FORMEN DES WIDERSTANDS - Stadtgespräche Rostock
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Schwere des Tages und himmlischer Freiheit auferstehen lässt.<br />
Die Verschränkung von Personen und Zeiten, von Ausgeliefertsein<br />
und Einstehen für sich selbst samt einem unverschämt<br />
säkularen Gottvertrauen ohne jeden Hauch von Miefigkeit<br />
schaffen eine Dichtung aus bodenständiger licentia poetica, die<br />
ebenso stutzen lässt, wie sie beflügelt:<br />
Nach Wustrow! Nach Wustrow!<br />
Im August 1968 reiste ich nach Wustrow, an die Ostsee. Es hieß:<br />
Rüstzeit. Mit Helmut, Karin, Fred, Timo und Tina fuhr ich, im<br />
August 1968, in das Kaff auf dem Darß, zur Rüstzeit. In Wahrheit<br />
hatte ich mich wegen Simone, nur wegen Simone, in die ich,<br />
notorisch unglücklich, verliebt war, angemeldet. Pastor Arvid<br />
Brömse aus <strong>Rostock</strong> leitete die Rüstzeit. Er führte uns in die materialistische<br />
Bibelinterpretation ein. Simone aber, derentwegen<br />
ich da war, kam um Timos willen, des begabten Kruzianers, den<br />
sie im Jahr zuvor auf der Rüstzeit kennengelernt hatte, nach<br />
Wustrow. Pastor Brömse, er war damals neunundzwanzig, weckte<br />
uns in der Frühe mit seiner Trompete. Fünfzehn Jahre später<br />
wird Timo, als Dirigent bald zu Ruhm gekommen, am Pfeiler einer<br />
Autobahnbrücke in der Nähe von Essen gestorben sein. Staunend<br />
las ich, Peter Müller, 17, im August 1968, Pastor Arvid<br />
Brömse,29, ein Wort wie Eschatologie von den Lippen ab, in<br />
Wustrow. Das Rüstzeitheim lag neben der Kirche, am Bodden.<br />
Manchmal gefiel es Pastor Brömse, mit nichts als seiner blauen<br />
Dreieckbadehose bekleidet, am Strand von Wustrow auf und ab<br />
zu hüpfen und zu rufen: Trari, Trara, die Post ist da, und was<br />
hat sie uns denn gebracht? Einen Brief von unserem lieben Apostel<br />
Paulus! Abends lief ich, allein, in die Dünen und hoffte, Simone<br />
würde es bemerken, vergebens. Die Wüste, hatte ich von Pastor<br />
Brömse gelernt, sei ein bevorzugter Ort für Offenbarungen.<br />
Wenn Pastor Brömse im Meer gebadet hatte, durften ihm die<br />
Mädchen, Karin oder Simone, beispielsweise, vor unseren Augen<br />
die Haare kämmen. Der Kitzel der Illegalität erregte uns alle.<br />
Die Rüstzeit war, vom Rat der Gemeinde Wustrow, Abteilung<br />
Inneres, oder wem auch sonst, nicht genehmigt worden.<br />
Der Abschnittsbevollmächtigte von Wustrow, auch Der Binsensheriff<br />
genannt, hatte gedroht, er werde das klerikale Nest ausheben<br />
lassen. Pastor Brömse hatte uns, die Teilnehmer - immer<br />
Glieder, niemals Mitglieder, denn wir gehörten keiner Organisation,<br />
und schon gar keiner feindlichen, an - , über den Stand der<br />
Dinge unterrichtet, vor der ersten Lektion in Sachen materialistische<br />
Bibelinterpretation. Wir wussten, dass wir unser Abitur riskierten,<br />
als wir, alle, beschlossen, dass wir uns auf die Betten legen<br />
wollten, wenn sie kämen, um uns zu holen. Jedem von uns stand<br />
es frei, abzureisen, und keiner hätte es einem anderen angekreidet.<br />
Alle blieben. Fred knutschte mit Karin, auf Schritt und Tritt.<br />
Timo weihte Simone nachts am Strand in die Wonnen des Tonsatzes<br />
ein. Tina und Helmut ließen sich nicht aus den Augen. Timo<br />
brachte mir, immerhin, bei, was unter einer unharmonischen<br />
Verwechslung zu verstehen sei, und ich wollte unbedingt von Pastor<br />
Brömse erfahren, welche Rolle, nach Auffassung der materialistischen<br />
Bibelinterpretation, der Heilige Geist in Wirklichkeit<br />
spiele. Einige Jahre später sahen wir uns alle wieder, als Fred und<br />
Tina, zwei Wustrow-Veteranen, heirateten und bevor Timo bei<br />
Essen, hinter der Grenze, an einem Betonpfeiler starb.<br />
Der 20. August war ein Dienstag. Wir lagen in den Betten, als<br />
die Panzer kamen. Niemand beachtete uns. Sie überrollten uns<br />
nur. Und die Bibel hat doch recht, sagte einer, kleinlaut und trotzig.<br />
Streng wies Pastor Brömse die Schlagzeile zurück .<br />
Wolfgang Hegewald, Ein obskures Nest, Leipzig 1997, S. 108f<br />
Eine maßlose Übertreibung und nichts als die reine Wahrheit!<br />
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