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FORMEN DES WIDERSTANDS - Stadtgespräche Rostock

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00.6 __ //// TITELTHEMA<br />

Europabrücke. Die Straßburger Innenstadt war dabei weiträumig<br />

abgeriegelt. Ich wurde Augenzeuge als eine Gruppe vorwiegend<br />

griechischer Demonstranten vor der Vauban-Brücke,<br />

welche in Richtung Kehl eines der Straßburger Hafenbecken<br />

überspannt, von polizeilichen Einsatzkräften gestoppt wurde,<br />

ohne dass es aus meiner Sicht den geringsten Anlass dafür gegeben<br />

hätte.<br />

Es wurde massiv Tränengas eingesetzt und es wurden Blendgranaten<br />

abgefeuert, ohne dass die Situation diesen martialischen<br />

Einsatz auch nur ansatzweise gerechtfertigt hätte: Es schien<br />

mir die reine Provokation. Die Rechnung ging auf, es folgte<br />

Reaktion und Gegenreaktion, die Brücke über das Vauban-<br />

Bekken wurde für Stunden gesperrt. Nachdem sich die Situation<br />

etwas entspannt hatte, wurde der Weg Richtung Kundgebungsplatz<br />

frei gegeben. Dort eskalierte dann die Situation. Es<br />

gelang mir, zusammen mit einer Kollegin bis zur Europabrücke<br />

vorzudringen, auf der allerdings bereits Barrikaden brannten.<br />

Wir wurden von der deutschen Polizei zunächst am Weitergehen<br />

gehindert. Das änderte sich erst, als wir den Beamten unsere<br />

Anwaltsausweise zeigten und mit rechtlichen Schritten<br />

drohten. Von unserer Position aus hatten wir das gesamte Gelände<br />

im Überblick, auch als die Zollabfertigungsgebäude<br />

rechts der Brücke, das ehemalige Zollgebäude für Personenkontrollen<br />

auf einer Verkehrsinsel hinter der Brücke zusammen<br />

mit dem dort gelegenen Cafe und der Apotheke sowie das Hotel<br />

Ibis in Flammen aufgingen. Bis heute ist unklar, aus welchen<br />

Gründen es fast zwei Stunden dauerte, bis Löschzüge auch von<br />

deutscher Seite aus vorrücken konnten. Darüber, ob und weshalb<br />

dies politisch gewollt war, wird immer noch spekuliert. Sicher<br />

ist nur, dass die Vorfälle Bilder lieferten, welche erneut<br />

Anlass für altbekannte martialische Sprüche des derzeitigen<br />

Staatspräsidenten schufen. Und Stimmung machten für neue,<br />

von ihm seit seiner Zeit als Innenminister systematisch betriebene<br />

Strafverschärfungen.<br />

Im Zusammenhang mit diesen Vorfällen wurden mehrere deutsche<br />

Staatsangehörige festgenommen, darunter auch zwei Personen,<br />

die aus <strong>Rostock</strong> stammen, zum Tatzeitpunkt 22 und 18<br />

Jahre alt. Diese beiden Personen habe ich zusammen mit meinem<br />

Strasbourger Kollegen Emmanuel HOEN verteidigt. Beide<br />

Personen legten unmittelbar nach ihrer Festnahme ein umfassendes<br />

Geständnis ab; nach einem Rechtsbeistand hatten sie<br />

zu diesem Zeitpunkt nicht verlangt.<br />

Dieses Geständnis wiederholten sie auch bei zwei Anhörungen<br />

vor der Ermittlungsrichterin wie in der Hauptverhandlung.<br />

Hier scheinen mir einige Erläuterungen zum Strafverfahren in<br />

Frankreich notwendig: Während in Deutschland die Staatsanwaltschaft,<br />

eine hierarchisch gegliederte Behörde und weisungsgebunden<br />

von unten nach oben die „Herrin des Verfahrens“<br />

ist, obliegen in Frankreich bislang die Ermittlungen unabhängigen<br />

Ermittlungsrichtern, welche das Verfahren eigenständig,<br />

ungebunden und weisungsfrei führen. Bislang deshalb,<br />

weil der amtierende Staatspräsident Frankreichs derzeit eine<br />

„Reform“ des Strafverfahrens dahingehend betreibt, dass die<br />

Staatsanwaltschaft weisungsgebunden und politisch abhängig<br />

die Ermittlungen übernimmt und führt. Diese „Reform“ sorgt<br />

für einige Unruhe unter Frankreichs Richtern und Rechtsanwälten.<br />

Das Vorverfahren gegen die beiden aus <strong>Rostock</strong> stammenden<br />

Personen wurde fair und sehr sorgfältig geführt, ermittelt wurde<br />

akribisch, jedoch erkennbar objektiv. Beweisanträge und Beweisangebote<br />

müssen nach französischem Recht im Ermittlungsverfahren<br />

präsentiert werden, was auch durch die Verteidiger<br />

der beiden <strong>Rostock</strong>er geschah. Nach Abschluss der Ermittlungen<br />

wird das Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft<br />

und der Verteidigung vorgelegt, die dann noch einen<br />

Monat Zeit haben, Einwendungen vorzubringen. Danach fertigt<br />

die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift und legt sie dem<br />

anzurufenden Gericht, in diesem Falle der zuständigen Strafkammer<br />

bei dem Landgericht in Strasbourg, vor.<br />

Am 16. November 2009 wurde verhandelt, es erging folgendes<br />

Urteil: Die beiden <strong>Rostock</strong>er wurden als Mittäter, jedoch ohne<br />

Teil einer Bande zu sein, zu jeweils 4 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt,<br />

gem. Art, 311/1 und 331/4 des französischen Strafgesetzbuchs.<br />

Qualifiziert, das heißt erschwert, war der Grundtatbestand<br />

des schweren Diebstahls durch den Einsatz eines auch<br />

für Personen gemeingefährlichen Mittels, nämlich des In-<br />

Brand-Setzens, welches sodann zur Zerstörung fremder Vermögenswerte<br />

geführt hat.<br />

Die Strafandrohung nach diesen Vorschriften reicht bis zu 10<br />

Jahren Freiheitsstrafe. Von diesen 4 Jahren hat das Gericht per<br />

Urteil bereits ein Jahr der Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt;<br />

angerechnet wird die Zeit der verbrachten Untersuchungshaft,<br />

ein weiterer Strafabschlag wurde durch die Justizvollzugsanstalt<br />

Strasbourg vorgenommen. Die Hälfte der sodann<br />

verbleibenden Reststrafe kann nach einer entsprechenden<br />

Anhörung der beiden Personen, die im Juni dieses Jahres stattfinden<br />

wird, ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt werden, sodass<br />

beide mit einer Freilassung im September 2010 rechnen dürfen.<br />

Zum Vergleich: Nach deutschem Recht würde hier § 300 a<br />

Abs. 2 iVm Abs. 1 Ziff. 3 StGB (schwere Brandstiftung) und §<br />

125 a Abs. 1 Ziff. 2 StGB (besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs)<br />

zum Tragen kommen. § 306 a normiert einen<br />

Verbrechenstatbestand; die Mindeststrafe beträgt also 1 Jahr,<br />

die Höchststrafe 15 Jahre, § 38 Abs. 28tGB.<br />

Nach meiner Auffassung wäre selbst dann, wenn die jüngere<br />

der beiden Personen als Heranwachsende zu einer Jugendstrafe<br />

verurteilt worden wäre - nach französischem Recht wird ab<br />

dem 18. Lebensjahr generell nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt<br />

-, kaum eine niedrigere Bestrafung zu erreichen gewesen.<br />

Dazu muss man wissen, dass derjenige, der zu einer Jugendbzw.<br />

Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt wird,<br />

diese nach deutschem Recht prinzipiell absitzen muss. Eine<br />

Aussetzung der Vollstreckung nach frühestens der Hälfte der<br />

Verbüßung der verhängten Strafe ist nur unter ganz besonderen<br />

Umständen möglich, § 57 Abs. 2 Ziff. 2 StGB. Diese Vorschrift<br />

kommt aller Erfahrung nach eher selten zur Anwendung, si-

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