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FORMEN DES WIDERSTANDS - Stadtgespräche Rostock

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0.21 __ //// TITELTHEMA<br />

Wer ein Unrecht lange Zeit<br />

geschehen lässt, bahnt<br />

dem nächsten den Weg<br />

CHRISTINE LUCYGA<br />

Das World Press-Photo 2003 von Jean-Marc Bouju zeigt einen<br />

Mann und ein kleines Kind, allein in einer Wüste hinter einem<br />

Stacheldrahtverhau. Sie sitzen auf dem kahlen, nackten Sandboden,<br />

ohne Wasser, ohne Essen, ohne Gepäck. Man sieht die<br />

brütende Hitze und man spürt die Qual der Beiden. Der Vater<br />

hält schützend sein leidendes Kind im Arm. Er legt ihm die<br />

Hand auf die Stirn; eine Geste der Liebe und Fürsorge, die<br />

auch wir kennen. Der Mann ist jung, wie seine Hände und Füße<br />

erkennen lassen, aber wir sehen sein Gesicht nicht, denn der<br />

ganze Kopf ist vollständig mit einer hohen, schwarzen, im Nakken<br />

zusammengebundenen Kapuze aus Plastik verhüllt. Das<br />

Atmen muss darunter zum Ersticken qualvoll sein.<br />

Auf diese Weise wurden - oft willkürlich festgenommene -<br />

„Terrorverdächtige“ auf dem Weg in die US-Militärgefängnisse<br />

und nach Guantanamo verhüllt. Aber kann ein Terrorist sein,<br />

wer sein Kind so liebevoll beschützt? Es ist ein Bild aus einem<br />

Krieg, der noch heute als „Kampf gegen den Terror“ deklariert<br />

wird (obwohl er mehr Terror als zuvor hervorgebracht hat) und<br />

zu dessen Rechtfertigung Begriffe wie Freiheit, Demokratie,<br />

und Menschenwürde herhalten mussten.<br />

Dem widerspricht das Foto. Es zeigt wie Freiheit genommen<br />

und Menschenwürde missachtet wird. Ohne Achtung von<br />

Menschenwürde kann es keine Demokratie geben. Wenn wir<br />

aber schweigend zulassen, dass in anderen Regionen der Welt<br />

durch das Militär von Industriestaaten, die sich demokratisch<br />

nennen, Unrecht geschieht und toleriert wird, dann hört unser<br />

Demokratieverständnis vor der eigenen Haustür auf. Wie sehr<br />

hatten wir die Demokratie vor 20 Jahren ersehnt und gewaltlos<br />

erkämpft. Wie stolz klingt noch heute der Satz, der den Widerstand<br />

gegen die Arroganz der Macht ohne Wenn und Aber ausdrückte<br />

und der diese Macht zu Fall brachte: „Wir sind das<br />

Volk!“<br />

Haben wir diesen Satz verlernt? Dabei gibt es doch in unserer<br />

brüchig gewordenen Demokratie Vieles, dem zu widersprechen<br />

und dem sich zu widersetzen ist. Nun möchte ich noch<br />

einmal auf das Foto zurückkommen: Es erinnert mich an den<br />

moralischen Zwiespalt, dem ich mit vielen Abgeordneten von<br />

SPD und Grünen im Dezember 2001 durch das faktisch erzwungene<br />

Ja zu einem ersten Einsatz der Bundeswehr in Afgha-<br />

nistan ausgesetzt war. Obwohl zu diesem Zeitpunkt das Taliban-Regime<br />

militärisch bereits besiegt war, und eine Teilnahme<br />

der Bundeswehr an Kampfhandlungen ausgeschlossen wurde,<br />

hätten wir, in guter parlamentarischer Tradition, unsere Zustimmung<br />

verweigert. Mit der – erstmals so praktizierten -<br />

Kopplung der Abstimmung an die Vertrauensfrage des Kanzlers<br />

hieß die Entscheidung nun: Welches ist das kleinerer Übel?<br />

Ein „Ja“, zugleich für Rot-Grün oder ein „Nein“, das mit dem<br />

Sturz der rot-grünen Regierung<br />

den Weg für die Konservativen freimachen würde, die damals<br />

militärisch zu mehr bereit waren, auch im Irak. Aber die Zweifel<br />

und der moralische Zwiespalt werden bleiben. Daran wird<br />

auch das gern beschworene Bild glücklicher befreiter afghanischer<br />

Mädchen, in neuen Mädchenschulen, nichts ändern.<br />

(Das erste Kriegsopfer ist bekanntlich die Wahrheit.) Denn<br />

schon längst ist der Terror, und mit ihm der Krieg, zurückgekehrt<br />

und fordert seine Opfer. Der Kampf gegen den Terror<br />

kann weder mit militärischen Mitteln noch mit Einschüchterungen<br />

a la Guantanamo gewonnen werden. Im Gegenteil: Es<br />

gibt durch Guantanamo mehr Hass, der sich durch Terror artikulieren<br />

könnte.<br />

Zu Recht haben wir Europäer die Auflösung der Internierungslager<br />

gefordert. Deshalb ist es inkonsequent und halbherzig,<br />

geschundenen, ehemals Internierten die Aufnahme hierzulande<br />

zu verweigern, zumal doch die Messlatte für eine Aufnahme<br />

schon sehr hoch hängt.<br />

Oft frage ich mich, was wohl aus den beiden Menschen auf<br />

meinem Presse-Foto geworden seien mag. Können sie die Erinnerung<br />

an die erlittenen Demütigungen je verdrängen? Werden<br />

sie uns ein Leben lang dafür hassen, dass wir dieses Unrecht zugelassen<br />

haben? „Wer ein Unrecht lange Zeit geschehen lässt,<br />

bahnt dem nächsten den Weg!“ sagte Willy Brandt. Was im<br />

Umkehrschluss bedeutet: „Sage Nein, misch dich ein!“ denn:<br />

„Wir sind das Volk“. ¬<br />

---<br />

Das Fotos finden Sie u.a. unter:<br />

www.geo.de/GEO/fotografie/fotogalerien/2121.html

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