6. Umweltmedizin
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ISPM - Universität Bern - SPM-Skript – <strong>6.</strong> <strong>Umweltmedizin</strong> (Entwurf)<br />
<strong>6.</strong> <strong>Umweltmedizin</strong><br />
Autoren: Martin Röösli, Charlotte Braun-Fahrländer, Matthias Egger<br />
<strong>6.</strong>1 Grundlagen<br />
Umwelteinflüsse auf Gesundheit und Krankheit des Menschen umfassen in einem sehr<br />
weiten Sinn die Wechselwirkungen mit der physischen Umwelt (chemische, biologische<br />
und physikalische Faktoren), dem psychosozialen Umfeld, den Lebensstilfaktoren und der<br />
Ernährung. In diesem Kapitel befassen wir uns mit <strong>Umweltmedizin</strong> im engeren Sinne, die<br />
Expositionen gegenüber physikalischen, chemischen und biologischen Belastungen in<br />
Luft, Boden und Wasser betrifft.<br />
Fallbeispiel aus der Praxis:<br />
Ein Patient berichtet bei der hausärztlichen Konsultation das plötzliche Auftreten von<br />
Schlafstörungen ohne erkennbare Ursache. Bei eigenen Nachforschungen ist der Person<br />
aufgefallen, dass die Schlafstörungen mit dem Aufstellen einer Mobilfunkbasisstation<br />
auf dem Nachbarhaus begonnen haben. Der Patient vermutet dies als Ursache für seine<br />
Beschwerden. Dieser Verdacht verstärkt sich, als während einem zweiwöchigen<br />
Ferienaufenthalt im Ausland keine Schlafprobleme auftraten, diese jedoch unmittelbar<br />
nach der Rückkehr an den Wohnort wieder einsetzten.<br />
Dieser Fall zeigt exemplarisch wie sich das Handlungsfeld ‚Umwelt und Gesundheit’ in der<br />
ärztlichen Praxis darstellen kann. Eine individuelle Fallabklärung von möglicherweise<br />
umweltverursachter Krankheitsbilder und deren Betreuung in der ärztlichen Praxis gehört<br />
zum Bereich der individuellen <strong>Umweltmedizin</strong>. Individuelle <strong>Umweltmedizin</strong> ist auf<br />
bevölkerungsbezogen erhobene Erkenntnisse angewiesen. Diese stammen aus der<br />
Umweltepidemiologie und Umwelttoxikologie, bei denen die systematische Erforschung<br />
der Einflüsse von Umweltfaktoren auf die Gesundheit mittels entsprechender Studien im<br />
Vordergrund steht. Umwelthygiene befasst sich primär mit der Erkennung, Verhütung<br />
und Beseitigung schädlicher Umweltbedingungen. Die <strong>Umweltmedizin</strong> umfasst also vier<br />
einander überschneidende Bereiche (siehe Tabelle 1).<br />
Tabelle 1: Bereiche und Ansätze im Handlungsfeld Umwelt und Gesundheit.<br />
BEREICH ANSATZ<br />
individuelle <strong>Umweltmedizin</strong> individuell<br />
Umweltepidemiologie bevölkerungsbezogen<br />
Umwelttoxikologie bevölkerungsbezogen<br />
Umwelthygiene bevölkerungsbezogen<br />
Die bevölkerungsbezogenen Erkenntnisse über gesundheitliche Wirkungen von<br />
wesentlichen Umweltbelastungen sind in Abschnitt <strong>6.</strong>2 dargestellt.<br />
Charakteristisch für das Handlungsfeld 'Umwelt und Gesundheit' ist, dass<br />
Umweltbelastungen wie zum Beispiel die Luftschadstoffbelastung oder die Exposition<br />
gegenüber elektromagnetischen Feldern weit verbreitet sind und oft kaum wahrnehmbar<br />
sind (ubiquitäre Schadstoffverteilung). Schadstoffbelastungen in der Umwelt<br />
unterscheiden sich von denjenigen am Arbeitsplatz: typischerweise ist die Konzentration<br />
in der Umwelt geringer dafür die Expositionsdauer länger und die Anzahl Exponierter<br />
grösser. Schadstoffbelastungen in der Umwelt betreffen alle Menschen, Säuglinge wie<br />
ältere Menschen, Gesunde wie Kranke. Wirklich unbelastete Personengruppen sind<br />
selten, vielmehr unterscheiden sich verschiedene Bevölkerungsgruppen im Ausmass, in<br />
(v 1.0 / 15.<strong>6.</strong>2005 - siehe „http://www.ispm.unibe.ch/downloads/spm_skript/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 1
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dem sie einer Belastung ausgesetzt sind. Aspekte der Expositionsabschätzung sind in<br />
Abschnitt <strong>6.</strong>3 erläutert.<br />
Die Wirkungen vieler Umweltbelastungen auf den Menschen sind unspezifisch. Das heisst,<br />
es ist kaum möglich von einer bestimmten Krankheit oder einem Beschwerdebild direkt<br />
auf die verursachende Umweltbelastung zu schliessen. Umweltbelastungen sind Teil eines<br />
multifaktoriellen Geschehens, das den meisten gesundheitlichen Störungen zu<br />
Grunde liegt. Der Nachweis, dass ein bestimmter Umweltfaktor kausal (und nicht nur<br />
statistisch) mit einer Erkrankung assoziiert ist, kann daher nur mit methodisch<br />
ausgereiften Studien erbracht werden. Die Methoden der systematischen,<br />
bevölkerungsbezogenen Erforschung von Umwelteinflüssen auf die Gesundheit sind im<br />
Abschnitt <strong>6.</strong>4 beschrieben.<br />
Als Bindeglied zwischen dem bevölkerungsbezogenen und dem individuellen Ansatz kann<br />
die Umwelthygiene betrachtet werden. Ziel der Umwelthygiene ist die Verringerung von<br />
schädlichen oder unnötigen Expositionen. Basis dafür ist ein Umwelt-Monitoring (<strong>6.</strong>5).<br />
Im Einzellfall (wie im obigen Beispiel) spielen bei der Entstehung, dem Verlauf und der<br />
Verarbeitung umweltbezogener Störungen neben physiko-chemischen Faktoren auch<br />
psychologische Faktoren eine Rolle. Dies gehört zum Gebiet der Umwelt-<br />
Psychosomatik (<strong>6.</strong>6).<br />
Für die Beurteilung von Gesundheitsrisiken ist in der <strong>Umweltmedizin</strong> die Public Health<br />
Perspektive von grosser Bedeutung. Individuell kleine Risiken können aus<br />
gesamtgesellschaftlicher Bewertung relevant sein, wenn eine Vielzahl von Personen<br />
betroffen (exponiert) sind. Die Public Health Perspektive ist im Abschnitt <strong>6.</strong>7 detaillierter<br />
erläutert.<br />
<strong>6.</strong>2 Überblick über wesentliche Umweltschadstoffe<br />
Wichtige Begriffe:<br />
Emissionen: Als Emission werden die von einem Verursacher abgegebene Wirkung<br />
bezeichnet (z.B. Schadstoffausstoß aus einem Kamin, Strahlung von einem Mobiltelefon).<br />
Emissionsmessungen finden direkt an der Quelle (z.B. Auspuff) statt.<br />
Immissionen: Im Gegensatz zu den Emissionen versteht man unter Immissionen die<br />
Einwirkung der Schadstoffe beim Empfänger. Immissionsmessungen werden am Ort wo<br />
sich Menschen aufhalten gemacht (z.B. in einem Stadtpark oder in einer Wohnung).<br />
Primäre Schadstoffe: werden direkt aus einer technischen Anlage emittiert (z.B<br />
Kohlenmonoxid).<br />
Sekundär gebildete Schadstoffe: entstehen durch chemische Umwandlung in der Luft<br />
von den aus technischen Anlagen (Z.B. Kaminen und Auspuffe) emittierten primären<br />
Schadstoffen (z.B. Ozon).<br />
<strong>6.</strong>2.1 Luftschadstoffe<br />
<strong>6.</strong>2.1.1 Aussenluftschadstoffe<br />
FEINSTAUB (PM10)<br />
Staub ist ein physikalisch-chemisch komplexes Gemisch. Es besteht sowohl aus primär<br />
emittierten wie aus sekundär gebildeten Komponenten natürlichen und anthropogenen<br />
Ursprungs (z.B. Russ, geologisches Material, Abriebspartikel, biologisches Material) und<br />
ist in seiner Zusammensetzung sehr vielfältig (Schwermetalle, Sulfat, Nitrat, Ammonium,<br />
organischer Kohlenstoff, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Dioxine/Furane).<br />
Unter der Bezeichnung PM10 versteht man Partikel mit einem aerodynamischen<br />
Durchmesser von weniger als 10 Mikrometer(= particulate matter
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Durchmesser). Ebenfalls häufig erwähnt werden PM2.5 oder TSP (Total Suspended<br />
Particles). Eine Differenzierung verschiedener Staubpartikel nach Grösse ist deshalb<br />
sinnvoll, weil nur die Anteile der atembaren Fraktion PM10 von Bedeutung sind, d.h.<br />
solche Partikel mit einem Durchmesser von weniger als 10 µm werden im Nasen-<br />
/Rachenraum zurückgehalten, unter 5 µm gelangen bis in die Alveolen.<br />
OZON (O3)<br />
Bodennahes Ozon ist ein Sekundärschadstoff und entsteht in der Troposphäre unter<br />
Einwirkung von Sonnenlicht aus Stickoxiden und flüchtigen organischen Verbindungen.<br />
Im Gegensatz zum gesundheitlich schädlichen bodennahen (troposphärischen) Ozon, ist<br />
das stratosphärische (10-50 km über Boden) Ozon grundsätzlich erwünscht. Es<br />
absorbiert die UV-Strahlung und verhindert so hohe, schädliche UV-Strahlung auf der<br />
Erdoberfläche. Ein Fehlen bzw. eine deutliche Reduktion der stratosphärischen<br />
Ozonschicht wird als 'Ozonloch' bezeichnet.<br />
STICKOXIDE (NOX)<br />
Unter dem Begriff Stickoxide werden Stickstoffdioxid (NO2) und Stickstoffmonoxid (NO)<br />
zusammengefasst. Da NO als Produkt von Verbrennungsprozessen rasch in der<br />
Atmosphäre zu NO2 oxidiert, werden die Emissionen gesamthaft als Stickstoffdioxid<br />
(NO2)-Äquivalente angegeben.<br />
FLÜCHTIGE ORGANISCHE VERBINDUNGEN (VOC= Volatile Organic Compounds)<br />
Flüchtige organische Verbindungen ohne Methan (abgekürzt als NMVOC= Non-methan<br />
Volatile Organic Compounds).Methan und FCKW werden wegen der speziellen Wirkung<br />
getrennt behandelt.<br />
BENZOL<br />
Benzol ist eine farblose Flüssigkeit mit charakteristischem aromatischen Geruch. Der<br />
Stoff ist der einfachste und zugleich bekannteste Vertreter der aromatischen<br />
Kohlenwasserstoffe. Unter Normalbedingungen ist Benzol brennbar, chemisch stabil und<br />
in Wasser mässig löslich.<br />
WEITERE SCHADSTOFFE<br />
• Schwefeldioxid (SO2)<br />
• Kohlenmonoxid (CO)<br />
• Ammoniak (NH3)<br />
• Chlorwasserstoff (HCl)<br />
• Fluorwasserstoff (HF)<br />
• Blei (Pb)<br />
• Zink (Zn)<br />
• Cadmium (Cd)<br />
• Quecksilber (Hg)<br />
• Dioxine und Furane (PCDD/PCDF)<br />
• Lachgas (N2O)<br />
• Kohlendioxid (CO2)<br />
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Tabelle 2: Überblick über die Wirkung der wichtigsten anthropogenen Aussenluftschadstoffe auf die Gesundheit.<br />
Entstehung Quellen Eigenschaften Auswirkungen Anmerkung<br />
PM10 - industrielle und gewerbliche<br />
Produktionsprozesse<br />
- Verbrennungsprozesse<br />
- mechanische Prozesse<br />
(Abrieb, Aufwirbelung)<br />
- sekundäre Bildung (aus SO2,<br />
NOx, NH3, VOC)<br />
Ozon - Aus Vorläufersubstanzen<br />
mittels photochemischer<br />
Reaktion in der Troposphäre<br />
Stickoxide - Verbrennen von Brenn- und<br />
Treibstoffen, insbesondere bei<br />
hohen Verbrennungstemperaturen.<br />
VOC - Verdunsten von<br />
Lösungsmitteln und<br />
Treibstoffen<br />
- unvollständige Verbrennung<br />
Benzol - Verbrennungsprozesse<br />
- Verdunstung von Treib- und<br />
Brennstoffen<br />
Schwefeldioxid<br />
- Verbrennen von<br />
schwefelhaltigen Brenn- und<br />
Treibstoffen<br />
Kohlen- - unvollständige Verbrennung<br />
monoxid von Brenn- und Treibstoffen<br />
Ammoniak - Lagern und Ausbringen von<br />
Hofdünger<br />
- Verkehr<br />
(Dieselfahrzeuge)<br />
- Industrie und Gewerbe<br />
- Land- und Forstwirtschaft<br />
- Vorläuferschadstoffe<br />
stammen aus Verkehr,<br />
Industrie und Gewerbe<br />
- Feste und flüssige<br />
Teilchen<br />
unterschiedlicher<br />
Grösse und<br />
Zusammensetzung<br />
- schwach wasserlöslich<br />
- desinfizierend<br />
- Strassenverkehr - NO: Farbloses Gas,<br />
wird in der Atmosphäre<br />
zu NO2 umgewandelt<br />
- NO2: In höheren<br />
Konzentrationen rötlich<br />
- Industrie und Gewerbe<br />
- Strassenverkehr<br />
- Motorisierter<br />
Strassenverkehr<br />
- Feuerungen<br />
- Lagerung und Umschlag<br />
(Tankstellen)<br />
- Industrie- und<br />
Hausfeuerungen<br />
- Je nach Substanz<br />
verschieden<br />
(v 1.0 / 15.<strong>6.</strong>2005 - siehe „http://www.ispm.unibe.ch/downloads/spm_skript/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 4<br />
- Feinstäube und Russ: Erkrankungen der Atemwege und<br />
des Herz-Kreislaufsystems, Zunahme der Mortalität<br />
sowie des Krebsrisikos<br />
- Sedimentstaub (Staubniederschlag): Anreicherung der<br />
im Staub enthaltenen Schwermetalle und<br />
Dioxine/Furane in der Nahrungskette<br />
- Ozon reizt die Schleimhaut der Atemwege, verursacht<br />
Druck auf die Brust, vermindert die Leistungsfähigkeit<br />
der Lungen, Hinweise für Zunahme der Moralität<br />
- Erkrankungen der Atemwege - Wichtige Vorläufersubstanz für die<br />
Bildung von sauren Niederschlägen,<br />
sekundären Aerosolen und -<br />
zusammen mit den flüchtigen<br />
organischen Verbindungen - von<br />
- Das Spektrum reicht von nicht toxischen bis zu<br />
hochtoxischen und Krebs erzeugenden Verbindungen<br />
(z.B. Benzol).<br />
- leichtflüchtig - Krebs (Leukämie)<br />
- In höheren Konzentrationen akute Wirkung auf Augen,<br />
Atemwege und Zentralnervensystem.<br />
- Farbloses, in höheren<br />
Konzentrationen<br />
stechend riechendes<br />
Gas.<br />
- Strassenverkehr - Farb- und geruchloses<br />
Gas<br />
- Nutztierhaltung in der - Charakteristisch<br />
Landwirtschaft<br />
stechend riechendes,<br />
farbloses Gas<br />
Photooxidantien (Ozon/Sommersmog).<br />
- Zusammen mit den Stickoxiden<br />
wichtige Vorläufersubstanzen für die<br />
Bildung von Photooxidantien<br />
(Ozon/Sommersmog).<br />
- Tabakrauch enthält Benzol und ist in<br />
Innenräumen die grösste Benzolquelle.<br />
- Erkrankungen und Reizungen der Atemwege, - Wichtige Vorläufersubstanz für die<br />
Bildung von sauren Niederschlägen<br />
und sekundären Aerosolen (d.h. sehr<br />
feinen Stäuben).<br />
- Atemgift - Spielt bei der Ozonbildung in der freien<br />
Troposphäre eine Rolle.<br />
- Reizgas - Wichtige Vorläufersubstanz für die<br />
Bildung von sekundären Aerosolen<br />
(PM10).
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VERLAUF DER SCHWEIZER LUFTVERSCHMUTZUNGSSITUATION IN DEN LETZTEN<br />
20 JAHREN<br />
Mit dem Erlass der Luftreinhalte-Verordnung (LRV) und den Verordnungen über die<br />
Abgasemissionen leichter und schwerer Motorwagen, Motorräder und Motorfahrräder<br />
(FAV 1-4) im Jahre 1986 wurden wichtige Entscheide zur Bekämpfung der<br />
Luftverschmutzung getroffen.<br />
Dank den getroffenen Luftreinhalte-Massnahmen sind die Schadstoff-Emissionen und<br />
-Immissionen in der Schweiz bis ins Jahr 2000 für die meisten Schadstoffe gesunken.<br />
Seither zeichnet sich wegen der Zunahme von Schadstoffquellen (v.a. Verkehr) und<br />
teilweise aufgrund der Witterung bei den Immissionen eine Trendumkehr ab. Quellen mit<br />
starker saisonaler Abhängigkeit (z.B. Heizungen) tragen nur wenig zur<br />
Schadstoffbelastung bei. Die saisonalen Unterschiede in der Luftschadstoffbelastung sind<br />
weitgehend auf meteorologische Faktoren zurückzuführen: Bei winterlichen<br />
Inversionen sammeln sich die Schadstoffe in den untersten Luftschichten an. An schönen<br />
Sommertagen bildet sich durch die erhöhte Sonnenstrahlung mehr Ozon.<br />
Da in der Schweiz die meisten grösseren industriellen Emittenten saniert wurden, gibt es<br />
kaum mehr wichtige Einzelquellen, sondern die Schadstoffbelastung nimmt generell<br />
parallel mit der Siedlungsdichte zu, wobei die Verkehrsdichte ein wichtiger Faktor ist. Aus<br />
Tabelle 1 ist ersichtlich, dass in Bezug auf die Einhaltung der Grenzwerte PM10<br />
Stickoxide und Ozon kritisch sind.Für die Summe der flüchtigen organischen<br />
Verbindungen gibt es keine Grenzwerte. Die Belastungen verharren seit 10 Jahren auf<br />
relativ konstantem Niveau. Blei und Kadmium im Schwebestaub (PM10) sind gegenüber<br />
den letzten Jahren kaum verändert und liegen weit unter den Grenzwerten. Alle<br />
gemessenen Staubdepositionswerte liegen, wie auch die Depositionswerte von Blei,<br />
Kadmium, Zink und Thallium, deutlich unter den Grenzwerten.<br />
In Abbildung 1 sind Schadstoffjahresmittelwerte der letzten 20 Jahre für verschiedene<br />
NABEL-Messstationen dargestellt. Man beachte, dass die Messstandorte in den<br />
verschiedenen Städten unterschiedlich charakterisiert sind. Beispielsweise steht in Bern<br />
die Messstation in der Nähe eines sehr verkehrsreichen Standortes (Bollwerk). In Zürich<br />
steht die Messstation im Park und in Basel in der Agglomeration (St. Margrethen). Damit<br />
können die Messungen verschiedener Städte nicht direkt miteinander verglichen werden.<br />
Die hohen Ozonwerte im 'Hitzesommer' 2003 sind auf die speziellen<br />
Witterungsbedingungen zurückzuführen. Dies ist ein eindrückliches Beispiel für den<br />
Einfluss der Witterungsbedingungen auf die Luftschadstoffimmissionen.<br />
Tabelle 3: Überblick über Grenzwertüberschreitungen in der Schweiz (Stand: 2005).<br />
Schadstoff Art des Höhe des<br />
Gebiete<br />
Grenzwertes Grenzwertes<br />
Stadt Agglomeration Land<br />
Schwefeldioxid Jahresmittel 30 µg/m³<br />
Stickoxide Jahresmittel 30 µg/m³ -<br />
Ozon Stundenmittel 120µg/m³<br />
Kohlenmonoxid Tagesmittel 8 mg/m³<br />
PM10 Jahresmittel Jahresmittel -<br />
Legende: Immissionsgrenzwerte praktisch überall eingehalten<br />
Immissionsgrenzwerte teilweise überschritten<br />
Immissionsgrenzwerte häufig / stark überschritten<br />
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Abbildung 1: Überblick über Stickstoffdioxid-, PM10- und Ozonmessungen an mehreren<br />
Standorten in der Schweiz (vom BUWAL: http://www.umweltschweiz.ch).<br />
„Hitzesommer“<br />
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<strong>6.</strong>2.1.2 Innenraumschadstoffe<br />
Luftschadstoffe im Innern von Gebäuden, in denen sich der moderne Mensch bis zu 90%<br />
seiner Zeit aufhält, sind aus verschiedenen Gründen zum Problem geworden: Seit den<br />
70er Jahren werden Anstrengungen unternommen, um durch bessere Abdichtungen<br />
sowie durch eine qualitativ verbesserte Bauweise die Wärmeverluste von Gebäuden zu<br />
vermindern. Diese aus Sicht des Umweltschutzes positive Entwicklung kann jedoch durch<br />
die verminderte Aussenluftzufuhr zu einer Anreicherung von Luftfremdstoffen im Innern<br />
führen. Die Grundbelastung in Innenräumen stammt aus der Aussenluft. Zusätzliche<br />
Belastungen stammen von Aktivitäten oder Quellen im Innern. Man misst deshalb neben<br />
den klassischen Aussenraumschadstoffen in Innenräumen auch Kohlendioxid,<br />
Tabakrauch, Radon, Formaldehyd, Asbest, Schimmelpilze, Hausstaubmilben, Bakterien,<br />
Wasserdampf und Gerüche.<br />
Die wahrgenommene Frische von Raumluft wird in erster Linie durch den<br />
Kohlendioxidgehalt bestimmt. Experimente haben gezeigt, dass bei hohem<br />
Kohlendioxidgehalt die Raumluft als schlecht oder 'abgestanden' eingeschätzt wird.<br />
Tabakrauch gehört zu den gesundheitlich relevantesten Innenraumraumschadstoffen.<br />
Tabakrauch besteht u.a. aus Kohlenmonoxid, Nikotin, Stickoxiden und Aldehyden. Zu den<br />
epidemiologisch gesicherten Gesundheitsrisiken des Passivrauchens gehören<br />
Reizwirkungen auf Augen, Nase, Hals, Verschlechterung der Lungenfunktion sowie<br />
erhöhte Inzidenz von Atemwegserkrankungen. Tabakrauch ist von der<br />
Weltgesundheitsorganisation bzw. IARC (International Agency on Cancer Research) für<br />
praktisch alle Krebsarten als karzinogen klassifiziert worden.<br />
Tabelle 4: Überblick über Innenraumquellen.<br />
Verursacher Aktivität Schadstoff<br />
Mensch Stoffwechsel Kohlendioxid, Körpergerüche,<br />
Wasserdampf<br />
Gebäudematerialien<br />
und Einrichtungen<br />
div. Aktivitäten Tabakrauch, Partikel, Reinigungsmittel,<br />
Sprays, Lösungsmittel<br />
Kochen mit Gas Stickoxide, Partikel, Kohlenmonoxid<br />
Spanplatten Formaldehyd<br />
Wärmedämmstoffe Formaldehyd<br />
Gebäudehülle Asbest, Holzschutzmittel<br />
Untergrund Radon<br />
Farbanstriche Flüchtige organ. Verbindungen<br />
Klebematerial VOC, Formaldehyd<br />
Luftbefeuchter Mikroorganismen (Hausstaubmilben,<br />
Pilzsporen, Bakterien)<br />
Radon ist ein natürlich vorkommendes, radioaktives Gas, das beim Zerfall des im Boden<br />
vorhandenen Urans entsteht. Eingeatmetes Radon und v.a. seine Zerfallsprodukte führen<br />
zu einer Bestrahlung der Atemorgane und damit zu einem erhöhten Lungenkrebsrisiko.<br />
In der Schweiz ist die Radon-Belastung in Gebäuden regional sehr verschieden und hängt<br />
sehr stark von der Bodenbeschaffenheit ab. Am stärksten durch Radon belastet sind das<br />
Bündner Oberland und die Bündner Südtäler, sowie Karstgebiete im westlichen Jura und<br />
einige Gemeinden im Kanton Tessin. Die Radonbelastung hängt stark von der Bauweise<br />
der Gebäude ab. Natürliche Kellerböden erlauben einen höheren Gasaustritt aus dem<br />
Boden. In höheren Stockwerken ist die Radonbelastung generell gering.<br />
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Das Reizgas Formaldehyd gelangt v.a. durch Emissionen von Spanplatten, von<br />
Wärmedämmungen sowie von Klebestoffen in die Raumluft. In kontaminierten<br />
Wohnräumen können Konzentrationen bis zu 1ppm auftreten. Die Geruchsschwelle liegt<br />
bei einer Konzentration in der Atemluft von etwa 0,1ppm; ab 0,2ppm treten mit<br />
steigender Konzentration bei einem zunehmenden Anteil der Bevölkerung Belästigungen<br />
und Reizerscheinungen insbesondere der Augen auf.<br />
<strong>6.</strong>2.1.3 Treibhausgase<br />
Wenn auf der Erde keine Atmosphäre existierte, würde die gesamte Wärmeenergie ins All<br />
entweichen und die Temperatur auf der Erde lebensfeindliche –18 °C betragen.<br />
Tatsächlich liegt die globale Durchschnittstemperatur jedoch bei +15 °C. Dieser für das<br />
Leben auf der Erde entscheidende Unterschied von 33 °C ist dem natürlichen<br />
Treibhauseffekt zu verdanken. Wie die Glasscheiben eines Treibhauses ist die<br />
Atmosphäre für das einstrahlende Sonnenlicht grösstenteils durchlässig. Die von der<br />
Erdoberfläche ausgehende Wärmestrahlung hält sie jedoch zurück. Verantwortlich für<br />
diese Wirkung der Atmosphäre sind zum einen der Wasserdampf, zum anderen so<br />
genannte „Spurengase“ wie Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Lachgas (N2O) und Ozon<br />
(O3). Sie machen insgesamt weniger als 1% der Atmosphäre aus. Über die ganze Erde<br />
betrachtet, stellt sich dank ihnen ein komplexes und empfindliches Gleichgewicht von<br />
Sonneneinstrahlung und Wärmeabgabe ein. Seit Beginn des Industriezeitalters, also seit<br />
rund 250 Jahren, verstärkt die Menschheit den natürlichen Treibhauseffekt durch<br />
Emissionen wie sie vor allem im Zusammenhang mit der Nutzung von Kohle, Erdöl und<br />
Erdgas entstehen. Die Atmosphäre enthält inzwischen rund einen Drittel mehr CO2 als<br />
vor Beginn der Industrialisierung. Die Konzentration von Methan (CH4), welches<br />
hauptsächlich aus der Landwirtschaft stammt, hat um 150 Prozent zugenommen. Die<br />
Analyse von Eisbohrkernen aus der Antarktis hat ergeben, dass der Gehalt beider Gase in<br />
den letzten 420 000 Jahren nie so hoch war wie heute. Seit mindestens 20 000 Jahren<br />
gab es auch keinen derart schnellen Anstieg der CO2-Konzentration wie in den letzten<br />
Jahrzehnten. Einmal freigesetzt, steigen Treibhausgase in der Atmosphäre langsam auf<br />
und können über lange Zeit wirksam bleiben. CO2 zum Beispiel hat eine Verweildauer von<br />
50 bis 200 Jahren.<br />
Um die mögliche Entwicklung des anthtropogen verursachten Treibhauseffektes im<br />
21. Jahrhundert und die entsprechenden Auswirkungen abschätzen zu können, wertete<br />
das „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) Hunderte von wissenschaftlichen<br />
Studien aus. Die 2001 publizierten Resultate basieren auf 40 Szenarien, denen<br />
Annahmen zur möglichen Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft und Technik zugrunde<br />
liegen. Aus der Spannweite der Annahmen ergibt sich eine erhebliche Bandbreite der<br />
möglichen Auswirkungen. In allen Szenarien steigt jedoch die Konzentration der<br />
Treibhausgase in den nächsten Jahrzehnten erheblich an. In den verschiedenen Regionen<br />
der Erde können die Auswirkungen auf Temperatur und Niederschläge jedoch sehr<br />
unterschiedlich ausfallen und von den globalen Durchschnittswerten deutlich abweichen<br />
(siehe Tabelle 5).<br />
Tabelle 5: Prognostizierten Entwicklungen bis ins Jahr 2100 gemäss IPCC.<br />
Effekt Prognose<br />
CO2-<br />
Konzentration<br />
• Zunahme von 50 bis 170% gegenüber 2000<br />
• Zunahme bei allen Szenarien<br />
• es ist praktisch sicher, dass der Anstieg hauptsächlich durch die Nutzung fossiler Brenn- und Treibstoffe<br />
verursacht wird.<br />
Temperatur • Zunahme von 1,4 bis 5,8 °C gegenüber 1990.<br />
• Der Temperaturanstieg im 21. Jahrhundert wird damit zwei- bis zehnmal grösser als im 20. Jahrhundert<br />
• Der Anstieg ist sehr wahrscheinlich einzigartig seit dem Ende der letzten Eiszeit.<br />
• Sehr wahrscheinlich höhere Maximaltemperaturen, mehr heisse Tage und Hitzewellen über nahezu allen<br />
Landgebieten<br />
• Sehr wahrscheinlich höhere Minimaltemperaturen, weniger Frosttage, kalte Tage und Kältewellen über<br />
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nahezu allen Landgebieten<br />
Niederschläge • Wahrscheinlich Zunahme in den mittleren bis hohen Breiten der Nordhalbkugel<br />
• Sehr wahrscheinlich grössere Schwankungen im jährlichen Niederschlag und damit Tendenz zu<br />
Überschwemmungen oder Dürren<br />
• Sehr wahrscheinlich zunehmende Häufigkeit starker Niederschlagsereignisse über vielen Gebieten<br />
Der Klimawandel kann direkte oder indirekte gesundheitliche Konsequenzen haben.<br />
Bei den direkten Wirkungen handelt es sich um die unmittelbaren Folgen von<br />
Wetterextremen (Hitze, Dürren, Stürme, Überschwemmungen) auf die Gesundheit der<br />
Menschen. Einen indirekten Einfluss auf den Menschen übt die Klimaänderung durch<br />
Veränderungen der Ökosysteme und der dadurch bedingten Veränderungen der<br />
Lebensbedingungen von temperaturempfindlichen Bakterien und Viren sowie von<br />
Krankheitsüberträgern wie Insekten, Zecken oder Nagetiere aus. Diskutiert wird auch<br />
eine verstärkte klimainduzierte Luftschadstoffbelastung vorab in städtischen Gebieten<br />
und deren bekannte Auswirkung auf die menschliche Gesundheit (siehe z.B.<br />
Ozonkonzentration im Jahr 2003, Abbildung 1). Ein Temperaturanstieg würde ausserdem<br />
die Verfügbarkeit von sauberem Wasser und von Nahrungsmitteln beeinflussen. Ein durch<br />
veränderte klimatische Bedingungen erhöhter Meeresspiegel hätte ebenfalls beträchtliche<br />
gesundheitliche Auswirkungen auf die davon betroffene Bevölkerung.<br />
Auswirkungen des Hitzesommers 2003 auf die Mortalität in der Schweiz:<br />
• Im Sommer 2003 war die mittlere Temperatur in der Schweiz zwischen 4 und 6°C<br />
höher als in den vergleichbaren Sommermonaten 1961-1990.<br />
• Berechnungen ergaben, dass dadurch rund 1000 zusätzliche Todesfälle aufgetreten<br />
sind. Dies entsprach einer zusätzlichen Mortalität von 7.1% (95%-Konfidenzintervall<br />
5.1 - 9.2) (von Grize et al., 2005).<br />
<strong>6.</strong>2.2 Wasser- und Bodenschadstoffe<br />
Die Trinkwasserverschmutzung stellt global eines der grössten Gesundheitsprobleme dar<br />
(siehe auch Abschnitt International Health). Es kann sich dabei sowohl um chemische als<br />
auch biologische Wasserverunreinigungen handeln.<br />
Drei häufig angewandte Reinigungsverfahren bei Trinkwasseraufbereitung<br />
• Filtration<br />
• Chlorierung<br />
• Ozonisierung<br />
Die Schweizer Bevölkerung bezieht ihr Trinkwasser zu über 80 % aus dem<br />
Grundwasser. Die Trinkwasserversorgung ist in der Schweiz stark dezentralisiert. Über<br />
3000 Wasserwerke versorgen die Bevölkerung und die Industrie mit Trinkwasser. Die<br />
jährlichen Betriebskosten der öffentlichen Wasserversorgungen belaufen sich auf rund<br />
1.4 Milliarden Franken. Das Versorgungsnetz in der Schweiz umfasst über 50'000 km<br />
Leitungen.<br />
TRINKWASSERVERUNREINIGUNGEN<br />
Landwirtschaft, Verkehr, Industrie, Gewerbe, Haushalt und Freizeitaktivitäten können auf<br />
vielerlei Art das Grundwasser - und somit unsere wichtigste Trinkwasserressource - in<br />
Menge und Qualität gefährden. Typische Schadstoffemittenten sind:<br />
• landwirtschaftliche Hilfsstoffe (Pflanzenschutzmittel, Mineraldünger)<br />
• Hofdünger (Gülle, Mist)<br />
• undichte Kanalisationen oder Öltanks<br />
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• Auslaufen von Chemikalien<br />
• Mineralstoffverlust von Fahrzeugen<br />
• Behinderung des Grundwasserstroms durch Tunnels oder Unterführungen.<br />
Stickstoffverbindungen im Trinkwasser können die Gesundheit gefährden. Nitrit ist<br />
besonders bedenklich, da es die Blausucht (Methämoglobinämie) bei Säuglingen auslösen<br />
kann. Nitrosamine, welche in Lebensmitteln und im Verdauungstrakt aus Nitrit entstehen,<br />
begünstigen Krebserkrankungen. Nitrat ist gleichermassen bedenklich, da durch<br />
Reduktion Nitrit gebildet werden kann. Ammonium ist ein Verschmutzungsindikator,<br />
insbesondere beim gleichzeitigen Vorkommen von Nitrit und/oder Nitrat.<br />
Während sich in den letzten 40 Jahren die Situation für klassische Trinkwasserschadstoffe<br />
aufgrund von Gewässerschutzmassnahmen generell verbessert hat, sind in den letzten<br />
Jahren mögliche schädliche Wirkungen von sogenannt hormonaktiven Substanzen ins<br />
Blickfeld der Wissenschaft und der Öffentlichkeit geraten. Chemikalien, die hormonaktiv<br />
wirken (engl: endocrine disruptors), können eine Vielzahl verschiedener Effekte auf<br />
Mensch, Tier, Pflanzen oder das Ökosystem haben. Bei Menschen wurden Störungen bei<br />
der Entwicklung von Föten, verminderte Fertilität und eine Zunahme von Brust-, Hodenund<br />
Prostatakrebs berichtet. Es wird vermutet, dass eine Vielzahl von Lösungsmitteln,<br />
Insektiziden, Pestiziden, Verbrennungsprodukten, Medikamenten, Kosmetika und auch<br />
Pflanzenprodukten hormonaktive Wirkung haben. Einige dieser Substanzen, z.B.<br />
polychlorierte Biphenyle (PCBs) oder Dibenzo-p-Dioxine haben aufgrund ihrer schädlichen<br />
Wirkung weltweite Aufmerksamkeit erlangt. Hormonaktive Substanzen können Effekte<br />
weit unterhalb der toxischen Grenze auslösen. Sie können mit einem oder mehreren<br />
Hormonsystem interagieren. Art und Stärke ihrer Auswirkungen sind jedoch stark<br />
unterschiedlich und bisher generell nicht gut verstanden. In der Schweiz wurde im Jahre<br />
2001 ein Nationales Forschungsprogramm zu dieser Thematik gestartet (NFP 50).<br />
Im Gegensatz zu den oben diskutierten chemischen Trinkwasserschadstoffe sind<br />
limitierte Mengen von Bakterien natürlicherweise im Trinkwasser nicht zu vermeiden.<br />
Eine erhöhte Keimzahl ist jedoch Nachweis einer bakteriellen Verunreinigung und<br />
bedeutet ein erhebliches Gesundheitsrisiko. Werden coliforme Bakterien festgestellt, ist<br />
mit einer fäkalen Kontamination zu rechnen. Bekanntester Vertreter dieser Gattung ist E.<br />
coli. Der Nachweis von E. coli ist mit dem Vorhandensein von Krankheitserregern<br />
gleichzusetzen.<br />
BODENSCHADSTOFFE<br />
Hauptproblem der anthropogener Bodenbelastung aus gesundheitlicher Perspektive ist<br />
deren Anreicherung in der Nahrungskette sowie die dadurch verursachte Verschmutzung<br />
des Trinkwassers.<br />
Als anthropogene Bodenbelastung kommen relativ häufig vor: Blei, Kupfer, Cadmium,<br />
Quecksilber.<br />
In Gärten wird wegen Gebrauch von Schädlingsbekämpfungsmittel teilweise hohe<br />
Kupferkonzentrationen gemessen.<br />
<strong>6.</strong>2.3 Physikalische Gefährdung<br />
Zu den physikalischen Gefährdungen gehören elektromagnetische Felder (EMF) und<br />
Schall.<br />
<strong>6.</strong>2.3.1 Elektromagnetische Felder (EMF)<br />
Elektromagnetische Felder sind in unserer Umwelt allgegenwärtig und niemand kann sich<br />
ihrem Einfluss ganz entziehen. Das Hauptcharakteristikum von EMF ist seine Frequenz<br />
mit der entsprechenden Wellenlänge. Natürliche Quellen sind beispielsweise die<br />
kosmische Strahlung, das magnetische Feld der Erde, an welchem sich die Kompassnadel<br />
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orientiert, oder elektrische Felder in der Atmosphäre, die beim Blitzentladungen<br />
wahrnehmbar sind). Das elektromagnetische Spektrum umfasst ionisierende Strahlung,<br />
UV-Strahlung sowie den nichtionisierenden Frequenzbereich (siehe Abbildung 2).<br />
Abbildung 2: Überblick über das elektromagnetische Spektrum: Wellenlänge, Frequenz,<br />
Bezeichnung, biologische Wirkungen und Quellen (aus Röösli et al., 2003).<br />
Wellenlänge in m<br />
3· 108 3· 106 3· 104 300 3 3· 10-2 3· 10-4 3· 10-6 3· 10-8 3· 10-10 3· 10-12 3· 108 3· 106 3· 104 300 3 3· 10-2 3· 10-4 3· 10-6 3· 10-8 3· 10-10 3· 10-12 Frequenz in Hz 1 100 104106 108 10 10 1012 1014 1016 1018 1020 Frequenz in Hz 1 100 104106 108 10 10 1012 1014 1016 1018 1020 Vorsilbe/Abkürzung -(Hz)<br />
Bezeichnung<br />
Biol.<br />
Wirkung<br />
Statisch<br />
kilo (kHz) Mega (MHz) Giga (GHz)<br />
Niederfrequente Felder Hochfrequente Wellen<br />
Kraft Reiz Wärme<br />
Infrarot-<br />
Strahlung Licht<br />
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UV<br />
Photochemie<br />
Ionisierende Strahlen<br />
Ionisation<br />
Quellen<br />
Erdmagnetfeld<br />
EAS-<br />
elektr.<br />
Sferics<br />
Diebstahl-<br />
Diathermie<br />
Geräte<br />
sicherung<br />
Tram<br />
Bildschirm<br />
Stromversorgung<br />
UKW<br />
Mittel-<br />
U-Bahn<br />
Lang- Kurz-<br />
Bahnstrom<br />
Mikrowellenofen<br />
Radar<br />
Beleuchtung<br />
Strahlentherapie<br />
LasergeräteWärme-<br />
Röntgengeräte<br />
strahler<br />
Höhensonne Radioakt ive Quellen<br />
Radiowellen Mobilfunk<br />
Atmosphärisches Feld<br />
Induktions-<br />
W-Lan<br />
herde<br />
Fernsehwellen<br />
Amateurfunk CB-Funk<br />
Dielektrische<br />
Heizer<br />
Satellitenkommunikation<br />
NICHTIONISIERENDE STRAHLUNG (NIS)<br />
Bei der nichtionisierenden Strahlung (NIS) ist die Photonenenergie zu klein, um ein<br />
Molekül zu ionisieren (z.B. direkte Schädigung der DNA-Moleküle). NIS umfasst den<br />
Frequenzbereich von 0 bis 300 Gigahertz, also Emissionen wie sie im Zusammenhang mit<br />
der Nutzung von Strom und von mobilen Kommunikationstechniken entstehen.<br />
Technisch erzeugte NIS hat im Verlaufe des 20. Jahrhunderts rapide zugenommen durch<br />
den gestiegenen Stromverbrauch und, in jüngster Zeit, durch die Entwicklung neuer<br />
Kommunikationstechnologien wie die Mobiltelefonie und Wireless Lan. Ist die Feldstärke<br />
genügend gross, kann NIS in allen Frequenzbereichen gesundheitsschädigend werden.<br />
Die gesundheitlichen Auswirkungen von NIS bei den im Alltag vorkommenden<br />
Feldstärken sind jedoch noch ungeklärt.<br />
Obwohl eine Reihe von Krankheiten und gesundheitlichen Beschwerden der Wirkung von<br />
NIS zugeschrieben wird, ist eine zusammenfassende Interpretation der bisherigen<br />
Forschungsergebnisse schwierig. In vielen Fällen fehlt die Reproduzierbarkeit der<br />
Ergebnisse, der Wirkungsmechanismus ist unklar oder die Studien sind methodisch<br />
fragwürdig.<br />
Neueste Evaluationen bisheriger Studien zum Zusammenhang zwischen<br />
Kinderleukämie und niederfrequenten Magnetfeldern von Hochspannungsleitungen<br />
zeigen eine Verdoppelung des Erkrankungsrisiko bei einer häuslichen Belastung ab 0.3–<br />
0.4 µT. Magnetfelder in dieser Höhe wurden in Deutschland in rund 1% aller Wohnungen<br />
nachgewiesen. Auf der Basis von Kinderleukämiestudien klassifizierte die Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO) im Herbst 2001 deshalb niederfrequente elektromagnetische<br />
Felder als möglicherweise kanzerogen. Die Evidenz für alle anderen Krebsarten bei<br />
Erwachsenen und Kindern wurde von der WHO als nicht klassifizierbar erachtet.<br />
Diesbezügliche Zusammenhänge können aber nicht ausgeschlossen werden. Zur Zeit<br />
steht insbesondere ein erhöhtes Risiko für Leukämie oder neurodegenerative<br />
Krankheiten bei hohen EMF-Expositionen am Arbeitsplatz zur Diskussion. Ungeklärt ist
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auch die Frage, ob es eine Bevölkerungsgruppe gibt, die besonders sensibel auf<br />
elektromagnetische Feldexpositionen reagiert (elektromagnetische<br />
Hypersensibilität).<br />
Studien über die Wirkungen hochfrequenter Strahlen an MobiltelefonbenützerInnen<br />
fanden unter experimentellen Bedingungen Einflüsse auf das EEG, Schlafparameter<br />
und Reaktionszeiten. Ob und inwiefern diese Befunde gesundheitsrelevant sind, ist<br />
umstritten. Langzeitstudien an Menschen mit typischen alltäglichen Expositionen gibt es<br />
nur wenige. Einige Studien untersuchten das Hirntumorrisiko bei Benützung von<br />
Mobiltelefonen. In den meisten Studien wurde kein gehäuftes Auftreten von Tumoren<br />
beobachtet. In den Kollektiven dieser Studien war jedoch die durchschnittliche Dauer der<br />
Mobiltelefonbenützung relativ kurz.<br />
ULTRAVIOLETTE STRAHLUNG<br />
Ultraviolette Strahlung liegt im Spektrum der elektromagnetischen Strahlung neben dem<br />
sichtbaren Licht und grenzt an die ionisierende Strahlung. UV-Strahlung erstreckt sich<br />
über den Wellenlängenbereich von 10 bis 400 nm. Je kleiner die Wellenlänge, umso<br />
grösser ist die Energie der Strahlung. Entsprechend den unterschiedlichen biologischen<br />
Wirkungen werden die Teilbereiche UV C (100–280 nm), UV B (280–320 nm) und UV A<br />
(320–400 nm) unterschieden. Manchmal wird die Grenze zwischen UV B und UV A auch<br />
bei 315 nm gesetzt. Der Bereich von 10 bis 100 nm wird als Vakuum-UV bezeichnet, weil<br />
diese Strahlung in der Luft vollständig absorbiert wird. Je nach Spektrum und Stärke der<br />
UV-Strahlung und je nach Expositionsdauer treten unterschiedliche Wirkungen auf. Die<br />
biologische Wirkung der UV-Strahlung hängt stark von der Wellenlänge ab: Je kürzer die<br />
Wellenlänge, desto energiereicher ist die Strahlung und desto tiefer ist die Eindringtiefe.<br />
Entsprechend nimmt die biologische Wirksamkeit zu. Grundsätzlich erwünscht ist die<br />
Bildung von Vitamin D, das durch die Exposition gegenüber UV B ausgelöst wird.<br />
Hingegen gibt es eine Reihe von schädlichen Effekten, die in Tabelle 6 dokumentiert sind.<br />
Man nimmt an, dass schädliche Wirkungen besonders durch häufige, "überfallartige"<br />
Bestrahlungen und die damit verbundenen Sonnenbrände vor allem im Kleinkindalter<br />
verursacht sind.<br />
Tabelle 6: Schädigende Wirkung der UV-Strahlung.<br />
Organ Effekt<br />
DNA Schädigung der DNA durch Strang Brüche<br />
Haut beschleunigte Hautalterung: Faltenbildung, Bildung von trockener<br />
und ledriger Haut<br />
Sonnenallergien und andere Lichtüberempfindlichkeits-Reaktionen<br />
Sonnenbrand (Erythem)<br />
Tumore der oberen Hautschichten: Basalzellenkrebs (Basaliom)<br />
und Stachelzellenkrebs (Spinaliom).<br />
schwarzer Hautkrebs (malignes Melanom)<br />
Augen Schneeblindheit: Entzündungen der Hornhaut (Fotokeratitis) und<br />
der Bindehaut (Fotokonjunktivitis)<br />
Linsentrübung (Grauer Star, Katarakt):<br />
Immunsystem Schwächung des Immunsystems<br />
IONISIERENDE STRAHLUNG<br />
Beim radioaktiven Zerfall von Radionukleiden werden Alpha- oder Betateilichen<br />
ausgesandt, oft zusätzlich auch Gammastrahlung (siehe Tabelle 7).<br />
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Quellen von Radioaktivität sind natürlichen Ursprungs (z.B. Radon, terrestrische und<br />
kosmische Strahlung) oder anthropogenen Ursprungs (Nutzung von Kernenergie,<br />
Kernwaffen, medizinischen Diagnostik und Strahlentherapie). Ionisierende Strahlung ist<br />
energiereich und imstande, anderen Atomen Elektronen zu entreissen, daher wird sie<br />
"ionisierende Strahlung" genannt. Im Prinzip können schon kleinste Dosen das Erbgut<br />
schädigen. Als Dosis, die ein Organ aufnimmt, wird die Energieabgabe der Strahlung pro<br />
kg Masse gemessen. Die Masseinheit ist das Sievert (SV) und entspricht bei Gamma- und<br />
Beta-Strahlung einer Absorption von 1 Joule/kg. Die durchschnittliche Bevölkerungsdosis<br />
in der Schweiz beträgt ungefähr 4 mSv. Sie setzt sich zusammen aus kosmischer<br />
Strahlung (0.35 mSV), terrestrischer Strahlung (0.45 mSV), durch Nahrung und Atmung<br />
eingenommene Radionukleide (0.4 mSv), Radon in Wohnräumen (1.6 mSv),<br />
medizinische Anwendungen (1.0 mSv) und übrige wie Tschernobyl (0.35 mSV) oder<br />
industrielle Quellen (0.2 mSv).<br />
Tabelle 7: Radioaktive Zerfallsarten<br />
Zerfallsarten Charakteristik Eindringtiefe in den Körper<br />
Alphateilchen besteht aus 2 Protonen und 2 Neutronen Bruchteile von Millimetern<br />
Betateilchen Elektron einige Millimeter<br />
Gamma-Strahlung elektromagnetische Strahlung etwa 1 Meter<br />
Akutschäden an einem Organ entstehen nur, wenn die Organdosis den Schwellenwert<br />
von 0.5 Sv übersteigt. Wird die Dosis über eine längere Zeit (Tage, Wochen) verteilt,<br />
liegt die Schwellendosis höher. Akutschäden sind nur nach schweren Unfällen zu<br />
erwarten. Akutschäden werden im allgemeinen durch die Zerstörung von Zellen<br />
hervorgerufen. Hierzu zählen Schädigungen des Verdauungssystems der exponierten<br />
Person, die bereits wenige Stunden nach der Exposition unter Erbrechen leiden wird.<br />
Zusätzlich kann es zu einer Veränderung des Blutbilds kommen, und es kann eine<br />
Hautrötung auftreten.<br />
Spätschäden können als Folge der natürlichen Umgebungsstrahlung oder der<br />
medizinischen Diagnostik Jahre nach der Exposition auftreten oder sichtbar werden.<br />
Dabei handelt es sich in erster Linie um Erbschäden oder Krebs. Man nimmt an, dass es<br />
für die Auslösung von Erbschäden und von Krebs keine Schwellendosis gibt sondern, dass<br />
mit zunehmender Dosis das Erkrankungsrisiko kontinuierlich zunimmt.<br />
<strong>6.</strong>2.3.2 Schall<br />
Lärm ist unerwünschter, unangenehmer oder schädigender Schall. Er wird als umweltund<br />
gesundheitsrelevante Grösse oft unterschätzt, was zu einem grossen Teil auf die<br />
lokale Ausbreitung sowie die subjektive Beurteilung von Schallereignissen zurückzuführen<br />
ist. Was für die einen Lärm ist, muss für andere noch lange nicht unangenehm<br />
empfunden werden. Ständig sind wir Menschen einer Schalleinwirkung ausgesetzt. Im<br />
Gegensatz zu den meisten anderen Umwelteinflüssen werden durch Lärm keine<br />
Ressourcen (Luft, Wasser, Erde) verschmutzt. Die Lärm-Emissionen wirken sich direkt<br />
auf den Menschen aus.<br />
Lärm wird in Dezibel (dB) gemessen. Es handelt sich um eine logarithmische Skala, d.h.<br />
eine Zunahme um 3 dB entspricht einer Verdoppelung des physikalisch messbaren<br />
Schalldrucks, eine Zunahme um 10 dB einer Verzehnfachung (siehe Zahlen im farbigen<br />
Bereich bei Abbildung 3). Da der Mensch nicht alle Frequenzen gleich intensiv<br />
wahrnimmt, wird bei Messungen oder Berechnungen häufig die Lautstärke jeder<br />
Frequenz gleich gewichtet wie sie das durchschnittliche menschliche Ohr wahrnimmt.<br />
Diese Frequenzgewichtung wird mit der dB(A) ausgedrückt.<br />
Starke und oft wiederholte Lärmbelastung führt zu einer langsamen Degeneration der<br />
schallempfindlichen Haarzellen im Innenohr, deren Energieversorgung überfordert wird.<br />
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Es entsteht dabei ein Gefühl, als habe man Watte in den Ohren. Die Vertäubung kann,<br />
muss aber nicht von Ohrengeräuschen (Tinnitus) begleitet sein. Davon erholt sich das<br />
Gehör in ruhigen Phasen wieder.<br />
Kritisch wird es, wenn sich solche Überlastungen häufen: dann nämlich bleibt die<br />
Erholung unvollständig, und die Haarzellen sterben mit der Zeit ab. Vorerst geschieht<br />
dies im Frequenzband um 4 kHz, wo das gesunde Ohr am empfindlichsten ist. Der Verlust<br />
betrifft zuerst bei der Sprache die Zischlaute und bei der Musik die klangbestimmenden<br />
Obertöne und wird deshalb nicht sofort bemerkt. Hörschäden können mit einem<br />
Audiogramm gemessen werden (siehe Skript Arbeitsmedizin).<br />
Abbildung 3: Zusammenhang zwischen dem Schallpegel und der wöchentlichen<br />
Expositionsdauer, ohne Risiko eines Hörschadens (vom BAG:<br />
http://www.bag.admin.ch/). Die Zahlen im farbigen Bereich<br />
Bei den gesundheitlichen Wirkungen des Umgebungslärms stehen im Allgemeinen nicht<br />
der Hörverlust, sondern andere chronische Wirkungen im Vordergrund. Zu diesen<br />
gehören: Schlafstörungen, Nervosität, erhöhter Medikamentenkonsum, Störung der<br />
sozialen Integration.<br />
Die wichtigsten Verursachungsquellen des Umgebungslärms sind Strassenverkehr,<br />
Eisenbahn, Industrie und Gewerbe, Schiessanlagen und Flughäfen.<br />
Der Immissionsgrenzwert in Wohnzonen liegt bei 60 dB(A) während des Tages und bei<br />
50 dB(A) während der Nacht. Erholungszonen haben einen um 5 dB(A ) tieferen<br />
Grenzwert und Industriezonen einen um 10 dB(A) höheren Wert.<br />
<strong>6.</strong>3 Abschätzung von Umweltexpositionen<br />
Den Zusammenhang zwischen einer Umweltbelastung und gesundheitlichen Beschwerden<br />
oder Krankheiten kann in Studien nur dann erhärtet werden, wenn die Belastung<br />
(Exposition) der Studienteilnehmer quantifiziert werden kann. Je nach Fragestellung<br />
und Umweltfaktor kann dies nur in grober Annäherung erreicht werden. Insbesondere<br />
Daten zu individuellen Langzeitbelastungen zu generieren ist häufig schwierig. Zudem<br />
können komplexe Gemische physikalisch-chemisch oft nur teilweise charakterisiert<br />
werden. Die gebräuchlichsten Messmethoden zur Charakterisierung der<br />
Umweltbelastung umfassen die chemisch-physikalische Analyse in Umweltmedien (z.B.<br />
Luft, Wasser, Boden) als auch semiquantitative Angaben (Fragebogen). Vermehrt<br />
werden heute auch Marker der Umweltbelastung im biologischen Material der<br />
Teilnehmenden gemessen. So kann die Konzentration des Nikotinabbauproduktes Cotinin<br />
in der Haarwurzel oder im Urin die persönliche Belastung durch Passivrauch wiedergeben.<br />
Allerdings wird in diesem Beispiel lediglich die Belastung der letzten Tage und Wochen<br />
erfasst. Die Verwendung von Belastungsindikatoren ist in der Umweltepidemiologie<br />
weit verbreitet. Je nach Fragestellung eignen sich spezifische oder unspezifische<br />
Belastungsindikatoren. So ist zum Beispiel die Nikotinkonzentration in der Raumluft ein<br />
sehr spezifischer Indikator für die Belastung durch das gesamte, teilweise<br />
krebserregende, giftige Gemisch des Zigarettenrauchs. Ein vergleichsweise unspezifischer<br />
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Indikator wäre demgegenüber die Messung von Stickoxyden im Innenraum: die<br />
gemessene Konzentration hängt auch vom Strassenverkehr im Wohnquartier und der<br />
Verwendung von Gaskochherden oder anderen offenen Brennern ab. Idealerweise soll ein<br />
Indikator die gesundheitlich relevanten Aspekte einer definierten Umweltbelastung<br />
möglichst umfassend reflektieren.<br />
Je nach Wahl des Indikators kann sich die Interpretation der Studienresultate verändern.<br />
Beispielsweise reflektiert die Konzentration von Feinstaub in der Aussenluft die<br />
durchschnittliche Belastung der Bevölkerung durch die städtische Luftverschmutzung<br />
recht gut. Kleinräumig unterschiedliche, quellenspezifische Belastungen – beispielsweise<br />
die direkte Exposition zu Verkehrsabgasen - werden dadurch aber schlecht erfasst. Die<br />
gesundheitlichen Auswirkungen der Belastung mit Verkehrsabgasen könnten somit<br />
erfolgreicher durch den Indikator „Verkehrsdichte (Fahrzeuge / Stunde) an der<br />
Wohnadresse“ oder die „Distanz zwischen Wohnung und Strasse“ untersucht werden.<br />
Persönliche Belastungsmessungen beispielsweise mittels Dosimeter werden oft als<br />
ideale Methode betrachtet. Ihrer Anwendung in grossen Kollektiven oder Langzeitstudien<br />
sind allerdings technisch und finanziell enge Grenzen gesetzt. Bei der Verwendung von<br />
Indikatorschadstoffen ist die Validität persönlicher Belastungsmessungen zudem unter<br />
Umständen geringer als die direkte Messung in der Umwelt. Diese scheinbar paradoxe<br />
Situation kann am Beispiel der städtischen Luftverschmutzung verdeutlicht werden. Das<br />
Schadstoffgemisch lässt sich durch die draussen gemessenen Feinstaubkonzentrationen<br />
sehr gut charakterisieren, da die Verteilung recht homogen und die Penetration der<br />
Feinstäube in den Innenraum sehr hoch ist. Wird der Feinstaub hingegen mit einem<br />
persönlich getragenen Messgerät erfasst, wird je nach Aufenthaltsort Feinstaub sowohl in<br />
der Aussenluft als auch im Innenraum gesammelt. In Raucherhaushalten kann der<br />
Tabakrauch einen sehr wesentlichen Anteil der persönlichen Feinstaubbelastung<br />
ausmachen. Die Messung draussen vor der Wohnung oder an der fixen Messstation gibt<br />
in diesem Fall die persönliche Belastung mit städtischer Luftverschmutzung besser wieder<br />
als die aufwendige persönliche Messreihe.<br />
Die perfekte Messung gibt es in der Epidemiologie nicht. Bei der Interpretation der<br />
Resultate sollte deshalb überlegt werden, ob und wie die unvermeidlichen Fehler der<br />
Belastungsmessung das Resultat beeinflussen. Falls der Belastungsmessfehler vom<br />
Gesundheitszustand abhängt, spricht man von „systematischen“ Fehlern. Falls<br />
Belastungen von den Studienteilnehmern erfragt werden, besteht zum Beispiel das<br />
Risiko, dass Erkrankte die Umweltbelastung subjektiv anders beschreiben als Gesunde.<br />
Dies kann den statistischen Zusammenhang zwischen Umwelt und Gesundheit stark<br />
verfälschen. Fragebogeninformationen sollten deshalb mit objektiven Messmethoden<br />
validiert werden. Bei objektiv gemessenen Umweltbelastungen stehen nichtsystematische<br />
Fehler im Vordergrund. Diese verursachen meist eine Verzerrung der<br />
Resultate in Richtung Nulleffekt, das heisst: allfällige Wirkungen der Umwelt werden eher<br />
unterschätzt.<br />
<strong>6.</strong>4 Studienmethoden in der <strong>Umweltmedizin</strong><br />
Die Untersuchung der Auswirkungen von Umweltbelastungen auf den Menschen stellt<br />
eine grosse Herausforderung dar, der mit methodisch unterschiedlichen<br />
Forschungsansätzen Rechnung getragen werden muss. Im Zentrum stehen<br />
toxikologische Untersuchungen (Experimente an Tieren oder Zellkulturen), klinische<br />
Studien an Menschen und umweltepidemiologische Studien. Aus einer Public Health<br />
Perspektive kommt letzteren ein besonders hoher Stellenwert zu, wird doch die Wirkung<br />
einer Umweltbelastung auf den Menschen unter realen Lebensbedingungen untersucht.<br />
Viele Kenntnisse über gesundheitsschädigende Wirkungen von Umweltschadstoffen<br />
stammen zudem aus der Arbeitsmedizin. An Arbeitsplätzen sind häufig besonders hohe<br />
Belastungen zu verzeichnen. Im folgenden werden die Vor- und Nachteile der<br />
unterschiedlichen Forschungsansätze kurz erläutert.<br />
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Toxikologische Untersuchungen an Tieren oder Zellreihen<br />
In toxikologischen Studien werden die Wirkungsmechanismen der einzelnen Schadstoffe<br />
erforscht und die Beziehung zwischen Dosis und Wirkung unter standardisierten<br />
Bedingungen untersucht. Versuchsbedingungen im Labor sind genau kontrollierbar, was<br />
als Vorteil zu werten ist. Es können genetisch gleiche Tiere verwendet werden und damit<br />
die Variabilität weiter reduziert werden. Die Schadstoffe werden im allgemeinen in hohen<br />
Konzentrationen eingesetzt, so dass rasch gesundheitliche Effekte entstehen. Sowohl<br />
Langzeit- wie Kurzzeitexpositionen sowie die Wirkung von möglicherweise kanzerogenen<br />
Schadstoffen sind prüfbar.<br />
Ein gewichtiger Nachteil toxikologischer Experimente ist die Tatsache, dass die<br />
verwendeten Schadstoffkonzentrationen kaum je den Werten entsprechen, die<br />
typischerweise in der menschlichen Umwelt beobachtet werden. Zudem gelingt es in der<br />
Regel nicht, komplexe Umweltbelastungen (z.B. Schadstoffgemische) experimentell<br />
herzustellen womit das Experiment in einem wesentlichen Punkt von den realen<br />
Umweltbedingungen abweicht. Noch schwieriger ist die biologische Übertragbarkeit von<br />
im Tierversuch oder an Zellkulturen erzielten Ergebnissen auf den Menschen, da bei<br />
vielen Umweltschadstoffen bereits eine grosse Variabilität der gesundheitlichen<br />
Auswirkungen zwischen den Tierspezies zu beobachten sind.<br />
Experimentelle (klinische) Studien an Menschen<br />
Experimentelle Studien dürfen nur an freiwilligen Probanden unter der Gewissheit<br />
getestet werden, dass der Versuch keine Schäden hinterlässt. Studien dieser Art an<br />
Risikogruppen wie Kleinkindern, alten oder schwer kranken Personen sind in der Regel<br />
unzulässig. Ebenso können keine Langzeitversuche durchgeführt werden. Als<br />
Studienanlage wird meistens die randomisierte kontrollierte Studie (parallel group<br />
oder cross-over) verwendet. Der Vorteil besteht auch hier darin, dass die<br />
Expositionsbedingungen genau kontrollierbar sind. Die Zuordnung zur Expositions- oder<br />
Vergleichsgruppe nach dem Zufallsprinzip bewirkt, dass allfällige weitere Unterschiede<br />
zwischen den Probandengruppen ausgeglichen werden. Zudem ist eine eingehende<br />
klinische Untersuchungmöglich (Blutentnahmen, Funktionstests). Klinische Experimente<br />
haben eine hohe Aussagekraft über die Wirkung des betreffenden Schadstoffs unter den<br />
gegebenen Expositionsbedingungen. Der Nachteil liegt darin, dass die Ergebnisse aus<br />
diesen Experimenten nur bedingt auf die wirklichen Verhältnisse in der Umwelt<br />
übertragbar sind, wo keine Einzelschadstoffe oder wohldefinierte<br />
Schadstoffkombinationen auftreten, sondern Schadstoffgemische, die in ihrer<br />
Zusammensetzung oft schlecht definiert sind. Da die Probanden meist nur einige Stunden<br />
exponiert werden können, sind im klinischen Experiment nur Wirkungen von kurzfristig<br />
erhöhten Schadstoffkonzentrationen prüfbar. Die Zeit zwischen Exposition und<br />
Wirkungsmessung ist kurz (max. einige Wochen). Über allfällige Spätfolgen lassen sich<br />
deshalb keine Aussagen machen. Aus ethischen Gründen können Krankheiten nicht direkt<br />
untersucht werden, sondern nur Effekte, die für die Probanden längerfristig unschädlich<br />
sind. Da die Ergebnisse an gesunden Menschen gewonnen werden, ist ihre<br />
Übertragbarkeit auf Risikogruppen nur eingeschränkt möglich.<br />
Methoden der Umweltepidemiologie<br />
Der umweltepidemiologische Forschungsansatz unterscheidet sich nicht grundsätzlich von<br />
der allgemeinen Epidemiologie (siehe Abschnitt 2). Die definitorische Abgrenzung besteht<br />
darin, dass in der Umweltepidemiologie der interessierende Risikofaktor jeweils eine<br />
Umweltbelastung oder ein Umweltschadstoff ist.<br />
Auch in der Umweltepidemiologie wird die ungleiche Verteilung von Umweltexpositionen<br />
und anderen Risikofaktoren in der Bevölkerung genutzt um das kausale Netzwerk mittels<br />
statistischer Analysen detailliert zu beschreiben und die Beziehungen zwischen<br />
einzelnen Faktoren zu quantifizieren. Die methodische Herausforderung der<br />
Umweltepidemiologie entspricht jener der allgemeinen Epidemiologie: die Wahl der<br />
Studienanlage, des Studienkollektivs, aller Messmethoden sowie der Auswertung muss so<br />
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erfolgen, dass allfällig existierende Zusammenhänge zwischen einem Schadstoff und<br />
einem gesundheitlichen Merkmal mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit und Präzision<br />
sowie möglichst frei von systematischen Fehlern quantifiziert werden können (siehe<br />
Abbildung 4). Die geschilderte Ausgangslage akzentuiert die methodischen<br />
Herausforderungen der allgemeinen Epidemiologie vor allem aus zwei Gründen: a)<br />
Belastungsunterschiede der (oft diffus verteilten) ubiquitären Umweltschadstoffe sind in<br />
der Bevölkerung meist gering und b) die postulierten gesundheitlichen Wirkungen haben<br />
in der Regel auch sehr viele andere Ursachen. Folglich muss man a priori davon<br />
ausgehen, dass allfällig bestehende Effekte klein sind.<br />
Die Konsequenzen von kleinen Expositionsunterschieden können an einem Beispiel<br />
illustrativ gezeigt werden: Wenn in einer Bevölkerung alle Menschen ein Päckchen<br />
Zigaretten pro Tag rauchen, wäre es unmöglich nachzuweisen, dass der Tabakrauch<br />
kanzerogen ist, weil alle Leute gleichermassen exponiert sind. Man könnte zum irrigen<br />
Schluss kommen, dass das Lungenkarzinom eine ausschliesslich genetisch bedingte<br />
Krankheit sei.<br />
Abbildung 4: Das umweltepidemiologische Forschungsmodell untersucht die Beziehung<br />
zwischen Umweltbelastung und Gesundheit unter Berücksichtigung<br />
anderer Einflussfaktoren (aus Braun-Fahrländer & Künzli, 2002)<br />
Umweltbelastung<br />
?<br />
andere<br />
Einflussfaktoren<br />
gesundheitliche<br />
Wirkung<br />
Aus Public Health Sicht ist ein wichtiger Vorteil umweltepidemiologischer Studien die<br />
Tatsache, dass sie die ‚reale’ Welt widerspiegeln und Bevölkerungen in ihrer wirklichen<br />
Umweltsituation untersuchen. Die ermittelten Ergebnisse sind direkt interpretierbar.<br />
Es muss nicht von Labortieren auf den Menschen, von hohen Schadstoffkonzentrationen<br />
im Labor auf tiefere Werte in der menschlichen Umwelt, von ausgewählten freiwilligen<br />
Probanden auf ganze Bevölkerungen geschlossen werden. Umweltepidemiologische<br />
Untersuchungen erlauben prinzipiell auch, die Wirkung von niedrigen, langandauernden<br />
Schadstoffexpositionen auf den Menschen zu untersuchen, sowie gesundheitliche<br />
Auswirkungen zu erfassen, die erst nach Jahren auftreten (z.B. Krebs).<br />
Ein entscheidender Unterschied zum klinischen Experiment liegt darin, dass in<br />
umweltepidemiologischen Studien die Zuordnung zur Gruppe der Exponierten<br />
beziehungsweise Weniger- oder Nichtexponierten nicht zufällig erfolgt (beobachtende<br />
Studien). Die zu vergleichenden Studienkollektive können sich also in weiteren wichtigen<br />
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Einflussgrössen wie zum Beispiel Alter, soziale Schicht, Arbeitsplatzbelastung,<br />
Rauchgewohnheiten etc. unterscheiden. Diesen potentiellen Störvariablen (Counfounders,<br />
siehe Abschnitt 2) ist mit geeignetem Studiendesign und entsprechenden statistischen<br />
Analyseverfahren Rechnung zu tragen.<br />
Mit einer einzelnen Studie lassen sich die gesundheitlichen Auswirkungen eines<br />
Schadstoffes nie belegen. Eine Gesamtbeurteilung muss vielmehr die Ergebnisse einer<br />
Vielzahl von Studien berücksichtigen, die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen<br />
unter unterschiedlichen Bedingungen erzielt wurden. Für die Festlegung von Grenzwerten<br />
und das Ergreifen von umweltpolitischen Massnahmen sind die umweltepidemiologischen<br />
Studien aber von entscheidender Bedeutung. Ihre Besonderheiten werden deshalb im<br />
Folgenden noch weiter ausgeführt.<br />
UMWELTEPIDEMIOLOGISCHE STUDIENANLAGEN<br />
In der Umweltepidemiologie kommen dieselben Studienanlagen zum Einsatz wie in der<br />
Epidemiologie. Kurzfristige oder akute Auswirkungen von Umweltbelastungen, deren<br />
Intensität starken kurzfristigen Schwankungen unterliegen, werden mit<br />
Zeitreihenanalysen, Tagebuch- oder Panelstudien, Case-Crossover-Studien sowie<br />
teilweise in Querschnittstudien untersucht. Für die Erforschung von langfristigen<br />
Auswirkungen bieten sich vor allem prospektive und retrospektive Kohortenstudien mit<br />
ihren Varianten, Fall-Kontroll-Studien, sowie für bestimmte Fragestellungen<br />
Querschnittstudien an. Hingegen lassen sich Interventionsstudien‚ Gold Standard der<br />
allgemeinen Epidemiologie, im Umweltbereich aus praktischen oder ethischen Gründen<br />
meist nicht durchführen, weshalb ihre Bedeutung in diesem Fachbereich marginal ist.<br />
Im folgenden sind Studientypen vorgestellt, die insbesondere in der Umweltepidemiologie<br />
eingesetzt werden. Es handelt sich um Zeitreihenanalysen, Tagebuch- oder Panelstudien<br />
und Case-Crossover-Studien. Die übrigen Studientypen sind in Abschnitt 2 näher<br />
beschrieben.<br />
Zeitreihenanalysen untersuchen den statistischen Zusammenhang zwischen<br />
kurzfristigen Veränderungen der Belastung, zum Beispiel der täglich gemessenen<br />
Luftschadstoffkonzentrationen, sowie der kurzfristigen Schwankungen in der Häufigkeit<br />
akuter gesundheitlicher Ereignisse, beispielsweise der täglichen Sterberaten oder<br />
Spitaleinweisungen. Durch die Verwendung routinemässig erhobener Daten können<br />
solche Analysen mit relativ wenig Aufwand durchgeführt werden. Der Vorteil des<br />
Ansatzes liegt darin, dass die sonst üblichen potentiellen Störfaktoren (Rauchen, Beruf,<br />
Alter, genetische Merkmale etc.) keinen Einfluss haben, da die Verteilung dieser Faktoren<br />
in der Bevölkerung nicht mit den Schwankungen der Luftbelastung assoziiert ist. Störend<br />
können einzig andere, auf der Zeitachse variable Faktoren einwirken (z.B. Wetter,<br />
Saisonalität, Wochentag etc.). Mit den heute verfügbaren mathematischen Modellen,<br />
insbesondere den generalisierten Regressionsmodellen, können diese Einflüsse effizient<br />
und sorgfältig kontrolliert werden.<br />
Auch Tagebuch- oder Panelstudien untersuchen kurzfristige Wirkungen von kurzzeitig<br />
schwankenden Umweltfaktoren. Im Prinzip handelt es sich um prospektive<br />
Kohortenstudien. Das Prinzip beruht auf dem regelmässigen Monitoring von funktionell<br />
variablen Gesundheitsmerkmalen (z.B. Blutdruck; täglicher Bedarf an Medikamenten;<br />
morgendlicher Atemspitzenstoss etc.) und Umweltbelastungen. Das Studienkollektiv<br />
liefert dabei über Wochen oder Monate Erhebungsdaten. Der Zusammenhang zwischen<br />
Umwelt und Gesundheit kann dabei im Individuums sowie im Gesamtkollektiv analysiert<br />
werden. Panelstudien sind jedoch auf adäquate Umweltdaten angewiesen, die möglichst<br />
gut die kurzfristige Belastung jeden einzelnen Individuums reflektieren sollten.<br />
Andernfalls kann der Effizienz- und Präzisionsverlust in dieser Anlage erheblich sein.<br />
Im Case-Crossover-Ansatz dient jeder "Fall" gleichzeitig als "Kontrolle", womit<br />
sämtliche individuellen Einflussfaktoren a priori kontrolliert sind. Das elegante<br />
Forschungsmodell beruht auf der Nullhypothese, dass eine akute (Umwelt-)Belastung<br />
kurz vor dem Ereignis (z.B. Herzinfarkt, Tod etc.) statistisch identisch sein muss wie die<br />
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Belastung an einem oder an mehreren zufällig ausgewählten Kontrolltagen. Unter<br />
Einhaltung wichtiger Spielregeln eliminiert dieser Ansatz den Einfluss von Störfaktoren<br />
praktisch vollständig. Für die Untersuchung langfristiger Folgen von Belastungen sowie<br />
das Auftreten chronischer Veränderungen eignet sich dieser Ansatz jedoch ebenso wenig<br />
wie Zeitreihenanalysen oder Tagebuchstudien.<br />
<strong>6.</strong>5 Umwelt-Monitoring<br />
Im Rahmen der Umwelthygiene kommt dem Umweltmonitoring eine grosse Bedeutung<br />
zu. Die Aufgabe des Monitorings besteht in erster Linie darin, die Emissionen und<br />
Immissionen von spezifischen Schadstoffen räumlich und zeitlich zu erheben (z.B. Luft-,<br />
Wasser-, Bodenbelastung). Ein Monitoring beruht grundsätzlich auf Messungen. Allenfalls<br />
sind in bestimmten Bereichen die Kombination mit Ausbreitungsmodellen sinnvoll. Die<br />
gewonnenen Daten dienen einer Reihe von Aufgaben:<br />
• Überwachung der Immissionssituation im Hinblick auf gesundheitsgefährdende<br />
Belastungen. Dabei kann es sich um kurzfristige Schadstoffeinträge handeln (z.B.<br />
wegen einem Unfall) oder um eine langfristig, nicht wahrnehmbare,<br />
Schadstoffzunahme handeln (Trendanalyse bei zeitliche variablen Messwerten).<br />
• Die Daten können benutzt werden um für problematische Schadstoffeinträge Ziele<br />
zu setzen und Lösungen zu suchen.<br />
• Die Daten können für die Evaluation von getroffenen Umweltmassnahmen<br />
verwendet werden.<br />
• Sie können zur Abschätzung der Bevölkerungsexposition dienen und ermöglichen<br />
allenfalls die Abschätzung von Gesundheitsrisiken (siehe Kap. <strong>6.</strong>7).<br />
In der Schweiz besteht ein verfassungsmässiger Auftrag statistische Daten über den<br />
Zustand und die Entwicklung von Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft, Raum und<br />
Umwelt zu erheben. Die Verantwortung für das Umweltmonitoring liegt also beim Staat.<br />
Häufig werden private Unternehmen mit entsprechendem Know-how dafür beauftragt.<br />
Eine wichtige Rolle im schweizerischen Umweltmonitoring, insbesondere in Bezug auf<br />
Umweltschadstoffe, spielt das BUWAL.<br />
Tabelle 8: Schweizerische Messnetze im Rahmen des Umweltmonitorings<br />
Name Ziel<br />
MFM-U: Monitoring Flankierende<br />
Massnahmen Umwelt<br />
NABO: Nationales<br />
Bodenbeobachtungsnetz<br />
NABEL: Nationales Beobachtungsnetz<br />
für Luftfremdstoffe<br />
NAQUA: Nationales Netz zur<br />
Beobachtung der Grundwasserqualität<br />
NADUF: Nationale Daueruntersuchung<br />
der schweizerischen Fliessgewässer<br />
Umwelt-Auswirkungen des Landverkehrsabkommens mit der<br />
EU sowie die Umwelt-Auswirkungen der flankierenden<br />
Massnahmen<br />
Zeitliche und räumliche Erfassung und Beurteilung von<br />
Bodenbelastungen<br />
Zeitliche und räumliche Verbreitung von Luftschadstoffen<br />
Quantitative und qualitative Beobachtung der<br />
Grundwasservorkommen<br />
Quantitative und qualitative Beobachtung der<br />
Fliessgewässer<br />
BDM: Biodiversitätsmonitoring Häufigkeit und Verbreitung von Arten<br />
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<strong>6.</strong>6 Umwelt-Psychosomatik<br />
<strong>6.</strong><strong>6.</strong>1 Umwelt und Psyche<br />
Die umweltepidemiologische und umwelttoxikologische systematische Erforschung von<br />
Einflüssen von Umweltfaktoren auf die Gesundheit führt zu bevölkerungsbezogenen<br />
Erkenntnissen. Eine andere Ausgangslage besteht in der ärztlichen Praxis (oder allg. in<br />
der individuellen <strong>Umweltmedizin</strong>). Da stellt sich die Frage, ob eine bestimmte Krankheit<br />
bei einem Individuum durch eine Umweltbeeinträchtigung verursacht ist. Dabei sind<br />
bevölkerungsbezogene Erkenntnisse wichtig. Im Einzellfall spielen aber bei der<br />
Entstehung, dem Verlauf und der Verarbeitung umweltbezogener Störungen neben<br />
physiko-chemischen Faktoren auch psychologische Faktoren eine Rolle. Aus diesem<br />
Grund ist die Kooperation von <strong>Umweltmedizin</strong> und psychosomatischer Medizin klinisch<br />
notwendig. Sie ist auch in einem nicht-klinischen Zusammenhang wichtig, um<br />
menschliches Risikoverhalten im Verhältnis zur Umwelt erfassen und verstehen zu<br />
können, und um Zukunftsängste in Bezug auf die Umweltbelastungen einschätzen zu<br />
können. Um diesen Zusammenhängen gerecht zu werden, ist ein neues interdisziplinäres<br />
Arbeitsgebiet gefordert, das Umwelt-Psychosomatik genannt wird. Es soll die<br />
Wechselwirkungen zwischen der anthropogen belasteten Umwelt, der körperlichen<br />
Symptomatik und den psychologischen Faktoren, die infolge der Umweltbelastungen,<br />
aber auch unabhängig von ihnen entstehen, wissenschaftlich untersuchen und in der<br />
klinisch-therapeutischen Arbeit berücksichtigen. Ein verbreitetes Modell für das<br />
Zusammenspiel von Umwelt und Psyche ist das dialektische Modell der Umwelt-<br />
Psychosomatik. Es impliziert, dass die Verarbeitung von Umweltbelastungen und –risiken<br />
von der Persönlichkeit abhängt. Persönliche Konflikte wirken sich auf die Umwelt aus, die<br />
Persönlichkeit wird aber auch durch Umweltfaktoren beeinflusst.<br />
<strong>6.</strong><strong>6.</strong>2 Die psychische Verarbeitung von Umweltbelastungen<br />
Akute Umweltbelastung<br />
Die psychologischen Auswirkungen akuter Schadstoffbelastungen sind vergleichsweise<br />
gut untersucht. Akute Schadstoffbelastungen können die Folge einer auf den Mensch<br />
zurückführbaren ökologischen Katastrophe (z.B. 1986 den Reaktorunfall Tschernobyl<br />
und die Chemiekatastrophe Schweizerhalle) oder die Folge einer Naturkatastrophe<br />
(z.B. Tsunami 2004) sein. Ökologische- und Naturkatastrophen treffen die Beteiligten oft<br />
unerwartet und ungeübt. Solche Ereignisse sind durch besondere Belastungsfaktoren<br />
gekennzeichnet:<br />
• Oft halten die Folgeschäden der Katastrophen lange an.<br />
• Ökologische Katastrophen wie Reaktorunfälle werden nicht als Schicksalsschläge<br />
wahrgenommen, sondern haben ihre Ursache letztlich im menschlichen Versagen<br />
(im Gegensatz zu Naturkatastrophen).<br />
Das alles führt dazu, dass die Verarbeitungsmöglichkeit der einer akuten<br />
Umweltkatastrophe ausgesetzten Menschen zumindest temporär überstiegen werden<br />
kann. Die Folge ist eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Überforderung der<br />
Verarbeitungsmechanismen, meist Intrusion genannt, ist psychisch unerträglich. Ziel<br />
eines Copings ist es, das Ereignis im Laufe der Zeit psychisch zu integrieren.<br />
Typische Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung:<br />
• keine Genussfreude, andauernde Gefühle von betäubt sein, Teilnahmslosigkeit<br />
• Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen,<br />
• Auftreten von Angst und Depressionen,<br />
• wiederholtes Erleben des Traumas.<br />
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Chronische Umweltbelastungen<br />
Chronische Umwelteinflüsse (z.B. Luftschadstoffe, elektromagnetische Felder, Schall)<br />
müssen von der Persönlichkeit verarbeitet werden. Je länger sie bestehen und je<br />
universaler und unkontrollierbarer sie sich auswirken, um so stärker werden sie<br />
langfristig auf die Entwicklung der Persönlichkeit zurückwirken. Besonders bedeutsam<br />
sind die Einflüsse während der Kindheit. (z.B. Einfluss von reduzierter körperlicher<br />
Aktivität bei Kindern in städtischen Gebieten.) Chronische Umweltbelastungen sind<br />
empirisch schwer erforschbar. Die bisher erzielten Forschungsergebnisse zeigen, dass<br />
diese chronischen Belastungen langfristige Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung<br />
oder auf die familiären Beziehungen und sozialen Bindungen haben. Wie gut<br />
die Betroffenen mit den ökologischen Belastungen fertig werden, hängt aber nicht nur<br />
von ihrer Persönlichkeit oder der Unterstützung des sozialen Netzwerkes ab, sondern<br />
auch davon, ob sich die politischen Behörden den langfristigen ökologischen Problemen<br />
stellen und ob sie in der Lage sind, die individuelle Verarbeitung durch eine kollektive<br />
Strategie zu unterstützen.<br />
<strong>6.</strong><strong>6.</strong>3 Umweltbezogene Störungen am Beispiel der MCS (Multiple<br />
Chemical Sensitivity)<br />
Die psychiatrischen Differentialdiagnosen der MCS zu kennen ist wichtig, um die<br />
Verflechtung der umweltbezogenen Störungen mit definierten psychiatrischen Störungen<br />
zu erkennen. Es gibt keine Kernsymptomatik, die den PatientInnen mit MCS<br />
gemeinsam ist. Die Beschwerdebilder sind vielfältig und wechselnd. Sie umfassen<br />
unspezifische Beschwerden wie Konzentrationsstörungen, Erschöpfbarkeit,<br />
Denkstörungen, Reizbarkeit, depressive Verstimmungen. Hinzu kommen körperbezogene<br />
Definition von MCS durch die WHO (Workshop 1996):<br />
• MCS ist eine erworbene Störung mit vielfältig wiederkehrenden Symptomen.<br />
• MCS tritt in Verbindung mit unterschiedlichen umweltbezogenen Faktoren auf,<br />
die von der Mehrzahl der Menschen toleriert werden.<br />
• Die Symptomatik lässt sich nicht durch bekannte psychiatrische und<br />
psychologische Störung erklären.<br />
Beschwerden wie gastrointestinale Symptome, subjektive Herzbeschwerden,<br />
Augenbrennen, Schmerzsyndrome, Durchblutungsstörungen und andere mehr. Aus der<br />
Beschwerdeschilderung lässt sich die Diagnose also nicht ableiten. Der phänomenale<br />
Überlappungsbereich zu anderen, definierten psychiatrischen Störungen wird dadurch<br />
gross. Häufig wird der einzige Unterschied in der Kausalattribution der PatientInnen oder<br />
der behandelnden ÄrztInnen liegen.<br />
Diese Definition lässt Raum für psychologische und für umweltbedingte Einflussfaktoren.<br />
Es lässt sich jedoch nicht vermeiden, dass bei der Konsultation im Einzelfall eine<br />
Bewertung durchgeführt werden muss: welches Gewicht soll die Krankheitstheorie des<br />
Patienten erhalten in Bezug auf die ätiologische Hypothese des Arztes? Für die<br />
Beantwortung dieser Frage fehlen oft wissenschaftliche Kriterien.<br />
Die empirische Forschung zeigt, dass umweltbezogene Störungen mit psychiatrischen<br />
Störungsbildern einhergehen können. Klinische Fallberichte lassen keinen Zweifel daran,<br />
dass bei vielen MCS-PatientInnen psychiatrische Diagnosen vorliegen. In den klinischen<br />
Fallstudien werden psychiatrische Diagnosen in unterschiedlich hohem prozentualen<br />
Ausmass festgestellt. Gruppen vergleichende empirische Studien zeigen, dass<br />
Angststörungen, Depressionen und Somatisierungsstörungen in der MCS-Gruppe stark<br />
gehäuft auftreten. Eine Vorgeschichte mit Somatisierungsstörungen und eine<br />
psychiatrische Krankheit stellten sich als die stärksten Prädiktoren einer MCS heraus.<br />
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Andererseits schützt eine psychiatrisch unauffällige Krankheitsanamnese auch nicht vor<br />
MCS. Zusammenfassend können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden:<br />
• Die MCS-PatientInnen stellen eine sehr heterogene PatientInnengruppe dar.<br />
• Möglicherweise wirken sich frühere oder aktuelle psychiatrische Krankheiten und<br />
psychischer Stress so aus, dass eine Verletzlichkeit entsteht, die zur<br />
Sensibilisierung gegen niedrig konzentrierte chemische Reizstoffe führt.<br />
• Die Tatsache, dass die MCS-Syndrome chronifizieren können und dass<br />
psychiatrische Störungen vorliegen, heisst nicht, dass die Empfindlichkeit auf<br />
Reizstoffe nur eingebildet ist.<br />
<strong>6.</strong>7 Risikoabschätzung und Public Health Perspektive<br />
Bei der gesamtgesellschaftlichen Bewertung eines Umwelt-Gesundheitsproblems<br />
zeigt sich ein klassisches Public Health Paradigma: die Beurteilung von Risiken allein aus<br />
der Sicht des Individuums reicht für die Bewertung und Priorisierung von Risiken und<br />
Handlungsoptionen nicht aus. Das persönliche Risiko lässt sich aus epidemiologischen<br />
Studien durch den Risikogradienten zwischen "Belasteten" und "Unbelasteten"<br />
abschätzen. Diese Risikogradienten (z.B. das relative Risiko) sind für Umweltbelastungen<br />
unter den heutigen Belastungsbedingungen meist gering. Für die quantitative<br />
Schadensbewertung ist jedoch nicht nur das individuelle Risiko bedeutend sondern das<br />
gesamtgesellschaftliche Schadenspotential. Dies wird von zwei Faktoren bestimmt:<br />
1. Das Ausmass der Umweltbelastung sowie die Anzahl der Belasteten.<br />
Je mehr Menschen einem zwar kleinen Risiko ausgesetzt werden, um so höher<br />
ist die Anzahl Schadensfälle. (Das Telefonieren mit einem Mobiltelefon ist<br />
möglicherweise (dies ist wissenschaftlich bisher nicht nachgewiesen) mit<br />
einem individuell minimen erhöhten Hirntumorrisiko assoziiert. Ein individuell<br />
kleines Risiko kann gesamtgesellschaftlich jedoch eine ansehnliche Anzahl<br />
Fälle bedeuten, da der grösste Teil der Bevölkerung exponiert ist.<br />
2. Die Höhe des Risikos sowie die Häufigkeit der verursachten<br />
Gesundheitsstörung in einer nicht belasteten Bevölkerung.<br />
Ein hohes Risiko für eine sehr seltene Krankheit kann de facto weniger<br />
zusätzliche Fälle bedeuten als ein gering erhöhtes Risiko für eine häufige<br />
Krankheit.<br />
Zusammenhang zwischen Höhe des Risikos und der Anzahl Fälle:<br />
A) Hohes Risiko, wenig Fälle:<br />
Relatives Risiko für malignes Mesotheliom bei asbestexponierten Rauchern<br />
ist 90 Mal grösser als bei Unexponierten (RR=90). Diese<br />
Expositionskombination ist nicht sehr verbreitet, und die Häufigkeit von<br />
malignem Mesotheliom ist moderat. Konsequenz: die SUVA anerkennt<br />
jährlich rund 50-70 Fälle als asbestbedingt.<br />
B) Geringes Risiko, viele Fälle:<br />
Erhöhung der Sterblichkeit durch gegenwärtige Luftbelastung in der<br />
Schweiz: 7% (RR=1.07). Gesamte Bevölkerung betroffen, Sterbefälle<br />
relative häufig (im Vergleich zu einzelnen Krankheiten). Geschätzte Zahl von<br />
Todesfällen wegen der Luftbelastung: 3'700 (ARE, 2004).<br />
Die zusätzlichen Fälle aufgrund eines Risikofaktors werden als attributable Fälle<br />
bezeichnet. Für Risikovergleiche sind attributable Fälle häufig viel aussagekräftiger als die<br />
relativen Risiken (siehe auch Abschnitt 2).<br />
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Ein weiterer Aspekt des vermeintlich paradoxen Phänomens ‚kleiner Risiken‘ und ‚grosser<br />
Wirkung‘ ist im Umwelt-Gesundheitsbereich ebenfalls typisch. Gesundheitliche Merkmale<br />
lassen sich nicht nur in den Kategorien „gesund“ und „krank“ messen. Oft stehen<br />
funktionelle kontinuierlich messbare Parameter im Zentrum, beispielsweise die in Litern<br />
gemessene Lungenvitalkapazität (FVC), der Blutdruck, die Variabilität der Herzferquenz<br />
etc. Bei entsprechender epidemiologischer Studienanlage lässt sich die Veränderung<br />
dieser Messparameter pro Schadstoffeinheit abschätzen. Diese Veränderungen sind bei<br />
den üblichen Belastungsunterschieden wiederum sehr gering. Beispielsweise ist in der<br />
Schweiz beobachtet worden, dass bei einer Zunahme der Schwebestaubkonzentration die<br />
FVC um 6% abnimmt. Aus klinisch-individueller Sicht betrachtet irrelevant und ohne<br />
gesundheitliche Konsequenz. Diese Bewertung ist jedoch falsch. Der epidemiologische<br />
Forschungsansatz quantifiziert die Verschiebung der Verteilung dieser Messparameter in<br />
der Bevölkerung. Eine geringefügige Verschiebung der Verteilung, beispielsweise des<br />
Mittelwertes von FVC oder des Blutdruckes in der Bevölkerung kann Auswirkungen<br />
haben, welche durchaus von grosser Public Health Relevanz sind. Die Verschiebung der<br />
FVC-Verteilung um 6% hat beispielsweise zur Folge, dass sich der Bevölkerungsanteil mit<br />
klinisch relevanter, stark eingeschränkter Lungenfunktion etwa verdoppelt. Dies ist in<br />
Abbildung 5 dargestellt.<br />
Angesichts der verschiedenen politischen Handlungsoptionen und teilweise gegenläufigen<br />
Interessen ist es aus Public Health Sicht wichtig, den Gewinn von Vorsorgemassnahmen<br />
im Umwelt-Gesundheitsbereich abschätzen zu können und mit den damit verbundenen<br />
Kosten vergleichen zu können. Dies wird als 'Impact Assessment' bezeichnet. Es gibt<br />
eine Reihe von Methoden um solche Risikoabschätzungen durchzuführen. Die Methode<br />
hängt einerseits von der Art des Risikos und der Expositionssituation des entsprechenden<br />
physiko-chemischen Faktors in der Bevölkerung ab. Andererseits spielt auch die<br />
wissenschaftliche Datenlage eine Rolle. Wenn epidemiologische Studien zur Verfügung<br />
stehen, die Effekte in der Bevölkerung unter realen Lebensumständen untersucht haben,<br />
können diese herangezogen werden. Für viele potentielle Schadstoffe (z.B. hormonaktive<br />
Substanzen, elektromagnetische Felder), ist jedoch die epidemiologische Datenbasis sehr<br />
limitiert, wenn überhaupt Studien zur Verfügung stehen. Aber auch für die bekannten<br />
und vermeintlich gut untersuchten Luftschadstoffe, sind bisher nicht alle möglichen<br />
gesundheitlichen Auswirkungen epidemiologisch untersucht worden.<br />
Abbildung 5: Auswirkung einer 6%-Verschiebung in der Verteilung der Vitalkapazität<br />
auf den Bevölkerungsanteil mit stark eingeschränkter Lungenfunktion.<br />
(nach Braun-Fahrländer & Künzli, 2002)<br />
Bevölkerungsanteil in Prozent<br />
0 2 4 6 8 10<br />
Bevölkerungs<br />
anteil mit<br />
stark eingeschränkter<br />
FVC<br />
Verschiebung um 6%<br />
mittlere FVC<br />
2 3 4 5 6 7 8<br />
Vitalkapazität in Liter (FVC)<br />
Verteilung nach<br />
Exposition<br />
Normverteilung<br />
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Im Folgenden sei am Beispiel einer externen Verkehrskostenabschätzung aufgezeigt, wie eine<br />
Risikoabschätzung methodisch in drei Schritten durchgeführt werden kann (ARE, 04).<br />
Externe Kosten sind Kosten, die nicht über Marktmechanismen abgegolten werden<br />
und darum von der Allgemeinheit getragen werden.<br />
1. Bestimmung der bevölkerungsbezogenen Exposition (Abbildung 6:<br />
Luftverschmutzung): Dazu ist es nötig, die Luftschadstoffverteilung in der Schweiz<br />
sowie die geographische Verteilung der Schweizer Bevölkerung zu kennen.<br />
Letzteres ist wichtig, da ja die Bevölkerung hauptsächlich in der Nähe der Quellen<br />
(Städte) lebt, und nur ein geringer Teil in den weniger belasteten Berggebieten.<br />
Die mittlere Luftbelastung in der Schweiz ist deshalb nicht identisch mit der<br />
mittleren Exposition der Bevölkerung. Ist man nur an den verkehrsbedingten<br />
Immissionen interessiert, wird nur dieser Teil der Immissionen berücksichtigt. Zur<br />
Zeit geht man davon aus, dass bei einer mittleren PM10 Konzentration von 19<br />
µg/m³ rund 4 µg/m³ vom Strassenverkehr stammen.<br />
2. Bestimmung der Belastungs-Wirkungsbeziehung (Abbildung 6: Epidemiologie):<br />
Aus epidemiologischen Studien kann abgeleitet werden wie stark das Risiko für<br />
eine bestimmte Krankheit oder Todesfall zunimmt, wenn die Schadstoffbelastung<br />
an einem Ort um einen bestimmten Wert höher ist als in einer Vergleichsgegend<br />
(z.B. 10 µg/m³). Wenn man die Häufigkeit der Krankheit bzw. die Sterblichkeit<br />
kennt, kann abgeschätzt werden, wie viele Fälle bei geringerer Schadstoffbelastung<br />
ohne einen bestimmten Emittenten auftreten würden. Beispiel: Zur Zeit geht<br />
man davon aus, dass eine mittlere PM10-Konzentrationszunahme von 10 µg/m³<br />
langfristig mit einer sechs prozentigen Zunahme der Sterblichkeit bei<br />
Erwachsenen über 30 Jahre assoziiert ist. In dieser Altersgruppe beträgt die<br />
Sterblichkeit in der Schweiz rund 800 Fälle pro 100'000 Personenjahre. Mit einer<br />
linearen Approximation kann nun abgeschätzt werden, dass ohne die<br />
Verkehrsimmissionen (minus 4µg/m³ PM10) rund 20 Todesfälle weniger auftreten<br />
würden (pro 100'000 Personenjahre). 1 Damit lässt sich folgern, dass in der<br />
Schweiz jährlich rund 1'400 Todesfälle bei Erwachsenen auf die Emissionen des<br />
Strassenverkehrs zurückzuführen sind. Diese Zahl lässt sich also mit statistischen<br />
Methoden bestimmen, ohne dass bei einem einzigen individuellen Todesfall<br />
nachgewiesen werden kann, dass er auf Luftschadstoffe zurückzuführen ist.<br />
Abbildung 6: Überblick über eine quantitative Risikoabschätzung der Folgen der<br />
Luftbelastung (nach ARE, 2004).<br />
Luftverschmutzungs-Kataster<br />
Anzahl<br />
Fälle<br />
PM 10 Konzentration<br />
3<br />
10 20 30 40 50 60 in µ g/m<br />
Bevölkerungs-Kataster<br />
Verteilung der Schadstoffbelastung<br />
in der Bevölkerung<br />
Belastungs-Wirkungsbeziehung<br />
zwischen Luftverschmutzung und<br />
Anzahl Todes- und Krankheitsfällen<br />
Anzahl luftverschmutzungsbedingterKrankheits-<br />
und Todesfälle<br />
Behandlungskosten: direkte Kosten<br />
Produktionsausfall: indirekte Kosten<br />
Leiden und Schmerzen: immaterielle Kosten<br />
Gesundheitskosten<br />
pro Fall<br />
Externe Gesundheitskosten<br />
durch Luftverschmutzung<br />
1 Berechnung: Anzahl Fälle=800*(1-1/1.06)*4µg/m³<br />
Luftverschmutzung<br />
Luftverschmutzung<br />
Ökonomie Epidemiologie<br />
(v 1.0 / 15.<strong>6.</strong>2005 - siehe „http://www.ispm.unibe.ch/downloads/spm_skript/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 24
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3. Bestimmung der Kosten (Abbildung 6: Ökonomie): Um die Gesundheitseffekte mit<br />
Kosten für Luftreduktionsmassnahmen vergleichen zu können, werden die<br />
Gesundheitseffekte ökonomisch bewertet. Grundlage dafür ist die Bestimmung der<br />
Kosten für alle verschiedenen Krankheitsfälle bzw. die Kosten für einen Todesfall.<br />
Je nach gewähltem Ansatz werden dabei verschiedene Komponenten<br />
berücksichtigt: z.B. medizinische Behandlungskosten, Produktionsausfall oder<br />
immaterielle Kosten. Mit den immateriellen Kosten wird der Verlust an<br />
Wohlbefinden, Schmerz und Leid der betroffenen Person quantifiziert. Mögliche<br />
Ansätze für die Quantifizierung dieser Kosten sind gerichtlich zugesprochene<br />
Genugtuungsleistungen oder Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung für die<br />
Verminderung eines bestimmten Gesundheitsrisikos (abgeleitet von Befragungen<br />
oder tatsächlich getroffenen Massnahmen).<br />
Um die Gesamtkosten zu quantifizieren, werden die abgeschätzte Anzahl<br />
Krankheits- und Todesfälle mit den jeweiligen Fallkosten multipliziert und<br />
summiert. Eine Abschätzung in der Schweiz aus dem Jahr 2005 kam zum Schluss,<br />
dass die Strassenverkehrsemissionen jährliche Gesundheitskosten in der Höhe<br />
von 1.5 Milliarden Schweizer Franken verursachen.<br />
Für die Bestimmung der gesamten externen Verkehrskosten wären neben den<br />
luftschadstoffbedingten Gesundheitskosten auch noch weitere Aspekte relevant. Z.B.<br />
• Lärmbedingte Gesundheitskosten<br />
• Externe Kosten im Bereich Natur und Landschaft<br />
• Externe Unfallkosten<br />
• Luftschadstoffbedingte Gebäudeschäden.<br />
Unter Berücksichtigung all dieser Kostenanteile wurden für die Schweiz die externen<br />
Verkehrskosten für das Jahr 2000 auf 5 Milliarden Franken geschätzt (ARE, 2004).<br />
Diesen rein quantitativen Überlegungen können aus Public Health Sicht jedoch auch<br />
gesamtheitlichen Betrachtungen gegenübergestellt werden. Gesundheitsrelevante<br />
Umweltbelastungen haben häufig vielfältige Wirkungen, bei denen Lebensqualität,<br />
Wohlbefinden oder Stress unter Umständen ebenso bedeutend sein können wie die<br />
klinisch definierte Morbidität oder Mortalität. Die Umsetzung von Umwelt-Gesundheitsmassnahmen<br />
kann entsprechend positive Wirkungen haben, die weit über die alleinige<br />
(Teil-)Reduktion von attributablen Risiken hinausgehen kann. Nachhaltige Verkehrskonzepte<br />
könnten zum Beispiel nicht nur zur Reduktion der abgasbedingten Gesundheitsschäden,<br />
sondern gleichzeitig zu einer Abnahme der Verkehrsunfälle und einer Zunahme<br />
der körperlichen Aktivität – beispielsweise durch eine Förderung des Veloverkehrs –<br />
führen. Das Beispiel zeigt, dass der Umwelt-Gesundheitsbereich aus von Public Health<br />
Sicht einer integrativen, umfassenden und System orientierten Analyse bedarf.<br />
<strong>6.</strong>8 Weiterführende Literatur und Referenzen<br />
ARE, Bundesamt für Raumentwicklung (ed.) Externe Gesundheitskosten durch<br />
verkehrsbedingte Luftverschmutzung in der Schweiz, Aktualisierung für das Jahr 2000.<br />
Autoren: H. Sommer, C. Lieb, J. Heldstab, T. Künzle T.,C. Braun-Fahrländer C., M. Röösli,<br />
2004.<br />
Aufdereggen B., Braun-Fahrländer C., Erdös R., Geiges H., Gysler R., Küchenhoff J.,<br />
Rodriguez J., Röösli M., Rothweiler H., Waeber R. (2002) Wohnen und Gesundheit.<br />
Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (Hrsg.), Basel.<br />
Braun-Fahrländer Ch, Künzli N. Umwelt und Gesundheit. In: Kolip, P (Hrsg.): Einführung<br />
in die Gesundheitswissenschaften. Juventa Verlag, Weinheim: 2002. ISBN 3-7799-1563-<br />
4<br />
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ISPM - Universität Bern - SPM-Skript – <strong>6.</strong> <strong>Umweltmedizin</strong> (Entwurf)<br />
Grize L, Huss A, Thommen O, Schindler C, Braun-Fahrländer C: Heat wave 2003 and<br />
mortality in Switzerland. Swiss Med Wkly, 2005;135:200–205.<br />
Hertz-Picciotto, I. Environmental epidemiology. In: Modern Epidemiology(Eds, Rothman,<br />
K. J. and Greenland, S.) Lippincott-Raven Publishers, 227 East Washington Square,<br />
Philadelphia PA, 1998.<br />
Röösli M., Rapp R., Braun-Fahrländer C. Hochfrequente Strahlung und Gesundheit – eine<br />
Literaturanalyse. Gesundheitswesen, 2003;65(6):378-92.<br />
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