KANN DEM SCHAUSPIELER ES PASSIEREN – UND ES IST SEIN BERUF, DASS ES PASSIERT – DASS ER SICH SELBST BE ERNST GEGNET. WENDT SEHR GEEHRTE DAMEN UND HERREN, LIEBES PUBLIKUM, die Spielzeit 2011 / 12 haben wir unter das Motto »<strong>Sein</strong> <strong>oder</strong> <strong>Haben</strong>« gestellt. Ein Motto ist ja immer so eine Sache. Dieses ist sehr einfach – und sehr grundsätzlich. Uns interessiert, dieser Fragestellung mit dem Spielplan und den sehr verschiedenen Inszenierungen, die in der neuen Saison entstehen werden, theatralisch nachzugehen. »<strong>Sein</strong> <strong>oder</strong> <strong>Haben</strong>«, das hat nicht nur viel mit den beiden großen Stücken von Shakespeare zu tun, die wir spielen – Hamlet stellt seine ganze Existenz zur Disposition, der reiche Jude Shylock verlangt für sein Geld ein Pfund Fleisch aus dem Körper des Kaufmanns von Venedig. <strong>Sein</strong> <strong>oder</strong> <strong>Haben</strong>, das ist auch, wie ich finde, eine Frage in der Stadt, in der wir leben, in <strong>Frankfurt</strong>. Bestimmt kein Zufall, dass <strong>Frankfurt</strong> sowohl im »Kaufmann« wie auch in Thomas Manns »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«, die wir auf dem Theater erzählen wollen, Erwähnung findet. Woran misst sich Erfolg hier und heute? Das Vertrauen in den Fortschritt unserer Leistungsgesellschaft ist immerhin in jüngster Zeit tief erschüttert worden. Früher litten die Menschen unter den Ansprüchen von außen, an den repressiven Normen verklemmter Gesellschaftsstrukturen – davon handeln Schillers »Räuber«, mit denen wir die Saison eröffnen. Der Mensch will so viel sein und dabei möglichst auch noch alles haben. Das ist, nun ja, menschlich. Die Einverleibung der Welt (das <strong>Haben</strong>) steht dem Selbstbezug zur Welt (dem <strong>Sein</strong>) scheinbar unvereinbar entgegen. Von den Lebenslügen, die wir täglich in diesem Spannungsfeld brauchen, hat Ibsen in seiner »Wildente« erzählt. Zu sein, bedeutet auch die Suche nach dem Sinn – zu haben, konfrontiert uns dagegen mit der Angst vor Verlust und Vergänglichkeit. In der antiken »Medea« von Euripides setzt eine Frau ihre Ansprüche radikal und zerstörerisch durch. Schließlich: Wie viel man haben und dennoch unglücklich sein kann, erfahren wir in Fitzgeralds »Der große Gatsby«. Eine Tragödie des Aufstiegs. In der kommenden Spielzeit werden sich bekannte Regiehandschriften wiederfinden von Michael Thalheimer, René Pollesch <strong>oder</strong> Karin Henkel, der junge Regisseur Christoph Mehler kommt wieder und wird neben Bettina Bruinier Hausregisseur am <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong>. Aber auch neue Regisseure kommen nach <strong>Frankfurt</strong>: Enrico Lübbe inszeniert »Die Räuber« und Barrie Kosky macht endlich wieder einen Ausflug von der Oper ins <strong>Schauspiel</strong>. Wir zeigen Uraufführungen unseres viel beachteten Hausautors Nis-Momme Stockmann sowie von Dennis Kelly, René Pollesch (beide im <strong>Schauspiel</strong>haus!) und Lothar Kittstein. Für das junge Publikum wird es zwei neue Inszenierungen geben, wir nehmen außerdem wegen der großen Nachfrage »Roter Ritter Parzival« wieder auf, der erst kürzlich mit dem Faust-Preis des Deutschen Bühnenvereins ausgezeichnet wurde. Sie wissen, wie sehr mir das Engagement im Bereich Kinder- und Jugendtheater am Herzen liegt. Eine Vielzahl von Beiprogrammen, Projekten und Reihen hält das <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> lebendig und auf Augenhöhe der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Die <strong>Frankfurt</strong>er Gesprächskultur erhält ein neues Forum: Einmal im Monat wird der Publizist Michel Friedman Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft nach <strong>Frankfurt</strong> einladen, um mit ihnen über Fragen von <strong>Sein</strong> <strong>oder</strong> <strong>Haben</strong> zu diskutieren. Die Fotos unseres Ensembles in diesem Heft mögen an Bilder erinnern, wie sie Andy Warhol von Künstlern und der New Yorker Society geschossen hat. Ein Spiel ebenso mit dem schönen Schein wie mit dem lustvollen Absturz, die Party als Rollenspiel. Erste subjektive Antworten zum Spielzeit-Thema haben auch die Wissenschaftler und Autoren gegeben, die für dieses Heft eine Reihe von Essays geschrieben haben. In den zwei zurückliegenden Spielzeiten haben Sie, meine Damen und Herren, unser Theater so oft besucht wie schon lange nicht mehr. Viele ausverkaufte Vorstellungen und immer mehr Abonnenten sind für uns Ausdruck Ihres Vertrauens – und ein erfreulicher Beleg dafür, dass das <strong>Schauspiel</strong> <strong>Frankfurt</strong> in der Mitte der Stadt und ihrer Gesellschaft angekommen ist. Ich lade Sie herzlich ein, auch im dritten Jahr meiner <strong>Frankfurt</strong>er Intendanz weiter den Spielräumen und Widersprüchen des Menschlichen auf der Bühne nachzuspüren. Irgendwie ist doch das Theater, ist das Gespräch über die jüngste Premiere, die Begegnung mit dem eigenen, <strong>Frankfurt</strong>er Ensemble, nicht mehr wegzudenken aus der Stadt. Das ist gut so. Ihr OLIVER REESE Intendant