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FORMEN DES WIDERSTANDS - Stadtgespräche Rostock

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Bei letzterem wissen wir noch nicht einmal viel von seiner aktuellen<br />

Beschaffenheit. Es gibt kaum Wissenschaft, die sich mit<br />

der Beschreibung, der Funktionalität, der sozialen Verteilung,<br />

oder der Entwicklung von Sexualität, geschweige denn von ihrem<br />

Missbrauch, beschäftigen würde. Es gibt Studien über die<br />

lang anhaltenden Folgen bei Opfern sexuellen Missbrauchs<br />

und über die Prognose bei Sexualstraftätern. Es gibt Studien<br />

zur Häufigkeit kindlichen Missbrauchserlebens (siehe Tabelle)<br />

– dort aber wird die Wahrscheinlichkeit des Missbrauchserlebnisses<br />

mit dem Auftreten so genannter sexualisierter (als erwachsenen<br />

geltender) Verhaltensweisen operationalisiert.<br />

Als wir dieses Dunkelfeld mit einigen psychologischen Diplom-<br />

und Doktorarbeiten verkleinern wollten, erwies sich das<br />

wissenschaftliche Gewand als Mantel des Tabus: Ein Professor<br />

für Entwicklungspsychologie an einer norddeutschen Universität<br />

weigerte sich nach Auskunft einer Studentin, solche „pornographischen“<br />

Themen anzunehmen bzw. zu betreuen. Nicht<br />

nur das; er setzte KollegInnen unter Druck, das Gleiche zu tun.<br />

Wenn also bereits die Wissenschaft in Zorn gerät, darf man<br />

von den StudienteilnehmerInnen nicht mehr allzu viel verlangen.<br />

Unsere Studien an <strong>Rostock</strong>er und Greifswalder Einrichtungen<br />

liefen nur schwer an. Etwa zwei Drittel der angesprochenen<br />

Eltern von ABC-Schützlingen machten von ihrem<br />

Recht auf Teilnahmeverweigerung (trotz Datenschutzraumes,<br />

ethischer Unbedenklichkeitserklärung und schulamtlicher Zustimmung)<br />

Gebrauch, ein weiteres Viertel war bereit, selbst<br />

Auskunft zu geben, hielt es aber für gefährlich, wenn ihre Kinder<br />

zum Thema gefragt werden würden. Offenbar hatten sie alle<br />

die Vorstellung, dass ihre Kinder „Opfer“ eines Vertrauensverhältnisses<br />

(zwischen WissenschaftlerIn und Kind) werden<br />

würden.<br />

Unsere Grenze ist unsere Heimat<br />

Ich heiße nicht Kehlmann und betreibe meine Autoexegese<br />

eher lustlos. Dennoch: Als ich diesen Satz vor 15 Jahren in diesem<br />

Journal schrieb, trieb mich auch die Ahnung vom Horror<br />

der Grenzenlosigkeit, der plötzlich über Neufünfland hereingebrochen<br />

war. Und wieder berührt mich die Entgrenzung und<br />

der in ihr liegende Wahnsinn. Denn der Missbrauch von Kindern<br />

hat sich modernisiert und als Vertrauen getarnt. Es ist die<br />

unheilige Verquickung von Schutzmotiv, Gewalt und Abschirmung<br />

gegen die Umwelt, welches die unsäglichen Grenzübertretungen<br />

zeitgemäß macht.<br />

Ob Kirche oder Reformpädagogik, alle diese Institutionen fungieren<br />

pseudofamiliär und damit gefährdet die intrafamiliale<br />

Durchlässigkeit der Körpergrenzen, das Kuscheln, Schmusen,<br />

Waschen, Zubettgehen usw. zur Machtausübung und eigenen<br />

Vorteilsnahme auszunutzen. Die Machthaber gerieren sich<br />

gleichzeitig als „Freund“, als Trostspender, als Berater, Beichtvater,<br />

„Coach“ und Beschützer. „Kindnähe“ und Professionalität<br />

spannen ein Problemfeld auf, das mehrerer Auffangnetze<br />

bedarf um zu funktionieren. Zwar gibt es ein juristisches Netz,<br />

doch das braucht den Ankläger. Nach dem Menschengesetz<br />

verpflichtet die Kenntnis eines Missbrauchs niemanden, auch<br />

die Kirche nicht, diesen anzuzeigen. Wie Familien auch, entwickeln<br />

Institutionen jedoch ihre eigene Realität und schirmen<br />

sich vor der Nachbarschaft ab. Ein Unterschied ist, dass in<br />

nicht-familiären Institutionen das Inzest-Tabu [welches sich<br />

weder von Gott noch Freud, sondern aus den Regeln des Menschenparks<br />

herleitet] nicht gilt.<br />

Die Grenze zwischen leiblichen Eltern und Kindern ist evolutionär<br />

anders bestimmt, denn Inzest führt in den Tod. Schon<br />

die Anwesenheit eines Stiefvaters lässt die Stieftochter sexuell<br />

früher reifen und das Risiko eines innerfamiliären Missbrauchs<br />

in die Höhe schnellen, weshalb die Patchworkfamilie auch andere<br />

Körperwelten konstruieren muss, was sie in der Regel<br />

auch vermag [wieder ein unerforschtes Gebiet]. Wir alle wissen,<br />

dass Inzest- und Gewalttabus auch und vor allem in Familien<br />

durchbrochen werden, immer dann, wenn Gewalt, Drogen,<br />

Schweigen, Unterdrückung, dissoziale Motivlagen, Ohnmacht,<br />

Verzweiflung usw. den Schutzraum von innen aushöhlen.<br />

Die Forschung ist sich einig, dass das größte Risiko für einen<br />

innerfamiliären Missbrauch jedoch der AUSFALL DER<br />

MUTTER ist, denn sie zieht die Grenzen um das Kind herum,<br />

die es selbst nicht setzen oder verteidigen kann.<br />

Die Mütter also definieren unsere Heimat, siehe Mamajew-Hügel.<br />

Die Moderne aber bewältigt ihre „Unübersichtlichkeit“<br />

und enorm gesteigerte Mobilität vor allem mit dem Gedanken<br />

der Entgrenzung. Konstrukte wie „Privatheit“ verändern sich,<br />

wenn die Familienministerin feststellt dass es sich im Bundestag<br />

schlechter twittern lässt. Die Grenzenlosigkeit, ein Mythos,<br />

den das Bürgertum den Rennaissancefürsten abnahm, um Bewegung<br />

(unaufhörliches Wachstum, Kolonisation, Ich-Entfaltung,<br />

pursuit of happiness, soziale Mobilität usw.) zu spiritualisieren<br />

(weshalb Nietzsche in Gott das RUHENDE sterben<br />

ließ, oder wie der Papst einst sagte „Wir stehen den Menschen<br />

im Weg“), richtet sich eben – sobald vor dem Individuum<br />

nichts Erstrebenswertes mehr liegt – nach innen. Wenn jedoch<br />

auch innerhalb des Individuums entgrenzt wird, kann das Prinzip<br />

der Gewaltenteilung nicht mehr angewandt werden, denn<br />

nichts anderes tut der Wille, die Einsicht, die Ethik usw. als<br />

Grenzen setzen, auch und vor allem in uns selbst.<br />

Die Gewaltenteilung in uns selbst, also das Finden der Gelassenheit,<br />

ist unmittelbare Voraussetzung für die Teilung der Gewalten<br />

in der Gesellschaft. Grenzen wiederum sind die absolute<br />

Voraussetzung der Demokratie und einer erfolgreichen Sozialtechnologie,<br />

und deshalb muss der Umgang mit ihnen gelernt<br />

werden. Die Debatte um den sexuellen Missbrauch bietet also<br />

eine viel bessere Möglichkeit, der von Beck beschworenen Reflexivität<br />

der Moderne Geltung zu verschaffen, als es beispielsweise<br />

der Diskurs um die begrenzten Ressourcen des Planeten<br />

ist.<br />

Natürlich sind Sexual- und Ressourcendebatte verbunden,<br />

denn einerseits trägt die Abkopplung der Sexualität von der<br />

Reproduktion durch effektive Kontrazeption zur Ressourcenverlängerung<br />

bei (da weniger Esser und Verschmutzer entstehen),<br />

andererseits bringt die limbische Kultur weniger selbstbewusste<br />

Akteure hervor – und wenn, dann wird kognitive Elite

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