br />

Behinderten, oder die zu jungen TäterInnen – sie sind diejenigen,<br />

die sich nur eingeschränkt entscheiden können oder<br />

gar nicht – sie mögen sehr gefährlich sein, aber schuldig sind<br />

sie nicht.<br />

Doch wer möchte hören, dass der gestrige Zorn ungerecht war<br />

wenn der heutige der gerechte ist? Wenn endlich Zorn, Gewalt<br />

und Recht in eins fallen? Wer ließe sich die Gelegenheit des<br />

Handelns entgehen, das lange gesuchte Engagement für eine<br />

verbesserte Gemeinschaft angesichts der himmelschreienden<br />

Verbrechen am Kostbarsten, was die Gesellschaft hervorzubringen<br />

imstande ist, an den Nachfahren? Endlich einmal ist in<br />

der unübersichtlichen Heutwelt klar, wer böse ist (der<br />

SCHÄNDER) und wer gut (das Kind, der Jugendliche) – er-<br />

kennbar daran, dass sich 99.99% der Zeitgenossen darin einig<br />

sind, dass Kinder unfähig zur Konsensualität und damit immer<br />

Opfer sind?<br />

Nein, hier soll nicht das Argument aufgemacht werden, dass<br />

diese Ansicht wie jede andere historisch, also veränderlich ist.<br />

Das Recht, welches wir uns selbst gegeben haben, gilt in im Augenblick<br />

der Tat und es ist belanglos wie die alten Griechen,<br />

Nabokow oder Stephan George über die sexuelle Beziehung<br />

mit und zu Kindern gedacht haben mögen.<br />

Gott und Verbrechen<br />

Das Argument ist ein anderes, größeres: Dass es selbst angesichts<br />

des vorletzten Tabubruches in der Postmoderne - dem<br />

Angriff auf das Kind - ein Verbrechen ist, in Zorn zu geraten<br />

und dort zu bleiben. Unser gerechter Zorn soll das Verbrechen<br />

sein? Der Satz wird etwas annehmbarer, wenn er theologisch<br />

umformuliert und der Zorn zur „Sünde“ wird. Sünde und Verbrechen<br />

sind zunächst zweierlei, denn sie haben unterschiedliche<br />

Adressaten. [Die Botschaft Jesu ist deshalb erträglicher als<br />

die juristische Botschaft weil darin nicht Menschen über Menschen<br />

richten, sondern dieses RECHT bei Gott liegt. An ihn<br />

ist auch die Sünde adressiert. Wenn sich aber entweder bereits<br />

William von Ockham beim Rasieren geschnitten hätte oder<br />

Nietzsche Recht hatte, als er Gottes Hirntod feststellte, die<br />

Herz-Lungen-Maschine aber nicht abschaltete? Dann bliebe<br />

das Recht bei den Menschen und der Verstoß dagegen das Verbrechen.<br />

Das „Banale“ entsteht im Augenblick von Gottes Tod,<br />

denn hier wird Sünde zum Verbrechen degradiert].<br />

Nehmen wir an, Nietzsche hätte richtig mit seiner Diagnose<br />

gelegen und der allwissende unermessliche Adressat wäre nicht<br />

mehr da. Wer aber dürfte sich dann erheben, um Richter sein?


Die Ermesslichkeit des Menschen (seine Begrenztheit) und die<br />

Annahme von der Gleichheit aller lebenden Menschen ließe<br />

nur die Möglichkeit, alle Menschen am Recht und der Rechtssprechung<br />

zu beteiligen. Diese Beteiligung aller, die Demokratie,<br />

jedoch braucht bei Strafe ihres Untergangs Regeln, damit<br />

der „Diskurs“ nicht zur Debatte, zum Streit, zur Schlammschlacht,<br />

und schließlich zur Kreuzigung eskaliert. Diese Diskursregeln,<br />

denen Habermas sein Leben gewidmet hat, betreffen<br />

nicht die Inhalte oder Nicht-Inhalte des Diskurses, sondern<br />

NUR seine Form. Eher im Gegenteil darf in einem funktionierenden<br />

sozialen Diskurs GAR NICHTS ausgelassen werden.<br />

Die ethische Begrenzung des Diskurses betrifft also nur die Regeln<br />

der Diskursführung bei gleichzeitiger Pflicht, sie auf alle<br />

Themen gleichermaßen anzuwenden.<br />

Gerade hochvalente Felder/Themen wie Sexualität entwickeln<br />

in dem Augenblick, da sie aus der Kommunikation bzw. der<br />

Demokratie ausgelassen werden, hohe Eigendynamiken und<br />

hüllen sich in Dunkelheit. Es ist unglaublich, dass trotz van de<br />

Velde, Masters & Johnson, 1968, FKK, Hite-Report, Frauenbewegung<br />

und XXL-Bekenntnisbüchern und Ratgebern diese<br />

Dunkelheit noch immer dieselbe zu sein scheint wie die der<br />

Schatten im Freudschen Arbeitszimmer. Noch immer / und gerade<br />

wegen des vielen Redens darüber / sind die Körperteile<br />

zwischen linker und rechter Leiste das Fremde, das Exotische,<br />

das Feuchtgebiet. So bedarf es der ständig neuen Erforschung<br />

und eben in dieser Kanalisierung der humanen Neugier liegt<br />

der Herrschaftsmechanismus. In Abwandlung des Uljanowschen<br />

Religionssatzes gilt: Die Sexualität ist das Opium<br />

fürs Volk. Diese narkotisierende Wirkung entfaltet sie eben<br />

nur, wenn sie als „Geheimnis“ konstruiert wird.<br />

Dem gebürtigen Ostelben stößt die gegenwärtige Retabuisierung<br />

der Sexualität mit allen Risiken und Nebenwirkungen für<br />

die uns umgebende Symbolwelt durchaus noch auf, spätestens<br />

dann wenn FKK- in Hundestrände umgewandelt werden. Erst<br />

beim Zappen durch die Unterleibswelt der Frauentäusche, heißen<br />

Stühle und Anmach-Soaps dämmert es uns, dass die Vermassung<br />

des Tabus ständig neue Unterschichten schafft, einen<br />

Diskurs, in dem sich das sich selbst reproduzierende Prekariat<br />

lieber das Frontalhirn als die Eier abschneidet. Die mediale Gewalt<br />

liegt also in der Schaffung einer limbischen Subkultur, die<br />

die (pseudo)kopulierende Bevölkerung auf ewig von der sozialen<br />

Teilhabe abkoppelt.<br />

Damit zurück zum Argument, dass der anhaltende Zorn über<br />

den sexuellen Missbrauch das eigentliche Verbrechen sei. Warum?<br />

Weil die Wut blind oder zumindest vertunnelt ist. So<br />

schwer erträglich es ist: Der Volkszorn ist essenzieller Teil des<br />

Tabus, welches die Sexualität umgibt. Das zornige Individuum<br />

wird nicht in der Lage sein, das Tabu zu brechen, sondern es<br />

macht das Geheimnis nur mächtiger. Für die Gruppe aber ist<br />

die Wut der Gerechten das Ende der Demokratie. Wie gesagt,<br />

der Diskurs braucht Regeln, denn nur so kann er eine erfolgreiche<br />

„soziale Technologie“ (Stanislaw Lem, Summa Technologiae)<br />

sein die geeignet ist, die Menschengesellschaft zu erhalten<br />

[sie an die sich ändernden planetaren Bedingungen anzupassen].<br />

Regelkreise<br />

Zwei Diskursregeln scheinen unverzichtbar für das Funktionieren<br />

der sozialen Technologie: die nicht enden könnende Suche<br />

nach Wahrheit und das Streben nach Gelassenheit wenn wir<br />

ihrer ansichtig werden sollten. Beide Regeln bedingen einander,<br />

denn die naturgemäß unendliche Suche nach Wahrheit<br />

wird von unkontrollierten Emotionen unterbrochen, sei es das<br />

Adrenalin der für sicher gehaltenen Erkenntnis oder der Dopaminmangel<br />

des erschöpften Zweifels, aber auch die Nicht-Inhibition<br />

des für gerecht gehaltenen Zorns usw.<br />

Sobald es dem Erkennenden jedoch gelingt, die Gelassenheit<br />

wiederzufinden, stellt sich schnell heraus, dass die Suche nach<br />

der Wahrheit wieder aufgenommen und fortgesetzt werden<br />

kann. Sozietäten unterliegen darüber hinaus Gruppenprozessen<br />

[beispielsweise wird Schuld oft in Form von Outgroups<br />

symbolisiert, der Sündenbock der Missbrauchs-Diskussion<br />

heißt gerade Papst, und seitdem gilt das „wir sind …“ nicht<br />

mehr]. Gruppen können es also schwerer haben mit der Wahrheit<br />

als Individuen, dennoch: Bei Strafe ihres Untergangs darf<br />

eine Gesellschaft ihre Erkenntnisse nicht für ewig gesichert halten.<br />

Das ist kein flachgespültes Playdoyer für die Herrschaft<br />

der Kognition, der Vernunft, der Ratio usw. Ohne Emotionen<br />

wird sich die - gegenwärtige - Menschengesellschaft kaum fortentwickeln,<br />

auch wenn mancher Technokrat das für besser hielte.<br />

Die Französische Revolution wurde durch die Vernunft der<br />

Enzyklopädisten zwar vorbereitet, ausgelöst aber wurde sie von<br />

der Romantik Rosseaus und dem Zorn der Waschfrauen. Auch<br />

die postmoderne Reflexivität bleibt ohne Konsequenz wenn<br />

keine emotionale Valenz entsteht [Wegbereiter der Grünen Bewegung<br />

ist eben nicht der Club of Rome, sondern Alexandra<br />

mit „Mein Freund der Baum ist tot“]. Das Gefühl bleibt Agens<br />

der Veränderung, bleibt es jedoch ungeregelt, hemmt es genau<br />

jene Veränderung, die es einst initiiert hatte. Die gegenwärtig<br />

in Deutschland zu verfolgende Auseinandersetzung um sexuellen<br />

Missbrauch von Kindern ist Äonen von einem aufgeklärten<br />

Diskurs entfernt – und das ist der Grund für das Entsetzen,<br />

mehr noch als die unfassbaren Taten. Die Opfer, Täter; Beteiligten<br />

und Unbeteiligten verlieren sich in Zorn, Schuld und<br />

Geschrei.<br />

Natürlich fällt nebenher auf, wie sehr sich einzelne Institutionen<br />

neben oder sogar über das MenschenRecht stellen, entweder<br />

weil sie eine Reformideologie „rein“ erhalten wollen oder<br />

sich gar gottnäher (deswegen durfte Nietzsche Gott auch nicht<br />

ganz sterben lassen, denn er steht als einziger über dem Recht<br />

und die Nähe zu ihm ist die Entfernung vom irdischen Menschenrecht)<br />

wähnen als andere. Wer glaube, es handele sich bei<br />

der Schule um eine transparente oder tabufreie Institution,<br />

wird frühestens als Schüler, spätestens als Elternteil eines Besseren<br />

belehrt. Noch 2004, als ich für die Zeitschrift „Schüler“ einen<br />

Artikel über Resilienz, also Widerstandskraft, bei Schülern<br />

schrieb, musste ich das Duckmäusertum erleben, welches ausgerechnet<br />

bis in die Redaktionsstuben einer Schülerzeitschrift<br />

(die mir bis dahin als Sinnbild eines journalistischen Freiheitsdranges<br />

erschien) reichte. In meinem Manuskript hatte ich le-


0.24 __ //// TITELTHEMA<br />

bensnahe schulische Vorbilder für Resilienz erwähnt, z. B. die<br />

„Lehrerin, die sich gegen sexuelle Übergriffe ihres Direktors<br />

wehrt“. Ohne dass es mir mitgeteilt worden wäre, erschien der<br />

Beitrag um dieses Beispiel gekürzt, obwohl ich die Abstimmung<br />

mit dem Autor zur Endfassung angemahnt hatte.<br />

Tothemd und Tabu<br />

Es gibt eine Art des gelassenen Diskurses, der sich – theoretisch<br />

– direkt auf die Wahrheit richtet. Diese Kommunikationsform<br />

heißt Wissenschaft. Seit Galilei arbeitet sie daran, sich Regeln<br />

zu geben, die Empirie und Theorie miteinander verbinden. So<br />

schön einerseits. Andererseits gilt nach wie vor der Satz, dass<br />

Wissen = Macht ist. Nach wie vor gründen sich viele Mächte<br />

auf das Nicht-Wissen der Ohnmächtigen. Damals wie heute.<br />

Die Wissenschaft wiederum weiß von sich, dass sie nur innerhalb<br />

der Machtdiskurse existiert, denn sie kann in ihrer modernen<br />

Form nicht mehr außerhalb der Gesellschaft existieren (als<br />

es noch als Wissenschaft galt, in der Höhle zu sitzen und über<br />

deren Wände nachzudenken, da ging das vielleicht noch).<br />

Von allen möglichen Geldgebern jedoch, die sie bisher hatte,<br />

ist die Demokratie immer noch das kleinste Übel. In ihr hat die<br />

Wissenschaft – theoretisch - selbst eine Stimme. In praxi<br />

spricht die Wissenschaft meistens nicht selbst (nicht einmal<br />

der Wissenschaftler spricht selbst) sondern sie findet ihren<br />

Ausdruck im Mund der PolitikerInnen. Doch auch hier schafft<br />

größtmögliche Vielfalt, Verschiedenheit und die Teilung der<br />

Gewalten die besten Voraussetzungen, dass möglichst wenig<br />

Information verloren geht.<br />

Die großen Durchbrüche in der Wissenschaftsgeschichte waren<br />

häufig an das Aufkommen neuer Klassen und eine damit<br />

verbundene Diversifikation des Diskurses gebunden. Der bisher<br />

vielfältigste und stimmenreichste Diskurs entstand mit der<br />

Demokratie. Freilich ist auch die Demokratie nicht frei von<br />

Fehlern, von Dunkelheiten, Geheimnissen und Intrigen. Dennoch<br />

kommt diese Staatsform - theoretisch – der erfolgreichen<br />

Sozialtechnologie am nächsten, da sie – theoretisch – nicht<br />

ausgrenzt, sondern eingemeindet. Auf dem Weg zur notwendigen<br />

planetaren Verwaltung kommt man an der Demokratie<br />

nicht vorbei - und das ist immer noch der beste Grund für sie.<br />

Letztlich definiert sich ihre Ethik aus dem Ziel der Erhaltung<br />

der menschlichen Gattung und ihrer Lebensgrundlagen. Auch<br />

in dieser gottlosen Ethik gehört deshalb das Kind zum Kostbarsten,<br />

was die Gesellschaft hervorbringt.<br />

Bisher ist das so und wird solange noch so sein wie die natürlichen<br />

Ressourcen für alle Menschen reichen, die da leben und<br />

geboren werden. Bei ungefähr gleichbleibend schneller Technikevolution<br />

könnte das exponentielle Wachstum der Menschenzahl<br />

uns dennoch bald an die Grenze der traditionellen Ethik<br />

führen [Manchmal lohnt es sich philosophisches Quartett zu<br />

spielen, aber da lauern schon wieder einige Tabus, die interessanterweise<br />

umso kräftiger wirken, je mehr Herr Sloterdijk gegen<br />

sie anmoderiert]. Schon allein weil es diese Möglichkeit<br />

gibt, ist die „Menschheit“ gut beraten, sich selbst und ihrem<br />

möglichen Untergang – gelassen – ins Auge zu sehen. Das betrifft<br />

auch und vor allem den Wert und den Umgang mit Emotionen<br />

und ihrer Funktion, unter anderem der Sexualität.<br />

Umso erstaunlicher ist es, dass die Wissenschaft es bis heute<br />

kaum vermocht hat, dem Sexus beizukommen. Seitdem die<br />

westliche Sexualität an einem Wiener Schreibtisch literarisiert<br />

statt verwissenschaftlicht wurde, glaubt die westliche Welt an<br />

anale, orale und überhaupt lebenswichtige sexuelle Phasen, diverse<br />

Komplexe und überhaupt die Macht der Finsternis / des<br />

Unbewussten.<br />

Paradoxerweise ist genau dieses literarische System der größte<br />

Teil jenes Tabus, welches es selbst beschreiben und aufbrechen<br />

wollte. Denn seit Freud bleibt die Sexualität auf der Couch, im<br />

Essay oder bei Woody Allen und kommt nur äußerst selten ins<br />

Labor herüber. Ausgerechnet das System des Aufklärers Freud<br />

(der das revolutionäre, vollkommen antibürgerliche System der<br />

Laienanalyse für alle und jeden! entwickelte, was freilich das<br />

Ende der Symbolindustrie gewesen wäre) mutierte so zum<br />

Herrschaftswissen, zur Kiezindustrie, zum Drehbuch und zur<br />

Bild-Beilage. Damit sind die Voraussetzungen für den Runden<br />

Tisch, den sich die Ministerinnen teilen, nicht die besten.<br />

Scio me nihil scire<br />

In verschiedenen Literaturrecherchen zum Thema kindliche<br />

Sexualität ergaben sich weite Lücken und vollkommen unerforschte<br />

Tiefseen. Eine geschlossene Phänomenologie der<br />

kindlichen Sexualität ließ sich auftreiben. Die meisten psychologischen,<br />

medizinischen, soziologischen Lehrbücher sparten<br />

das Thema aus oder erwähnten es nur im Zusammenhang mit<br />

der sich entwickelnden Geschlechtsidentität. Selbst das Sexualwissen<br />

(„woher kommen die Kinder?“ usw.) von Kindern wurde<br />

in Deutschland eher selten untersucht – das Sexualverhalten<br />

noch seltener.<br />

Die sich nun abzeichnende Debatte zum sexuellen Missbrauch<br />

leidet also von Anfang an unter einem Informationsdefizit.<br />

Wenn es keine Wissenschaft zur sexuellen Normalität gibt,<br />

kann sich jeder Diskursant auf seine Meinungen, den soeben<br />

gelesenen Ratgeber, seine ideologischen Dogmen und andere<br />

Begrenztheiten wie auf Wahrheiten berufen. Es ist unwahrscheinlich,<br />

dass akademische Gelassenheit am Runden Tisch<br />

herrschen wird, zu dem die Ministerinnen für den 23.4. geladen<br />

haben. Unsere Klinik wird dennoch daran sitzen, auch<br />

wenn es nicht viel mehr zu sagen gibt als dieses: Natürlich ist es<br />

richtig, Kinder mittels innerer Stärke („ablehnen können“) und<br />

mittels ihres Wissens („was ist erlaubt, was nicht?“) gegen<br />

Missbrauch zu wappnen. Natürlich ist es richtig, davon auszugehen,<br />

dass sich vor allem ideologische Institutionen, seien es<br />

Priestercollegien, Odenwälder, Sportvereine, Waldörfer …<br />

durch Intransparenz vom demokratischen Diskurs abzukoppeln<br />

versuchen und zur Selbstorganisation neigen. Aber richtig<br />

ist leider auch, dass wir weder gesichertes Wissen um den resilienten<br />

Effekt von „innerer Stärke“ noch vom hilfreichen Effekt<br />

fundierten Sexualwissens haben.


Bei letzterem wissen wir noch nicht einmal viel von seiner aktuellen<br />

Beschaffenheit. Es gibt kaum Wissenschaft, die sich mit<br />

der Beschreibung, der Funktionalität, der sozialen Verteilung,<br />

oder der Entwicklung von Sexualität, geschweige denn von ihrem<br />

Missbrauch, beschäftigen würde. Es gibt Studien über die<br />

lang anhaltenden Folgen bei Opfern sexuellen Missbrauchs<br />

und über die Prognose bei Sexualstraftätern. Es gibt Studien<br />

zur Häufigkeit kindlichen Missbrauchserlebens (siehe Tabelle)<br />

– dort aber wird die Wahrscheinlichkeit des Missbrauchserlebnisses<br />

mit dem Auftreten so genannter sexualisierter (als erwachsenen<br />

geltender) Verhaltensweisen operationalisiert.<br />

Als wir dieses Dunkelfeld mit einigen psychologischen Diplom-<br />

und Doktorarbeiten verkleinern wollten, erwies sich das<br />

wissenschaftliche Gewand als Mantel des Tabus: Ein Professor<br />

für Entwicklungspsychologie an einer norddeutschen Universität<br />

weigerte sich nach Auskunft einer Studentin, solche „pornographischen“<br />

Themen anzunehmen bzw. zu betreuen. Nicht<br />

nur das; er setzte KollegInnen unter Druck, das Gleiche zu tun.<br />

Wenn also bereits die Wissenschaft in Zorn gerät, darf man<br />

von den StudienteilnehmerInnen nicht mehr allzu viel verlangen.<br />

Unsere Studien an <strong>Rostock</strong>er und Greifswalder Einrichtungen<br />

liefen nur schwer an. Etwa zwei Drittel der angesprochenen<br />

Eltern von ABC-Schützlingen machten von ihrem<br />

Recht auf Teilnahmeverweigerung (trotz Datenschutzraumes,<br />

ethischer Unbedenklichkeitserklärung und schulamtlicher Zustimmung)<br />

Gebrauch, ein weiteres Viertel war bereit, selbst<br />

Auskunft zu geben, hielt es aber für gefährlich, wenn ihre Kinder<br />

zum Thema gefragt werden würden. Offenbar hatten sie alle<br />

die Vorstellung, dass ihre Kinder „Opfer“ eines Vertrauensverhältnisses<br />

(zwischen WissenschaftlerIn und Kind) werden<br />

würden.<br />

Unsere Grenze ist unsere Heimat<br />

Ich heiße nicht Kehlmann und betreibe meine Autoexegese<br />

eher lustlos. Dennoch: Als ich diesen Satz vor 15 Jahren in diesem<br />

Journal schrieb, trieb mich auch die Ahnung vom Horror<br />

der Grenzenlosigkeit, der plötzlich über Neufünfland hereingebrochen<br />

war. Und wieder berührt mich die Entgrenzung und<br />

der in ihr liegende Wahnsinn. Denn der Missbrauch von Kindern<br />

hat sich modernisiert und als Vertrauen getarnt. Es ist die<br />

unheilige Verquickung von Schutzmotiv, Gewalt und Abschirmung<br />

gegen die Umwelt, welches die unsäglichen Grenzübertretungen<br />

zeitgemäß macht.<br />

Ob Kirche oder Reformpädagogik, alle diese Institutionen fungieren<br />

pseudofamiliär und damit gefährdet die intrafamiliale<br />

Durchlässigkeit der Körpergrenzen, das Kuscheln, Schmusen,<br />

Waschen, Zubettgehen usw. zur Machtausübung und eigenen<br />

Vorteilsnahme auszunutzen. Die Machthaber gerieren sich<br />

gleichzeitig als „Freund“, als Trostspender, als Berater, Beichtvater,<br />

„Coach“ und Beschützer. „Kindnähe“ und Professionalität<br />

spannen ein Problemfeld auf, das mehrerer Auffangnetze<br />

bedarf um zu funktionieren. Zwar gibt es ein juristisches Netz,<br />

doch das braucht den Ankläger. Nach dem Menschengesetz<br />

verpflichtet die Kenntnis eines Missbrauchs niemanden, auch<br />

die Kirche nicht, diesen anzuzeigen. Wie Familien auch, entwickeln<br />

Institutionen jedoch ihre eigene Realität und schirmen<br />

sich vor der Nachbarschaft ab. Ein Unterschied ist, dass in<br />

nicht-familiären Institutionen das Inzest-Tabu [welches sich<br />

weder von Gott noch Freud, sondern aus den Regeln des Menschenparks<br />

herleitet] nicht gilt.<br />

Die Grenze zwischen leiblichen Eltern und Kindern ist evolutionär<br />

anders bestimmt, denn Inzest führt in den Tod. Schon<br />

die Anwesenheit eines Stiefvaters lässt die Stieftochter sexuell<br />

früher reifen und das Risiko eines innerfamiliären Missbrauchs<br />

in die Höhe schnellen, weshalb die Patchworkfamilie auch andere<br />

Körperwelten konstruieren muss, was sie in der Regel<br />

auch vermag [wieder ein unerforschtes Gebiet]. Wir alle wissen,<br />

dass Inzest- und Gewalttabus auch und vor allem in Familien<br />

durchbrochen werden, immer dann, wenn Gewalt, Drogen,<br />

Schweigen, Unterdrückung, dissoziale Motivlagen, Ohnmacht,<br />

Verzweiflung usw. den Schutzraum von innen aushöhlen.<br />

Die Forschung ist sich einig, dass das größte Risiko für einen<br />

innerfamiliären Missbrauch jedoch der AUSFALL DER<br />

MUTTER ist, denn sie zieht die Grenzen um das Kind herum,<br />

die es selbst nicht setzen oder verteidigen kann.<br />

Die Mütter also definieren unsere Heimat, siehe Mamajew-Hügel.<br />

Die Moderne aber bewältigt ihre „Unübersichtlichkeit“<br />

und enorm gesteigerte Mobilität vor allem mit dem Gedanken<br />

der Entgrenzung. Konstrukte wie „Privatheit“ verändern sich,<br />

wenn die Familienministerin feststellt dass es sich im Bundestag<br />

schlechter twittern lässt. Die Grenzenlosigkeit, ein Mythos,<br />

den das Bürgertum den Rennaissancefürsten abnahm, um Bewegung<br />

(unaufhörliches Wachstum, Kolonisation, Ich-Entfaltung,<br />

pursuit of happiness, soziale Mobilität usw.) zu spiritualisieren<br />

(weshalb Nietzsche in Gott das RUHENDE sterben<br />

ließ, oder wie der Papst einst sagte „Wir stehen den Menschen<br />

im Weg“), richtet sich eben – sobald vor dem Individuum<br />

nichts Erstrebenswertes mehr liegt – nach innen. Wenn jedoch<br />

auch innerhalb des Individuums entgrenzt wird, kann das Prinzip<br />

der Gewaltenteilung nicht mehr angewandt werden, denn<br />

nichts anderes tut der Wille, die Einsicht, die Ethik usw. als<br />

Grenzen setzen, auch und vor allem in uns selbst.<br />

Die Gewaltenteilung in uns selbst, also das Finden der Gelassenheit,<br />

ist unmittelbare Voraussetzung für die Teilung der Gewalten<br />

in der Gesellschaft. Grenzen wiederum sind die absolute<br />

Voraussetzung der Demokratie und einer erfolgreichen Sozialtechnologie,<br />

und deshalb muss der Umgang mit ihnen gelernt<br />

werden. Die Debatte um den sexuellen Missbrauch bietet also<br />

eine viel bessere Möglichkeit, der von Beck beschworenen Reflexivität<br />

der Moderne Geltung zu verschaffen, als es beispielsweise<br />

der Diskurs um die begrenzten Ressourcen des Planeten<br />

ist.<br />

Natürlich sind Sexual- und Ressourcendebatte verbunden,<br />

denn einerseits trägt die Abkopplung der Sexualität von der<br />

Reproduktion durch effektive Kontrazeption zur Ressourcenverlängerung<br />

bei (da weniger Esser und Verschmutzer entstehen),<br />

andererseits bringt die limbische Kultur weniger selbstbewusste<br />

Akteure hervor – und wenn, dann wird kognitive Elite


0.26 __ //// TITELTHEMA | ABOBESTELLUNG<br />

oft an sexuelle Askese gebunden, womit die Selbstbewusstheit<br />

auch wieder zum Teufel geht. Der Missbrauchsdiskurs geht<br />

dennoch tiefer als der grüne: Er berührt uns alle unmittelbarer,<br />

unseren Umgang mit Gefühlen, auf allen sozialen Ebenen, er<br />

geht ins Herz der Zukunft, er betrifft die Teilung der Gewalten;<br />

er beschwört die Gefahr der limbischen Kultur, die von einer<br />

emotionslosen Maschinenwelt gesteuert wird.<br />

Es wäre bereits ein ungeheurer Fortschritt, wenn der Runde<br />

Tisch der Ministerinnen eine Einigkeit darüber zustande<br />

brächte, dass sich alle Akteure schonungslos ins Auge sähen.<br />

Immerhin, es sind Frauen, die eingeladen haben: eine Witwe,<br />

eine Tochter, und eine Moraltheologin. Ich wäre mit sichtbaren<br />

Müttern zufriedener gewesen. Doch wer weiß, ob die Akteurinnen<br />

rechtzeitig an den Tisch kommen, denn seitdem ein<br />

isländischer Vulkan Asche spuckt, entschleunigt sich der deutsche<br />

Luftverkehr. Die himmlische Katastrophe aber macht die<br />

irdische kenntlich, denn so verstieg sich heute, am 19.4.2010,<br />

Abonnement<br />

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eine Zeitung, die „Welt“ heißt: „Mobilität und Entgrenzung<br />

aber sind ein Menschenrecht.“ –<br />

Ich bleibe dabei, selbst wenn ich mich von der „Welt“ abkehren<br />

sollte: Grenze ist Heimat, vor allem und gerade in der Demokratie,<br />

und die Demokratie ist die Rücknahme der Renaissance:<br />

Das Maß ist das Ding aller Menschen. ¬<br />

---<br />

Die <strong>Stadtgespräche</strong> gratulieren Olaf Reis zum Forschungspreis des<br />

Norddeutschen Suchtforschungsverbundes, der ihm insbesondere<br />

für seine Untersuchungen zum Komatrinken in <strong>Rostock</strong> und Güstrow<br />

verliehen wurde<br />

AUSSCHNEIDEN, AUSFÜLLEN, UNTERSCHREIBEN UND BITTE PER POST/FAX AN DIE REDAKTIONSADRESSE (ODER SIE BESTELLEN IM INTERNET: WWW.STADTGESPRAECHE-ROSTOCK.DE)<br />

Ja, hiermit abonniere ich ............. Exemplar(e) des Magazins „<strong>Stadtgespräche</strong>“ ab der nächsten<br />

verfügbaren Ausgabe zum Jahresabonnement-Preis (4 Ausgaben) von Standard (10,00 EUR)<br />

bzw. Soliabo (20,00 EUR). Ich kann dieses Abonnement jederzeit zum Jahresende kündigen,<br />

andernfalls verlängert es sich um ein weiteres Jahr. Hier meine Angaben:<br />

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widerrufen werden. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung<br />

des Widerrufs.<br />

Datum/Unterschrift: ....................................................................


WIDERSTAND GEGEN<br />

FREIZEITKOMMERZIALISIERUNG<br />

Wer seinen Kindern vermitteln möchte, dass das Leben eine einzige Shopping-Mall ist, besucht am Samstag die Rostokker<br />

Innenstadt, die Vorstadt-Center oder Karl’s Erlebnis-Dorf.Die außerdem zunehmende Kommerzialisierung der Freiflächen,<br />

Parks, Strände und städtischen Einrichtungen vermittelt, worauf es im Leben ankommt: Geld.<br />

Besser: Nachbarkinder einladen, Drachen bauen, Kreide, Murmeln, Gummitwist?<br />

FOTO: TOM MAERCKER


0.28 __ //// TITELTHEMA<br />

Der Widerstand<br />

der Familie Levy<br />

Überleben in Tessin, Bad Sülze und <strong>Rostock</strong><br />

JENS LANGER<br />

Am 7. April wurde vor dem Haus Patriotischer Weg 16 ein<br />

Stolperstein verlegt. Er ist dem Gedächtnis der <strong>Rostock</strong>er Bürgerin<br />

Ina Levy gewidmet. Es war der vierte an dieser Stelle;<br />

denn hier befand sich eine letzte Wohnstätte jüdischer Familien,<br />

bevor sie in die KZs deportiert und dort ermordet wurden -<br />

Ina Levy am 7.April 1943 in Theresienstadt.<br />

Rabbi da sind die Kinder / mit blühenden Elefanten/ Sie wollten<br />

nicht in dein Haus/ die sich und den Schmetterling/beim Namen<br />

nannten/ Komm Rabbi/Komm du heraus/ und höre sie flüstern/<br />

Hase und Lamm/ geboren am// am// Tanz mit den Steinen//<br />

Hörst du die Moldau weinen// Tanz Rabbi/tanz einen<br />

Traum/ Rabbi tanz/ Terezin (Fred Mahlburg).<br />

An diesem Apriltag 2010 nahmen zwei Enkelkinder der Rostokkerin<br />

an der Gedenk-Tat teil. Hans-Ludwig Levy erinnerte<br />

an seine Großmutter. Eine gepflegte alte Dame, wie er sich erinnert,<br />

die sich noch für ihre letzte Reise überlegte, welchen<br />

Hut sie dabei tragen sollte. Kein Gedanke an Mord, jedenfalls<br />

keiner, der ausgesprochen wurde. Der Sohn durfte seine Mutter<br />

im Zug bis Neustrelitz begleiten. Man hatte die Nachricht<br />

vom Beginn der Deportation der Juden gehört, sich das<br />

Schlimmste aber nicht ausmalen wollen und können. Fünf<br />

Kinder hatten die alten Levys. Drei von ihnen wurden ermordet.<br />

Eine Tochter konnte fliehen. Hans-Ludwig Levys Vater<br />

überlebte als Ehemann einer evangelischen Deutschen in einer<br />

sogenannten privilegierten Mischehe. „Unsere Mutter durfte<br />

nicht sterben. Ohne sie wären wir dem Tod ausgeliefert“, wird<br />

der Sohn fast vier Wochen später im Max-Samuel-Haus am<br />

Schillerplatz sagen. Auch eine Scheidung hätte die Familie vernichtet.<br />

Von Seiten der NS-Frauenschaft gab es Überlegungen<br />

dazu. Eine Nachbarin berichtete darüber.<br />

Am 5.Mai wurde das Max-Samuel-Haus wieder einmal zur Begegnungsstätte<br />

mit jüdischer Geschichte, vergegenwärtigt in<br />

diesem Familienschicksal. Was war noch zu erwarten, nachdem<br />

die <strong>Rostock</strong>er Medien im Zusammenhang mit der Verlegung<br />

des Stolpersteins relativ ausführlich ihrer Berichtspflicht genügt<br />

hatten? Wer wollte noch mehr wissen?<br />

Die Veranstaltung am frühen Nachmittag war erstaunlich gut<br />

besucht. Die <strong>Rostock</strong>er Medien hatten sich verausgabt und<br />

fehlten ganz. Die Teilnehmer dieser Begegnung - darunter auch<br />

Prof. Dr. Wolfgang Methling und einige Jugendliche - saßen in<br />

der Ausstellung zu den <strong>Rostock</strong>er Stolpersteinen gegenüber einem<br />

Foto von Ina Levy. Darunter der Enkel und sein Gesprächspartner,<br />

Frank Schröder vom Veranstalter. In anderthalb<br />

Stunden entfaltete sich ein Dialog von hohen Graden. Ein<br />

grausiges Kapitel <strong>Rostock</strong>er Lebens in durch Zurückhaltung<br />

exzellenter Darstellung - und das bei aller Deutlichkeit. Kein<br />

Event, aber ein Ereignis! Ungewöhnliche Klasse für <strong>Rostock</strong> -<br />

und zu wessen Strafe medial marginalisiert? Der achtzigjährige<br />

Herr Levy entwickelte eine stille Sprachkultur ohne große Geste<br />

und gerade so eindrucksvoll bis zur Atemlosigkeit in der


Zuhörerschaft. Er registrierte jede Abweichung vom verordneten<br />

Hass und jede Nachlässigkeit in der Anwendung möglicher<br />

Schärfe als eine Chance zum Luftholen - in vergifteter Atmosphäre.<br />

Dieses alles spielte sich ab in unserem Mecklenburg von damals,<br />

in Tessin, Bad Sülze und <strong>Rostock</strong>. Als die Eltern sich angesichts<br />

drohender Endlösung zur Taufe ihrer Kinder entschlossen<br />

hatten, fragte der Pastor die anmeldende Mutter im<br />

Gespräch zur Vorbereitung der Taufe, ob sie diese für ihre Kinder<br />

anstrebe, weil sie Jesus Christus als ihren Herrn über Tod<br />

und Leben anerkenne oder weil sie sich Vorteile davon verspreche.<br />

„Wenn sich daraus für meine Kinder ein Vorteil ergeben<br />

sollte, so will ich das als Gottes Fügung akzeptieren,“ lautete die<br />

Antwort - so rabbinisch wie jesuan. Auch die Frage lässt sich<br />

verstehen, wenn man will, hatte doch schon Heine die Taufe<br />

als Entreebillett in die bürgerliche Gesellschaft verstanden.<br />

Aber anders sind Zeit und Gesellschaft. In ihr gibt es viel<br />

schlimmere Dinge als die Frage (Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche<br />

und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“, Manfred Gailus<br />

(Hg.), 2008.) Es gab zeitgenössische Solidarität jenseits der<br />

Mehrheiten (z. B. M. Gailus, Mir aber zerriß es das Herz. Der<br />

stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, 2010) und es gibt die<br />

späte aktuelle Solidarität: Im thüringischen Mühlhausen wird<br />

die jüdische Synagoge im Auftrag der Jüdischen Landesge-<br />

Wir sind an Peter und Paul 2009 in Toitenwinkel versammelt.<br />

Damit sind wir an einen Ursprungsort meiner Identität zurückgekommen.<br />

Denn von Mitte der sechziger Jahre an bis zu<br />

meiner Heirat 1973 habe ich mich jeden Sonntag zu Kaffee<br />

und Abendbrot aufgemacht ins Pfarrhaus Toitenwinkel, zunächst<br />

von Kritzkow, später von <strong>Rostock</strong>-Süd aus. Christel und<br />

Uwe Schnell haben das vielleicht nicht immer freudig, doch<br />

stets freundlich und vor allem geduldig ausgehalten.<br />

In Kritzkow bekam ich nach etwa einem Jahr Residenz einen<br />

Besuch von Landesbischof D. Dr. Beste DD, der mich daselbst<br />

auch Buß- und Bettag 1966 ordiniert hatte. Nach der Besichtigung<br />

von Hof und Garten setzten wir uns zu einem Gespräch<br />

ins Amtszimmer. Nach einiger Zeit erklärte mir unser Bischof:<br />

meinde von der Evangelischen Kirche betreut. In der <strong>Rostock</strong>er<br />

Synagoge wird zum Oktober ein schleswig-holsteinischer Pastor<br />

seine Ausstellung über Alltagsleben im biblischen Land<br />

aufbauen. Alles nicht zum Herausreden, aber zum Lernen.<br />

Lässt sich sagen, dass der Widerstand dieser Familie sich im<br />

Willen zu überleben zeigte? Der alte Herr erzählte von der<br />

Sorge des Schülers Hans-Ludwig, sich aus den alltäglichen Demütigungen<br />

zu erheben. Die Mühen der Ebenen und dann die,<br />

selbst in ungewöhnlichen Zeiten ungewöhnliche, Begegnung<br />

mit der untergetauchten Berlinerin Ingeborg Goldschmidt, die<br />

ihr Leben nur waghalsig retten konnte. Das alles war. Das alles<br />

wurde präsent.<br />

Am 20. Mai wird vor dem Haus im Patriotischen Weg ein neuer<br />

Gedenkstein übergeben. Es ist dort der vierte, insgesamt der<br />

siebenundzwanzigste, und er ist Ida Marchand gewidmet.<br />

Hans-Ludwig Levy hat ihn gestiftet. Widerspruch bleibt angesagt<br />

gegen das Vergessen, für uns Vergesser, gegen Verdränger<br />

und Vernebler. Heute muss man sich nicht verstecken. Heute<br />

muss man nicht schweigen. Hört Levy. Redet. Zeigt euch. ¬<br />

Autobiografische Sprüche aus 70 Jahren<br />

Das Öffentliche am Privaten: Erinnerungen im Freundeskreis<br />

JENS LANGER<br />

„Lieber Bruder, alles sehr schön. Aber der Garten! Hier fehlt<br />

eine tüchtige Pfarrfrau.“ Ich , überrascht und verlegen: „Bruder<br />

Beste, da müsste ich aber zuerst eine wissen.“ Er: „Ich wüsste da<br />

schon eine.“ Es gelang uns, das Gespräch im Unverbindlichen<br />

zu belassen. Meine spätere und jüngere Frau war immer an einem<br />

Garten interessiert, hatte meistens aber keinen.<br />

So viel Interesse für mein Leben war gar nicht selbstverständlich.<br />

Am Anfang schien es bedroht. In der Stunde Null im frühen<br />

Mai 1945 hörte unsere Familie in der unserer benachbarten<br />

Wohnung meiner Großmutter Anna Bull (Kasernenstr. 40,<br />

parterre links) zusammen mit einer Bekannten, wie sich die<br />

Reichspropaganda über Drahtfunk, siegesgewiss, wegen der<br />

zeitweisen Überlegenheit des Feindes, verabschiedete: „Wir


0.30 __ //// TITELTHEMA<br />

melden uns in Bälde zurück.“ Es muss den Erwachsenen klar<br />

gewesen sein, daß 12 Jahre jetzt ein für allemal ausgereicht hatten,<br />

als meine Mutter in die Stille sagte:“ Nun kommen gleich<br />

die Russen und schneiden den Kindern die Kehle durch.“ Mein<br />

Vater protestierte schwach, und ich habe mich inzwischen oft<br />

daran erinnert, wie ich mich in mein Schicksal fügte. Ich verstand<br />

nicht, wieso mein Spielen und Freuen so beendet werden<br />

sollte. Aber ich war bereit, mich zu fügen. Mein großer Bruder<br />

Niels, fünfzehnjährig, war im Krieg, der nun zu Ende schien,<br />

und lebte vielleicht gar nicht mehr.<br />

Die Vorhersage meiner Mutter traf nicht ein, und ich spielte<br />

wieder auf der Straße mit Peter, Bodo, Henner, Wilfried, Wölfi<br />

und wurde von Hermann Wilcken verkloppt. Peter Schmidt<br />

rette mir einmal das Leben, als ich die dritte oder vierte Klasse<br />

besuchte, vor allem aber am Kabutzenhof in der Nähe des<br />

Trockendocks im Eis eingebrochen war. (Unser Enkel Aaron<br />

Lajos Cotaru will das nicht glauben, obwohl Peter es ihm auf<br />

Anfrage telefonisch bestätigt hat.)<br />

Ich geriet unter den Einfluss eines anderen Lebens, zunächst<br />

von zu Haus gefördert, später behindert, als es sozusagen überhand<br />

nahm. Da tauchten fremde Landschaften auf - Gott,<br />

Bethlehem, Reformation, Reich Gottes. Mich an den Verlandungen<br />

dieser Theorievokabeln aufzuhalten, wurde ich zunächst<br />

gefördert und auch genötigt, soweit es die virtuelle<br />

Mehrheitskonfession betraf. Das schätzte ich eine Zeitlang<br />

mehr als gering ein, wo es sich tatsächlich doch um ein erhebliches<br />

und vor allem folgenreiches Kapital handelte. Tante Fiffi,<br />

unsere Mitbewohnerin seit grauen Tagen, Frieda Möller Prestin,<br />

hatte 1956 Albert Schweitzers autobiografische Schriften<br />

gelesen und warnte mich vor Überschwang: „Min Jung, dat's<br />

all unsäker, bloot de Geist, de bliwwt.“ Also entschloss ich mich<br />

etwa in der neunten Klasse Theologie zu studieren.<br />

Anna Bull war enttäuscht - immer noch kein Mediziner in der<br />

Familie -, wusste aber: „Wenn du Pastor wirst, treten noch die<br />

letzten Leute aus der Kirche aus.“ In ihrer Gegnerschaft war sie<br />

mit der Schulleitung verbunden, ohne es zu wissen. Diese hatte<br />

in ihrer Beurteilung für die Studienbewerbung nämlich geschrieben:<br />

„Er will Theologie studieren. Diesem Ziel ordnet er<br />

alles unter. Empfehlung zum Studium: keine.“ Unterschrift.<br />

Das sollte für alle Zeiten und Universitäten gelten. Dabei<br />

konnte die schulische Einrichtung des Unpädagogischen Rates<br />

noch gar nicht wissen, hätte es aber für möglich gehalten und<br />

hat mich gewiss auch dahingehend beeinflusst, dass ich später ,<br />

etwa 1961 zur Ostseewoche auf einem Warnemünder Strandweg<br />

in der Nähe des Hotels Stolteraa Lotte und Walter Ulbricht<br />

samt Entourage begegnete, um diese Mächtigen kühl und<br />

grußlos zu passieren. Als ich Claus Gerloff abends besuchte<br />

und ihn um seine Meinung fragte, ob ich ein altes Ehepaar<br />

nicht hätte doch grüßen sollen, sagte er einfach: „Wie kannst<br />

du so etwas fragen! Walter Ulbricht grüßen wir nicht.“<br />

Ich kam zunächst am Theologischen Seminar der Leipziger<br />

Mission unter. Eine große Stadt! Ausgangspunkt wichtiger Begegnungen<br />

und lebenslanger Freundschaften, ein Jahr lang am<br />

Wochenende Bachmotetten des Thomanerchors, deftige Kost<br />

im Konvikt aus der Küche der Hausdame Frau von Horn. Von<br />

letzterer konnte sich auch meine Schwester Wiebke mit einigen<br />

Schulkolleginnen auf der Durchreise überzeugen, was ihr,<br />

wieder in ihrer Lehrstelle, der <strong>Rostock</strong>er Bezirksbibliothek,<br />

ideologischen Ärger einbrachte. Kleinlichkeit lässt keine Mickrigkeit<br />

aus.<br />

Ich wollte aber, dass ich mein Ziel erreichte, die Widerlegung<br />

derer, die mir mein Leben vorschreiben wollten. Ich schrieb an<br />

D. Moritz Mitzenheim, den Thüringer Landesbischof, der um<br />

seiner Gemeinden willen weit ins Appeasement ging, kobaltblauschwarz<br />

war, aber als rot galt. Zum 6.10. 1959 wurde ich<br />

ins Prorektorat für Studienangelegenheiten der Universität Jena<br />

bestellt. Ich weiß nicht, welche Absprachen und Zusagen es<br />

zwischen Mitzenheim und D. Dr. Erich Hertzsch, dem Jenenser<br />

Dekan, gegeben hat und was zwischen dem Universitätssachbearbeiter<br />

und dem Dekan verabredet worden ist und was<br />

nicht. Dieser Beamte erklärte mir nämlich: „Sie wollen immatrikuliert<br />

werden, aber ihre Akten sind gar nicht hier.“ Noch bevor<br />

mein Hochgefühl der Zielankunft zerstoben war, fügte er<br />

hinzu: „Dann machen wir es eben ohne Unterlagen.“ Wer er<br />

auch war, ich setze ihm hier ein Denkzeichen. So kam ich immer<br />

weiter in die Welt außerhalb <strong>Rostock</strong>s, und als ich eines<br />

Tages wieder dort war, attestierte mir der frühere Prorektor für<br />

Studienangelegenheiten Roger öffentlich und offiziell die venia<br />

legendi. Das war 1988. 1958 hatte er die definitiv endgültige<br />

Ablehnung meiner Studienbewerbung unterschrieben.<br />

„Dich holen sie noch 'mal ab,“ sagte meine Mutter, wenn sie<br />

meine politische Renitenz hörte. Ebenso stereotyp antwortete<br />

ich ihr: „Die kriegen wir eines Tages alle.“ Die waren sie.<br />

Am 5.12.1989 war ich Ko-Vorsitzender des „Unabhängigen<br />

Untersuchungsausschusses zur Sicherstellung und Überprüfung<br />

der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes<br />

für Nationale Sicherheit“ im Bezirk <strong>Rostock</strong> (UUA). Jetzt hatten<br />

wir sie alle. Was machen? Mehrfach pro Woche saß der<br />

Ausschuss zur Beratung in unserer Wohnung in der Friedrich-<br />

Engels-Str. 20. Wir informierten fast wöchentlich in den Medien<br />

und den Gottesdiensten zur Veränderung der Gesellschaft<br />

über den Fortgang unserer Arbeit, veröffentlichten darüber ein<br />

Buch und veranlassten die Entwaffnung sowie die ordnungsgemäße<br />

Entlassung der ca. 2000köpfigen Belegschaft der Bezirksbehörde<br />

und ihrer Kreisstellen. Nun soll es aber ein Ende mit<br />

1989 haben; denn Peter Schmidt hat mehrfach betont: „Wer<br />

bei 1989 stehen geblieben ist, der ist schon gestrandet.“<br />

Fast am Schluss soll mein Vater zu Worte kommen. Er vertrat<br />

die ja recht praktische Ansicht: Man kann alles machen. Man<br />

darf es nur nicht übertreiben. In Abgrenzung vom mächtigen<br />

Vater setzte ich dem für mich entgegen: Man soll nicht alles<br />

machen. Aber manchmal muss man übertreiben. Dabei hat<br />

mich auch die große Erzählung des Meisters aus dem Neuen<br />

Testament beeinflusst, der ja in seinen Parabeln orientalisch zu<br />

übertreiben wusste, um Dinge ganz klar zu benennen. Eine<br />

Übertreibung hat mir Wolfgang Hegewald zukommen lassen.<br />

Eine dichterische Übertreibung, die spitzzüngig und einfühlsam<br />

ein Lebensgefühl nach Bobrowskis Art zwischen der


Schwere des Tages und himmlischer Freiheit auferstehen lässt.<br />

Die Verschränkung von Personen und Zeiten, von Ausgeliefertsein<br />

und Einstehen für sich selbst samt einem unverschämt<br />

säkularen Gottvertrauen ohne jeden Hauch von Miefigkeit<br />

schaffen eine Dichtung aus bodenständiger licentia poetica, die<br />

ebenso stutzen lässt, wie sie beflügelt:<br />

Nach Wustrow! Nach Wustrow!<br />

Im August 1968 reiste ich nach Wustrow, an die Ostsee. Es hieß:<br />

Rüstzeit. Mit Helmut, Karin, Fred, Timo und Tina fuhr ich, im<br />

August 1968, in das Kaff auf dem Darß, zur Rüstzeit. In Wahrheit<br />

hatte ich mich wegen Simone, nur wegen Simone, in die ich,<br />

notorisch unglücklich, verliebt war, angemeldet. Pastor Arvid<br />

Brömse aus <strong>Rostock</strong> leitete die Rüstzeit. Er führte uns in die materialistische<br />

Bibelinterpretation ein. Simone aber, derentwegen<br />

ich da war, kam um Timos willen, des begabten Kruzianers, den<br />

sie im Jahr zuvor auf der Rüstzeit kennengelernt hatte, nach<br />

Wustrow. Pastor Brömse, er war damals neunundzwanzig, weckte<br />

uns in der Frühe mit seiner Trompete. Fünfzehn Jahre später<br />

wird Timo, als Dirigent bald zu Ruhm gekommen, am Pfeiler einer<br />

Autobahnbrücke in der Nähe von Essen gestorben sein. Staunend<br />

las ich, Peter Müller, 17, im August 1968, Pastor Arvid<br />

Brömse,29, ein Wort wie Eschatologie von den Lippen ab, in<br />

Wustrow. Das Rüstzeitheim lag neben der Kirche, am Bodden.<br />

Manchmal gefiel es Pastor Brömse, mit nichts als seiner blauen<br />

Dreieckbadehose bekleidet, am Strand von Wustrow auf und ab<br />

zu hüpfen und zu rufen: Trari, Trara, die Post ist da, und was<br />

hat sie uns denn gebracht? Einen Brief von unserem lieben Apostel<br />

Paulus! Abends lief ich, allein, in die Dünen und hoffte, Simone<br />

würde es bemerken, vergebens. Die Wüste, hatte ich von Pastor<br />

Brömse gelernt, sei ein bevorzugter Ort für Offenbarungen.<br />

Wenn Pastor Brömse im Meer gebadet hatte, durften ihm die<br />

Mädchen, Karin oder Simone, beispielsweise, vor unseren Augen<br />

die Haare kämmen. Der Kitzel der Illegalität erregte uns alle.<br />

Die Rüstzeit war, vom Rat der Gemeinde Wustrow, Abteilung<br />

Inneres, oder wem auch sonst, nicht genehmigt worden.<br />

Der Abschnittsbevollmächtigte von Wustrow, auch Der Binsensheriff<br />

genannt, hatte gedroht, er werde das klerikale Nest ausheben<br />

lassen. Pastor Brömse hatte uns, die Teilnehmer - immer<br />

Glieder, niemals Mitglieder, denn wir gehörten keiner Organisation,<br />

und schon gar keiner feindlichen, an - , über den Stand der<br />

Dinge unterrichtet, vor der ersten Lektion in Sachen materialistische<br />

Bibelinterpretation. Wir wussten, dass wir unser Abitur riskierten,<br />

als wir, alle, beschlossen, dass wir uns auf die Betten legen<br />

wollten, wenn sie kämen, um uns zu holen. Jedem von uns stand<br />

es frei, abzureisen, und keiner hätte es einem anderen angekreidet.<br />

Alle blieben. Fred knutschte mit Karin, auf Schritt und Tritt.<br />

Timo weihte Simone nachts am Strand in die Wonnen des Tonsatzes<br />

ein. Tina und Helmut ließen sich nicht aus den Augen. Timo<br />

brachte mir, immerhin, bei, was unter einer unharmonischen<br />

Verwechslung zu verstehen sei, und ich wollte unbedingt von Pastor<br />

Brömse erfahren, welche Rolle, nach Auffassung der materialistischen<br />

Bibelinterpretation, der Heilige Geist in Wirklichkeit<br />

spiele. Einige Jahre später sahen wir uns alle wieder, als Fred und<br />

Tina, zwei Wustrow-Veteranen, heirateten und bevor Timo bei<br />

Essen, hinter der Grenze, an einem Betonpfeiler starb.<br />

Der 20. August war ein Dienstag. Wir lagen in den Betten, als<br />

die Panzer kamen. Niemand beachtete uns. Sie überrollten uns<br />

nur. Und die Bibel hat doch recht, sagte einer, kleinlaut und trotzig.<br />

Streng wies Pastor Brömse die Schlagzeile zurück .<br />

Wolfgang Hegewald, Ein obskures Nest, Leipzig 1997, S. 108f<br />

Eine maßlose Übertreibung und nichts als die reine Wahrheit!<br />

¬


0.32 __ //// IDEEN FÜR ROSTOCK<br />

Ideen für <strong>Rostock</strong> ___________ Neue Ideen machen eine Stadt bunt und lebendig. Wie offen ist<br />

<strong>Rostock</strong> für Neues? Wie konnten sich neue Ideen und Konzepte in der Vergangenheit etablieren? Mit welchen<br />

Schwierigkeiten hatten sie zu kämpfen? Welche neuen Ideen kursieren zurzeit? Die <strong>Stadtgespräche</strong><br />

stellen etablierte und neue Projekte vor. In diesem Heft: Die Gründung einer Food-Coop in <strong>Rostock</strong><br />

Über Food-Coops …<br />

HENNING RIEGER<br />

Die Art und Weise unserer Ernährung hat großen Einfluss auf<br />

unsere Gesundheit und unser individuelles Wohlbefinden. Die<br />

Bedingungen, unter denen unsere Nahrungsmittel hergestellt<br />

und gehandelt werden, sind Spiegel unserer Gesellschaft und<br />

wirken direkter auf uns zurück, als es auf den ersten Blick<br />

scheint.<br />

Nachteile, die durch den Preisdruck bei konventioneller Landwirtschaft<br />

und industrieller „Tierproduktion“ entstehen, wekken<br />

bei vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern Interesse an<br />

Lebensmitteln aus kontrolliert biologischem Anbau. Wichtig<br />

sind ihnen häufig auch Vertrauen in die angegebene Produktionsweise<br />

und die gerechte Bezahlung der Erzeuger und Erzeugerinnen<br />

ohne unnötigen Zwischenhandel. Kurze Transportwege,<br />

und der schonende, bestenfalls nachhaltige Umgang mit<br />

natürlichen Ressourcen spielen in Zeiten des globalisierten<br />

Warenverkehrs eine ebenso große Rolle bei der Wahl der Zutaten<br />

für die nächste Mahlzeit.<br />

Zugegeben, kaum jemand geht mit all diesen Hintergedanken<br />

durch einen Supermarkt. Das Resultat wäre eine panikartige<br />

Flucht aus ebenjenem. Supermärkte sind vor allem in einer<br />

Hinsicht optimiert und das ziemlich gut: niedrige Preise. Eine<br />

gangbare Alternative, die Nachfrage unter den eingangs erwähnten<br />

Kriterien zu bedienen, bieten Lebensmittelkooperativen,<br />

umgangssprachlich auch Food-Coops genannt.<br />

Lebensmittelkooperawasfürdinger?<br />

Food-Coops sind Einkaufsgemeinschaften, die ökologisch hergestellte<br />

Produkte aus der Region und fair gehandelte Waren<br />

aus Übersee direkt und ohne teuren Zwischenhandel beziehen.<br />

Die Mitglieder organisieren selbstständig den Ankauf, die Lagerung<br />

und die Verteilung der Produkte (vorwiegend Lebensmittel)<br />

untereinander. Dadurch schaffen sie sich ein Angebot<br />

qualitativ hochwertiger und ökologisch nachhaltiger Produkte<br />

ohne viel Aufpreis.<br />

Food-Coops entstammen den sozialen Bewegungen, aus denen<br />

auch Tauschringe, Wohnprojekte und andere solidarische Gemeinschaften<br />

hervorgingen. So spielt die Idee von Kooperation<br />

zur Überwindung des Konkurrenzdenkens bei Food-Coops eine<br />

wesentliche Rolle. Food-Coops sind eben nicht nur eine<br />

praktische und günstige Einkaufsmöglichkeit, sondern darüber<br />

hinaus Orte eines weitergehenden sozialen Austausches, ein<br />

Basar für Neuigkeiten und Informationen. Damit bilden Food-<br />

Coops einen Gegensatz zu profitorientierten Unternehmen,<br />

handelt es sich doch um freiwillige Zusammenschlüsse von<br />

gleichberechtigten Mitgliedern, die verantwortungsvoll miteinander<br />

umgehen. Spätestens hier wird deutlich, warum Supermarkt<br />

und Food-Coop nicht vergleichbar sind.<br />

Die selbstorganisierte Struktur einer Food-Coop orientiert<br />

sich hinsichtlich Angebotspektrum und Arbeitsabläufen an<br />

den Interessen ihrer Mitglieder. Häufig werden Lieferbeziehungen<br />

zu regionalen Lebensmittelproduzenten aufgebaut, um<br />

die Umweltfolgekosten durch lange Transportwege zu minimieren.<br />

Dies trägt auch zur Stärkung der regionalen Wirtschaft<br />

bei und hält anfallende Arbeit in der Region. Die sozialen Produktionsbedingungen<br />

spielen damit neben der Umweltverträglichkeit<br />

eine wichtige Rolle. Angestrebt wird ein faires Handelsmodell<br />

von den Erzeugenden bis zu den Verbraucherinnen<br />

und Verbrauchern.<br />

Warum der Aufwand?<br />

Was bringt Menschen nun dazu, sich in Food-Coops zu engagieren?<br />

Betrachten wir die Frage jeweils aus individueller, ökologischer,<br />

sowie gesellschaftlicher Sicht. Food-Coops ermöglichen<br />

es den beteiligten Menschen, günstige und anhand vorher<br />

festgelegter Kriterien hergestellte und verteilte Nahrungsmittel<br />

zu beziehen. Typische Kriterien betreffen dabei die ökologische<br />

und soziale Nachhaltigkeit.<br />

Viele Food-Coop-Mitglieder legen nicht nur persönlich Wert<br />

auf biologische Ernährung, sondern wollen insgesamt eine Produktionsweise<br />

fördern, die auf die Erhaltung des gesamten<br />

Ökosystems abzielt. Darum möchten sie den Einsatz von Pestiziden<br />

und Düngemitteln verringern, biologischen und regionalen<br />

Landbau fördern und unnötige Transportwege vermeiden.<br />

Food-Coops sind Abnehmer für regional hergestellte Nahrung<br />

und stärken damit die regionale Landwirtschaft, die meist in<br />

kleineren Höfen organisiert ist. Durch direkte Beziehungen zu<br />

diesen regionalen Produzenten können die Mitglieder saisonale<br />

Besonderheiten im Angebot und darüber hinaus den Her-


stellungsprozess ihrer Lebensmittel genauer kennen lernen. Aus<br />

Sicht der Erzeugenden verbessern routinierte Food-Coops die<br />

Planungssicherheit beim Anbau.<br />

An Food-Coops Beteiligte möchten in der Regel selbst Einfluss<br />

auf Prozesse, Angebot und Struktur der Food-Coop nehmen.<br />

Durch die Selbstorganisation ist dies möglich. Durch sie ist die<br />

Food-Coop Veränderungen gegenüber offener als beispielsweise<br />

der Supermarkt um die Ecke.<br />

Gesamtgesellschaftlich spielen Food-Coops eine wissensvermittelnde<br />

Rolle. Verbraucherinnen und Verbraucher werden<br />

sensibilisiert und auch Freunde, Bekannte und Neugierige<br />

durch Vorbildfunktion einbezogen. Jede Food-Coop versorgt<br />

also nicht nur ihre Mitglieder, sondern ist gleichzeitig auch Bildungsträger.<br />

In der Zusammenarbeit mit anderen Food-Coops<br />

kommt es zu Wissenstransfers und Synergieeffekten. Dieses<br />

Wissen ist von Vorteil und Vorraussetzung für viele Entscheidungen<br />

hin zu in einer nachhaltigeren, kreislauforientierten,<br />

ressourcenschonenden Lebensweise.<br />

Entwicklung der Food-Coops<br />

Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts<br />

war die Möglichkeit, an biologisch erzeugte Produkte zu gelangen,<br />

noch sehr begrenzt. Das trifft insbesondere auf den ländlichen<br />

Raum zu, wo der Einkauf von kontrolliert biologisch angebauter<br />

Ware fast unmöglich war. Aber auch in vielen Städten<br />

war das Angebot noch sehr klein. Dies war Motivation genug,<br />

sich den Mühen der Organisation der Warenbeschaffung zu<br />

unterziehen. Dabei spielte der Bezug von Lebensmitteln direkt<br />

von den Erzeugerinnen und Erzeugern in den meisten Fällen<br />

die gleiche Rolle wie der vom Großhändler.<br />

Der Blüte der Food-Coops folgte der Boom der Naturkostläden.<br />

Für viele Menschen ging damit der Sinn einer Lebensmittelkooperative<br />

verloren, denn im Naturkostladen war die Ware<br />

meist einfacher zu bekommen. Tatsächlich verschwanden viele<br />

der Kooperativen in der ersten Hälfte der 80er Jahre wieder.<br />

Andere, die gesellschaftspolitischer motiviert waren, festigten<br />

ihre Strukturen und zeigten hohe Kontinuität. In der BRD gab<br />

es 1985 schätzungsweise 400 Kooperativen. Manche Regionalverteiler<br />

setzten weit mehr als die Hälfte ihres Umsatzes über<br />

Food-Coops ab.<br />

Seit Mitte der 80er Jahre und der Sättigung des Bioladenmarktes<br />

wuchsen in der Naturkostszene die Widerstände gegen<br />

Food-Coops, da diese als zunehmende Konkurrenz wahrgenommen<br />

wurden. Über die Jahre wurde der Einkauf von Großhandelsware<br />

immer schwieriger, weil die Großhändler lieber<br />

Bio-Läden bedienten. Viele Kooperativen sind unter dem<br />

wachsenden Druck verschwunden. Aber einige haben sich mit<br />

Einsatz und Phantasie eine Nische gesucht, in der sie überleben<br />

konnten.<br />

Food-Coops in <strong>Rostock</strong><br />

Seit einigen Jahren wächst das Interesse an Food-Coops wieder.<br />

Nicht zuletzt auf Grund der medial breitgetretenen Lebensmittelskandale<br />

und dem Wunsch nach „sauberem“ Essen. Ein<br />

wenig Wirtschaftskrise spielt wahrscheinlich auch eine Rolle.<br />

In <strong>Rostock</strong> ist die Situation nach meiner persönlichen Einschätzung<br />

momentan so, dass die Zahl der Food-Coop-Interessierten<br />

größer ist, als die Versorgungskapazität der vorhandenen<br />

Lebensmittelkooperative(n).<br />

Öffentlich sichtbar ist hier nur die Food-Coop „Beifuß“, die es<br />

nun schon seit einigen Jahren mit beglückwünschenswerter<br />

Kontinuität in der Wismarschen Straße gibt. Sie stößt aber<br />

langsam an ihre Grenzen, was Lagerfläche und innere Organisation<br />

angeht, und wirbt deswegen nicht mehr aktiv um neue<br />

Mitglieder. Daneben existieren noch wenige kleinere Food-<br />

Coops, mittels derer sich WGs und andere Lebensgemeinschaften<br />

versorgen. Die Dunkelziffer dürfte allerdings nicht<br />

allzu hoch sein.<br />

Die frische Food-Coop „Kau Wat“ (FCKW) hat sich im<br />

Herbst 2009 zusammen gefunden und nun einen Raum im Peter-Weiss-Haus<br />

bezogen. Sie befindet sich immer noch in der<br />

Gründungsphase und wird wohl erst zum Sommer eine stabiles<br />

Gefüge und damit ein reibungsloses Bestellsystem für die Mitglieder<br />

ermöglichen.<br />

Ich will auch. Wie kann ich mitmachen?<br />

Das schöne und essentielle am Food-Coop Prinzip ist, dass jede<br />

und jeder mit ein paar Freunden selbst eine gründen kann. Dazu<br />

ist einiges Vorwissen hilfreich, gilt es doch zahlreiche Hürden<br />

zu nehmen. Wichtig ist bei jeder Food-Coop, dass alle<br />

Mitglieder auch etwas Zeit in die Arbeitsabläufe, Organisation<br />

und die weitere Entwicklung stecken. Was auf den ersten Blick<br />

müßig aussieht hat den Vorteil, dass Food-Coops immer von<br />

den Mitgliedern für die Mitglieder gestaltet werden. Nebenbei<br />

werden Kontakte geknüpft, Rezepte ausgetauscht, gemeinsame<br />

Aktionen unternommen … – ein Stück gelebte Solidarität.<br />

Eine exzellente Anlaufstelle im Internet ist das „Foodcoopedia“<br />

Wiki1. Der Name lässt es schon erahnen, Foodcoopedia funktioniert<br />

nach dem gleichen Schema wie Wikipedia, der weltweit<br />

größten, gemeinschaftlich erstellten Enzyklopädie. So ist<br />

seit 2004 eine umfangreiche Sammlung von Food-Coops, Lieferanten,<br />

Herstellern und allgemeinen Informationen entstanden.<br />

Das Prinzip des gemeinsamen Agierens in einer Food-<br />

Coop setzt sich also auch im Internet bei Foodcoopedia fort.<br />

Außerdem gibt es zwei lesenswerte Bücher zum Thema. „Das<br />

Food-Coop Handbuch“2, sowie der Food-Coop Gründungsleitfaden<br />

„fair, bio, selbstbestimmt“3. Mit diesen Informationen<br />

gerüstet ist die eigene Food-Coop nur noch eine Frage der<br />

Zeit. ¬<br />

--p.s.:<br />

Dieser Text darf bei Namensnennung beliebig vervielfältigt<br />

und verändert werden, solange er unter gleicher Lizenz (CC-bysa)<br />

weiter gegeben wird.(http://creativecommons.org/licenses/bysa/3.0/de).<br />

Viel Spaß dabei!


0.34 __ //// TUE GUTES<br />

Tue Gutes und rede darüber ___________ Unter dieser Rubrik werden die <strong>Stadtgespräche</strong> ab<br />

diesem Heft über Beispiele tätiger Solidarität und Hilfe in <strong>Rostock</strong> berichten und alle, die dazu in der Lage<br />

sind, um Unterstützung bitten. Wir beginnen mit einem Beitrag zur aktuellen Situation in Lettland und informieren<br />

über eine bereits mehrere Jahre laufende Hilfsaktion.<br />

Wir bitten unsere Leserinnen und Leser um Weiterverbreitung der Informationen und Aufrufe und gleichzeitig<br />

um die Zusendung neuer Beiträge, die zeigen, wie, wo und warum <strong>Rostock</strong>erinnen und <strong>Rostock</strong>er<br />

anderen Menschen helfen und welche Möglichkeit besteht, sie dabei zu unterstützen. Das tun wir in dem<br />

Wissen, dass eine solche Hilfe am Weiterbestehen von Unrecht, Armut und Ungerechtigkeit grundsätzlich<br />

nichts ändern kann. Wir wissen jedoch, dass auch kleine Beiträge möglichst vieler Frauen und Männer so<br />

manches bewirken können und anderen Menschen helfen, Mut zu behalten und Notsituationen zu überstehen.<br />

61,36 EURO<br />

und einiges mehr<br />

FRED MAHLBURG<br />

Als wir im Spätsommer 2009 nach einem längeren Aufenthalt<br />

aus Lettland abreisten, waren die Auswirkungen der Finanzund<br />

Wirtschaftskrise bereits unübersehbar. Betriebe mussten<br />

schließen, Geschäfte standen leer, Banken waren bereits in<br />

Konkurs gegangen. Familien, die ein Jahr zuvor noch in halbwegs<br />

gesicherten Verhältnissen gelebt hatten, mussten jetzt zu<br />

den sozial Schwachen gezählt werden, die einen Antrag stellten<br />

auf eine kostenlose tägliche Schulmahlzeit für ihre Kinder. Die<br />

kleine Stadt, in der wir regelmäßig einen Teil des Jahres leben,<br />

verfügt nicht über die finanziellen Mittel, um allen berechtigten<br />

Anträgen zu entsprechen. „Für manche Kinder wird dies<br />

die einzige Mahlzeit des Tages sein“, sagt eine Freundin, die im<br />

Sozialausschuss mitarbeitet.<br />

Mindestlöhne und -renten wurden herabgesetzt und zusätzlich<br />

besteuert. Lehrergehälter - beispielsweise - waren dramatisch,<br />

das heißt um etwa 40 %, gekürzt worden. Medizinische Ein-<br />

richtungen mussten den Umfang ihrer Leistungen ganz erheblich<br />

reduzieren oder aber überhaupt geschlossen werden. Nur<br />

ein Bruchteil der dringend notwendigen Operationen konnte<br />

noch durchgeführt werden. Die tägliche Ernährung der stationär<br />

aufgenommenen Patienten war selbst auf niedrigstem Niveau<br />

in Frage gestellt.<br />

Ohne Kredite der EU und des IWF wäre Lettland mit dem<br />

Staatsbankrott konfrontiert. Die Kredite sind jedoch an harte<br />

Sparauflagen gebunden. Gleichzeitig geriet das kleine Land vor<br />

Rumänien an die Spitze der europäischen Korruptionsstatistik.<br />

Das heißt, ein skrupelloser Teil der regierenden „Klasse“ hält<br />

sich schadlos angesichts der Not breiter Schichten der Bevölkerung.<br />

„Wir sind wieder auf den Entwicklungsstand in der Mitte<br />

der neunziger Jahre zurückgeworfen“, sagte die lettische Freundin.


Bereits 1996 hatten die Teilnehmer einer Studienreise der<br />

Evangelischen Akademie M-V unter dem Eindruck der sozialen<br />

Probleme im Lande spontan einen Hilfsfond begründetet,<br />

in den einige der Mitbegründer bis heute regelmäßige Spenden<br />

einzahlen. Andere haben sich mit Einzel- oder Mehrfachspenden<br />

angeschlossen. Eine Schweriner Rentnerin hatte noch zur<br />

DM-Zeit einen Dauerauftrag über eine runde Summe erteilt.<br />

Der läuft jetzt mit 61,36 EURO jährlich weiter.<br />

Durch die vertrauensvollen, freundschaftlichen Beziehungen<br />

zu lettischen Partnerinnen und Partnern konnten wir gewährleisten,<br />

das sämtliche Spenden hundertprozentig Menschen zugute<br />

kamen, die Hilfe besonders nötig hatten. Dabei wurde nur<br />

in ganz besonderen Fällen Bargeld an Familien weitergegeben.<br />

Meistens ging es um die Bereitstellung von Sachwerten oder<br />

um die Bezahlung notwendiger Leistungen.<br />

Zwei weitere Initiativen in <strong>Rostock</strong> haben sich in den zurückliegenden<br />

Jahren an diesen konkreten Hilfsprojekten beteiligt:<br />

Die Bürgerinitiative für eine solidarische Gesellschaft und der<br />

Verein der Freunde und Förderer des Max-Samuel-Hauses.<br />

So konnten die Kleinkinder einer Kinderkrankenstation mit<br />

spezieller Nahrung versorgt werden. Blinde Diabetiker erhielten<br />

medizinische Hilfsmittel. Einzelne arme Familien konnten<br />

bei den Kosten für medizinische Behandlungen und nötige<br />

Kuraufenthalte entlastet werden. Mütter, die ein behindertes<br />

Kind zu Hause betreuen, wurden unterstützt. Eine alte Frau,<br />

die als Einzige ihrer Familie das Konzentrationslager Stutthof<br />

überlebt hatte, erhielt in ihren letzten Lebensjahren eine kleine<br />

zusätzliche Rente. Ihre Familie hatte während der deutschen<br />

Besatzung versucht, junge jüdische Männer zu retten. Ebenso<br />

konnte auch einem bejahrten jüdischer Künstler in Riga ein<br />

wenig geholfen werden. Und ein bekannter jüdischer Historiker<br />

wurde beim Aufbau eines Dokumentationszentrums „Juden<br />

in Lettland“ unterstützt, als dies noch nahezu gänzlich seine<br />

„Privatangelegenheit“ war, was sich inzwischen zum Glück<br />

geändert hat.<br />

In den zurückliegenden Jahren haben sich die Hilfeleistungen<br />

besonders auf Kinder aus sozial schwächsten Familien konzentriert.<br />

Dabei ging es vor allem um eine Erstausstattung für<br />

Schulanfänger, um warme und strapazierfähige Winterbekleidung<br />

einschließlich Schuhen für Schülerinnen und Schüler der<br />

unteren Klassen, um Ferienaufenthalte für ärmste Kinder und<br />

eben um die kostenlose warme Mahlzeit in der Schule.<br />

Die Regionalstiftung in Talsi erhielt zum Beispiel 1015,00<br />

EUR, die für die Erstausstattung von Schulanfängern aus sozial<br />

schwächsten Familien und für alleinbetreuende Mütter mit behinderten<br />

Kindern eingesetzt wurden. Inzwischen konnten wir<br />

in Aizpute die weitere Finanzierung von Schulessen für bisher<br />

sieben Kinder bis zum Sommer 2010 zusagen. Und wir würden<br />

diese Zusage gern noch ausweiten. Wie nötig dies ist, geht aus<br />

einem jüngsten Telefonat mit der Stiftung in Talsi hervor: Die<br />

Stiftung kann vor Ort kaum noch Geld einwerben. Deshalb<br />

werden dort jetzt Lebensmittel, gebrauchte Kleidung und<br />

Haushaltsgegenstände gesammelt und verteilt. In manchen Familien<br />

ist die regelmäßige Ernährung nicht mehr gewährleistet.<br />

Besonders genannt wurde uns eine Mutter mit vier Kindern,<br />

von denen zwei unter einer Stoffwechselkrankheit leiden. Wir<br />

haben aus den noch vorhandenen Restmitteln des Kurlandfonds<br />

Hilfe zugesagt und inzwischen 2.000,00 EUR übergeben<br />

können.<br />

Oft konnten wir dabei die Hilfe ergänzen, die engagierte Leute<br />

im Lande selber zu organisieren suchten: So der Sozialausschuss<br />

einer Kleinstadt, anderen Ortes eine Bürgerstiftung oder<br />

die Leitung einer ländlichen Grundschule. Und es soll nicht<br />

unerwähnt bleiben, dass bei der Bereitstellung von Winterschuhen<br />

ein <strong>Rostock</strong>er Schuhhaus mehrfach großzügig half.<br />

Manche von uns wissen, dass es einen ernst zu nehmenden biblischen<br />

Rat gibt: Wenn du anderen Menschen Gutes tust,<br />

dann prahle nicht damit, lass vielmehr deine linke Hand nicht<br />

wissen, was die rechte tut. Andererseits hat auch der Vorschlag<br />

etwas für sich: Tue Gutes und rede davon! Wir haben uns zu<br />

einem „dritten Weg“ entschlossen: Wir nennen zwar keine Namen,<br />

wir veröffentlichen es jedoch, dass Menschen in <strong>Rostock</strong>,<br />

aber nicht nur aus <strong>Rostock</strong>, anderen Menschen, in Lettland<br />

beispielsweise, Gutes taten und tun. Wir tun das, um es mit der<br />

Bitte zu verbinden: Beteiligen Sie sich doch, damit aus dem<br />

Wenigen ein wenig mehr wird! ¬<br />

___<br />

Die nächste Adresse für Ihre Mithilfe ist die Bürgerinitiative für<br />

eine solidarische Gesellschaft e.V., die auch Begründerin und Mitherausgeberin<br />

der <strong>Stadtgespräche</strong> ist.<br />

Bankverbindung: Evangelische Kreditgenossenschaft eG<br />

BLZ: 52060410,<br />

Kt.Nr.: 7350082<br />

Verwendungszweck: Lettlandhilfe<br />

Eventuelle Nachfragen richten Sie bitten über E-Mail an<br />

stadtgespraeche@gmx.de bzw. auf dem Postweg an:<br />

Bürgerinitiative für eine solidarische Gesellschaft e.V.<br />

Dr. Jens Langer<br />

Lange Str. 16<br />

18055 <strong>Rostock</strong>.


0.36 __ //// REZENSION<br />

Gerechtigkeit<br />

<strong>Rostock</strong>er Erinnerungsarbeit<br />

JENS LANGER<br />

Mit Hingabe fasst Arvid Schnauer Ergebnisse und Beobachtungen<br />

des <strong>Rostock</strong>er Gerechtigkeitsausschusses aus der Zeit<br />

1989/90 zusammen. Ein zweiter Teil über die Jahre Ende<br />

1990-1994 soll folgen. Schon der Untertitel zeigt die unterschiedliche<br />

Art der Quellen an, auf die das Buch zurückgreift.<br />

Nach einleitenden Bemerkungen widmet sich fast ein Drittel<br />

der Darstellung der Entstehung und Konsolidierung des GA<br />

durch erste Regelungen und Vereinbarungen. Der GA wurde<br />

noch von der SED-geführten Stadtverordnetenversammlung<br />

gegründet. Der Vorschlag dazu kam gruseligerweise vom OIBE<br />

Wolfgang Schnur (hier als IM bezeichnet). Also ein changierendes<br />

Gründungsorakel, das Druck von der Staatsmacht nehmen<br />

sollte. Hat es wohl auch getan, wie es ihn ebenso erhöhen<br />

konnte. Das alles führte zu Unsicherheiten und Anlaufschwierigkeiten.<br />

Nicht dazu gehörte die Unfähigkeit des zugeteilten<br />

Sekretärs, die Schreibmaschine zu bedienen („oder das gehörte<br />

nicht zu seinen Aufgaben“, S. 42).<br />

Trotz aller Gängelungen setzt sich der Emanzipationswille der<br />

authentischen GA-Mitglieder durch. Alles in allem Sysiphusarbeit,<br />

die den Verfasser heute an Überschätzung der Kräfte denken<br />

lässt. Im dritten Abschnitt des Buches stellt er Beispiele aus<br />

der Arbeit vor: Immobilienverkäufe und Waffenhandel, die<br />

komfortable Politikkulisse im Hotel „Neptun“ und darum herum,<br />

die mit rechtsstaatlichen Korrekturen erst vor wenigen<br />

Jahren durch die ehrenvolle Verabschiedung von Direktor<br />

Wenzel in den Ruhestand endete. Da Schnauer mit Recht insgesamt<br />

die engagierte Mitarbeit von evangelischen Kirchenleuten<br />

betont, wäre es hier der komplexen Interessenlage angemessen<br />

gewesen, die Rolle von Evangelischer Kirche und Wolfgang<br />

Schäuble beim Untertauchen des Hotelgastes Schalck-Golodkowski<br />

in der BRD wenigstens zu erwähnen.<br />

Dieser Schalck, Vorfahr der globalisierten Ökonomie, war systemrelevant<br />

und schutzwürdig. Zu den behandelten Anliegen<br />

gehören auch Rehabilitationsverlangen aus Schule und Universität<br />

sowie der Umgang mit Seefahrtsbüchern als politischem<br />

Druckmittel. Dazu kommt schließlich die Überprüfung von<br />

Wahlfälschung aus dem Mai 1989.<br />

Das vierte Kapitel befasst sich mit der möglichen Einflussnahme<br />

des MfS auf den GA. „Meine aktuellen Recherchen (...) haben<br />

ergeben, dass im November 1989 keines der GA-Mitglieder<br />

als inoffizieller Mitarbeiter des MfS tätig war. Es gab allerdings<br />

einige Mitglieder, deren vorübergehende IM-Tätigkeit<br />

thematisiert worden ist bzw. durch Aktenfunde öffentlich wurde.“<br />

(S.100) Der (vorläufig) abschließende Teil bringt Resümees<br />

einzelner GA-Mitglieder. Sie äußern sich erfreulich differenziert<br />

und gehen auch auf Rechtsunsicherheiten ein. „Neid<br />

und Missgunst haben zu mancher Überspitzung geführt.<br />

[…]Insgesamt war die Arbeit des GA vom Ergebnis her unbefriedigend.“<br />

(S. 114). Der Verfasser selbst äußert in seinem umfassenden<br />

Abschlußbericht vom 27.10.1990 vor der Bürgerschaft:<br />

„Sie haben sicher aus meinen Worten herausgehört,<br />

dass wir ziemlich resigniert sind darüber, dass die wirklich brisanten<br />

Fälle, die, um derentwillen wir einmal angefangen hatten<br />

zu arbeiten, nicht gelöst oder zu einem Abschluss gebracht<br />

werden konnten.“ (S. 140) Einigermaßen überrascht es, dass die<br />

Mitglieder des GA eine rückwirkende kollektive Aufwandsentschädigung<br />

von zusammen 10.000 Mark erhielten. War das<br />

noch das Neue Denken oder schon das ganz neue?<br />

Dem Band ist eine zweite Auflage zu wünschen. Für das dann<br />

nochmals nötige Lektorat fallen mir einige Aufgaben ein, z.B.:<br />

Die Namensnennung handelnder Personen sollte einheitlich<br />

erfolgen, sofern nicht juristische Bedenken bestehen. Hans<br />

Rentmeister war nicht Regierungsbeauftragter für die MfS-<br />

Auflösung im Bezirk <strong>Rostock</strong>, sondern für die Rettung systemrelevanter<br />

Strukturen überhaupt zuständig und Ende 1989 bereits<br />

der zweite Mann in dieser Funktion (Anm. 28, S. 43).<br />

Frau Nichtweiß war bekennende evangelische Christin (S.65).<br />

¬<br />

---<br />

Arvid Schnauer: Zur Arbeit des <strong>Rostock</strong>er Gerechtigkeitsausschusses.<br />

Teil 1: 1989/90. Erinnerungen. Notate. Dokumente.<br />

Hrg.: Die Landesbeauftragte für MV für die Unterlagen des<br />

MfS, Schwerin 2009. 157 S. 978-3-933255-30-3


WIDERSTAND GEGEN<br />

SCHNÄPPCHENJAGD<br />

Qualität entsteht durch verwendete Materialien und aufgewandte Zeit. Wenn wir also nach Preiswertem suchen, entwerten<br />

wir nicht nur die Arbeitskraft, sondern billigen ausdrücklich schlechte Arbeitsbedingungen und gefährliche Arbeitsmittel.<br />

Konsequenz: Wertvoll vor Ort kaufen oder Selbermachen. Nähkurs!<br />

FOTO: TOM MAERCKER


WIDERSTAND GEGEN<br />

ENTSOLIDARISIERUNG<br />

Es gab Zeiten, da wurde dem Proletarier noch mit Achtung begegnet, da galt die Arbeiterklassenehre mehr als ein<br />

Ehegelöbnis. In Zeiten globalisierter Ausbeutung definieren wir uns heute lieber über Moden, Fußballvereine, Fernsehserien,<br />

Politik und Religion. Freiheitlich-demokratisch vereinzelt, beherrschbar und konsumorientiert.<br />

Mehr Gleichheit und Brüderlichkeit! Und das Recht durchsetzen, von der Arbeit leben zu können.<br />

FOTO: TOM MAERCKER

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