Michael Perkampus – Ninegal 1 NINEGAL Na! - es gibt sie freilich ...
Michael Perkampus – Ninegal 1 NINEGAL Na! - es gibt sie freilich ...
Michael Perkampus – Ninegal 1 NINEGAL Na! - es gibt sie freilich ...
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<strong>NINEGAL</strong><br />
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 1<br />
<strong>Na</strong>! - <strong>es</strong> <strong>gibt</strong> <strong>sie</strong> <strong>freilich</strong> auch: die verruchten Fuchsmaschinen, die durch die<br />
Menschheitsg<strong>es</strong>chichte fimmeln; Damen, die so sonderbar in ihren Neigungen, daß<br />
sich so manch<strong>es</strong> Menscher=Ereignis wie klein<strong>es</strong> Honigbrot daneben ausmacht. Wollen<br />
wir je der Menschheit irgendwas verzeihen, dann die (Gefälschten oder ungefälschten<br />
<strong>–</strong> <strong>es</strong> ist ja eigentlich nicht von Belang) Dokumente über Giftmischerinnen, Rosinanten,<br />
Saub<strong>es</strong>en, <strong>Na</strong>chtvögel, auch: Herrscherinnen und Hellerhuren. Dem Weibe fällt <strong>es</strong> zu,<br />
uns mit dem Ende der Milch zu versöhnen. Ende der Milch, das bedeutet: 'Schale<br />
Wasser für die Zukunft'.<br />
Wie verrückt geht <strong>es</strong> zu in den inneren Absichten, zürnende Wolken, weil ich zögere,<br />
zu notieren, werde blaß, so daß ich deine Figur entdecken (unter den Wolkendecken)<br />
kann, da wie du oben liegst, ich unten dich sehe, zornende Luftschneise, Airus, Airus,<br />
Aehre der Höh', Regen zaunt den Wanderer (ich Wanderer) ein und läßt ihn nicht seine<br />
Trockenheit ausschwitzen. Geh durchnässt wie ein bitterer Gedanke, nähm' das neue<br />
Platt von allem Stapel, die Zeit, ich grüß <strong>sie</strong> dort, ich hielt' mich auf in der Erinnerung<br />
nur kurz, dann wurde <strong>sie</strong> das Erbleben, der Sack, mit dem man weitergeht und gellt<br />
(man ist so laut), aber kaum wäre die Semisphäre leiser, würden wir vielleicht nicht,<br />
oder vielleicht gar nicht einmal, zweimal existieren, brotnötig, daß ich jetzt in alle 4<br />
Himmelsrichtungen blicke, in 8 Erdrichtungen, in 16 Höllenkreise, in 7 Keller, macht<br />
zusammen 35.<br />
Nebenan huschten die Käfer in ihr Versteck, wenn Marion Brainfalk die Stufen nach<br />
oben schaluppte. Ein Flaggschiff von einer Kähnin. Zur Rache ihr<strong>es</strong> Lebens (geboren<br />
wie der Zufall in einem Wasserklosett) trug <strong>sie</strong> Bildung mit nach oben, katharinäisch,<br />
stampfend statt tastend, wie ein großer Schnaube=Eimer (nichts gefällt uns mehr als<br />
ein Meter Bücher=Meer); sei <strong>es</strong> nur ein Satzpalindrom gew<strong>es</strong>en, eing<strong>es</strong>tickt ins Segel<br />
ihrer ausgehäkelten W<strong>es</strong>te (gegen b<strong>es</strong>chleunigten Wind in Walldürn, dem<br />
Blutwunder=Örtchen): 'Sator Arepo Tenet Opera Rotas'. - Wie die Zimmer wippten <strong>–</strong><br />
wir wippten alle mit und fanden keinen Schlaf in unseren Lagern, wo Glühbirnen<br />
sprangen (aufgrund d<strong>es</strong> spannungsgeladenen Geist<strong>es</strong>) und der Seetang poltrig unsere<br />
Mägen anging.<br />
»Ich bin doch nur ein mit Migräne belasteter Schreiberling!« Röchelte aus und<br />
morgenbemäntelte mich f<strong>es</strong>ter. Polster gegen die schwanke Luft. Die Nebentüre ging<br />
klappernd, dann das Kläffen elektrischer Geräte. Aha, Kaffee. »Kann man denn nichts<br />
tun?!« Und Patrizia <strong>–</strong> nun hörte <strong>sie</strong> mich an <strong>–</strong> erblickte mich weiß wie eine Mondviole.<br />
»Ich spreche mit ihr.« Aber was? - 'Nehmen Sie bitte Ihren Körper zurück, geben Sie<br />
ihm das Schweben wieder! Drüben (bei mir auf der Couch) sitzt der fleißige Dichter<br />
und rumort mit dem Magen, hält kaum den Stift bei sich <strong>–</strong> so trunken vom Beben; wie<br />
<strong>sie</strong>ht Ihr Mitleid aus?' - Brachte dann zwei Aspirin und eine Einladung zum Essen<br />
zurück. (Ich kann unmöglich 4.320.000.000 Jahre von einer Schöpfung zur nächsten<br />
warten.) »Warten? Wi<strong>es</strong>o?« Ich erklärte: »Demiurgenscheiße. Ich schaff' ein Stück<br />
Welt. Kühl gelagert, könnt' <strong>sie</strong> sogar ein paar Tage überleben <strong>–</strong> oder im Kopf ein<strong>es</strong>
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 2<br />
Anderen.« »Sie würde dich halt gern kennenlernen.« Das fehlte noch! Unterhalten!<br />
Patrizia winkte mit den zwei kleinen Doktoren, Salicin, frisch von der Weide.<br />
Pülverchen <strong>–</strong> Du Glück! Mit dem Magen kann man mich kaufen. »Essen?« Stand da<br />
wie ein Frosch gerüstet gegen den Krieg gegen die Mäuse (oder wollen wir's lieber<br />
'Mausheit' nennen?).<br />
Sie sagte »Ba!« und sprach, mit Händen mehr, die Matte in der Ecke an, hob das<br />
Fleischgewitter unzart in den Horizont, ich folgte mit den Augen. 'Ba!' schaal=mault<br />
durchs Ba'uen, Uo'nen <strong>–</strong> das Urweib urlautet f<strong>es</strong>tg<strong>es</strong>tampft auf dampfem Boden;<br />
Machens, Wollens, Webens (im Vorbeigehen g<strong>es</strong>ehen: spinn=tell=thür an Stühlen<br />
klammern), Bindens, Fügens, Buhlens (Käulen schtatt Schmuck). Sie stand da und<br />
sagte Ba! wie ein Kind, das zum erstenmal die Zunge lippt', mit Spitze wippt'. Das<br />
erste Wort d<strong>es</strong> homo gartenbauikus. Und <strong>sie</strong> zeigte auf ihr Lager wie 'Dein Weigern ist<br />
Dein Tod'.<br />
Im Dorf: Muttermörder ohne Anrecht auf B<strong>es</strong>tattung und Wiedergeburt in einen<br />
Sack g<strong>es</strong>teckt in den Fluss geworfen; auch sah ich Männer, deren Bauch aufg<strong>es</strong>chlitzt<br />
<strong>–</strong> ihr Gedärm die Wunde ein<strong>es</strong> Baum<strong>es</strong> bedecken, den <strong>sie</strong> widerrechtlich fällen wollten<br />
<strong>–</strong> an d<strong>es</strong>sen Stamm f<strong>es</strong>tgebunden, bis <strong>sie</strong> ihr Leben aushauchten. Ich ein Mann in einer<br />
Gynaikokratie. Nicht um zu zeugen war ich ausersehen, sondern zur Befriedigung der<br />
weiblichen Lust. Die Weiber zeugten und gebaren aus sich selbst, die Idee der<br />
Befruchtung war ihnen fremd. Zögernd bewegte ich mich hin, wo <strong>sie</strong> mich haben<br />
wollte und dort schlug <strong>sie</strong> mich nieder mithilfe der z=hornigen Schwielen ihrer Hand,<br />
grätschte sich taillen und teilnahmslos über den Gefällten, den Regen beginnend, der<br />
aus dem Urwald ihrer Möse schüttete, so erbärmlich der G<strong>es</strong>tank der wilden Jauche,<br />
daß mich Übelkeit umfing. Schnuppernd fällte <strong>sie</strong> sich auf die Kniee, die Nüstern ein<br />
saugend<strong>es</strong> Organ, die rauhblaue Zunge leckte mich in eine empfindungslose<br />
Bereitschaft, Tollwut wuchtete sich auf mich und ritt ein Ackerpferd, ganz Veilchen<br />
und rot der Beckenschlag.<br />
Anmerkung zum Diktat und zur honiglichen Bildung (Quart 1)<br />
Lascaux; im Thale ausladenden Kalksteins, der sich oberhalb d<strong>es</strong> Fluss<strong>es</strong> vom Bade<br />
wieder trocknen läßt, hinunter wirft den Blick auf fruchtbare Ebenen und dichte,<br />
rätselhafte Wälder. Innergrotts; Chamber of the Felin<strong>es</strong>: die Urfrau, eine<br />
Langhaar=Trolle (die mit den langen Haaren unterscheiden sich von den uns<br />
bekannten Primaten durch das hauptene Gewöll, obselbst sich am ganzen Körper kein<br />
Pelz erkennen läßt. Die Konkurrenten d<strong>es</strong> Menschen starben aus, weil ihre Haare zu<br />
kurz.<br />
Ich finde dich wo immer du weilst<br />
(in einem fremden Garten)<br />
du sagt<strong>es</strong>t mir<br />
<strong>–</strong> Wo immer Du bist, ich will nicht länger warten auf Dich!<br />
Wir tränten Wein bei di<strong>es</strong>em Gelage, als Gildenhalle das Theater, ein barocker Brocken<br />
rafft sich auf, Monument zu werden. Eingefallene, g<strong>es</strong>chlissene Gänge, feurige Winde
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 3<br />
trotz furchigem Finster, daß mit Lüstern <strong>sie</strong> schnell kamen, kandelaber anzubringen<br />
wändens, maskiert <strong>sie</strong> alle, in Bilder eingefräßt, da rascheln <strong>sie</strong> sich ärmelnd an.<br />
Pechschwarz die Hand schon abg<strong>es</strong>chabt vom Mörtelstaub; der Pinsel war nicht borst<br />
gefärbt, das Fleisch der Sau nicht zart (die Knochen wollt' kein Hund an seinen Zähnen<br />
brechen, lechzen nicht nach dem Mark). Das Blut gab nichts von seinem Rot, kein<br />
Eisen wollt' <strong>es</strong> färben. Im Fichtensaft, pitu, so pechs geteert, die Federn d<strong>es</strong><br />
Gallo=Hahns getauscht gegen weiße Mütze, und gemustert steht ein Herz (mit di<strong>es</strong>em<br />
Fittich war's gemalt).<br />
Dunkle Wasser; die <strong>Na</strong>cht: schnell rast <strong>sie</strong> an, um die Ecken der Häuser gewickelt.<br />
Ankerplatz. Bis wir endlich mit Gewalt an di<strong>es</strong>e Insel der Träume rückten und in den<br />
Hafen, den <strong>sie</strong> 'Schlaf' nennen, einzogen, und stiegen bei dem Elfenbein=Thor zu<br />
Lande. Doch jetzt noch Schlaf finden, G<strong>es</strong>penster in Kellern, ich mit ihnen. »Wo hin? -<br />
Wo hin?«, der Wind nimmt die Verfolgung auf; schlaf', mein Herz, doch vorher richte<br />
dir ein Lager! - Die Schulter dagegen, di<strong>es</strong>e hier ist zu; eine wird sich finden lassen.<br />
Schlafmähre, Elfentraum, Couchemar, Fell so weiß. Die Abendgeräusche.<br />
Es ist (Liebe) wenn du kein Atemspiel mehr kennst. Geliebt wird, was man töten muß<br />
(die Idee daran zerbrechen muß), die Idee daran geliebt (die Liebe daran ideali<strong>sie</strong>rt),<br />
nachdem die Gewalt der rasend Lust das Weltenall erneuert; unter allen Trümmern<br />
nachsehen, ob ein Rätsel darunter wächst (die Sporen d<strong>es</strong> Orpheus verweht), das<br />
G<strong>es</strong>ingsel einer Rabin furcht luftend umher:<br />
Der Traum: Im Grunde sind’s Notizen, aus denen wir erwachen.<br />
Wer schlägt das neue Auge auf den Tag, da Häuser wir erneut geboren -<br />
die Sinne wild g<strong>es</strong>chmackte Beeren<br />
und Glieder zeichnen Stunden mit der Sonne nach:<br />
an bunt bemalten Wänden bricht die Uhrzeit auf den Weg,<br />
zerteilt den längst gethanen Schritt zu künftigen Gärten hin.<br />
Der Schlaf: Im Grunde ist’s die Reise, die Abends wir beginnen.<br />
Die mietskasernlich wohnen sind zu faul zum schlüsseln oft, so sind die Türen meist<br />
nur angelehnt ins Futter, man kam gut rein und runter ung<strong>es</strong>ehen. Viele gehen nachts<br />
nicht in den Keller, ihr Unterbewußtsein schläft so Jung. Es läßt sich leben im<br />
Verstoßenen, ausgelegene Decken muffeln ausgetretenen Teppichen gleich. Da lag ich<br />
wie ein Perser=Konning (oder wie ein Farser), dacht' mich ein mit dem Gedanken: Es<br />
<strong>gibt</strong> (wer <strong>gibt</strong>?) viele schiefgegangene Universen und unser<strong>es</strong> ist ein<strong>es</strong>, das am b<strong>es</strong>ten<br />
dasteht. Es ist nicht perfekt, aber b<strong>es</strong>ser als manch grobe Skizze (Föten, die ziellos<br />
umherirren). Fand Wein und Eingemacht<strong>es</strong>, Barbarenstück, mußte nur die Latten<br />
wegreißen, den Lärm mit einem Wollsakko dumpfen. Morgens der Erste sein fiel mir<br />
nicht schwer bei traumlichtem Schlaf. Hat man keinen Ort der Heimkehr, scheint <strong>es</strong><br />
draußen sonnenlos Winterkalt oder spätbelaubt Herbst zu sein. (Achts=Monat, also<br />
bald Herb). Ein<strong>es</strong> gehörte mir von Anfang an: Liberte. Das wunderbare Zeichen einer<br />
blutrunst-ungünstigen Revolution. Noch schwimmend in der Engel=Suppe, fordernd<br />
und Ahn=End, nicht: wissend. Bannkreis um mich, radikal das Leben, vollständig
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 4<br />
geatmet die zugeteilte Luft, aufg<strong>es</strong>tachelt von magischen Lungen für magische Worte,<br />
flammende Blicke, Rätsel der Jugend (das Leben muß g<strong>es</strong>ellschaftlich so organi<strong>sie</strong>rt<br />
werden, daß jeder seinen individuellen Lebenskeim entfalten kann. G<strong>es</strong>ellschaft ist<br />
eine Verbindung zur wechselseitigen Hilfe bei der Entwicklung der Lebenskeime. Die<br />
Entwicklung d<strong>es</strong> Einzelnen ist das Sinnzentrum der G<strong>es</strong>ellschaft. gez.: der kleine<br />
Spaß), mir mangelte <strong>es</strong> an nichts.<br />
Das Bett ist der Ort, an dem man liebt und träumt, die wahre Werkstätte der Literatur,<br />
d<strong>es</strong> Dichters eigentliche Heimat, oh H<strong>es</strong>peros, Sohn der Eos, sanft und b<strong>es</strong>cheiden und<br />
errötend wie ein jung<strong>es</strong> Mädchen, dein Renaissance=Bett im wunderbaren Drang der<br />
Liebe, Trank der Liebe, Graublaue Augen, oh Mensch, so graublaue Augen. Ich kann<br />
doch kaum aus meinen Tagen sterben in die Nächte hinein. Wollust nämlich, Hort der<br />
Auflösung, ich kam nackt aus meiner Mutter und trat der Göttin vor den Schooß, steige<br />
herab in meine grünen Auen, direkt hinein in mein Gebett im Beet von Aprikosen und<br />
Nelken, der Erkenntnisquelle Tod und Thor Geburt und Thor, hold Kreuzungspunkt<br />
der Sinne.<br />
Sie hat immer da g<strong>es</strong>tanden, am Brunnen. Sie hat dann immer gewunken, am Stall,<br />
ging wieder ins Haus und erschlug heimlich Fliegen. Die legte <strong>sie</strong> in Reih und Glied<br />
neben ihre Groschenromansammlung, gegenüber polterte die Thür in den Engeln<br />
(Dreh- und Engelpunkt).<br />
Mein <strong>Na</strong>me ist …; ab und zu schreibe ich G<strong>es</strong>chichten nieder, schichte <strong>sie</strong> wie Holz im<br />
Kamin, das ist wie fliegen über Existenzen und Gedankenfelder hinweg, wie das<br />
Erfühlen, Ertasten der Manniglichkeit. Ich lebe in einer Posse, mir ist ja all<strong>es</strong> Wunder!<br />
Und der Erzähler ist ein Wunderer, wund ist er; Wund=Er.<br />
Vonderstraße. Vonderstraße.<br />
Ich lebte von Bett zu Bett in einer Zeit d<strong>es</strong> Schlaf<strong>es</strong>, der untheilbaren Begierde, der<br />
Lust, Wünsche, Vorhaben, Illusionen. Sie nahmen mich ja mit als gälte <strong>es</strong>, Früchte zu<br />
pflücken. (»Wo lebst Du?« - »In Kellern.« - »Ist das nicht sonderbar?« ). Die<br />
Fantastereien purzelten wie ein sich entleerender Pilzekorb aus meiner<br />
Mundschlagader, fremdsternig, hier nicht zuhause, frei. In meinem überwältigenden<br />
Bedürfnis nach dem Ander=Part entdeckte ich Urthum, nichts mit Verstand. (Thust Du<br />
mich verstehen Worte?) Und <strong>sie</strong> bewegt sich doch <strong>–</strong> soviel kann ich dir ja schonmal<br />
sagen. Oder anders: G<strong>es</strong>under Menschenverstand. G<strong>es</strong>und ist am Verstand schon<br />
einmal gar nichts.<br />
Vorspiel zu einer Philosophie d<strong>es</strong> Wunderbaren (Quart 2)<br />
Im Jahre 1670 wurde eine kleine Schrift d<strong>es</strong> Henri Montfaucon de Villars, namentlich<br />
Der Graf Gabalis oder die Einführung in die Geheimwissenschaften, gerichtet gegen<br />
die 'P<strong>es</strong>t der Vernunft', zum B<strong>es</strong>tseller. In di<strong>es</strong>em Werk finden sich polemische<br />
Hammerschläge gegen die aufklärerischen Begriffe. Der gebildete Abbè erkannte,
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 5<br />
lange bevor die Romantiker die Aufklärung in Grund und Boden philosophierten, daß<br />
das Wunderbare eine Realität zwar nur im menschlichen Bewußtsein hat, dort aber<br />
unauslöschlich ist. Im Gegensatz zu den Dogmatikern der Aufklärung erkannte de<br />
Villars, daß die Klarheitsforderung auf ein Verdrängungsprinzip hinausläuft, aus dem<br />
sich nun, wie man heute b<strong>es</strong>tätigen kann, wiederum Zwangsverhalten und Psychosen<br />
herausbilden. Unabhängig aber von tatsächlichen Geist<strong>es</strong>krankheiten, welche die<br />
Vernunft im Gepäck mit sich führt, leitet <strong>sie</strong> eine Instabilität ein, die Horkheimer und<br />
Adorno mit der aus der Psychoanalyse entlehnten Figur der 'Wiederkehr d<strong>es</strong><br />
Verdrängten' b<strong>es</strong>chrieben haben:<br />
Mit der Furcht vor der <strong>Na</strong>tur nahm das rationale Weltbild dem Menschen auch die<br />
vertraute Beziehung mit ihr; die hinzugewonnene Macht über <strong>sie</strong> bezahlte er mit einer<br />
Entseelung der Welt. Die Welt verliert an Sinn, obwohl <strong>sie</strong> immer eingehender erklärt<br />
wird.<br />
Es war eigentlich der Proz<strong>es</strong>s der Aufklärung selbst, der die neuen Formen d<strong>es</strong><br />
literarischen Wunderbaren, wie <strong>sie</strong> gegen Ende d<strong>es</strong> 17.Jahrhunderts entstanden,<br />
notwendig machte: Da die Wunder in der Welt nicht mehr vermutet werden durften,<br />
mussten <strong>sie</strong> sich in der reflektierenden Phanta<strong>sie</strong> einen neuen Ort suchen. Hamann<br />
wird <strong>es</strong> noch viel klarer erläutern: Die mordlügnerische Philosophie der Aufklärung hat<br />
nach Hamanns Meinung die <strong>Na</strong>tur aus dem Wege geräumt. Und di<strong>es</strong>e mordlügnerische<br />
Philosophie bedient sich der Vernunft. Ein Wunder ist das, was sich nicht an die von<br />
uns gemachten Regeln hält, die wir u.a. irrtümlich <strong>Na</strong>turg<strong>es</strong>etze nennen. daß sich das<br />
Wunderbare jedoch nicht stand<strong>es</strong>gemäß erfassen läßt, gehört zu seiner <strong>Na</strong>tur, denn<br />
eben di<strong>es</strong>e <strong>Na</strong>tur kann zwar in ihre B<strong>es</strong>tandteile zerlegt, aber nicht begriffen werden.<br />
Überhaupt ist das Wunderbare eine Wunscherfüllung, die tatsächlich wider jeglicher<br />
Vernunft zu beobachten ist, also mit derselben Empirie wahrgenommen werden kann,<br />
die di<strong>es</strong>e dem Grunde nach ablehnen muß.<br />
Gleichzeitig aber ist das Wunderbare das eigentlich Schöne. Wenn nämlich nicht in<br />
seinem Erscheinen, dann in seinem G<strong>es</strong>chehen. Das Wunderbare setze ich mit dem<br />
Lustprinzip gleich währendd<strong>es</strong>sen die Vernunft die Aufgabe d<strong>es</strong> Zensors übernimmt.<br />
Zensur jedoch führt uns wieder zum Problem d<strong>es</strong> Verdrängens hin. Verdrängt wird das<br />
Wunderbare d<strong>es</strong>halb, weil <strong>es</strong> nicht in das willkürliche Konzept unserer erfundenen<br />
Regeln passt. daß wir, wo immer wir uns auch hinwenden, ausnahmslos auf das<br />
Unerklärliche stoßen, tut unserer bizarren G<strong>es</strong>etzmäßigkeit keinen Abbruch. daß wir<br />
überall, wo wir auch hinblicken - ununterbrochen - dem Wunderbaren ausgeliefert<br />
sind, verdrängen wir, jedoch nicht im mind<strong>es</strong>ten erfolgreich. Begriffen wir die <strong>Na</strong>tur<br />
nämlich b<strong>es</strong>ser als <strong>es</strong> der Fall ist, würden wir leicht erkennen, daß das Wunderbare<br />
durchaus im Sinnlichen und nicht im übersinnlichen Raum zu finden ist. Warum <strong>es</strong> das<br />
Übersinnliche nicht geben kann, hat seinen Grund darin, weil wir bereits aus all dem<br />
selbst b<strong>es</strong>tehen, was <strong>es</strong> im ganzen Kosmos zu finden <strong>gibt</strong>, weil nichts von uns<br />
überhaupt getrennt existiert.Doch was immer auch g<strong>es</strong>chieht und nicht g<strong>es</strong>chieht ist<br />
unsere Vorstellung von dem, was g<strong>es</strong>chieht oder nicht g<strong>es</strong>chieht, ist der Unterschied<br />
zwischen Idealität und Realität. Nun wissen wir heute <strong>freilich</strong> zu sagen, daß die<br />
Realität und die Idealität gar nicht in einem Dualismus (wie etwa bei D<strong>es</strong>cart<strong>es</strong>)<br />
aufgehen, weil wir nun einmal nicht vermöge sind, von einer Objektivität so zu
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 6<br />
sprechen, daß <strong>sie</strong> auch gleich als Realität zu erfassen ist, von einem Ideal und Subjekt<br />
aber zu behaupten wagen, daß sich 'Welt' in unserem individuellen Bewußtsein<br />
generiert und nirgends sonst.<br />
Gleichzeitig würde das aber auch bedeuten, daß die Welt, wie <strong>sie</strong> uns erscheint als<br />
unser persönlich<strong>es</strong> Ideal zur Realität wird, in dem wir genau di<strong>es</strong>e Welt hervorbringen<br />
und eben keine andere.<br />
Gotte in Hund <strong>–</strong> der Mensch b<strong>es</strong>eelter Hundekot (Köttel, Köter), Zufall der Sprache?<br />
Sie fällt zuhauf von einem Fall in den nächsten. GOD=DOG; fällt tiefer als daß man<br />
hinterherkäme.<br />
Das Leben hat stets die Bedeutung d<strong>es</strong> Traum<strong>es</strong>, bloße Existent; Erwartungen fallen<br />
wie Aepel von den Bäumen. Unbändig<strong>es</strong> Zutrauen zur poetischen Produktivität als<br />
eine grenzenlose, freie Ausdrucksb<strong>es</strong>tätigung, die allen irrationalen Zuflüssen, bis zur<br />
Halluzination und zur Willkür d<strong>es</strong> Zufalls offen stehen darf, weil <strong>sie</strong> zu einem<br />
w<strong>es</strong>entlichen Theil auf archaischen Schaltungen unserer Psyche beruht.<br />
Drunten im Hermelin war's. Wir kneipten fröhlich, naschten von den rossigen Lippen,<br />
tätschelten das feiste Arschfleisch, tranken immer noch was mehr. War's noch, daß die<br />
Mägdlein lachten und sich auf die Hose setzten für ein Weil der Energie. Da wollt' kein<br />
Licht G<strong>es</strong>ichter reißen aus den Schatten in der Luft, kerzenflammend teinted jedwed<br />
fremd Entzücken über=All, Musik schwoll aus dem Gläserrücken, Bierverschütten,<br />
Händekramen. G<strong>es</strong>ang marscht aus dem Zähneblecken, Augengecken: nassem Wort;<br />
auch ein Kuß auf nackten Arsch. Und später, wenn man's treiben wollt', fiel man<br />
betrunken heimwärts.<br />
»Mit di<strong>es</strong>em ersten Essen gelangen wir auf seltsame Pfade!« Wie ich meine Tage<br />
verbringe? - L<strong>es</strong>end! An die Blätter gef<strong>es</strong>selt. Jede Störung ist mir ein Schmerz in<br />
meiner Brust, die Wut entfacht und Abscheu. Wir nahmen Platz auf Knochenstühlen,<br />
auf dem Boden lümmelte verstreuter Reis, noch im eigenen Korn verpackt. Eine<br />
Elevin stolperte hastend ein paar Figuren vor uns hin, gerüschte Haut. »Meine<br />
Tochter.« Die Tochter also; nervös zipfelnd, dünn. »Das liebe Kind! Und wie <strong>sie</strong><br />
tanzt!« »Sie kann sonst nichts«, b<strong>es</strong>tätigte man uns. Baudelaire, G<strong>es</strong>ammelte Schriften<br />
<strong>–</strong> ich seh's von hier: 'Ich liebe die Wolken... Die eilenden Wolken... Dort Draußen...<br />
Die wunderbaren Wolken...' - Große Dichtung, muß man schon sagen. Sie. Allwissend.<br />
»<strong>Na</strong>ch Baudelaire ist die Verblüffung eine der feinsten Formen d<strong>es</strong> Vergnügens.<br />
Warum nur ist <strong>sie</strong>'s?« »Der Dichter wird sich rächen wollen, dafür, daß er<br />
unverstanden und allein durchs Leben gehen muß. Damit wird die richtige Lösung<br />
schon berührt sein, die, um ganz gefunden zu werden, zuvor wohl eine Psychologie<br />
d<strong>es</strong> Dandyism nötig macht, denn - sollte di<strong>es</strong>en Hang zur Mystifikation nicht ein Zug<br />
sein, der in direkter Korr<strong>es</strong>pondenz mit d<strong>es</strong> Dandys oberstem Grundsatz steht: 'Nihil<br />
admirari'? - Ich bin <strong>es</strong> leid, den Menschen um mich herum zuzuhören, so fordere ich<br />
also jene in mir auf: sprecht! wozu sonst wollte ich euch nähren?« Ihr G<strong>es</strong>icht ballte<br />
sich <strong>–</strong> wie ich mich so g<strong>es</strong>chickt mit Charl<strong>es</strong> verband. Patrizia knirschte mit den
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 7<br />
Zähnen, wüst. »Mit Traktaten und Dichtkunst?« »Mit mehr als das <strong>–</strong> mit<br />
Zaubersprüchen!« »Dann begegnen wir uns an di<strong>es</strong>em Tisch als Magier!«<br />
Die Elevin: Der mimische Tanz d<strong>es</strong> Dämons der Fruchtbarkeit dringt in den Kreis d<strong>es</strong><br />
Menschlichen. So erfindet <strong>sie</strong> den Mimus. Vom Lande drängt <strong>sie</strong> sich mit der<br />
steigenden Bedeutung d<strong>es</strong> niederen Volk<strong>es</strong> in die Stadt. Aber auch da bleiben ihre<br />
Späße roh und ausgelassen, mind<strong>es</strong>tens naturwüchsig und klotzig und völlig allein der<br />
Darstellung d<strong>es</strong> Lebens zugewandt, aber auch voll kernhafter G<strong>es</strong>undheit und f<strong>es</strong>ter,<br />
auf Erden stehender Kraft.<br />
Die völlige Einsamkeit ist schwer. Die b<strong>es</strong>eelte Existenz der Dinge ist das einzige, das<br />
den milliardenschweren Druck nicht ungezügelt auf uns einpr<strong>es</strong>sen läßt. Wenn wir<br />
hinaus zur Ewigkeit blicken, nennen wir <strong>sie</strong> Horizont, denn ohne Halt stürzen unsere<br />
Augen in sich zusammen. Für die Ewigkeit wären wir dann blind und sähen nur mehr<br />
Einsamkeit. Nur in paradoxen Bildern läßt di<strong>es</strong>e sich b<strong>es</strong>chreiben, denn 'Ein' meint<br />
nicht Größe sondern Stille.<br />
Der Schmerz verließ mich beim Anblick solcher Pracht; nur eine verdiente Dumpfheit<br />
blieb lauernd im Hintergrund. Die Karten auf dem Tisch <strong>–</strong> ein bunter Blätterwald. daß<br />
ich jetzt mein Leben ausbreiten könnte, fiel mir nicht ein. Patrizia wartete auf die<br />
Stimme, kannte <strong>sie</strong> ja auch schon länger <strong>–</strong> meine Entdeckerin (so viel Jugend darf<br />
nicht sträßlings verkümmern und verkellern!) Da war ich untergekrochen, sinnierte<br />
meinem Treiben, oder: dem Treiben überhaupt. Die höllische <strong>Na</strong>chbarschaft kostenfrei<br />
mitgegeben, g<strong>es</strong>chwätzig auch. Eine Baba Yaga 'klusive Tochter trifft Hackelberg, den<br />
Anführer der 'Wilden Jagd'.<br />
Weltlich: »Ich lege dem Dichter den Tarock und er hilft mir beim Umziehen.« Dreist.<br />
»Ehrlich?! Wo soll's denn hingehen?« »Der Deutschorden: Bad Mergentheim.« Daß<br />
man das immer sagen muß <strong>–</strong> Mexiko; Menschenopfer <strong>–</strong> Jerusalem; Schrein d<strong>es</strong> Buch<strong>es</strong><br />
<strong>–</strong> Trier; Puerta Nigra. »Die Zukunft brauche ich nicht. Es steht doch schon all<strong>es</strong> in den<br />
Monographien, wie <strong>es</strong> enden wird. Reden wir lieber über Bücher!« »Über<br />
Giftmischerinnen!« (Jedem sein R<strong>es</strong>sort.) Der Kaftan verließ den Raum, robte in die<br />
Küche und fuhr mit Getisch retour. Die Manu=Elevin, das Signal der übermächtigen<br />
Abw<strong>es</strong>enheit nutzend: »Ich werde eine Prima Ballerina!« Achso. Zunächst in jedem<br />
Fall balla; aber: die spricht <strong>–</strong> das ist mehr, als ich von den meisten erwarte. Jetzt, so mit<br />
13: Getänzel (später hielt <strong>sie</strong> sich für eine Untote, zerfettete formal, verliebte sich in<br />
Pudding, Rendezvous mit Schneckenmarmelade. Jaja, der gebildete Antiautoritäer <strong>–</strong><br />
frisch wie der Archäopterix in der Welt, vernagelt wie die Sphinx (Orpheus mit 'ner<br />
Bargfelder Ausgabe unterm Arm - »Da hast du tausend neue Fragen, deine<br />
'G<strong>es</strong>ammelten Werke' stehen mittlerweile im Ramsch!«) Sphinx: (lächelt, kann sonst<br />
nichts). Manu=Elevin <strong>–</strong> tanze! - Zombi<strong>es</strong> mögen dich allzeit b<strong>es</strong>chützen vor dem<br />
deutschen Gammelfleisch! »Essen Sie!« wurde gemahnt, »Ich bin schließlich nicht<br />
Cornelia, die Patrizierin!« - Ich hätte mir lieber weiter die Buchrücken b<strong>es</strong>ehen. 'Große<br />
Giftmischerinnen der G<strong>es</strong>chichte' lag ja schon parat. Patrizia (nun wirklich keine
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 8<br />
Patrizierin) mundete bereits herum, auch die Elevin wedelte sich tytyn an den Platz,<br />
verschwamm unterm Nudeldampf. (Nudeln! Großer Gott! Fällt den Leuten denn nichts<br />
ander<strong>es</strong> mehr ein?) - »Ein Gerücht«, zog den Tisch an mich, »Jean-Pierre Lobi<strong>es</strong> und<br />
Denise Masson-Steinbert nennen in ihrem Fundstellen=Lexikon mind<strong>es</strong>tens 60<br />
Cornelias. Da bleibt <strong>es</strong> nicht aus, daß eine von ihnen eine Giftmischerin gew<strong>es</strong>en ist.«<br />
Zufrieden tauchte ich unter, Kondens und Kochtau <strong>–</strong> mein Kopf wummerte wirklich<br />
nicht mehr. - Sie gab <strong>es</strong> zu, schielte fortlaufend zum Tarock. »Ja. Hegen Sie denn als<br />
Psychologe kein Inter<strong>es</strong>se an wirklicher Perversion?« Schau mal einer an. (Ich tat's,<br />
aber zu früh zeigen wollte ich's nicht.)<br />
Hatten nicht immer die Frowen die Kunst verstanden, die in Stäbe eingeritzten<br />
Buohstaben zu deuten? Buohstabenkunstlerinnen, die das Raunen losten, die das, was<br />
die durch das rȋzzan gelost, dem Reißer huldigen, wie heute noch <strong>–</strong> ob brüllig ob klein:<br />
Ist die Alliteration geglückt, darf er sich im Bade mit ihr suhlen (schreibt nicht gar<br />
jeder für die Weps). ‘Kepse mio: Ich abc=literare Dir!’ und: Blitz und Blank; und: pull<br />
mein Phall!<br />
Im Lande Ingwäoni: Die Flattermannen. (Grüß die Römherr, grüß die Kriechen, grüß<br />
die Schlawen, grüß die Keltoi!) <strong>–</strong> Die Bernsteingefäße voll Rabenblut. Di<strong>es</strong> Martis<br />
erzähle ich das Gerücht nun weiter. Wir sind nicht an dem Städtebau inter<strong>es</strong><strong>sie</strong>rt, leben<br />
abseits ein<strong>es</strong> Jeden lieber als mit ihm oder in seiner Nähe; nicht wie ihr in Rom, die ihr<br />
gut und gerne aufeinander hockt, den Schweiß d<strong>es</strong> Andern deutet (ein Moschusgeflecht<br />
auf Pergament). Ihr habt <strong>sie</strong> daro lang nicht mehr g<strong>es</strong>ehen: Druckgeister, Manwulfe,<br />
Alben und Wichte mit ihrem König Oberon; Alraunen, Feen und Wahl=küren <strong>–</strong> euere<br />
G<strong>es</strong>pinster sind euer eigener G<strong>es</strong>tank!<br />
Der goldene Taft der Lehmauen, die Wiederholungen; Handlungen im Ritus: G<strong>es</strong>ichter<br />
im Spalier, hornhaarig eingerahmt, flatternd<strong>es</strong> Zymbol. Die Trajektorie ist in die Irre<br />
gelaufen: Die Erde krankt an Monokulturen. <strong>–</strong> “Habt ihr” (am Bahngleis sprach ich,<br />
die G<strong>es</strong>ichter muhten mich an, schlanker Versucher Wind sucht in den Taschen), “vor,<br />
einen von Schuld und Übel freien Handlungsstrang zu beginnen?” <strong>–</strong> Zeitdach, Giebel<br />
nach dem Osten. Die Säulen stemmen sich aus dem Brei der Vergangenheit empor,<br />
illud tempus: Wenn der Zeitdom einbricht, wird die große Katastrophe kommen. Das<br />
Universum pul<strong>sie</strong>rte in 6 Augen; nahmen <strong>sie</strong> mich wahr mit ihren Henkeltaschen?<br />
Haben ja erst eine Spanne von 10 Mill Jahr hinter uns, also Frischlings=Sicht: Ich<br />
erschien ihnen alt.<br />
Es <strong>gibt</strong> w<strong>es</strong>entliche Anhaltspunkte dafür, warum ich ausgerechnet zur <strong>Na</strong>chtseite der<br />
<strong>Na</strong>turwissenschaft <strong>–</strong> zu Romantik, Surrealismus, Tiefenpsychologie und Hypnose<br />
tendiere <strong>–</strong> die all<strong>es</strong>amt nicht zugeeignet, sondern Vorhanden<strong>es</strong>, noch nicht<br />
dechiffriert<strong>es</strong> Ideen- und Zeichengut im Kelch der Blume waren. Für mich ist <strong>es</strong> nicht<br />
allein eine Frage der Intelligenz, all<strong>es</strong> in einem großen Zusammenhang zu sehen und<br />
sich entschieden gegen Rationalismus und Materialismus zu stellen: ich wurde bereits<br />
in der Romantischen Urlandschaft geboren. Keine andere Umgebung wäre mir für
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 9<br />
meine Niederkunft Wert gew<strong>es</strong>en, in ihr zu sein, zu krabbeln, zu kriechen <strong>–</strong> und später<br />
zu gehen, bis hin zur reichen Wanderschaft. Die Tiefe d<strong>es</strong> Wald<strong>es</strong> lebte in mir fort, wie<br />
<strong>sie</strong> sich nur dort finden ließ mit ihren verborgenen Feenauen, Zaubersteinen <strong>–</strong> ihrer<br />
allb<strong>es</strong>eelten Gegenwart. Mit dem berühmten Dichter mein<strong>es</strong> Land<strong>es</strong>, mit Jean Paul<br />
möchte ich <strong>es</strong> mit=schwärmen: 'Ach welche Lichter und Schatten, Höhen und Tiefen,<br />
Farben und Wolken werden draußen kämpfen und spielen und den Himmel mit der<br />
Erde verknüpfen <strong>–</strong> sobald ich hinaustrete (noch ein Augenblick steht zwischen mir und<br />
dem Elysium), so stehen alle Berge von der zerschmolzenen Goldstufe, der Sonne,<br />
überflossen da <strong>–</strong> Goldadern schwimmen auf den schwarzen <strong>Na</strong>chtschlacken, unter<br />
denen Städte und Täler übergossen liegen <strong>–</strong> Gebirge schauen mit ihren Gipfeln gen<br />
Himmel, legen ihre f<strong>es</strong>ten Meilen=Arme um die blühende Erde, und Ströme tropfen<br />
von ihnen, seitdem <strong>sie</strong> sich aufgerichtet aus dem uferlosen Meer.' - Oft bin ich<br />
g<strong>es</strong>tanden vor seinem Haus in Wun<strong>sie</strong>del, wenn mich meine Beine wieder weiter<br />
trugen <strong>–</strong> denkend: dort lebte ein Dichter wie du, und er konnte all das Gleiche<br />
betrachten, wenn auch er später woanders lebte (zogs ihn doch auch an den Freßtisch<br />
Göth<strong>es</strong>), wie ich nun eben auch. Und ob die Vielfalt der Sprache sich im Fichtelgebirge<br />
bereits in seine Dichter legt <strong>–</strong> ob <strong>es</strong> die Erde selbst ist, die Wassermacht, das Element<br />
'Seele' <strong>–</strong> oder ob dort all<strong>es</strong>, was wir schauen, bereits die Po<strong>es</strong>ie selbst ist, mit der <strong>Na</strong>tur<br />
identisch <strong>–</strong> und ob wir danach nichts mehr benötigen als auf das Strömen in uns selbst<br />
zu achten: für mich die Po<strong>es</strong>ie ist Eger, für mich der Klang der Sprache ist Eger <strong>–</strong> und<br />
das Duften von Harz und das Blöken der Schafe, das schwärmen der Bienen, das<br />
Pochen d<strong>es</strong> meinen Herzens; erst von hier fort schleicht sich ein weiterer B<strong>es</strong>tandteil<br />
herbei, der aus dem Heim 'Die Welt' macht. Aber <strong>es</strong> waren Ludwig Tieck und sein<br />
Freund Wackenroder, die auf ihren Wanderungen di<strong>es</strong><strong>es</strong> Franken mit seinen<br />
mittelalterlichen Städten, Wäldern, Burgruinen, R<strong>es</strong>idenzen und Bergwerken erstmals<br />
zum gelobten Land der Romantik erklärten. Dort <strong>–</strong> in einer Mondnacht, so erklärt uns<br />
Tieck, ging ihm das Wunder der 'Mondbeglänzten Zaubernacht' auf, als schwebende<br />
Töne ein<strong>es</strong> Waldhorns herüberklangen. Hier kam ihm die Idee zum Tannhäuser, dem<br />
Venusberg; - und wie sehr die Umgebung den Eros entfacht, erfuhr ich selbst, mit der<br />
Heftigkeit der Jünglinge ergießend. Was kann prägender sein als der frühe Mythos!<br />
Nichts aufklärerisch<strong>es</strong> konnte meine Atmosphäre vergiften <strong>–</strong> und jeder Versuch ein<strong>es</strong><br />
indiskreten Lichtstrahls wurde von der <strong>Na</strong>chtkammer verschluckt. Das Leben:<br />
Zauberei; die Mädchen schwebten über den Erdboden und in die Nähe der Schlösser<br />
wollte man sich nachts kaum mehr wagen, denn dort ging <strong>es</strong> in die Erde hinunter <strong>–</strong><br />
aber noch fühlte sich niemand dazu bereit <strong>–</strong> <strong>es</strong> waren ja kaum die Rätsel d<strong>es</strong> Tag<strong>es</strong> zu<br />
lösen.<br />
Patrizia wollte da hin; kleine Zofe am Rande der Welt (in Walldürn, um <strong>es</strong><br />
auszusprechen), doch <strong>sie</strong> sah die <strong>Na</strong>cht nur an, <strong>sie</strong> ahnte nichts in ihr, <strong>sie</strong> erkannte<br />
nichts darin, blickte nicht in ihr Herzstück. Eine von jener Sorte, die das schwarze<br />
Licht für eine lilafarbene Funzel hielten.<br />
»Der Venusberg scheint mir keinen geringen Einfluss zu haben.« Darüber wollte ich<br />
zur Stunde nicht auskunften. »Das erzähle ich später Mal. <strong>Na</strong>ch dem <strong>es</strong>sen möchte ich
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 10<br />
lieber heikle Themen wälzen. Ich befinde mich in einer gewissen 'bösartigen<br />
Stimmung', weil das Blut im Magen hockt.<br />
Verständlich wollen <strong>es</strong> doch nur die Un=Poeten, die glauben, die glauben, Klarheit<br />
wäre die größte Pracht. Die sind <strong>es</strong>: reißen der Hold<strong>es</strong>ten noch die letzte Decke fort<br />
und gaffen zwischen ihre Schenkel. Selbst wenn ein Engel scheißt, wollen <strong>sie</strong>'s sehen.<br />
Keiner Märchenfigur lassen <strong>sie</strong> den Zaubertrank (oder verlangen freche Steuer),<br />
schütten ihn gleich ins Labor und sagen einmündig <strong>–</strong> wenn's dann nur Bluna ist <strong>–</strong><br />
'Beweis! - Der Sprudel macht kein Herzerl heil!' - Sagt ihnen dann noch ein Kritiker<br />
ihrer ausg<strong>es</strong>pachtelten Newton=Welt, der Zaubersaft hab' sich verwandelt, um sich vor<br />
den 'Steinernen' zu schützen, dann lachen <strong>sie</strong> ihn aus, kündigen ihm die Wohnung,<br />
foltern ihn mit 'Büchern der Wahrheit' <strong>–</strong> und am Ende mit sich selbst. - »In jedem<br />
Weibe schwirrt ein Raun.« Patrizia, g<strong>es</strong>chunden: »Das hat er mir aber noch nie<br />
g<strong>es</strong>agt!« (Ja; selbst in dir!) So fortfuhr ich (fühlte mich teigig, d.h. unreif ang<strong>es</strong>ehen):<br />
»Intelligenz hat stets etwas Verdorben<strong>es</strong>, das heißt '<strong>Na</strong>türlich<strong>es</strong>'. Kompost ist aller<br />
Welten lauf, das Organische.« Sie nickte betäubt. Obszön, wie Marion rauchte. Als<br />
bli<strong>es</strong>e <strong>sie</strong> ein neu<strong>es</strong> Universum aus. »Das Romantische birgt auch Höllenhunde. Es ist<br />
dort nicht all<strong>es</strong> Mond und Blumenteppich.« »Nie g<strong>es</strong>agt! Ich gewinne das Unheimliche<br />
gerade aus der G<strong>es</strong>chichte. Nehmen wir die 'Schächtiz'!« Und jetzt mußte ich erzählen;<br />
oh wie wohl!<br />
Durch das Schloß Cachtice zog die Karawane der Träume. Das ri<strong>es</strong>enhaft funkelnde<br />
Gebäude <strong>–</strong> steinern<strong>es</strong> Mammut <strong>–</strong> zog die Felsenformation länglich, so daß ein<br />
Wanderer bei seinem ersten Blick irritiert über die optische Täuschung erschrecken<br />
mochte.<br />
Inwanderers: Fels schwappt aus dem Auge; wer gräbt in einem Groß=Grab=Landstrich<br />
<strong>–</strong> d<strong>es</strong>sen ungeachtet <strong>–</strong> gräbt in dem, was blutgedüngt; die Anderen laufen nur umher;<br />
wer barfuß ginge, erhöht' unheilvoll<strong>es</strong> Leben! (zög' <strong>es</strong> ein wie tiefg<strong>es</strong><strong>es</strong>sener<br />
<strong>Na</strong>sendotter, von ganz unten; spricht Bände <strong>–</strong> heißt: viel; ein still<strong>es</strong> Land, weil man<br />
sich selber hören kann.) Es fibert gleich, ein eigen<strong>es</strong> Fieber (man hält's noch für<br />
Erregung). Wanderer! - das hast du nicht gewusst (ich stelle mir wie folg=fogel=for:<br />
Ich wander', komm' ang<strong>es</strong>immert wabbelnder Luft, zermäure, stoße mich: 'Gehst du da<br />
hin?' - 'Ich gehe da hin!')<br />
Das Anw<strong>es</strong>en verlor sich im felsigen Nichts der Karpaten; der Horizont beherrscht von<br />
der drohenden Masse Lichtlosigkeit. Sobald der Blick zur Ruhe geeilt: ein<br />
megaloman<strong>es</strong> L, eingelassen (und beinahe überschwemmt) von den zackicht in den<br />
Himmel beißenden Zähnen jahrmillionenalter Berge. Ein Klumpen reiner Bösartigkeit,<br />
baulich zelebriert.<br />
Die Traumkarawane: Gekrüpp und Gegaukel, Scharlatane primus inter par<strong>es</strong> führten<br />
ein B<strong>es</strong>tiarium der Absonderlichkeiten an. Hermaphroditen (der Androgyn ist Symbol<br />
der Urmaterie, in der alle Gegensätze aufgelöst sind) trugen ihre Zweig<strong>es</strong>chlechtigkeit
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 11<br />
bar, bejammerten sich, b<strong>es</strong>töhnten, stritten sich. Wie der Wanderer war di<strong>es</strong>er Mob<br />
nicht durch das Land gereist, um di<strong>es</strong><strong>es</strong> seltsame Schloß zu b<strong>es</strong>uchen; Boden krümmte<br />
sich unter die Sohlen (für die Rutscher <strong>–</strong> Kniee), Feuernähte trennten die Luft <strong>–</strong> daraus<br />
<strong>sie</strong> kamen zu einer unbekannten Stunde Zeitg<strong>es</strong>chichte, einen grauenhaften Lärm<br />
veranstaltend, der an die skandinavische Oskorei erinnerte (die man weiter südlich 'Die<br />
Wilde Jagd' nennt). Unbekannt die Stunde, unbekannt der Grund d<strong>es</strong> Phänomens (wie<br />
d<strong>es</strong> Meer<strong>es</strong>). Sinn- und Ziellos geisterte das Heer höllenlärmend durch die dunklen<br />
Säle und Kammern. Der Prunk war jetzt 'ihr' Prunk. Verwachsene Idioten sangen<br />
schröckliche Lieder, Kantaten primitiver Lust in kakophonisch fremden Zungen.<br />
Veitstänzer, Kleingewüchs, verlebte Dirnen (mit Mösen magerlippig) <strong>–</strong> die Nymphae<br />
da sichtbar, da nicht. Arme, schmächtige, ziemlich junge, halb verhungerte Frauen mit<br />
dünnen Schenkeln und armseligen Kaninchensteißen; Bruchbienen, Gurren, Klunten,<br />
Metzen, Rierbeine, Bubenhufen, Aleemenschen, Betzen, Bödelsche, Nillen,<br />
Hübscherinnen, Gluphuren, Tiffen <strong>–</strong> mit schwärend aufgeblähten Bäuchen;<br />
rußverschmierte Ketzer tanzten Konvulsion, der Urin lief seitwärts beins hinunter<br />
(andere nahmen ihren eigenen Kot auf oder spuckten unablässig).<br />
Der Traum selbst entsprang dem Schlaf der Gräfin Bathory, die, vollg<strong>es</strong>topft mit<br />
Opiaten (vornehmlich benutzte <strong>sie</strong> zum Ritual d<strong>es</strong> Rauchens eine Shisha <strong>–</strong> das Opium<br />
selbst mischte <strong>sie</strong> mit Moassel Silum), auf ihrem ausladenden Plüschbett lag. Der<br />
Träumenden entsprang ein Bach, der sich mit blutigen Tränen füllte. In den<br />
Blutkristallen ersah <strong>sie</strong> G<strong>es</strong>ichter aus längst vergangenen Tagen <strong>–</strong> und <strong>sie</strong> wußte nicht,<br />
daß <strong>es</strong> bereits die G<strong>es</strong>ichter d<strong>es</strong> Wahnsinns waren. Stimmen drangen auf <strong>sie</strong> ein, eine<br />
undeutliche G<strong>es</strong>talt trat auf <strong>sie</strong> zu und hielt das Enuma Elish in der Hand, jenen<br />
babylonischen Schöpfungsmythos, dem auch der Gilgam<strong>es</strong>ch entstammte, und dem<br />
ebenso die biblische Gen<strong>es</strong>is ihre Einfälle verdankte. Wer der Traumb<strong>es</strong>ucher war,<br />
konnte die Gräfin nicht erkennen; die Aura gelben Siechtums schirmte die<br />
Erscheinung. Dann wechselte das Bild: Das Buch öffnete sich, tanzende Bilder gab <strong>es</strong><br />
frei. Eine Gauklertruppe schien <strong>es</strong> zu sein; di<strong>es</strong>e pulste näher an den Rand der Bibel.<br />
Monoton der Ruf der Bettler <strong>–</strong> da Schlangenb<strong>es</strong>chwörer, dort Märchenerzähler, Gnome<br />
und Gänsevieh. Kurz Bevor der Troß das Buch verlassen hätte müssen, stand er<br />
plötzlich still. Grimassen wurden gezogen, von einer fürchterlichen Eigenart b<strong>es</strong><strong>es</strong>sen,<br />
visionierte Debauche. Aber die Gräfin fürchtete sich nicht. Ein Klopfen als gäbe <strong>es</strong> da<br />
eine Tür, die <strong>es</strong> zu öffnen galt, doch <strong>es</strong> waren nur die Seiten d<strong>es</strong> Buch<strong>es</strong>, aus denen der<br />
ganze Zirkus gaffte. - »Herein«, sagte die Gräfin tonlos. »Das wird so nicht gehen«<br />
antwortete ein Buckliger und renkte seinen Kiefer aus, um die Worte überhaupt<br />
sprechen zu können. »Wie dann?« Hauchen. »Du mußt uns öffnen!« »Wie?« »Wie<br />
man eine Tür eben öffnet!« Der Krüppel ließ seinen Kopf von einer Schulterseite zur<br />
anderen fallen, die Bettler schrien nach Geld.<br />
Niemand hat jemals beobachtet, wie der Traum seine Türen aufschließt. Di<strong>es</strong><strong>es</strong> Ritual<br />
vollzog sich stets auf die nur ihm mögliche geheimnisvolle Art und Weise. Welchen<br />
Schlüssel er dafür benutzt, weiß der Mensch nicht; welche Form der Schlüssel ist, weiß<br />
er noch weniger, doch von den atemberaubenden Ergebnissen hat er sich stets
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 12<br />
vereinnahmen lassen, hat sich fasziniert in die ihm hing<strong>es</strong>treckten Arme begeben, und<br />
hat den Träger der Arme 'Morpheus' genannt. Artemidor berichtet von di<strong>es</strong>em<br />
Schlüssel in seinem Oneirokritikon. Darin spricht er von den Einflüsterungen dunkler<br />
Mächte, die in einer Art Kerker hausen, den man tief in der Menschen Seele finden<br />
könne. Denn so wie jede Stadt eine Mauer b<strong>es</strong>itzt, edle Türme, geheimnisvolle Gassen<br />
<strong>–</strong> so sähe er auch den Menschen als Erbauer einer Stadt sich selbst als Vorbild nehmen<br />
<strong>–</strong> und in der Architektur, der Mathematik seiner Seele entsprechen. Darum gebe <strong>es</strong> den<br />
Kerker der Psyche, in dem all<strong>es</strong> verschwindet, was an der Oberfläche d<strong>es</strong> Menschen<br />
nicht gerne g<strong>es</strong>ehen sei.<br />
Die Phantasmen tragen Traumg<strong>es</strong>ichter, ein vielg<strong>es</strong>taltig<strong>es</strong> Bild der Seele, welch<strong>es</strong> das<br />
zukünftige Gute oder Böse anzeigt. Die Geisterscharen vor den Türen der Gräfin<br />
waren nichts ander<strong>es</strong> als die Boten einer unheilvollen Neigung, die im laufe der Zeit<br />
früher oder später seine Erfüllung verlangte. »Du mußt uns öffnen!« Und die Türen<br />
öffneten sich. Das Buch war verschwand. Der Wahnsinn war gekommen.<br />
Die Wilde Jagd irrte durch das Anw<strong>es</strong>en wie ein Spuk, während die Gräfin in ihren<br />
Träumen ein Bildnis vor sich auftauchen sah, auf dem ihr Konterfei erstrahlte. Ein<br />
Gemälde, wie <strong>es</strong> niemals ein<strong>es</strong> gegeben hatte, g<strong>es</strong>chaffen von einem Maler, der<br />
berühmt war für seinen hedonistischen Duktus.<br />
Nàdasty: Denken wir uns den Ritter. Der steht <strong>–</strong> unlang fackelnd flackernd vor Gelüst<br />
(das Gemächt muß er gar nicht präsentativ in die Hand nehmen; zeigt das Ziel<br />
blutpumpig von selbst). <strong>Na</strong>ckt ist er nicht gew<strong>es</strong>en, der Körper nicht weit vom<br />
Rüstzeug weg, die Hose wird wegg<strong>es</strong>chlackert gew<strong>es</strong>en sein: wer so viel<br />
zertrümmerte, zerschundene Zer=Zerrtheit an Leibern <strong>sie</strong>ht (und selbst verursacht)<br />
erträgt nicht unverletzt das Fleisch! Erzsebeth <strong>–</strong> man würde wohl heute sagen, <strong>sie</strong> sei<br />
'minder an Jahren' gew<strong>es</strong>en, äugte gelassen zum Fürsten d<strong>es</strong> Fürsten, der Träger:<br />
weibisch<strong>es</strong> G<strong>es</strong>icht, Unternasenbärtchen. Schlimmere Stämme hatte <strong>sie</strong> ragen sehen,<br />
aus dem Holz vorbrechender Wuchs, daran die von Bauern erschlagenen Kindfrauen<br />
hangten, 'dir zollt der ast, lautet <strong>es</strong>, mir nur der zweig'. - Hangte <strong>sie</strong> auch bald daran,<br />
ließ sich den Igel stechen. Schleim vermischt<strong>es</strong> Blut. Foramen nodi exemti in<br />
asseribus. So drang der Schmerz in <strong>sie</strong> ein, den <strong>sie</strong> vorher nur (nicht ohne Gier)<br />
g<strong>es</strong>ehen. Der Leib zürnt unter dem Gekeuch, Abscheu reizt das Gedärm irgend im<br />
Bauch. Die legitime Folterung der Ehenacht und <strong>Na</strong>cht und wieder <strong>Na</strong>cht <strong>–</strong> nur <strong>Na</strong>cht<br />
wirft solche Schatten!<br />
Geduldig nahm <strong>sie</strong> zur Kenntnis, wenn der Gatte ihr den Sinn einiger Foltermethoden<br />
erklärte. Sie sah bei der Bastonnade zu, wie dem Gefangenen die Fußsohlen<br />
fortwährend mit einem Stock g<strong>es</strong>chlagen wurden, wunderte sich über die scheinbare<br />
Humanität, die Nàdasty nicht ähnlich sah. »Wenn die Bastonnade nicht tötet, ist <strong>sie</strong> da<br />
eine Strafe am Leben?« - bis <strong>sie</strong> zum erstenmal den Wahnsinn in den Geist der so<br />
gefolterten fahren sah. »Ein Verrücktgewordener bringt Unruhe in die Lagerstatt der<br />
Gefangenen« erklärte er seiner jungen Frau, »<strong>es</strong> schürt die Angst, weil man kein
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 13<br />
vernünftig<strong>es</strong> Wort aus ihnen herausbekommen kann, so sehr man ihn auch befragt, was<br />
ihm widerfahren sei.« Die bevorzugte Methode, die Ference Nàdasty anzuwenden<br />
wußte, blieb allerdings der Pfahl, der nicht etwa zug<strong>es</strong>pitzt <strong>–</strong> sondern ganz im<br />
Gegenteil sehr abg<strong>es</strong>tumpft zug<strong>es</strong>chnitten <strong>–</strong> in den eingeölten After d<strong>es</strong> Delinquenten<br />
eingeführt wurde. Stellt man den Pfahl auf, sorgt das eigene Körpergewicht für ein<br />
immer tiefer<strong>es</strong> Eindringen, verletzt die Organe aber kein<strong>es</strong>wegs, sondern schiebt <strong>sie</strong><br />
nur beiseite <strong>–</strong> bis er aus dem Bauch, der Brust oder der Schulter wieder austritt. - Nicht<br />
der Gehorsam trieb <strong>sie</strong> an, sondern ein seltsam<strong>es</strong> sexuell<strong>es</strong> Verlangen, denn eine<br />
Befriedigung erfuhr <strong>sie</strong> von ihrem Mann nicht, wohl aber fand <strong>sie</strong> einig<strong>es</strong> zur<br />
Erklärung ihrer Neigung Beitragend<strong>es</strong> darin. Die erste Klimax erreichte <strong>sie</strong> dann auch,<br />
als <strong>sie</strong> aus heiterem Himmel ihre Kammerzofe an den Haaren auf den Boden<br />
schleuderte und ihr ein Stück aus ihrer Wange biß. Sie konnte den Schmerz der<br />
Anderen spüren als wäre <strong>es</strong> ihr eigener <strong>–</strong> denn oft genug war der Schmerz der ihre<br />
gew<strong>es</strong>en. Sie nahm sich nur all<strong>es</strong> zurück. Komm, Leben mein. Das Pul<strong>sie</strong>ren ihrer<br />
Vulva dröhnte hinauf in den Kopf, warm ließ <strong>sie</strong> den Urin fahren und betrachtete das<br />
wimmernde und blutende Ding, das sich am Boden krümmte, schmerzgepeinigt die<br />
Wange hielt. Auf Erzsebeths Hand tropfte das Blut aus ihrem Mundwinkel; <strong>sie</strong> kniete<br />
sich zu der Kammerzofe hinunter, um deren Angst und Erschütterung aus nächster<br />
Nähe zu betrachten. »Nimm deine Hände vom G<strong>es</strong>icht!« schlangte <strong>sie</strong>. Das Mädchen<br />
folgte dem Befehl mechanisch=ängstlich=leidend, und gab das entstellte G<strong>es</strong>icht frei.<br />
»Du hast mir gut getan. Steh jetzt auf und geh!«<br />
Der Morgen drückte sich über den Gebirgskamm, scheuchte die Wolken hinter sich.<br />
Schloß Cachtice aber blieb ein Fleck der Dunkelheit, Licht verdunstete an seinen<br />
Wänden. Erzsebeth Bathory kehrte aus ihrer eigenen Schwärze zurück, Stimmfetzen<br />
baumelten an ihren Nerven, hingen über dem Bett. Ohne zu zögern läutete <strong>sie</strong> nach den<br />
Mädchen, die ihr jeden Tag den großen Spiegel vors G<strong>es</strong>icht halten mussten. Angst,<br />
sich einmal nicht darin zu sehen. Sie beäugte sich kritisch: wenn <strong>sie</strong> ein Gemälde von<br />
sich anfertigen lassen wollte, dann dürfte <strong>sie</strong> nicht länger zögern. Sie grämte sich bei<br />
dem Gedanken, daß Jugend der Vergänglichkeit obheim lag, ihre Pasten und Salben<br />
änderten daran nichts. Sie ließ die morgendliche Toilette im Bett g<strong>es</strong>chehen, während<br />
<strong>sie</strong> mit einem ihrer Hauptmänner sprach. »Reitet heute in die umliegenden Länder und<br />
sammelt alle Jungfrauen ein, derer ihr habhaft werden könnt!« befahl <strong>sie</strong>. Der<br />
Hauptmann sah <strong>sie</strong> ausdruckslos an. »Unter welchem Vorwand sollen wir das tun?«<br />
Die Gräfin mußte nicht lange nachdenken. »Ein Tableau für eine Massenszene. Das ist<br />
<strong>es</strong>, was ich erwäge.« Sie entließ den Soldaten und begann damit, dem Mädchen, das<br />
ihr die Haare kämmte, aus purem Spaß, den Arm so zu verdrehen, daß di<strong>es</strong><strong>es</strong> die Hand,<br />
die den Spiegel stützte, zurückzog; Ilona, das zweite Mädchen, konnte das Gewicht<br />
nun nicht mehr alleine tragen, der Spiegel zerbrach auf dem Boden in tausend<br />
Scherben. Di<strong>es</strong> als Vorwand nutzend, schlug <strong>sie</strong> so heftig in das G<strong>es</strong>icht d<strong>es</strong><br />
unglücklichen Kind<strong>es</strong>, daß seine <strong>Na</strong>se brach und <strong>es</strong> in die Scherben fiel. Dervula<br />
brandete auf und schrak. Eisig blickte Erzsebeth auf das blutende und ächzende<br />
G<strong>es</strong>chöpf hinab. Sie empfing wieder das Ziehen in den Lenden und schütterte. »Du!«<br />
Dervula war gemeint. »Hilf deiner Schw<strong>es</strong>ter, die Kleider auszuziehen!« Di<strong>es</strong>e eilte
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 14<br />
sich, war <strong>sie</strong> doch der Meinung, das sei ganz vernünftig, um die kleinen Splitter aus<br />
dem jungen Leib ziehen zu können, ahnte <strong>sie</strong> doch nichts von der Wahrheit. Im Nu lag<br />
Ilona nackt, an unzähligen Stellen blutend auf dem blanken Boden. Fragend blickten<br />
die beiden Mädchen zur Gräfin auf, die sich aus ihrem Bett erhoben hatte und das<br />
Reißen und Ziehen ihrer Lenden genoß. »Ist deine Schw<strong>es</strong>ter noch Jungfrau?« Dervola<br />
sagte, <strong>sie</strong> wisse <strong>es</strong> nicht. »Dann <strong>sie</strong>h nach, ob dem so ist!« Ungläubig, was <strong>sie</strong> da hörte,<br />
rührte sich das Mädchen nicht. »Hast du mich nicht verstanden?« So gefährlich leise<br />
der Ton. Sie wußte nicht wie. »Indem du ihr den Finger hinein schiebst und mir sagst,<br />
ob du einen Widerstand spürst, du dumm<strong>es</strong> Ding!« Nichts rührte sich im kalten Raum.<br />
»Tu' <strong>es</strong> oder ich lasse dir an Ort und Stelle die Kehle aufschneiden!« Eine Stimme wie<br />
Stahl, der man die Erregung nicht anmerkte. Schleichend fuhr die Hand der Zofe auf<br />
das Delta der Venus zu, zögerte und berührte das Schambein. Das verletzte Mädchen<br />
zuckte zusammen, atmete kaum. Ilona war aufgrund d<strong>es</strong> Blutverlust<strong>es</strong> einer Ohnmacht<br />
nahe, registrierte all<strong>es</strong> nur am Rande. Ihre Schw<strong>es</strong>ter tastete die Schamlippen<br />
auseinander und fuhr mit dem Zeigefinger in die Scheide ein. »Und?« hauchte die<br />
Gräfin. Dervula nickte. »Was?« »Ja, <strong>sie</strong> ist Jungfrau.« B<strong>es</strong>chämt riß <strong>sie</strong> die Hand<br />
zurück, errötete. »Und was ist mit dir?« Lügen oder die Wahrheit sagen? Dervula<br />
konnte nicht erkennen, was ihre Herrin im jeweiligen Fall im Schilde führte. »Nein«<br />
sagte <strong>sie</strong> dann wahrheitsgemäß, »ich bin <strong>es</strong> nicht.« »Gut. Dann habe ich keine<br />
Verwendung mehr für dich. Du kannst jetzt gehen.« »Und was ist mit ihr?« Sie deutete<br />
auf die nun tatsächlich ohnmächtige Schw<strong>es</strong>ter. »Hol mir den Heiler!«<br />
»Was meint ihr? Ist so etwas möglich?« Der Arzt, nach dem <strong>sie</strong> hatte schicken lassen,<br />
betrachtete das nackte Mädchen ebenso kühl und gleichgültig, wie er <strong>es</strong> von Hause aus<br />
gewohnt war. Vor dem Tode Nàdastys beriet er di<strong>es</strong>en bei seinen Foltermethoden und<br />
war dafür verantwortlich, daß die Opfer nicht zu schnell verschieden. Irrlichternde<br />
Gedanken. Morbide Bilder. Zeitschleifen im Wechsel. Anhaltender Sturm. »Es wäre<br />
denkbar. Allerdings ist das Hymen keine Haut wie Ihr Euch das vorstellt. Es ist nicht<br />
durchgängig.« »Wie viel Jungfernhaut bräuchte ich, um eine Leinwand daraus fertigen<br />
zu lassen?« »Sehr viele, Maga. Aberhunderte.« Die Gräfin deutete hin zum<br />
verblutenden Mädchen. »Zeigt mir, wie groß <strong>es</strong> ist. Schneidet <strong>es</strong> großzügig heraus. Ich<br />
will mich selbst überzeugen.« Der Arzt gehorchte.<br />
Aus den Latifundien kamen die Reiter der Erzsebeth Bathory zurück, still mäandernde<br />
Schatten selbst <strong>sie</strong>, an jenen dunklen, kalten Ort, umgeben von der Herrlichkeit<br />
wölfischer Landschaft. 32 Jungfrauen konnte der Hauptmann unschwer überreden, sich<br />
auf Cachtice malen zu lassen. »Sagt man sich nicht seltsame G<strong>es</strong>chichten über die<br />
Gräfin von Schächtiz, seit ihr Mann verstorben ist?« Die Gedanken schweiften, das<br />
unterbrochene Spiel junger Damen, die sich sammelten und klatschten, so sich<br />
höfischer Aufruf an <strong>sie</strong> wandte, die <strong>sie</strong> bald ihre Schwielen mit Krötenmilch<br />
behandeln. - Verewigt sein in Farbe war ja schlechterdings die Unsterblichkeit. »Das<br />
ist wohl wahr, junge Dame (Dame!); man sagt sich über den Adel immerfort seltsame<br />
G<strong>es</strong>chichten, und wird nicht müde, immer neue zu erfinden. Ich sage Euch, woran <strong>es</strong><br />
liegt: Ist etwas schön und unerreichbar, wird der Häßliche sich die Zauberei bemühen
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 15<br />
herbeizureden, wird sagen: 'Das ist wider die <strong>Na</strong>tur'. 'Nicht von Gott<strong>es</strong> Gnaden' geht<br />
dann die Rede, sondern von der Teufelei.« (»Es hat sich nichts verändert!« - Marion,<br />
die <strong>es</strong> genießt. »Den Menschen ändert nur das Schicksal, von sich aus bleibt er, wie er<br />
ist. In di<strong>es</strong>em Fall jedoch...« »Fahren Sie fort!« Ich tat's; Patrizia lampte mich an.)<br />
»Wer wird uns denn malen?« »Das aber kann ich nicht sagen. Ich kenne mich mit den<br />
Musen und ihren Verbündeten nicht sehr gut aus.« Die leeren Pferde wurden b<strong>es</strong><strong>es</strong>sen,<br />
man sagte nicht im Haus b<strong>es</strong>cheid. Verbote wären die blanke Folge gew<strong>es</strong>en: 'Du!? -<br />
Gemalt?? Vom Räuberpack schon selbst!? Dir werd' ich Arbeit wissen!!' (Seit den<br />
nicht gerade raren Bauernaufständen <strong>–</strong> 1437 <strong>–</strong> schon lange her, doch Volk<strong>es</strong> Kopf trägt<br />
ewig <strong>–</strong> gab <strong>es</strong> nur das Joch und jene, die <strong>es</strong> niederwarf. Der G<strong>es</strong>chändete wird sich<br />
doch nicht frei gewillt ins Zeug legen!)<br />
Dann hörten die Melodien der Mädchen auf. 'Es saß ein klein wild Vögelein / auf<br />
einem grünen Ästchen. / Es sang die ganze Winternacht, / die Stimme mußt' ihm<br />
klingen.' - Dann verstummte das Gelächter. Drohend hieb das Schloß seinen Schatten<br />
in die jungen G<strong>es</strong>ichter. Wolken fanden sich <strong>–</strong> wie Raben schwarz, wie ein G<strong>es</strong>chwür<br />
wuchernd; der Himmel wie ihr Antlitz blaß, bald blutleer.<br />
Die Burschen warteten auf die Pferde, <strong>sie</strong> sahen dem blühenden Leben nicht ins<br />
G<strong>es</strong>icht, nahmen die Zügel, schirrten ab und grüßten nicht durch eine G<strong>es</strong>te. »Nun<br />
begebt euch schon zum Tor!« hauptmannte <strong>es</strong>. Da war ein Kleinwüchsiger im<br />
<strong>Na</strong>rrenkostüm heran, hüpfte neben den Mädchen her und keckerte ein Lied von Blut<br />
und Mord und Grausamheit, ungehört von den schlanken Ohren: 'Auf Äckern und<br />
Kornhalmen Blut, ein erkalteter Milchbrei mit Blut bedeckt, Blut oh Orakel blutiger<br />
Kriege, fließt aus Holz.'<br />
Blut ist ein ganz b<strong>es</strong>onderer Saft. Als Odysseus den Seelen Blut zu trinken gab, indem<br />
er di<strong>es</strong><strong>es</strong> in eine eigens dafür gegrabene Grube rinnen ließ, gewannen di<strong>es</strong>e an<br />
Lebenskraft. Im iranischen Mythos entstammen die Weintrauben dem Blut d<strong>es</strong><br />
erschlagenen Urstiers Goshurun. Zu Blut wird die Materie während der<br />
alchimistischen Wandlung zum Stein der Weisen <strong>–</strong> und Erzsebeth Bathory hatte<br />
entdeckt, daß da, wo das Blut einer Jungfrau ihre Haut berührte, di<strong>es</strong>e ein rosig<strong>es</strong><br />
Aussehen angenommen hatte. So versprach <strong>sie</strong> sich dreierlei:<br />
1, ihren homosexuell-sadomanischen Neigungen nachgehen zu können.<br />
2, ihre Jugend wiederzugewinnen, indem <strong>sie</strong> im Blut der Mädchen badete<br />
3, sich ein einzigartig<strong>es</strong> Gemälde anfertigen lassen zu können, gemalt auf einer<br />
Leinwand geleimt aus den Hymen der Jungfrauen. - An di<strong>es</strong>em Tag sollten die ersten<br />
31 ihren Tod finden. Weit über 500 würden folgen. Das Erstaunliche an den Blutbädern<br />
der Gräfin war, daß <strong>sie</strong>, als <strong>sie</strong> mit 54 Jahren eingemauert in ihrem Schlafzimmer<br />
verstarb, immer noch das Aussehen einer jungen Frau b<strong>es</strong>aß. Ihr G<strong>es</strong>icht <strong>–</strong> wenn auch<br />
von Geist<strong>es</strong>krankheit gezeichnet, spiegelte dabei nur einen Teil ihrer Grausamkeit<br />
zurück. Das Seltsame an der G<strong>es</strong>chichte: Der Pri<strong>es</strong>ter, der dem Treiben schließlich ein<br />
Ende setzte <strong>–</strong> und der dafür sorgte, daß Erzsebeth Bathory vor ein Gericht g<strong>es</strong>tellt<br />
wurde, schwor auf den <strong>Na</strong>men sein<strong>es</strong> Gott<strong>es</strong>, von einem Mädchen informiert worden
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 16<br />
zu sein, das sich 'Myrrha' nannte. Keiner im Dorf oder der Umgebung hatte di<strong>es</strong>en<br />
<strong>Na</strong>men jemals gehört, eine umfassende Suche blieb erfolglos <strong>–</strong> Myrrha konnte nicht<br />
gefunden werden. Aus den Aufzeichnungen di<strong>es</strong><strong>es</strong> spektakulären Fall<strong>es</strong>, die der<br />
Pri<strong>es</strong>ter Thurzo anfertigte (der darin auch b<strong>es</strong>chrieb, daß zwar etwa 300 Bedienstete<br />
der Gräfin von der Gerichtbarkeit zum Tode verurteilt wurden, so aber nicht die Gräfin<br />
selbst), ging hervor, daß <strong>es</strong> mit der Blutgräfin <strong>–</strong> wie man <strong>sie</strong> fortan nannte <strong>–</strong> laut<br />
Myrrha ein noch viel schlimmer<strong>es</strong> Bewandtnis habe: »Aus der abg<strong>es</strong>chnittenen<br />
Schambehaarung der Mädchen pflegte <strong>sie</strong> sich einen Bart zu machen, den <strong>sie</strong> sich<br />
anklebte. In di<strong>es</strong>er Verkleidung biß <strong>sie</strong> manchem Mädchen die Schamlippen ab und<br />
kaute lange darauf herum. Wenn ihr das Schreien der Gemarterten zu viel wurde,<br />
rammte <strong>sie</strong> der Unglücklichen eine Schere in den Hals, um deren Stimmbänder zu<br />
zerfetzen.«<br />
Myrrha schien ihre Berichterstattung dahingehend zu übertreiben, als daß <strong>sie</strong> angab,<br />
der Teufel persönlich sei d<strong>es</strong> Nächtens erschienen und habe mit dem Staat die<br />
wild<strong>es</strong>ten Orgien vollzogen; Krüppel machten sich über die Mädchen her, während die<br />
Gräfin Anweisung erließ, di<strong>es</strong>e nur in den Anus zu schänden, weil <strong>sie</strong> eine gewisse<br />
Haut für ihr Gemälde benötigte. - In der näheren Umgebung d<strong>es</strong> Schloss<strong>es</strong> wurden<br />
ungefähr 50 blutleere Leichen ausgegraben, teilweise grauenhaft verunstaltet (einen<br />
Körper bedeckten noch schöne kastanienbraune Haare. In den Ohren waren<br />
gelbmetallene Ringe. Bei dem rechten Schlafbein gegen die Stirne zu und am<br />
Hinterkopf fanden sich große, mit Blut unterlaufene Stellen, doch ohne Verletzung der<br />
Knochen. Im Halse, links neben dem Kehlkopfe, war ein Stich von ein Zoll Tiefe und<br />
5/4 Zoll Breite, der aber weder die Blut- und Drosselschlagader, noch die Luftröhre<br />
verletzt hatte. Die Brust war der ganzen Länge nach mitten durch das Brustbein<br />
geöffnet). - Erzsebeth fühlte sich bis zu ihrem Tode ungerecht behandelt und hielt all<strong>es</strong><br />
für ein Komplott der Kirche gegen <strong>sie</strong>. Es <strong>gibt</strong> 4 Gemälde von ihr, die <strong>sie</strong> alle selbst<br />
gemalt hatte. Jen<strong>es</strong> große Bildnis aber, das <strong>sie</strong> begehrte, gefertigt auf Jungfernhaut,<br />
wurde bis heute nicht entdeckt. Es ist davon auszugehen, daß <strong>es</strong> nicht existiert. Pri<strong>es</strong>ter<br />
Thurzo überlebte den Tod der Hure von Schächtiz keine 7 Tage. Man fand seine Leiche<br />
ausgeblutet im Glockenstuhl seiner Kirche liegend. Sein Tagebuch mit der<br />
Berichterstattung der Zeugin Myrrha <strong>–</strong> sowie den Anklagepunkten und dem Verlauf<br />
d<strong>es</strong> Schuldspruch<strong>es</strong> <strong>–</strong> tauchte erst im 19. Jahrhundert wieder auf und wurde von einem<br />
französischen Händler in Gewahrsam genommen. Bis heute ist nicht geklärt, ob der<br />
anonyme B<strong>es</strong>itzer der Handschrift wußte, worum <strong>es</strong> sich bei der Aufzeichnung<br />
handelte. Dem Schriftstück fehlten einige Seiten, die herausgerissen waren. - Die<br />
Mitglieder d<strong>es</strong> Gerichts überlebten kein Jahr. Zu di<strong>es</strong>er mysteriösen Tod<strong>es</strong>folge sei<br />
noch folgend<strong>es</strong> vermerkt: Der Landarbeiter Johann Zàpolya berichtete (gefunden<br />
wurde di<strong>es</strong>er Schrieb zusammengefaltet in einer Chronik Siebenbürgens als<br />
L<strong>es</strong>ezeichen einer Seite, welche die Genealogie d<strong>es</strong> Adelsg<strong>es</strong>chlechts der Familie<br />
Bathory enthielt <strong>–</strong> auf di<strong>es</strong><strong>es</strong> Papier wurde später der talentlose Schriftsteller Bram<br />
Stoker aufmerksam), ein<strong>es</strong> <strong>Na</strong>chts seltsame Geräusche von seinen Feldern vernommen<br />
zu haben. Da er zunächst keine Sekunde daran zweifelte, eine Schar Wölfe habe sich<br />
aus Hunger dahin verirrt, wo <strong>sie</strong> das warme Fleisch der Schafe wittern konnten, nahm<br />
er seinen Rabenschnabel von der Wand und öffnete die Türe. Er sah sich (nach
<strong>Michael</strong> <strong>Perkampus</strong> <strong>–</strong> <strong>Ninegal</strong> 17<br />
eigenem Bericht) folgendem ausg<strong>es</strong>etzt: 'Wunderliche W<strong>es</strong>en jagten einen einzelnen<br />
Mann vor sich her und umtanzten ihn mit lautem G<strong>es</strong>chrei. Wie einen wildgewordenen<br />
Zirkus sah ich da Zwerge, sah ich (solche), die sich verbogen, sah ich wiederum<br />
(andere) Feuer erbrechen. Als der so Gejagte mehrfach zu Boden fiel, traten <strong>sie</strong> mit<br />
Stelzen auf d<strong>es</strong>sen Leib und hieben auf ihn ein mit Waffen, die ich nicht benennen<br />
kann, die mir aber keine Stöcke zu sein schienen. Ich verriegelte schnell die Türe und<br />
mein Herz wollte mir vor Angst zerspringen, und so war ich überzeugt, der leibhaftige<br />
selbst war mit seinen Schergen über die Erde gegangen, um einsame Wanderer in den<br />
Höllenschlund zu entführen!' - Am nächsten Tag fand Zàpolya zumind<strong>es</strong>t den Mut, die<br />
Stelle abzusuchen <strong>–</strong> und fand einen toten Amtsuntertanen: den Schöffen Pràtek <strong>–</strong> völlig<br />
blutleer und verunstaltet vor.<br />
»Wahrlich ein gefunden<strong>es</strong> Fr<strong>es</strong>sen für Bram Stoker; allerdings: demnach war der erste<br />
Vampir eine Frau!« Marion und das Zungenschnalzen, der R<strong>es</strong>t rührte sich nicht; <strong>sie</strong><br />
räusperte in die Luft, die Elevin schwitzte unverständlich, Patrizia häkelte<br />
unangenehmt ihre Finger. »Der erste Vampir war tatsächlich eine Frau. Literarisch.«<br />
»Hat sich nicht Lawrende Durell in 'Pursewarden's Erzählungen' schwärmerisch<br />
ausgelassen über ein Rendezvous mit einem Vampir?« »Noch weit zuvor! Philostratos<br />
erzählt bereits die G<strong>es</strong>chichte einer untoten Empuse, die nach allen regeln der Kunst<br />
einen schönen Jüngling verführt. Aber erst die Romantiker ließen die erotischen Vamps<br />
zur Metapher erblühen.« »Die Romantiker! Wieder!« - »Ja. Wieder. Aber <strong>es</strong> ist ja auch<br />
kein Wunder. Man mußte sich gegen den Rationalismus zur Wehr setzen. Da geht man<br />
weit. Die sinnlichste Vampirin aller Zeiten <strong>–</strong> Erzsebeth Bathory gehört ja nun nicht zu<br />
di<strong>es</strong>em Schlag <strong>–</strong> wurde von Thêophile Gautier ersonnen: Die Kurtisane Clarimonde,<br />
die den jungen Pri<strong>es</strong>ter Romuald in Lieb<strong>es</strong>raserei versetzt. 'Ich habe geliebt wie kein<br />
Sterblicher je geliebt hat!' g<strong>es</strong>teht der Geistliche, dem Clarimonde mit einem Stich<br />
ihrer goldenen Haarnadel die Adern öffnet. Behende stürzt <strong>sie</strong> sich auf die Wunde, die<br />
<strong>sie</strong> mit dem Ausdruck unb<strong>es</strong>chreiblicher Wollust auszusaugen begann. Tja, und da<br />
wäre noch die Carmilla d<strong>es</strong> Iren Le Fanu zu nennen, die zwar nur an Damen<br />
herumsaugt <strong>–</strong> aber wenn wir schon der Historie unter die Arme greifen...« »Byron!«<br />
fiel ihr ein. »Christabel. Ja. Im Grunde aber verarbeitet der Dichter nichts ander<strong>es</strong> als<br />
das tödliche Spiel der Liebe. Der profane Mord hat nicht die Kraft, uns zu erhöhen,<br />
den Thanatos jedoch mit Eros einhergehen zu lassen <strong>–</strong> das rührt am Sein. Man muß<br />
sich ja ständig fragen, ob sich hier unsere Sterblichkeit nicht verschönt und das<br />
Lieb<strong>es</strong>spiel nicht kampflos als die Klimax akzeptiert. Unbewußt, versteht sich. Das<br />
Meer in uns. Dunkler Ozean, ausgelegte Schlingen.«<br />
»In Kellern also? Wie kam <strong>es</strong> dazu?« »Nicht jeder wählt die Oberfläche. Im<br />
Untergrund warten Geheimnisse, Schachteln in Schachteln. Man wird nicht g<strong>es</strong>ehen,<br />
ist der Psychonaut. In <strong>sie</strong>ben Kellern träumen unterirdische Kathedralen der<br />
Sehnsucht.« »Darüber ließe sich schreiben.« »Ließe sich. Liegt mir aber nicht. Kein<br />
Mensch wird l<strong>es</strong>en, wie ich zu schreiben habe.«