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FORMEN DES WIDERSTANDS - Stadtgespräche Rostock

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Die Ermesslichkeit des Menschen (seine Begrenztheit) und die<br />

Annahme von der Gleichheit aller lebenden Menschen ließe<br />

nur die Möglichkeit, alle Menschen am Recht und der Rechtssprechung<br />

zu beteiligen. Diese Beteiligung aller, die Demokratie,<br />

jedoch braucht bei Strafe ihres Untergangs Regeln, damit<br />

der „Diskurs“ nicht zur Debatte, zum Streit, zur Schlammschlacht,<br />

und schließlich zur Kreuzigung eskaliert. Diese Diskursregeln,<br />

denen Habermas sein Leben gewidmet hat, betreffen<br />

nicht die Inhalte oder Nicht-Inhalte des Diskurses, sondern<br />

NUR seine Form. Eher im Gegenteil darf in einem funktionierenden<br />

sozialen Diskurs GAR NICHTS ausgelassen werden.<br />

Die ethische Begrenzung des Diskurses betrifft also nur die Regeln<br />

der Diskursführung bei gleichzeitiger Pflicht, sie auf alle<br />

Themen gleichermaßen anzuwenden.<br />

Gerade hochvalente Felder/Themen wie Sexualität entwickeln<br />

in dem Augenblick, da sie aus der Kommunikation bzw. der<br />

Demokratie ausgelassen werden, hohe Eigendynamiken und<br />

hüllen sich in Dunkelheit. Es ist unglaublich, dass trotz van de<br />

Velde, Masters & Johnson, 1968, FKK, Hite-Report, Frauenbewegung<br />

und XXL-Bekenntnisbüchern und Ratgebern diese<br />

Dunkelheit noch immer dieselbe zu sein scheint wie die der<br />

Schatten im Freudschen Arbeitszimmer. Noch immer / und gerade<br />

wegen des vielen Redens darüber / sind die Körperteile<br />

zwischen linker und rechter Leiste das Fremde, das Exotische,<br />

das Feuchtgebiet. So bedarf es der ständig neuen Erforschung<br />

und eben in dieser Kanalisierung der humanen Neugier liegt<br />

der Herrschaftsmechanismus. In Abwandlung des Uljanowschen<br />

Religionssatzes gilt: Die Sexualität ist das Opium<br />

fürs Volk. Diese narkotisierende Wirkung entfaltet sie eben<br />

nur, wenn sie als „Geheimnis“ konstruiert wird.<br />

Dem gebürtigen Ostelben stößt die gegenwärtige Retabuisierung<br />

der Sexualität mit allen Risiken und Nebenwirkungen für<br />

die uns umgebende Symbolwelt durchaus noch auf, spätestens<br />

dann wenn FKK- in Hundestrände umgewandelt werden. Erst<br />

beim Zappen durch die Unterleibswelt der Frauentäusche, heißen<br />

Stühle und Anmach-Soaps dämmert es uns, dass die Vermassung<br />

des Tabus ständig neue Unterschichten schafft, einen<br />

Diskurs, in dem sich das sich selbst reproduzierende Prekariat<br />

lieber das Frontalhirn als die Eier abschneidet. Die mediale Gewalt<br />

liegt also in der Schaffung einer limbischen Subkultur, die<br />

die (pseudo)kopulierende Bevölkerung auf ewig von der sozialen<br />

Teilhabe abkoppelt.<br />

Damit zurück zum Argument, dass der anhaltende Zorn über<br />

den sexuellen Missbrauch das eigentliche Verbrechen sei. Warum?<br />

Weil die Wut blind oder zumindest vertunnelt ist. So<br />

schwer erträglich es ist: Der Volkszorn ist essenzieller Teil des<br />

Tabus, welches die Sexualität umgibt. Das zornige Individuum<br />

wird nicht in der Lage sein, das Tabu zu brechen, sondern es<br />

macht das Geheimnis nur mächtiger. Für die Gruppe aber ist<br />

die Wut der Gerechten das Ende der Demokratie. Wie gesagt,<br />

der Diskurs braucht Regeln, denn nur so kann er eine erfolgreiche<br />

„soziale Technologie“ (Stanislaw Lem, Summa Technologiae)<br />

sein die geeignet ist, die Menschengesellschaft zu erhalten<br />

[sie an die sich ändernden planetaren Bedingungen anzupassen].<br />

Regelkreise<br />

Zwei Diskursregeln scheinen unverzichtbar für das Funktionieren<br />

der sozialen Technologie: die nicht enden könnende Suche<br />

nach Wahrheit und das Streben nach Gelassenheit wenn wir<br />

ihrer ansichtig werden sollten. Beide Regeln bedingen einander,<br />

denn die naturgemäß unendliche Suche nach Wahrheit<br />

wird von unkontrollierten Emotionen unterbrochen, sei es das<br />

Adrenalin der für sicher gehaltenen Erkenntnis oder der Dopaminmangel<br />

des erschöpften Zweifels, aber auch die Nicht-Inhibition<br />

des für gerecht gehaltenen Zorns usw.<br />

Sobald es dem Erkennenden jedoch gelingt, die Gelassenheit<br />

wiederzufinden, stellt sich schnell heraus, dass die Suche nach<br />

der Wahrheit wieder aufgenommen und fortgesetzt werden<br />

kann. Sozietäten unterliegen darüber hinaus Gruppenprozessen<br />

[beispielsweise wird Schuld oft in Form von Outgroups<br />

symbolisiert, der Sündenbock der Missbrauchs-Diskussion<br />

heißt gerade Papst, und seitdem gilt das „wir sind …“ nicht<br />

mehr]. Gruppen können es also schwerer haben mit der Wahrheit<br />

als Individuen, dennoch: Bei Strafe ihres Untergangs darf<br />

eine Gesellschaft ihre Erkenntnisse nicht für ewig gesichert halten.<br />

Das ist kein flachgespültes Playdoyer für die Herrschaft<br />

der Kognition, der Vernunft, der Ratio usw. Ohne Emotionen<br />

wird sich die - gegenwärtige - Menschengesellschaft kaum fortentwickeln,<br />

auch wenn mancher Technokrat das für besser hielte.<br />

Die Französische Revolution wurde durch die Vernunft der<br />

Enzyklopädisten zwar vorbereitet, ausgelöst aber wurde sie von<br />

der Romantik Rosseaus und dem Zorn der Waschfrauen. Auch<br />

die postmoderne Reflexivität bleibt ohne Konsequenz wenn<br />

keine emotionale Valenz entsteht [Wegbereiter der Grünen Bewegung<br />

ist eben nicht der Club of Rome, sondern Alexandra<br />

mit „Mein Freund der Baum ist tot“]. Das Gefühl bleibt Agens<br />

der Veränderung, bleibt es jedoch ungeregelt, hemmt es genau<br />

jene Veränderung, die es einst initiiert hatte. Die gegenwärtig<br />

in Deutschland zu verfolgende Auseinandersetzung um sexuellen<br />

Missbrauch von Kindern ist Äonen von einem aufgeklärten<br />

Diskurs entfernt – und das ist der Grund für das Entsetzen,<br />

mehr noch als die unfassbaren Taten. Die Opfer, Täter; Beteiligten<br />

und Unbeteiligten verlieren sich in Zorn, Schuld und<br />

Geschrei.<br />

Natürlich fällt nebenher auf, wie sehr sich einzelne Institutionen<br />

neben oder sogar über das MenschenRecht stellen, entweder<br />

weil sie eine Reformideologie „rein“ erhalten wollen oder<br />

sich gar gottnäher (deswegen durfte Nietzsche Gott auch nicht<br />

ganz sterben lassen, denn er steht als einziger über dem Recht<br />

und die Nähe zu ihm ist die Entfernung vom irdischen Menschenrecht)<br />

wähnen als andere. Wer glaube, es handele sich bei<br />

der Schule um eine transparente oder tabufreie Institution,<br />

wird frühestens als Schüler, spätestens als Elternteil eines Besseren<br />

belehrt. Noch 2004, als ich für die Zeitschrift „Schüler“ einen<br />

Artikel über Resilienz, also Widerstandskraft, bei Schülern<br />

schrieb, musste ich das Duckmäusertum erleben, welches ausgerechnet<br />

bis in die Redaktionsstuben einer Schülerzeitschrift<br />

(die mir bis dahin als Sinnbild eines journalistischen Freiheitsdranges<br />

erschien) reichte. In meinem Manuskript hatte ich le-

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