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Texte zur Arbeitsmedizin - Institut für Sozial- und Präventivmedizin

Texte zur Arbeitsmedizin - Institut für Sozial- und Präventivmedizin

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<strong>Texte</strong> <strong>zur</strong><br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong><br />

Schweizerisches Skriptum<br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong> <strong>zur</strong><br />

medizinischen Ausbildung<br />

4. überarbeitete Auflage<br />

M.-A. Boillat, B. Danuser, D. Kissling, M. Kuster,<br />

C. Lazor-Blanchet, M. Rüegger, R. Schütz, R. Westkämper


<strong>Texte</strong> <strong>zur</strong> <strong>Arbeitsmedizin</strong><br />

Schweizerisches Skriptum <strong>Arbeitsmedizin</strong><br />

<strong>zur</strong> medizinischen Ausbildung<br />

4. revidierte Auflage<br />

Prof. M.-A. Boillat<br />

beauftragt <strong>für</strong> die Lehre der <strong>Arbeitsmedizin</strong> der medizinischen Fakultäten<br />

der Universitäten Lausanne <strong>und</strong> Genf<br />

<strong>Institut</strong> universitaire romand de santé au travail (IST), 19, rue du Bugnon, 1005 Lausanne<br />

Prof. B. Danuser<br />

beauftragt <strong>für</strong> die Lehre der <strong>Arbeitsmedizin</strong> der medizinischen Fakultäten<br />

der Universitäten Lausanne <strong>und</strong> Genf<br />

<strong>Institut</strong> universitaire romand de santé au travail (IST), 19, rue du Bugnon, 1005 Lausanne<br />

Dr. med. D. Kissling<br />

beauftragt <strong>für</strong> die Lehre der <strong>Arbeitsmedizin</strong> der medizinischen Fakultät<br />

der Universität Bern<br />

IFA <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Arbeitsmedizin</strong>, Kreuzweg 699, 5400 Baden<br />

Dr. med. M. Kuster<br />

beauftragt <strong>für</strong> die Lehre der <strong>Arbeitsmedizin</strong> der medizinischen Fakultät<br />

der Universität Basel<br />

Novartis International, WRO 1002/1064, 4002 Basel<br />

Dr. med. C. Lazor-Blanchet<br />

<strong>Institut</strong> universitaire romand de santé au travail (IST), 19, rue du Bugnon, 1005 Lausanne<br />

Dr.med. M. Rüegger<br />

Abteilung <strong>Arbeitsmedizin</strong>, Suva, Postfach, 6002 Luzern<br />

Dr. med. R. Schütz<br />

beauftragt <strong>für</strong> die Lehre der <strong>Arbeitsmedizin</strong> der medizinischen Fakultät<br />

der Universität Zürich<br />

Suva, Chefarzt <strong>Arbeitsmedizin</strong>, Postfach, 6002 Luzern<br />

Redaktion: Dr. med. R. Westkämper, <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Medizinische Lehre<br />

Abteilung <strong>für</strong> Ausbildungs- <strong>und</strong> Examensforschung AAE, Inselspital 37a, 3010 Bern<br />

Layout <strong>und</strong> Sekretariat: B. Wirz, <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> Medizinische Lehre<br />

Abteilung <strong>für</strong> Ausbildungs- <strong>und</strong> Examensforschung AAE, Inselspital 37a, 3010 Bern<br />

Produktion: IML Bern, Dezember 2004<br />

Druck: Suva, Luzern<br />

Die Autoren danken der Suva <strong>für</strong> die Übernahme des Druckes <strong>und</strong> der Verteilung.<br />

1


Titel der französischen Version:<br />

Notes de Médecine du Travail<br />

Polycopié destiné à la formation médicale prégraduée sur le plan fédéral<br />

M.-A. Boillat, B. Danuser, D. Kissling, M. Kuster, C. Lazor-Blanchet, M. Rüegger, R. Schütz<br />

4e édition révisée<br />

<strong>Texte</strong> <strong>zur</strong> <strong>Arbeitsmedizin</strong><br />

Schweizerisches Skriptum <strong>Arbeitsmedizin</strong> <strong>zur</strong> medizinischen Ausbildung<br />

M.-A. Boillat, B. Danuser, D. Kissling, M. Kuster, C. Lazor-Blanchet, M. Rüegger, R. Schütz<br />

4. revidierte Auflage<br />

Bern, IML, Mai 2005<br />

2


Vorwort<br />

Seit der 1. Auflage (1999) der „<strong>Texte</strong> <strong>zur</strong> <strong>Arbeitsmedizin</strong>“ hat sich das Skriptum als Lehrmittel<br />

<strong>und</strong> als einfache Referenzquelle etabliert. In der <strong>Arbeitsmedizin</strong> (AM) fehlt nach wie<br />

vor ein handliches deutsches <strong>und</strong> französisches Textbuch. Die vorliegenden <strong>Texte</strong> (deutsch<br />

<strong>und</strong> französisch) scheinen, zumindest <strong>für</strong> die Studierenden, diese Lücke zu schliessen.<br />

Sie behandeln in knapper Form aber doch mit den nötigen Erklärungen die wichtigen Themen<br />

der AM. Zu (fast) allen Lernzielen der Gr<strong>und</strong>ausbildung ist hier eine Antwort zu finden. (Seit<br />

1995 gab es den Schweizerischen Lernzielkatalog <strong>Sozial</strong>- <strong>und</strong> <strong>Präventivmedizin</strong> [1],<br />

inzwischen (2003) wurde dieser abgelöst durch die «Swiss Learning Objectives» [2] bzw. die<br />

«Lernziele <strong>zur</strong> <strong>Sozial</strong>- <strong>und</strong> <strong>Präventivmedizin</strong> inkl. <strong>Arbeitsmedizin</strong>» [3). Die <strong>Texte</strong> dienen als<br />

erstes Nachschlage- <strong>und</strong> Lernmittel. Zu den Themen sind die Quellen angegeben, wie z.B. die<br />

Suva-Broschüren <strong>und</strong> die weiterführende Literatur. Die Lehrenden können, anstatt sich um<br />

einen Gesamtüberblick über die AM zu bemühen, was in den meisten Fakultäten wegen der<br />

wenigen Unterrichtsst<strong>und</strong>en nicht möglich ist, auf das Skriptum verweisen <strong>und</strong> ihnen ist<br />

damit eher erlaubt, z.B. im Kontext des problemorientierten Unterrichts, klare Schwerpunkte<br />

zu setzen, illustrierende <strong>und</strong> vertiefende Informationen zu geben <strong>und</strong> den Bezug <strong>zur</strong><br />

praktischen ärztlichen Tätigkeit herzustellen.<br />

Das Sktiptum stellt eine wertvolle Ergänzung zum Schweizer (Lehr-)Buch <strong>Sozial</strong>- <strong>und</strong><br />

<strong>Präventivmedizin</strong>, Public Health [4] dar <strong>und</strong> leistet <strong>für</strong> die Studierenden als Lernmittel <strong>für</strong> die<br />

Examensvorbereitung den „roten Faden“ der <strong>Arbeitsmedizin</strong>.<br />

Mit der Publikation im Internet können die <strong>Texte</strong> auch <strong>für</strong> die Weiterbildung eine erste<br />

Informationsquelle sein.<br />

Mai 2005 R. Westkämper<br />

1 Schweizerischer Lernzielkatalog der <strong>Sozial</strong>- <strong>und</strong> <strong>Präventivmedizin</strong>, Public Health, einschliesslich<br />

der Arbeits- <strong>und</strong> Versicherungsmedizin (4. überarbeitete Auflage)<br />

F. Paccaud, Th. Abelin, U. Ackermann-Liebrich, F. Gutzwiller, A. Rougemont (Hrsg.), Bern,<br />

IAWF, 2000<br />

2 H. Bürgi, Ch. Bader, R. Bloch, F. Bosman, V. Im Hof, P. Keel, G.A. Spinas.<br />

Swiss Catalogue of Learning Objectives for Undergraduate Medical Training<br />

3 Lernziele der <strong>Sozial</strong>- <strong>und</strong> <strong>Präventivmedizin</strong> (inkl. <strong>Arbeitsmedizin</strong> <strong>und</strong> Versicherungsmedizin)<br />

im Medizinstudium. Beilage zu den Medizinischen Mitteilungen der Suva Nr. 75<br />

(2004), U. Ackermann-Liebrich, M. Egger, F. Gutzwiller, F. Paccaud, A. Rougemont, St.<br />

Weiss, R. Westkämper, Dez. 2003<br />

4 Gutzwiller F, Jeanneret O (Hrsg.). <strong>Sozial</strong>- <strong>und</strong> <strong>Präventivmedizin</strong>, Public Health<br />

Bern: Editions Hans Huber, 2. Auflage 1999<br />

3


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort 3<br />

1 Einführung: Ziele <strong>und</strong> Bedeutung der <strong>Arbeitsmedizin</strong> in der Schweiz 5<br />

1.1 Definition <strong>und</strong> Ziele der <strong>Arbeitsmedizin</strong> 5<br />

1.2 Gesetzliche Gr<strong>und</strong>lagen 5<br />

1.3 Prinzipien der Prävention 6<br />

1.4 Organisation der <strong>Arbeitsmedizin</strong> in der Schweiz 7<br />

1.5 Klassifikation der berufsbezogenen Ges<strong>und</strong>heitsschädigungen 8<br />

1.6 Weitere mit der <strong>Arbeitsmedizin</strong> verb<strong>und</strong>ene Gebiete 10<br />

2 Berufskrankheiten 11<br />

2.1 Physikalische Gefährdungen 11<br />

2.1.1 Lärm 11<br />

2.1.2 Elektromagnetische Felder 18<br />

2.1.3 Vibrationen 30<br />

2.2 Chemische Gefährdungen 34<br />

2.2.1 Aufnahme, Verteilung <strong>und</strong> Ausscheidung von Stoffen 34<br />

2.2.2 Ausgewählte Stoffe (Blei, Quecksilber, Lösungsmittel, Kohlenmonoxyd) 38<br />

2.3 Biologische Gefährdungen 49<br />

2.4 Berufsbedingte Atemwegserkrankungen <strong>und</strong> Pneumopathien 52<br />

2.5 Berufsdermatosen 60<br />

2.6 Berufskrebse 64<br />

3 Ergonomie <strong>und</strong> Arbeitsorganisation 77<br />

3.1 Einführung in die Ergonomie 77<br />

3.2 Bildschirmarbeitsplatz 80<br />

3.3 Arbeitsorganisation (Schichtarbeit, Absentismus) 83<br />

3.4 Arbeitslosigkeit 88<br />

3.5 Arbeitsrehabilitation / Case-Management 91<br />

3.6 Arbeitsklima (Stress, Mobbing) 93<br />

3.7 Betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung 96<br />

3.8 Betriebliche Unfallverhütung 99<br />

Die Gliederung des Skriptums entspricht derjenigen der Lernziele.<br />

4


1 Einführung: Ziele <strong>und</strong> Bedeutung der <strong>Arbeitsmedizin</strong> in der Schweiz<br />

1.1 Definition <strong>und</strong> Ziele der <strong>Arbeitsmedizin</strong> (AM)<br />

Die <strong>Arbeitsmedizin</strong> befasst sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Arbeit <strong>und</strong> Beruf<br />

einerseits <strong>und</strong> dem Menschen, seiner Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> seinen Krankheiten andererseits.<br />

Ziel der AM ist es, das körperliche, geistige <strong>und</strong> soziale Wohlbefinden der Arbeitnehmer in<br />

allen Berufen in grösstmöglichem Ausmass zu erhalten <strong>und</strong> zu fördern.<br />

Die <strong>Arbeitsmedizin</strong> ist primär keine kurative Medizin. Vielmehr soll sie in Zusammenarbeit<br />

mit andern Disziplinen der Arbeitssicherheit (z.B. Arbeitshygiene, Sicherheitsingenieure,<br />

Ergonomie) aufzeigen, wo im Rahmen der beruflichen Tätigkeit erhöhte Risiken <strong>für</strong> Unfälle,<br />

Berufskrankheiten <strong>und</strong> Belästigungen liegen. Zusammen mit anderen Diensten der<br />

Arbeitssicherheit, den Arbeitgebern <strong>und</strong> den Arbeitnehmern werden entsprechende Massnahmen<br />

getroffen. Das spezifische Wissen des <strong>Arbeitsmedizin</strong>ers erlaubt es, den Arbeitgeber<br />

<strong>und</strong> die Belegschaft konkret medizinisch zu beraten <strong>und</strong> bei allenfalls aufgetretener Berufskrankheit<br />

die richtigen Schlüsse zu ziehen.<br />

Wenn der Arzt auf Gr<strong>und</strong> von Anamnese, Arbeitsanamnese, Klinik <strong>und</strong> allfälligen zusätzlichen<br />

Untersuchungen den Eindruck gewinnt, der Patient könnte an einer berufsbedingten<br />

Erkrankung leiden, bittet er diesen, durch seinen Arbeitgeber eine Anmeldung bei der zuständigen<br />

UVG-Versicherung wegen Verdachts auf Berufskrankheit zu veranlassen. Die UVG-<br />

Versicherung ist gehalten, die Situation abzuklären (Offizialmaxime gemäss UVG) <strong>und</strong> nach<br />

Abschluss der Erhebungen eine Verfügung zu erlassen (Anerkennung bzw. Ablehnung) [1].<br />

Gewinnt der Arzt/die Ärztin den Eindruck, dass sich bei mehreren Arbeitnehmern des<br />

gleichen Betriebs ähnliche Ges<strong>und</strong>heitsstörungen eingestellt haben, wendet er sich an den<br />

zuständigen Betriebsarzt oder, wenn ein solcher nicht vorhanden sein sollte, an die Suva, die<br />

gemäss VUV die Anwendung der Vorschriften über die Verhütung von Berufskrankheiten in<br />

allen schweizerischen Betrieben zu beaufsichtigen hat [1].<br />

1.2 Gesetzliche Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Das „B<strong>und</strong>esgesetz <strong>für</strong> den Allgemeinen Teil des <strong>Sozial</strong>versicherungsrechts“, ATSG [2],<br />

wurde 2000 als Rahmengesetz <strong>für</strong> alle <strong>Sozial</strong>versicherungen verabschiedet <strong>und</strong> per 1.1.2003<br />

in Kraft gesetzt; die erforderlichen Anpassungen in den nachgeordneten Gesetzen (KVG,<br />

UVG, etc.) <strong>und</strong> Verordnungen sind im Gange.<br />

Das Gesetz bezweckt:<br />

– Koordination des <strong>Sozial</strong>versicherungsrechts<br />

– Definition der Gr<strong>und</strong>sätze, Begriffe <strong>und</strong> <strong>Institut</strong>e des <strong>Sozial</strong>versicherungsrechts<br />

(Krankheit, Unfall, Mutterschaft, Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Invalidität,<br />

Hilflosigkeit, etc.)<br />

– Einheitliche <strong>Sozial</strong>versicherungsverfahren <strong>und</strong> Rechtspflege<br />

– Abstimmung der Leistungen<br />

– Ordnung des Rückgriffs der <strong>Sozial</strong>versicherung auf Dritte<br />

5


Das Arbeitsgesetz (ArG) [3] verpflichtet den Arbeitgeber, zum Schutz der Ges<strong>und</strong>heit der<br />

Arbeitnehmer alle Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem<br />

Stand der Technik anwendbar <strong>und</strong> den Verhältnissen des Betriebes angepasst sind. Darunter<br />

fallen unter vielem anderen auch Regelungen betreffend Schicht- <strong>und</strong> Sonntagsarbeit.<br />

Konkretisiert werden verschiedene Forderungen in den Verordnungen 1 bis 4 (ArGV1 bis<br />

ArGV4) zum Arbeitsgesetz [3]. Auch das Obligationenrecht enthält Bestimmungen <strong>für</strong> den<br />

Schutz der Arbeitnehmenden [4].<br />

ArGV1: Arbeits- <strong>und</strong> Ruhezeiten (u.a. Pausen, wöchentliche Höchstarbeitszeit, Überzeit,<br />

besondere Formen der Nachtarbeit), Massnahmen bei Nachtarbeit, Sonderschutz von Frauen.<br />

ArGV2: Sonderbestimmungen betr. Arbeits- <strong>und</strong> Ruhezeiten sowie Nacht- <strong>und</strong> Sonntagsarbeit,<br />

unterstellte Betriebsarten.<br />

ArGV3 regelt insbesondere die Bereiche: Ergonomie, Hygiene, Licht, Raumklima, belästigende<br />

Einflüsse, übermässige <strong>und</strong> einseitige Belastungen, Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge, Nichtraucherschutz,<br />

Schutz schwangerer Frauen <strong>und</strong> stillender Mütter, Erste Hilfe u.a.<br />

ArGV4: Plangenehmigung, Betriebsbewilligung, Verkehrswege, Fluchtwege, besondere<br />

Gefahren (Brand, Explosion) u.a.<br />

Die Verordnung über die Verhütung von Unfällen <strong>und</strong> Berufskrankheiten (VUV) des B<strong>und</strong>esgesetzes<br />

über die Unfallversicherung (UVG) [1] regelt die entsprechenden Rechte <strong>und</strong><br />

Pflichten der Arbeitgeber <strong>und</strong> Arbeitnehmer. Sie definiert die Aufgaben der Spezialisten der<br />

Arbeitssicherheit, verschiedene Sicherheitsanforderungen, die Pflichten der Durchführungsorgane<br />

sowie der Eidgenössischen Koordinationskommission <strong>für</strong> Arbeitssicherheit (EKAS)<br />

[5] <strong>und</strong> weist insbesondere der Suva konkrete Aufgaben <strong>für</strong> die Verhütung von Berufsunfällen<br />

<strong>und</strong> Berufskrankheiten zu. In ihrem Vierten Titel wird die <strong>Arbeitsmedizin</strong>ische<br />

Vorsorge beschrieben [1].<br />

1.3 Prinzipien der Prävention<br />

Der Arbeitgeber ist <strong>für</strong> die Arbeitssicherheit in seinem Betrieb verantwortlich, auch wenn er<br />

Aufgaben der Arbeitssicherheit an einen Arbeitnehmer übertragen hat. Den Arbeitnehmern<br />

oder deren Vertretung steht in allen Fragen der Arbeitssicherheit ein Mitspracherecht zu.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich gilt es, gefährliche Produkte oder Arbeitsgänge zu eliminieren. Ist dies auf<br />

Gr<strong>und</strong> des Stands der Technik nicht möglich, sind die Arbeitsvorgänge so zu gestalten, dass<br />

der Arbeitnehmer keinen gefährlichen Noxen ausgesetzt ist <strong>und</strong> durch keine Arbeitsvorgänge<br />

gefährdet wird (z.B. Ersatz kritischer Substanzen durch weniger gefährliche oder ungefährliche,<br />

geschlossene Systeme, Kapselungen <strong>zur</strong> Lärmminderung, Quellenabsaugung, Arbeitsorganisation<br />

etc.). Sofern eine Gefährdung des Arbeitnehmers trotzdem nicht ausgeschlossen<br />

werden kann, hat ihm der Arbeitgeber entsprechende persönliche Schutzmittel abzugeben <strong>und</strong><br />

deren Verwendung zu überwachen (z.B. Schutzanzüge, Atemschutzgeräte, besonderes Schuhwerk,<br />

Schutzbrillen, Schutzhandschuhe, Gehörschutzmittel etc.). In allen Fällen ist der Arbeitnehmer<br />

über drohende Gefahren zu informieren <strong>und</strong> in der Anwendung der Schutzmassnahmen<br />

anzuleiten.<br />

Die "Grenzwerte am Arbeitsplatz" werden von der Suva zirka alle zwei Jahre neu publiziert<br />

[6]. Sie enthalten die maximalen Arbeitsplatzkonzentrationswerte ges<strong>und</strong>heitsgefährlicher<br />

Stoffe (MAK-Werte), die biologischen Arbeitsstofftoleranzwerte (BAT-Werte) <strong>und</strong> arbeitshygienische<br />

Grenzwerte <strong>für</strong> physikalische Einwirkungen.<br />

MAK-Wert: Höchstzulässige Durchschnittskonzentration eines gas-, dampf- oder staubförmigen<br />

Arbeitsstoffes in der Luft.<br />

6


BAT-Wert: Höchstzulässige Konzentration eines Arbeitsstoffes bzw. dessen Metaboliten im<br />

biologischen Material oder die durch die Einwirkung des Arbeitsstoffes ausgelöste Abweichung<br />

eines biologischen Parameters von seiner Norm.<br />

Die MAK- <strong>und</strong> BAT-Werte sind definitionsgemäss so festzulegen, dass nach derzeitiger<br />

Kenntnis in der Regel bei Einwirkungen während einer Arbeitszeit von 8 St<strong>und</strong>en täglich <strong>und</strong><br />

bis 42 St<strong>und</strong>en pro Woche auch über längere Perioden bei der ganz stark überwiegenden Zahl<br />

der ges<strong>und</strong>en, am Arbeitsplatz Beschäftigten die Ges<strong>und</strong>heit nicht gefährdet wird [6].<br />

Die Grenzwerte am Arbeitsplatz sind eine Beurteilungsgr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong> die Bedenklichkeit oder<br />

Unbedenklichkeit am Arbeitsplatz auftretender Konzentrationen von Stoffen oder Einwirkungen.<br />

Sie sind keine sicheren Grenzen zwischen gefährlichen <strong>und</strong> ungefährlichen Bereichen.<br />

Zusammenhänge mit Alter, Geschlecht, Konstitution, Klima <strong>und</strong> Arbeitsbelastung finden bei<br />

der Festlegung nach Möglichkeit Einfluss. Individuelle Empfindlichkeiten können jedoch<br />

nicht berücksichtigt werden (z.B. Sensibilisierung <strong>und</strong> allergische Reaktionen, Krankheiten).<br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong>ische Untersuchungen dienen dazu, auf Gr<strong>und</strong> von Anamnese, klinischem<br />

Bef<strong>und</strong> <strong>und</strong> Laborwerten gezielt eine Überexposition oder eine individuelle Überempfindlichkeit<br />

frühzeitig zu erkennen <strong>und</strong> damit eine beginnende Berufskrankheit zu<br />

verhindern, oder diese wenigstens in einem Stadium zu erfassen, in dem sie noch behandelbar<br />

ist <strong>und</strong> keine Defektheilungen zu be<strong>für</strong>chten sind.<br />

Die VUV regelt in ihrem Vierten Titel die <strong>Arbeitsmedizin</strong>ische Vorsorge. Danach kann die<br />

Suva <strong>zur</strong> Verhütung von Berufskrankheiten, die bestimmten Betriebskategorien oder Arbeitsarten<br />

eigen sind, Vorsorgeuntersuchungen anordnen (Eintritts-, Kontroll- <strong>und</strong> Nachuntersuchungen)<br />

<strong>und</strong> einen Arbeitnehmer durch Verfügung von der gefährdenden Arbeit<br />

ausschliessen (Nichteignung), wenn bei Fortsetzen der bisherigen Arbeit eine erhebliche<br />

ges<strong>und</strong>heitliche Gefährdung oder ein erhöhtes Unfallrisiko besteht oder seine Beschäftigung<br />

bei dieser Arbeit nur unter bestimmten Bedingungen zulassen (bedingte Eignung). Der<br />

betroffene Arbeitnehmer muss auf bestehende Beratungs- <strong>und</strong> Entschädigungsmöglichkeiten<br />

hingewiesen werden.<br />

Die VUV schreibt <strong>für</strong> Arbeiten im Überdruck zwingend eine Eintrittsuntersuchung vor<br />

Aufnahme der spezifischen Arbeit vor. Die Suva kann zusätzlich Eintrittsuntersuchungen vor<br />

Arbeitsaufnahme verlangen (z.Zt. Untertagearbeiten in feucht-warmem Klima).<br />

Betriebsärzte können zusätzliche punktuelle oder regelmässige Eignungsuntersuchungen<br />

durchführen, wenn dies auf Gr<strong>und</strong> spezieller persönlicher oder betrieblicher Verhältnisse<br />

notwendig ist.<br />

1.4 Organisation der <strong>Arbeitsmedizin</strong> in der Schweiz<br />

Eine Reihe von Grossunternehmen verfügen seit Jahrzehnten traditionellerweise über<br />

betriebsärztliche/arbeitmedizinische Dienste <strong>und</strong> Einrichtungen der Arbeitssicherheit. Seit<br />

dem 1.1.2000 besteht nun die Pflicht, dass alle Betriebe je nach Berufsunfall- <strong>und</strong> Berufskrankheitenrisiko<br />

Arbeitsärzte <strong>und</strong> andere Spezialisten der <strong>Arbeitsmedizin</strong> beiziehen (VUV<br />

Art. 11a - 11g). Als Spezialisten der Arbeitssicherheit gelten Arbeitsärzte, Arbeitshygieniker,<br />

Sicherheitsingenieure <strong>und</strong> Sicherheitsfachleute. Diese haben den Anforderungen der Beizugsverordnung<br />

zu genügen. Die Beizugspflicht entbindet den Arbeitgeber von seiner Verantwortung<br />

<strong>für</strong> die Arbeitssicherheit nicht.<br />

Der Arbeitgeber kann die Spezialisten selbst beiziehen oder einen entsprechenden Dienst<br />

einrichten oder sich einer überregionalen Einrichtung anschliessen.<br />

7


Durchführungsorgane des UVG: Suva sowie teilweise nach einem Teilungsschlüssel<br />

kantonale <strong>und</strong> eidgenössische Arbeitsinspektorate, koordiniert durch die EKAS [1,5]. Sie<br />

wachen mittels Kontrollen <strong>und</strong> Beratungen über das Einhalten der Bestimmungen der VUV.<br />

Für die Beaufsichtigung der Anwendung der Vorschriften über die Verhütung von Berufskrankheiten<br />

ist jedoch alleine die Suva in allen Betrieben zuständig.<br />

Durchführungsorgane des ArG: Staatssekretariat <strong>für</strong> Wirtschaft (seco) mit seinen Arbeitsinspektoraten<br />

<strong>und</strong> kantonale Arbeitsinspektorate.<br />

Die betriebsärztlichen Dienste bzw. beigezogene Arbeitsärzte oder überregionale arbeitsärztliche<br />

Einrichtungen sind direkt in den Betrieben tätig <strong>und</strong> sind mitverantwortlich <strong>für</strong> den<br />

Erhalt angemessener Arbeitsbedingungen <strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>erhaltung der Belegschaften sowie<br />

<strong>für</strong> die Wiedereingliederung Verunfallter <strong>und</strong> Erkrankter aus medizinischer Sicht. Ausserdem<br />

sind sie zuständig <strong>für</strong> die Organisation <strong>und</strong> Durchführung der Ersten Hilfe <strong>und</strong> vieler anderer<br />

ärztlichen Tätigkeiten.<br />

Bezüglich der in dieser Funktion betreuten Arbeitnehmenden/Patienten dürfen diese Kollegen<br />

gemäss Anhang 4 <strong>zur</strong> Standesordnung der (privatrechtlichen) Verbindung der Schweizer<br />

Aerzte FMH keine vertrauensärztliche Tätigkeit <strong>für</strong> einen Krankenversicherer oder beratende<br />

ärztliche Tätigkeit <strong>für</strong> einen privaten Taggeldversicherer (Ausnahme: isolierte Abklärung der<br />

Versicherbarkeit bei Stellenantritt) ausüben oder diesbezüglich einen UVG-Versicherer<br />

beraten. Gegenüber dem UVG-Versicherer besteht jedoch eine Auskunftspflicht [7].<br />

Der arbeitsmedizinische Dienst der Suva ist verantwortlich <strong>für</strong> die Abklärung <strong>und</strong> Beurteilung<br />

von Berufskrankheiten in bei der Suva versicherten Betrieben <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Durchführung der<br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong>ischen Vorsorge gemäss VUV in allen Betrieben.<br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong>ische <strong>Institut</strong>e an den Universitäten Lausanne, Zürich <strong>und</strong> der ETH widmen<br />

sich vor allem der Forschung <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>lagenarbeit, können von den Betrieben im<br />

Rahmen der Beizugspflicht aber ebenfalls eingesetzt werden.<br />

1.5 Klassifikation der berufsbezogenen Ges<strong>und</strong>heitsschädigungen<br />

Im Jahre 1998 haben alle UVG-Versicherer insgesamt 271'000 Berufsunfälle <strong>und</strong> 420'000<br />

Nichtberufsunfälle (davon 60'000 Verkehrsunfälle, 140'000 Sportunfälle, 39'000 Unfälle bei<br />

Wandern/Spazieren/Ausgehen) entschädigt. Branchen mit besonders erhöhtem Berufsunfallrisiko<br />

sind das Baugewerbe <strong>und</strong> die Forstwirtschaft/Holzverarbeitung. Die häufigsten Unfallgeschehnisse<br />

sind Ausgleiten <strong>und</strong> zu Fall kommen, Getroffen oder Verschüttet werden,<br />

Stechen, Schneiden, Einklemmungen <strong>und</strong> das Entgleitenlassen von Gegenständen.<br />

Im Durchschnitt der Jahre 1997-2001 sind pro Jahr 3872 Berufskrankheiten gemäss UVG<br />

anerkannt worden. Ihre prozentuale Verteilung ist: Haut 27.3%, Atemwege 6.2 %,<br />

Staublungen 0.9 %, asbestbedingte Mesotheliome 1.9 %, sog. Vergiftungen 1.2 %, Gehör<br />

15.9 %, Infektionskrankheiten 14.0 %, nicht-ionisierende Strahlen 3.0 %, Erkrankungen des<br />

Bewegungsapparats 26.2 % <strong>und</strong> andere 3.4 %.<br />

8


Die angefallenen Kosten zeigen ein etwas anderes Bild. Im Schnitt der Jahre 1997-2001<br />

haben Fr. 84 Mio aufgewendet werden müssen. Die prozentuale Verteilung ist: Haut 21.6%,<br />

Atemwege 11.6%, Staublungen 5.4%, asbestbedingte Erkrankungen 28.1%, sog.<br />

Vergiftungen 0.7%, Lärm/Gehör 9.2%, Infektionskrankheiten 1.8%, Aufwendungen <strong>für</strong><br />

Altlasten 11.3%, Erkrankungen des Bewegungsapparats 6.5% <strong>und</strong> andere 3.9%. Die<br />

durchschnittlichen Kosten <strong>für</strong> eine Berufskrankheit betragen ca. das Vierfache eines<br />

Arbeitsunfalls.<br />

Berufskrankheiten 1997 - 2001<br />

3872 BK pro Jahr<br />

26.2%<br />

3.0%<br />

14.0%<br />

3.4%<br />

15.9%<br />

27.3%<br />

6.2%<br />

0.9%<br />

1.9%<br />

1.2%<br />

Haut<br />

Atemwege<br />

Staublungen<br />

Mesotheliom<br />

Vergiftungen<br />

L rm/Geh r<br />

Infektionen<br />

Strahlen n.i.<br />

Bewegungsapp.<br />

†brige<br />

Berufskrankheiten 1997-2001<br />

Kosten Fr. 84 Mio. pro Jahr<br />

11.3%<br />

1.8%<br />

9.2%<br />

0.7%<br />

6.5% 3.9%<br />

28.1%<br />

21.6%<br />

5.4%<br />

11.6%<br />

Haut<br />

Atemwege<br />

Staublungen<br />

Asbest<br />

Vergiftungen<br />

L rm/Geh r<br />

Infektion<br />

BK bis 86<br />

Bewegungsapp.<br />

†brige<br />

BK: Hinterlassenenrenten<br />

Fr. 28Ō470Ō971/Jahr (SSUV)<br />

1%<br />

21%<br />

2%<br />

2% 7%<br />

67%<br />

Atemwege<br />

Staublungen<br />

Asbest<br />

Aromat. Amine<br />

BK vor 86<br />

†brige<br />

9


Neben den Berufskrankheiten gemäss UVG sind eine ganze Reihe Belästigungen oder<br />

Ges<strong>und</strong>heitsstörungen bekannt, die mit der beruflichen Tätigkeit in mehr oder weniger<br />

direktem Zusammenhang stehen: Schlafstörungen bei Nacht- <strong>und</strong> Schichtarbeit, Rückenprobleme,<br />

Stresssituationen während Arbeit <strong>und</strong> bei Doppelbelastungen Arbeit/Familie,<br />

Beschwerden an Bewegungsapparat <strong>und</strong> Augen bei Bildschirmarbeit u.v.a.<br />

1.6 Weitere mit der <strong>Arbeitsmedizin</strong> verb<strong>und</strong>ene Gebiete<br />

Die <strong>Arbeitsmedizin</strong> kann nur funktionieren, wenn sie eng mit andern Disziplinen wie<br />

Arbeitshygiene, Ergonomie <strong>und</strong> Unfallverhütung, aber auch mit den Beschäftigten am<br />

Arbeitsplatz, zusammenarbeitet.<br />

Literatur<br />

1. B<strong>und</strong>esgesetz über die Unfallversicherung UVG<br />

Verordnung über die Unfallversicherung UVV<br />

Verordnung über die Verhütung von Unfällen <strong>und</strong> Berufskrankheiten VUV<br />

2. B<strong>und</strong>esgesetz über den Allgemeinen Teil des <strong>Sozial</strong>versicherungsrechts (ATSG)<br />

3. B<strong>und</strong>esgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe <strong>und</strong> Handel ArG (Arbeitsgesetz)<br />

Verordnungen 1, 2, 3 <strong>und</strong> 4 zum Arbeitsgesetz ArGV1 bis ArGV4<br />

4. Schweiz. Obligationenrecht OR, Art. 328<br />

5. Eidg. Koordinationskommission <strong>für</strong> Arbeitssicherheit EKAS, Richtlinie über den<br />

Beizug von Arbeitsärzten <strong>und</strong> anderen Spezialisten der Arbeitssicherheit<br />

6. Suva, Grenzwerte am Arbeitsplatz 2005<br />

7. Verbindung der Schweizer Ärzte FMH, Richtlinie <strong>für</strong> arbeitsmedizinisch tätige<br />

Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte (Anhang 4 <strong>zur</strong> Standesordnung der FMH)<br />

8. Suva, Fünfjahresbericht UVG 1997-2001, 2003<br />

10


2 Berufskrankheiten<br />

2.1 Physikalische Gefährdungen<br />

2.1.1 Lärm (LZ 5.2.1:01)<br />

Einige Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Während der von einem Ton erzeugte Schalldruck sinusförmig schwingt, entsteht der Lärm<br />

aus unregelmässigen <strong>und</strong> aperiodischen Vibrationen.<br />

Ein Ton wird beschrieben durch seine Frequenz (Schwingungen/sec.) <strong>und</strong> durch seine<br />

Intensität, welche in Dezibel (dB) ausgedrückt wird, ein Mass, das auf dem logarithmisierten<br />

Verhältnis zweier Schalldrucke beruht:<br />

Lx = 20 log Px<br />

Lx = Schallpegel in dB<br />

Po Px = Schalldruck in Pascal<br />

Po = Bezugsschalldruck (2 x 10 -5 Pascal, Hörschwelle)<br />

dB Pascal<br />

0 2 x 10 -5 (=Po)<br />

20 20 x 10 -5<br />

40 200 x 10 -5<br />

60 2000 x 10 -5<br />

Es ist zu beachten, dass man nicht einfach mehrere Schallpegel addieren kann, weil es sich<br />

beim Dezibel um eine logarithmische Skala handelt.<br />

Will man den Schallpegel von der Energie statt vom Druck ableiten, so gilt:<br />

Lx = 10 log Ix<br />

Io<br />

(I0 = 1x10 -16 Watt/cm 2 )<br />

Aus dieser Formel leitet sich die 3 dB-Formel ab <strong>für</strong> die Berechnung des Effekts der Zugabe<br />

einer zweiten Lärmquelle gleicher Intensität zu einer bestehenden.<br />

Iy<br />

( = 2 � log 2 = ~3 dB )<br />

Io<br />

Man benutzt <strong>für</strong> Lärmmessungen einen Schallpegelmesser, der mit dem Dezibel arbeitet.<br />

Dieser ist <strong>für</strong> alle Frequenzen gleich sensibel, was nicht ganz dem menschlichen Ohr entspricht.<br />

Um die aufgezeichneten Werte an die Sensibilität des Ohres anzupassen, ist man<br />

übereingekommen, den sogenannten A-Filter einzubauen, der die Stärke der Frequenzen unter<br />

1000 Hz entsprechend vermindert. Dies ergibt die Einheit dB(A), die wir häufig antreffen.<br />

Die Berechnung der Lärmexposition erfordert die Kenntnis zweier Parameter: Schallniveau<br />

in dB(A) <strong>und</strong> totale Expositionszeit. Diese zwei Parameter können zu einem äquivalenten<br />

Dauerschalldruckpegel integriert werden, der Leq genannt wird. Er repräsentiert die mittlere<br />

Schallintensität über die totale Expositionszeit.<br />

11


Einige (extreme) Messwerte, wie sie von den Spezialisten der Sektion Physik der Suva festgestellt<br />

wurden, können dies verdeutlichen. Es handelt sich um Mittelwerte zahlreicher<br />

Messungen nahe dem Ohr der exponierten Personen. Diese wiederum befinden sich in der<br />

gewohnten Distanz <strong>zur</strong> Schallquelle ihres Arbeitsplatzes:<br />

Bauindustrie Schallpegel in dB(A)<br />

Ausschachtungsmaschinen 90-110<br />

Presslufthämmer 100-115<br />

Bohrmaschinen (im Tunnelbau) 100-120<br />

Rammen 105-120<br />

Holzindustrie<br />

Fräsmaschinen 90-105<br />

Tischkreissägen 90-115<br />

4-Seiten-Hobelmaschinen 90-115<br />

Verkittungspistolen 110-140<br />

Metallindustrie<br />

Guillotine-Scheren 95-110<br />

Bandsägen 95-120<br />

Pneumatische Scheren 100-120<br />

Zurichtearbeiten (durch Behämmern oder Schleifen) 110-140<br />

Textilindustrie<br />

Walzmaschinen 85- 95<br />

Diverse Zwirnproduktionsanlagen 90-100<br />

Schiffchenwebstühle 95-110<br />

Die folgende Tabelle der Suva zeigt weitere Beispiele von Lärmquellen, Schallpegel <strong>und</strong><br />

Schallempfindung.<br />

Lärmquelle Schallpegel<br />

[dB]<br />

Empfindung<br />

absolute Stille<br />

0<br />

unhörbar<br />

nicht mehr erkennbar<br />

10<br />

Ticken einer Taschenuhr, ruhiges Schlafzimmer, Klimaanlage<br />

in Radio-/TV-Studio<br />

20 sehr leise<br />

sehr ruhiger Garten, Klimaanlage in Theater 30 sehr leise<br />

Wohnquartier ohne Verkehr, Klimaanlage in Büros 40 leise<br />

ruhiger Bach, Fluss, ruhiges Restaurant 50 leise<br />

Unterhaltung in normaler Lautstärke, Personenwagen 60 laut<br />

lautes Büro, laute Sprache, Motorfahrrad 70 laut<br />

intensiver Verkehrslärm, laute Radiomusik 80 sehr laut<br />

schwerer Lastwagen 90 sehr laut<br />

Autohupe in 5 m Abstand 100 sehr laut<br />

Pop-Gruppe, Kesselschmiede 110 unerträglich<br />

Tunnel-Bohrmaschine in 5 m Abstand 120 unerträglich<br />

Düsen-Jet beim Abflug in 100 m Abstand 130 unerträglich<br />

Jet-Triebwerk in 25 m Abstand<br />

.<br />

140 schmerzhaft<br />

Der Lärm wird des weitern nach Typen unterschieden: Dauerlärm <strong>und</strong> (nicht kontinuierlicher)<br />

Impulslärm.<br />

12


Auswirkungen des Lärms auf das Gehör<br />

Der Haupteffekt des Industrielärms ist seine Wirkung auf das Gehör. Seine Wirkung hängt ab<br />

vom generellen Lärmpegel, von der Freqzenzzusammensetzung (hohe Töne sind schädlicher<br />

als tiefe) <strong>und</strong> von der gesamten Expositionszeit. Man unterscheidet zwei Arten der Beeinträchtigung<br />

des Gehörs: temporär, z.B. unmittelbar nach einer Exposition gegenüber einem<br />

sehr intensiven Lärm, oder dauerhaft, z.B. nach einer längeren Exposition gegenüber einem<br />

übermässigen Lärm.<br />

Vorübergehende Erhöhung der Hörschwellen<br />

Nach einer Lärmexposition ist die Sensibilität der sensorischen Zellen in Abhängigkeit von<br />

Dauer <strong>und</strong> Intensität des betreffenden Lärms vermindert. Diese reduzierte Lärmempfindlichkeit<br />

ist verb<strong>und</strong>en mit der Aktivität der Knöchelchenmuskeln (tensor tympani <strong>und</strong> stapedius).<br />

Sie stellt eine Erhöhung der Hörschwelle dar, die am Anfang reversibel ist. Sie dauert aber<br />

während einer begrenzten Zeit nach dem Ende der Stimulation an. Man spricht von einer<br />

Hörermüdung oder temporären Hörschwellenerhöhung bzw. Hörverschiebung, englisch:<br />

Temporary Threshold Shift (TTS).<br />

Untersucht man die Erholung, so kann man mehrere Ermüdungformen unterscheiden: Die<br />

Hörermüdung wird als kurzfristige bezeichnet, wenn sich das Gehör innerhalb von 2 Min.<br />

erholt. In diesem Fall ist die Schwelle bei der Frequenz am meisten erhöht, der man exponiert<br />

war. Dauert die Erholung länger als 2 Minuten, spricht man von einer langfristigen<br />

Ermüdung, aber mit einer Obergrenze von sechzehn St<strong>und</strong>en. Diese willkürliche 16-St<strong>und</strong>en-<br />

Grenze hat sich im Laufe der Erforschung des Industrielärms ergeben. Die Hörermüdung<br />

hängt von der Intensität, der Dauer <strong>und</strong> der Frequenz des Auslösers ab, sowie von seinen<br />

Präsentationsbedingungen. So ist z.B. eine gegebene Lärmdosis, die in intermittierender Form<br />

appliziert wird, weniger gefährlich.<br />

Wenn sich die Amplitude der Stimulation verdoppelt, so hat das im Mittel eine Amplitudenerhöhung<br />

von 6 dB beim TTS <strong>zur</strong> Folge bis ein bestimmtes (kritisches) Niveau erreicht ist.<br />

Von da an gibt es eine sehr starke Akzeleration, insbesondere <strong>für</strong> Impulslärm. Jenseits einer<br />

bestimmten Expositionsdauer erreichen die TTS asymptotische Werte. Diese liegen je höher<br />

desto stärker das Stimulationsniveau ist. Die Funktionsweise der Übertragung im äussern Ohr<br />

<strong>und</strong> im Mittelohr bringt es mit sich, dass die tiefen Frequenzen besser toleriert werden als die<br />

hohen.<br />

Reinton Expositionsstudien haben folgendes gezeigt: Das Maximum der TTS verschiebt sich<br />

progressiv über die Frequenzen, die die Hörermüdung auslösen. Wird z.B. eine Person einem<br />

reinen Ton von 2000 Hz ausgesetzt, entwickelt sich eine Hörermüdung, die maximal etwa bei<br />

3000 Hz liegt (eine Verschiebung um eine halbe Oktave). Dieses Phänomen lässt sich<br />

vermutlich durch aktiv produzierte Phänomene der Haarzellen erklären.<br />

Permanente Schwellenerhöhung<br />

Bei jahrelanger Exposition gegenüber hohen Schallintensitäten kann der Hörverlust definitiv<br />

werden. Dann spricht man von permanenter Schwellenerhöhung, englisch: Permanent<br />

Threshold Shift (PTS). Anatomisch liegt eine Haarzelldegeneration vor, die am Anfang durch<br />

leichte histologische Veränderungen gekennzeichnet ist, schliesslich aber <strong>zur</strong> vollständigen<br />

Zelldestruktion führt. Im Frequenzbereich, in dem das Ohr die beste Empfindsamkeit hat, ist<br />

es auch am anfälligsten. Das betrifft die Frequenzen, deren Energie optimal von aussen ins<br />

Innerohr übertragen wird. Darum fangen die Schädigungen bei 4000 Hz an, was <strong>für</strong> eine<br />

berufliche Schwerhörigkeit charakteristisch ist. Die Auswirkungen von Niveau <strong>und</strong> Dauer der<br />

Stimulation sind interdependent <strong>und</strong> bei der Aufstellung internationaler Normen wird dem<br />

13


Rechnung getragen, dass die Schwere der Höreinbussen an die Quantität der vom Ohr<br />

empfangenen akustischen Energie geb<strong>und</strong>en ist.<br />

Es fragt sich, ob Personen mit einem überdurchschnittlichen TTS später gleichermassen ein<br />

überdurchschnittliches PTS aufweisen. Wir haben oben die progressive Verlagerung des TTS<br />

zu den Frequenzen hin, die höher sind als die der Stimulation, erwähnt. Es ist nun aber<br />

festzustellen, dass auf höheren Frequenzniveaus das Maximum der Haarzellläsionen sich <strong>zur</strong><br />

Stimulationsfrequenz verschiebt. Bei fortgesetzter Exposition reduziert sich die Verlagerung<br />

zwischen verbleibenden Schwellenerhöhungen <strong>und</strong> Stimulationsfrequenz immer mehr. Haarzellläsionen<br />

<strong>und</strong> Haarzellverluste kommen dann in die Frequenzzonen der Höreinbussen zu<br />

liegen. Man nimmt an, dass die Hörverminderung <strong>und</strong> die Hörverluste durch verschiedene<br />

Mechanismen zustande kommen <strong>und</strong> es nicht möglich ist, bei einem Individuum ein PTS<br />

aufgr<strong>und</strong> der TTS-Messung vorherzusagen.<br />

Die Überschreitung folgender Grenzen wird als eine Exposition erachtet, die das Risiko einer<br />

permanenten Hörschädigung signifikant erhöht:<br />

– 90 dB A <strong>für</strong> die Gesamtheit der hörbaren Frequenzen<br />

– 85 dB A <strong>für</strong> die Frequenzen, welche zwischen 300 <strong>und</strong> 4200 Hz liegen<br />

– 80 dB A <strong>für</strong> die Frequenzen oberhalb 4200 Hz.<br />

Diese Lautstärken werden in der Industrie häufig erreicht. Eine Schwerhörigkeit ist aber nicht<br />

nur durch berufliche Lärmexposition bedingt. Viele private Aktivitäten sind von Lautstärken<br />

über den beruflichen Grenzwerten begleitet, z.B. Besuch von Diskotheken, Popkonzerten etc.<br />

Audiogramm<br />

Gewissheit über eine Hörschädigung verschafft man sich durch die klinische Untersuchung<br />

der betroffenen Person. Ärztlich benötigte Angaben sind Alter, Familienanamnese, eventuell<br />

eingenommene ototoxische Medikamente, Lärmexposition, Anfang der Schwerhörigkeit,<br />

deren Verlauf, Symmmetrie zwischen links <strong>und</strong> rechts, gleichzeitiges Vorkommen von Pfeifen<br />

oder andern Ohrgeräuschen (Tinnitus), Schwindel, andere neurologische Störungen sowie<br />

Vorkommen von Otalgie <strong>und</strong> Ausfluss aus dem äussern Gehörgang. Meistens hat der Patient<br />

bei lärmgeb<strong>und</strong>enen Schädigungen am Anfang keine Klagen. Erst später, wenn die Beeinträchtigung<br />

fortschreitet, beginnt es mit Schwierigkeiten bei der Unterhaltung an Orten mit<br />

lauter Ambiance (Cocktail-Abend). In der Folge kommen die Betroffenen in Schwierigkeiten<br />

bei ihren Beziehungen mit der Umgebung. Das ganze vollzieht sich im allg. ohne Schmerzen<br />

<strong>und</strong> eher langsam. In erster Linie wird die Wahrnehmung der hohen Töne betroffen.<br />

Die körperliche Untersuchung umfasst den Zustand der Hirnnerven <strong>und</strong> die Kleinhirnfunktionen.<br />

Dazu kommt eine visuelle Überprüfung der Trommelfelle. Man wird <strong>zur</strong> Differenzierung<br />

von Transmissionsschwerhörigkeiten von Schallempfindungsstörungen Stimmgabelteste<br />

durchführen (Weber <strong>und</strong> Rinne). Je nach Bef<strong>und</strong>en wird man auf Anraten von<br />

verschiedenen Spezialisten ergänzende Untersuchungen beiziehen (Tympanometrie, Diskriminationsfähigkeit<br />

beim Sprachverständnis, Stapediusreflexuntersuchung). Desgleichen<br />

kommen Laboranalysen, elektrophysiologische (Elektrocochleogramm, evozierte akustische<br />

Potentiale) <strong>und</strong> radiologische Untersuchungen (CT, MRI) in Frage.<br />

Die audiometrische Bestimmung der Reintonhörschwellen <strong>für</strong> verschiedene Frequenzen<br />

zwischen 250 <strong>und</strong> 8000 Hz auf einer Intensitätsskala von -10 dB (Hörschwelle eines intakten<br />

Ohres) bis 110 dB (Maximalschaden) ist eine entscheidende Untersuchung in der ärztlichen<br />

Abklärung. Man achtet darauf, dass die zu untersuchende Person in den vorangehenden 16<br />

St<strong>und</strong>en keine Exposition gehabt hat (damit keine temporäre Schwellenerhöhung – (TTS)<br />

gemessen wird). Bei jedem Ohr wird einzeln gemessen. Die Luftleitung kann mit Kopfhörern<br />

<strong>und</strong> die Knochenleitung mittels eines hinter dem Ohr in Schädelkontakt gebrachten Vibrators<br />

14


gemessen werden. Eine Graphik, das Audiogramm, gibt das Resultat wieder. Hinzu kommt<br />

im allgemeinen eine Sprachaudiometrie. Sie bestimmt eine Verständnisschwelle, d. h. die<br />

Intensität, bei welcher die Sprache verstanden werden kann. Man benützt dazu Worte mit<br />

zwei Silben von gleicher Intensität. Der Vergleich Luft-/Knochenleitung erlaubt die Entscheidung,<br />

ob das Hördefizit auf einer Läsion im äussern Gehörgang oder im Mittelohr beruht<br />

(Transmissionsschwerhörigkeit) oder ob es sich um eine Innenohr- oder Hörnervläsion<br />

handelt (neurosensorielle Wahrnehmungsschwerhörigkeit).<br />

Bei lärmbedingter Gehörschädigung zeigt das Audiogramm besondere Charakteristiken:<br />

-10<br />

0<br />

10<br />

20<br />

30<br />

40<br />

50<br />

60<br />

70<br />

80<br />

90<br />

100<br />

110<br />

125 250 500<br />

Frequenz<br />

1000 2000 4000 8000<br />

20-j hrig<br />

40-j hrig<br />

60-j hrig<br />

Audiogramm<br />

Das Audiogramm zeigt ein lärmbedingtes 4000 Hz-Skotom. Die gestrichelten Linien<br />

markieren das altersabhängige Normalbild. Das in der Mitte markierte Rechteck (500-3000<br />

Hz, ≥ 40 dB) entspricht der Hauptzone der sprachlichen Kommunikation.<br />

Der Gehörverlust tritt bei 4000 Hz mit einem Einschnitt in Form einer Senke auf. Wenn sich<br />

die Exposition einem zu intensiven Lärm gegenüber fortsetzt, werden die benachbarten<br />

Frequenzen zunehmend betroffen <strong>und</strong> der Einschnitt wird sich ausweiten bis er bei ungefähr<br />

3000 Hz in die <strong>für</strong> die Kommunikation kritische Zone eindringt. Die beiden Ohren werden<br />

symmetrisch geschädigt, d. h. der Unterschied zwischen ihnen geht bei 500, 1000 et 2000 Hz<br />

nicht über 15 dB hinaus resp. bei 3000, 4000 et 6000 Hz beträgt er maximal 30 dB.<br />

Ausnahmsweise kommt in bestimmten Fällen eine asymmetrische Schädigung vor, weil die<br />

Lärmexposition nicht gleichmässig ist. Ein Beispiel ist der Gewehrschütze. Bei ihm kann der<br />

Verlust auf einer Seite deutlicher sein. Es kommt drauf an, ob er Rechts- oder Linkshänder ist,<br />

d. h. wie er das Gewehr halten muss, um mit dem entsprechenden Finger den Abzug zu<br />

betätigen (linkes Ohr beim Rechtshänder stärker betroffen). Gehörseinbussen, die nicht mit<br />

Lärm in Beziehung stehen, sind im allgemeinen einseitig <strong>und</strong> das Audiogramm zeigt nicht<br />

den typischen Einschnitt bei 4000 Hz.<br />

Die Hörschwelle verändert sich auch mit dem Alter, wobei der Hörverlust in der Zone der<br />

hohen Frequenzen grösser ist, d. h. er ist umso grösser, je höher die Frequenz ist. In dieser<br />

sich fortlaufend senkenden Kurve findet man keine auffallende Einknickung bei 4000 Hz, wie<br />

sie bei Lärmeffekten beobachtet wird.<br />

15


«Nicht-auditive» <strong>und</strong> weitere Auswirkungen des Lärms<br />

Weitere Wirkungen des Lärms auf den Menschen sind:<br />

1. Maskierungseffekt: ein Lärm verdeckt vor allem die Komponenten der Stimme, die eine<br />

ihm analoge Frequenz aufweisen<br />

2. Störung des Schlafes (Umgebungslärm)<br />

3. Wirkung auf das Verhalten<br />

4. Wirkung auf das neuro-vegetative System: Blutdruck, vaskuläre Spasmen (diesbezüglich<br />

bestehen Laborexperimente).<br />

Expositionsgrenzwerte (Suva 1999)<br />

Der äquivalente Dauerschalldruckpegel Leq, berechnet pro 8-stündigen Arbeitstag oder eine<br />

Arbeitswoche von 40 St<strong>und</strong>en, darf ohne Gehörschutz 85 dB(A) weder erreichen noch überschreiten.<br />

Der Abschätzung der Gehörsgefährdung sind lange Lärmexpositionsperioden zugr<strong>und</strong>e<br />

zu legen.<br />

Der Spitzenwert des Schalldrucks (Peak) darf ohne Gehörschutz 140 dB (C) nicht überschreiten.<br />

Zur Gehörsgefährdungs-Abschätzung muss man überdies den über eine St<strong>und</strong>e aufaddierten<br />

Schallexpositionspegel SEL miteinbeziehen.<br />

Die Ultraschall-Wellen im Frequenzband 20 bis 100 kHz verursachen gemäss aktuellem<br />

Kenntnisstand keinen Schaden, wenn der maximale Pegel unter 140 dB bleibt bzw. das<br />

Mittel, über 8 St<strong>und</strong>en gerechnet, 110 dB nicht überschreitet.<br />

Für den Infraschall (Frequenzbereich 2 bis 20 Hz) gilt dementsprechend <strong>für</strong> das Gehör ein 8-<br />

St<strong>und</strong>en-Mittel von 135 dB resp. ein Maximum von 150 dB. Mittlere Schallpegel über 120 dB<br />

können Störungen des Wohlbefindens verursachen.<br />

Prävention<br />

Die Präventionsmassnahmen müssen in der Planungsphase vorgesehen werden, sowohl <strong>für</strong><br />

die Umgebung (stadtplanerische Fragen) als auch <strong>für</strong> das Innere der Räumlichkeiten.<br />

Bei bereits bestehenden Installationen ist die Lärmbekämpfung schwieriger; trotzdem ist es<br />

möglich, Abschwächungen des Lärms zu erzielen.<br />

a) Veränderungen technischer Art greifen an den Hauptlärmquellen an: z. B. Verwendung<br />

mechanischer Extraktoren anstelle von komprimierter Luft bei Pressen oder Ersatz<br />

von Metallteilen durch Gummi oder Kautschuk.<br />

b) Reduktion des Lärms an der Quelle: Dämpfer, Isoliermaterial, Schmiermittel, Anti-<br />

Vibrations-Montagen, Einkapselung von Maschinen, Ersatz verbrauchter Getriebe etc.<br />

c) Isolation der lauten Räume<br />

d) Individuelle Schutzmittel: Schutzwatten, Ohrpfropfen, Ohrkapseln, Schallschutzmuscheln.<br />

Bei den Arbeitern begegnet man grossen Widerständen gegen das Tragen der<br />

Gehörschutzmittel. Meistens halten sie das Risiko nicht <strong>für</strong> real oder glauben, nur in sehr<br />

fortgeschrittenen <strong>und</strong> extremen Fällen komme es zu Schwerhörigkeit. Die in regelmässigen<br />

Abständen in den lärmigen Unternehmen durchzuführenden Audiogramme<br />

bekommen von daher ihre Bedeutung. Bei ihrer Durchführung sollte auch immer wieder<br />

im „erzieherischen“ Sinne auf dem Tragen des Gehörschutzes insistiert werden.<br />

16


Das folgende Audiogramm zeigt die Wirkung einiger Gehörschutzmittel:<br />

125 250 500 1000 2000 4000 8000<br />

0<br />

10<br />

20<br />

30<br />

40<br />

50<br />

Mittelwerte der akustischen Isolation von 4 Gehörschutzmitteln (Quelle: Suva)<br />

Literatur<br />

Pfropfen aus Dehnschaumstoff<br />

Gehörschutzwatte<br />

fertig geformte Pfropfen<br />

Gehörschutzkapsel<br />

1. Schmuckli F.: Der persönliche Gehörschutz. SBA 147, Suva, 1993.<br />

2. Hohmann B. et Schmuckli F.: Gehörgefährdender Lärm am Arbeitsplatz. Publ. 44057.d, Suva,<br />

1995.<br />

3. Probst R.: Deutsch. <strong>Arbeitsmedizin</strong> 12, Suva, 1975/1984.<br />

4. Staubli B.: Belästigender Lärm am Arbeitsplatz. Publ. 66058 d, Suva Luzern, 1995.<br />

5. May J.J.: Occupational Hearing Loss. Amer J Ind Med 37 :112-120, 2000.<br />

17


2.1.2 Die elektromagnetischen Felder<br />

Energie in Form elektromagnetischer (EM)-Wellen wird beschrieben durch die beiden Feldkomponenten<br />

magnetisch (H) <strong>und</strong> elektrisch (E). Sie stehen senkrecht zueinander <strong>und</strong> beide<br />

zusammen sind wiederum senkrecht <strong>zur</strong> Ausbreitungsrichtung. Typisch <strong>für</strong> die verschiedenen<br />

EM-Wellen sind die jeweilige Wellenlänge (Zykluslänge), die Frequenz (Anzahl Zyklen pro<br />

Sek<strong>und</strong>e = Hz), ihre Energie <strong>und</strong> die Ausbreitung mit Lichtgeschwindigkeit. Kürzere<br />

Wellenlänge bedeutet höhere Frequenz <strong>und</strong> Energie. Die EM-Wellen, die nicht genug Energie<br />

haben, um Atome <strong>und</strong> biologisch wichtige Moleküle zu ionisieren, d. h. weniger als 10 eV,<br />

nennt man nicht-ionisierende Strahlen.<br />

18<br />

Elekromagnetisches Spektrum der ionisierenden <strong>und</strong> nicht-ionisierenden<br />

Strahlen (Quelle siehe Ref.18).


Ionisierende Strahlen<br />

Kurzer Rückblick auf die Struktur der Materie<br />

Die Natur ist aus Atomen aufgebaut. Deren verschiedene Arten sind Wasserstoff, Sauerstoff,<br />

Kohlenstoff usw. gemäss Periodensystem der natürlichen Elemente. Für das Atom selber<br />

kennt man folgende drei Partikelarten als Bestandteile:<br />

- Protonen: positiv elektrisch geladen,<br />

- Neutronen: keine elektrische Ladung, an Masse gleich wie Protonen,<br />

- Elekronen: von der Masse her 2-tausendmal kleiner als Protonen oder Neutronen, tragen<br />

eine negative elektrische Ladung von gleicher Grösse wie die eines Protons.<br />

Während die Protonen <strong>und</strong> die Neutronen dicht aneinandergedrängt den Atomkern bilden,<br />

kreisen die Elekronen in riesiger Geschwindigkeit darum herum. Im Kern herrschen beträchtliche<br />

Anziehungskräfte. Daher sind in der Natur die Kerne allermeistens stabil, d.h. sie bleiben<br />

wie sie sind. Aber bei den schwereren Atomkernen können spontane Instabilitäten auftreten,<br />

es kommt zum Zerfall der Kerne, was man Radioaktivität nennt. Davon gibt es verschiedene<br />

Formen:<br />

- α-Strahlung: das α-Teilchen besteht aus zwei Protonen <strong>und</strong> zwei Neutronen.<br />

- β-Strahlung: ein Neutron spaltet sich in ein Proton mit positiver Ladung <strong>und</strong> ein Elektron<br />

mit negativer Ladung, welches sogleich aus dem Kern herausgeschleudert <strong>und</strong> als Strahlung<br />

emittiert wird.<br />

- γ-Strahlung: Produziert ein Kern α- oder β-Strahlung, kann dadurch ein weiterer Kern in<br />

einen angeregten Zustand versetzt werden, sodass der stabile Aufbau gefährdet ist. Um sein<br />

Gleichgewicht wieder zufinden befreit sich der Kern von diesem Energie-Überschuss durch<br />

ein Quentchen Energie in Form eines Photons. Das ist γ-Strahlung. Es ist Energie von<br />

gleicher Natur wie die des Lichts oder der Röntgenstrahlen. Man nennt sie auch elektromagnetische<br />

Schwingungen oder Wellen.<br />

Wenn die Radioaktivität aus natürlich vorkommender Materie stammt, ist es sogenannte<br />

natürliche Radioaktivität. Zahlreiche radioaktive Elemente können aber auch hergestellt<br />

werden, in dem man natürliche Elemente mit Partikeln aus einem Reaktor oder anderen<br />

radioaktiven Quellen bombardiert. Sie treten in grosser Zahl als Spaltprodukt in den<br />

Reaktoren auf. Die so verursachte Radioaktivität wird als künstliche Radioaktivität<br />

bezeichnet.<br />

Wieviele Kerne in einer Sek<strong>und</strong>e zerfallen ist proportional <strong>zur</strong> Anzahl vorhandener radioaktiver<br />

Atome. Gebräuchlich <strong>zur</strong> Definition der Zerfallsgeschwindigkeit ist die Halbwertszeit,<br />

auch radioaktive Periode genannt, die Zeit, nach der die Zahl der Ausgangsatome auf die<br />

Hälfte abgenommen hat. Sie kann ein paar Milliardenstel einer Sek<strong>und</strong>e bis Milliarden von<br />

Jahren betragen. Beim Radium z. B. beträgt die Halbwertszeit 1600 Jahre.<br />

Die Durchdringung der Materie hängt von der Art der Strahlung ab. α-Strahlung kann schon<br />

durch ein Blatt Papier aufgehalten werden, β-Strahlung durch ein Aluminiumblättchen. Es<br />

braucht hingegen Beton oder Blei, um γ-Strahlung aufzufangen.<br />

Neutronenstrahlen, elektrisch ungeladene Teilchen, entstehen insbesondere beim Prozess<br />

der Kernspaltung.<br />

19


Einheiten<br />

Wenn Strahlung auf Materie oder einen Organismus trifft, überträgt sie eine gewisse Menge<br />

Energie, <strong>zur</strong> Messung hat man folgende Einheiten definiert:<br />

- das Gray (Gy) ist die Einheit <strong>für</strong> die «absorbierte Dosis»; es entspricht einer<br />

Energieabsorption von 1 Joule pro Kilo Substanz<br />

- das Sievert (Sv) ist die Einheit <strong>für</strong> das Dosisäquivalent, welches «der Agressivität» der<br />

verschiedenen Strahlen α, β oder γ Rechnung trägt; es entspricht der Quantität von<br />

Strahlung jedwelchen Typs, die den gleichen biologischen Effekt im Körper bewirkt wie<br />

ein Gray irgendeiner Strahlung.<br />

- das Becquerel (Bq) ist die Einheit <strong>für</strong> die Zerfallsrate: 1 Bq = 1 Zerfall/Sek<strong>und</strong>e<br />

Alte Einheiten:<br />

Infolge Weiterverwendung durch die Amerikaner können in der Literatur immer noch die in<br />

Europa an sich veralteten Einheiten auftreten. Es sind dies :<br />

1 Rad = 10 -2 Gy<br />

1 Rem = 10 -2 Sv<br />

1 Ci (Curie) = 3,7 · 10 10 Bq<br />

Jahresdosen der Schweizer Bevölkerung (Quelle: BAG 1999)<br />

Die natürliche Bestrahlung gibt es seit jeher. Die jährliche mittlere Dosis <strong>für</strong> die Schweizer<br />

Bevölkerung beträgt total ungefähr 4 mSv. Fast die Hälfte davon wird durch das Radon <strong>und</strong><br />

seine Zerfallsprodukte verursacht. Letztere bewirken im Wesentlichen eine Lungendosis, da<br />

sie sich in den Bronchien <strong>und</strong> im Lungengewebe absetzen. Diese Belastung wird als<br />

Effektivdosis umgerechnet, um vom Gefährlichkeitsstandpunkt her den Vergleich mit andern<br />

Dosen zu haben.<br />

Ungefähr ein Viertel der Dosis in der Schweiz stammt aus der medizinischen Radiodiagnostik.<br />

Quellen der radioaktiven Belastung in der Schweiz<br />

20<br />

5<br />

6<br />

1<br />

4<br />

2<br />

3<br />

1 kosmische Strahlung 0,35 mSv<br />

2 terrestrische Strahlung 0,45 mSv<br />

3 interne Bestrahlung 0,4 mSv<br />

4 Radon in Wohnr umen 1,6 mSv<br />

5 medizinische Anwendungen 1,0 mSv<br />

6 brige 0,2 mSv<br />

(Atombombenfallout, Tschernobyl,<br />

Kernanlagen Industrie <strong>und</strong> Spit ler,<br />

kleine Quellen)<br />

Total 4,0 mSv


Biologische Wirkungen der Strahlenaufnahme<br />

Die Strahlung kann direkt wirken durch Interaktion mit den gr<strong>und</strong>legenden Biomolekülen der<br />

Zelle (DNS, RNS, Proteine, Enzyme), indem sie bei diesen Schädigungen <strong>und</strong> Brüche<br />

verursacht. Möglich ist indessen, dass die biologischen Veränderungen auch nur durch eine<br />

Beeinflussung des Milieus ausgelöst werden. In diesem Fall spricht man von indirekter<br />

Reaktion. Dies geschieht zum Beispiel mit dem Wasser. Es kann in sehr reaktive Radikale<br />

umgewandelt werden, die dann auf die biologischen Moleküle einwirken.<br />

Bei den Strahlenschäden werden zwei Formen unterschieden:<br />

• Somatische Effekte, welche als unmittelbare Veränderungen in Erscheinung treten; sie<br />

sind nicht übertragbar.<br />

• Genetische Effekte oder Mutationen, die unmittelbar nicht sichtbar sind; sie werden in<br />

zwei Gruppen unterteilt:<br />

a) Genveränderungen an Körperzellen (somatische Mutationen); sie werden nicht<br />

weitergegeben<br />

b) genetische Veränderungen in den Keimzellen (genetische Mutationen), welche auf<br />

die künftigen Generationen übertragen werden können.<br />

Die somatischen Schädigungen sind komplexer Natur. Bestimmte <strong>für</strong> das Leben der Zelle<br />

wichtige Enzyme können zerstört werden. Daraus kann der Zelltod resultieren. Manchmal<br />

handelt es sich aber nur um eine reversible Schädigung. Im Allgemeinen sind die Gewebe mit<br />

häufigen Zellteilungen am strahlensensibelsten. Man kann die Organe grob in vier Gruppen<br />

einteilen:<br />

a) radiosensible: blutbildendes System, Lymphknoten, Milz, Thymus, Därme, Hoden,<br />

Eierstöcke, Augenlinse<br />

b) relativ radiosensible: Haut, Augen<br />

c) relativ radioresistente: Lungen, Leber, Nieren<br />

d) radioresistente: Herz, Nervensystem, Muskulatur <strong>und</strong> Bindegewebe<br />

Bezüglich einer Ganzkörperbestrahlung beschreibt man vier Perioden. Zuerst gibt es eine<br />

Latenzzeit (Phase 1). Dann erscheinen Prodromi: Kopfschmerzen, Müdigkeit, Appetitlosigkeit,<br />

Nausea <strong>und</strong> Erbrechen (Phase 2). Anschliessend geht es der Person während einer bestimmten<br />

Zeit gut (freies Intervall, Phase 3). Die vierte Phase ist die der akuten Symptome,<br />

die der Beeinträchtigung des blutbildenden Systems <strong>und</strong> des Darms entspricht. Bei sehr hoher<br />

Bestrahlung wird die Latenz sehr kurz <strong>und</strong> es kommt nicht mehr zu einem freien Intervall.<br />

Genetische Schädigungen an Nicht-Keimzellen brauchen zunächst nicht sichtbar zu sein, aber<br />

sie treten in der Folge in Erscheinung, z.B. im Auftreten eines bösartigen Tumors.<br />

Schädigungen von Chromosomen in Keimzellen können das Erbgut eines ganzen Individuums<br />

modifizieren, was bewirken kann, dass die Nachkommen Träger einer kongenitalen<br />

Missbildung sind. Da diese Schädigungen vom rezessiven Vererbungstyp sind, werden sie<br />

sich nur dann manifestieren, wenn ein Ei mit verändertem Gen auf ein gleichermassen verändertes<br />

Spermium trifft. Das ist sehr unwahrscheinlich.<br />

21


Stochastische <strong>und</strong> nicht-stochastische Wirkungen<br />

Stochastisch heisst vom Zufall abhängig. Die Induktion von Karzinomen <strong>und</strong> das Auftreten<br />

von Missbildungen in der Nachkommenschaft folgt den Regeln der Wahrscheinlichkeit,<br />

kommt also stochastisch zustande. Je höher die Bestrahlung umso wahrscheinlicher ist das<br />

Eintreten eines Effekts.<br />

Andererseits gibt es Effekte, die dann eintreten, wenn eine bestimmte Dosisschwelle überschritten<br />

wird. Hier sind die Wirkungen nicht mehr zufällig. Das ist der Fall bei der Schädigung<br />

des blutbildenden Systems, der Lymphknoten, der Linse (Katarakt) oder Schäden der<br />

Haut. Zum Beispiel entwickelt sich nur eine Katarakt nach Bestrahlungen von mehr als<br />

150 mSv pro Jahr.<br />

Klassifikation der Strahlenwirkung<br />

Somatische Effekte Genetische Effekte<br />

Nicht-stochastische Wirkungen - hämatopoetische Störungen<br />

(deterministisch)<br />

- Sterilität<br />

- Katarakt<br />

---<br />

Stochastische Wirkungen<br />

- Beeinflussung des Embryos<br />

Kanzerogenese Mutationen<br />

Akutes Strahlensyndrom beim Menschen<br />

22<br />

Hämatopoetisch Gastrointestinal Nervensystem<br />

Hauptorgan Knochenmark Dünndarm Gehirn<br />

Schwelle 1 Gy 5 Gy 20 Gy<br />

Latenz 2-3 Wochen 3-5 Tage 15 min - 3 h.<br />

Letale Dosis 3-5 Gy 5-15 Gy > 15 Gy<br />

Lebensdauer 3 Wochen bis 2 Mt. 3 Tage bis2 Wochen 2 Tage<br />

Zeichen <strong>und</strong><br />

Symptome<br />

Leukopenie, Anämie,<br />

Hämorrhagie, Fieber,<br />

Infektion, Nausea,<br />

Erbrechen, Müdigkeit<br />

Nausea, Erbrechen, Durchfall,<br />

Anorexie, Müdigkeit,<br />

Fieber, Dehydratation,<br />

Infektion,<br />

Elektrolytverluste<br />

Lethargie,<br />

Traumatismen,<br />

Konvulsionen<br />

Prävention von Schäden durch ionisierende Strahlung<br />

Die Prävention ist vorab technischer Natur:<br />

– Expositionszeit begrenzen<br />

– Schirme anbringen, um Strahlen am Durchtreten zu hindern (Bleiwände)<br />

– sich von den Strahlenquellen entfernen (die Strahlung nimmt reziprok zum Quadrat der<br />

Distanz ab)


Um die Wirksamkeit der Strahlenschutzmassnahmen zu verifizieren, verlangt man von den<br />

exponierten Personen das Tragen einer Art Kennzeichen, in denen sich strahlenaufzeichnende<br />

Dosimeter befinden. In der Schweiz werden mit diesem Konzept etwa 60'000<br />

Personnen beobachtet, die beruflich einer externen Bestrahlung ausgesetzt sein könnten.<br />

Spitäler 24 %<br />

Arztpraxen 25 %<br />

Radiologische <strong>Institut</strong>e 1 %<br />

Zahnarztpraxen 19 %<br />

Universität, Forschung 16 %<br />

Kernkraftwerke 7 %<br />

Industrie, Handel 4 %<br />

Öffentliche Dienste 1 %<br />

Diverses 3 %<br />

Die Ganzkkörperdosen werden jährlich publiziert. Sie überschreiten (von seltenen Unfallexpositionen<br />

abgesehen) den Grenzwert von 20 mSv/Jahr nicht <strong>und</strong> 97% der Messungen<br />

befinden sich im Dosisintervall 0-1 mSv/Jahr.<br />

Auf beruflicher Ebene definiert die Gesetzgebung, <strong>und</strong> zwar die Strahlenschutzverordnung<br />

(SSVO), die maximal zulässigen Dosen (Arbeitshygienische Grenzwerte, siehe Kap. 1.3,<br />

Seite 7) auf folgende Weise:<br />

Situation maximal zulässige Dosis<br />

• Effektive Dosis 20 mSv/Jahr<br />

• maximale effektive Dosis <strong>für</strong> ein Jahr<br />

(mit Zustimmung der Überwachungsbehörde) 50 mSv<br />

• Dosdisäquivalent Linse 150 mSv/Jahr<br />

• Dosisäquivalent Extremitäten <strong>und</strong> Haut 500 mSv/Jahr<br />

• Dosis an Abdominaloberfläche schwangerer Frauen 2 mSv<br />

• Inkorporierte effektive Dosis während der ganzen<br />

Schwangerschaftsdauer 1 mSv<br />

Strahlenschutzverordnung<br />

Für Personen, die beruflich nicht-ionisierender Strahlung exponiert sind, beträgt die<br />

Limite 1mSv/Jahr.<br />

Die Prävention wird ergänzt durch eine medizinische Überwachung. Die exponierten<br />

Personen werden regelmässig untersucht. Das Blutbild, eventuelle Schäden an der Haut<br />

sowie auffällige Lymphknoten werden erfasst.<br />

23


Akute Bestrahlung durch Unfall<br />

Methoden der Expositionsbestimmung<br />

Es ist eine extrem delikate Angelegenheit, die Expostion von Unfallopfern zu evaluieren.<br />

Durchgeführt wird dies durch Strahlenphysiker. Zuerst muss eine Untersuchung eingeleitet<br />

werden, die darauf abzielt, die Zahl der in den Unfall verwickelten Personen <strong>und</strong><br />

falls möglich die Grösse der erhaltenen Dosen zu ermitteln. Im Zweifelsfalle ist eine<br />

konservative Haltung einzunehmen, d.h. die pessimistischste Situation anzunehmen.<br />

Das persönliche Dosimeter des bestrahlten Individuums gibt im Falle einer externen<br />

Bestrahlung eine sehr wichtige Information <strong>und</strong> wird sofort ausgewertet. Nötigenfalls<br />

wird eine Rekonstruktion des Unfalls gemacht, dies besonders um die Verteilung der<br />

Dosen auf die Person zu messen.<br />

Im Falle interner Kontamination durch einen γ-Emittenten wird eine in vivo-Messung<br />

gemacht. Bei β-Kontamination wird eine Urinprobe regelmässig wiederholt Flüssigszintillationsmessungen<br />

unterzogen.<br />

Die Informationen der physikalischen Dosimetrie sind oft lückenhaft. Sie werden daher<br />

ergänzt durch die Beobachtung der Strahlenwirkung auf den Organismus, um von daher<br />

die Höhe der Bestrahlung abzuschätzen. Dieses Konzept biologischer Dosimetrie stellt<br />

sich wie folgt dar:<br />

24<br />

MassnahmeUntersuchungsgegenstand<br />

Klinische Überwachung Latenzzeit, Prodromi, freies<br />

des Strahlensyndroms Intervall, Hauptsyndrom<br />

Wiederholte Blutentnahmen Entwicklung des Blutbildes<br />

Entnahme von 10 ml Blut, steril, Lymphozytenkultur, Suche nach<br />

<strong>zur</strong> Einsendung an Speziallabor Chromosomenaberrationen<br />

Biologische Dosimetrie<br />

Medizinische Notfallmassnahmen<br />

Das aufeinanderabgestimmte Vorgehen zwischen Strahlenphysiker <strong>und</strong> Arzt ist <strong>für</strong> eine<br />

wirksame Intervention dringend erforderlich.<br />

Im Falle externer Bestrahlung ist keine spezielle notfallmässig Verrichtung angezeigt.<br />

Entweder wird die bestrahlte Person ambulant beobachtet oder hospitalisiert (zwecks<br />

Einschreiten gegen Hämorrhagien oder Infektionen). Besteht aber eine interne Kontamination,<br />

gilt folgendes Vorgehen:<br />

� Hautdekontamination (Waschen)<br />

� Dekontamination der Eintrittswege:<br />

• Atemwegen<br />

• Spülen von M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Nase<br />

• Brechmittel <strong>und</strong> Laxativa<br />

� Dekorporationsmittel<br />

• zwecks Isotopenverdünnung (ein Beispiel ist das Jod, das in der Umgebung eines<br />

Kernkraftwerks verteilt wird)<br />

• Antidote <strong>zur</strong> Absorption (Beispiel Caesium-Elimination durch «Preussisch-Blau»)


Nicht-ionisierende Strahlen<br />

Die nicht-ionisierenden Strahlen können auf bestimmte biologische Systeme <strong>und</strong> Gewebe<br />

Energie übertragen, welche sich anschliessend in Wärme umwandelt <strong>und</strong> eine Temperaturerhöhung<br />

hervorrufen kann. Die biologischen Wirkungen hängen von der besonderen Sensibilität<br />

des bestrahlten Systems <strong>und</strong> vom Typ der Strahlung ab.<br />

Ultraviolette Strahlen (UV)<br />

Klassifikation<br />

UV-A 400-320 nm schwarzes Licht<br />

UV-B 320-280 nm Sonnenbrand-verursachende Strahlen<br />

UV-C 280-200 nm keimtötende Strahlen<br />

sog. UV-Vakuum: < 200 nm biologisch wenig bedeutend, da in Luft absorbiert<br />

Herkunft<br />

Natürliche Quellen: Sonnenstrahlung.<br />

Künstliche Quellen: Elektrische Bögen, Fluoreszenzleuchten, glühende Quellen, Lampen <strong>zur</strong><br />

Keimabtötung etc.<br />

Wirkung<br />

Es handelt sich meistens um photochemische Wirkungen. Da die UV-Strahlen nicht tief in die<br />

menschlichen Gewebe eindringen können, sind die Augen <strong>und</strong> die Haut die kritischen<br />

Organe. Je nach Wellenlänge variieren die Wirkungen beträchtlich.<br />

Von den nützlichen Wirkungen des Ultravioletts sei der Schutz vor Rachitis erwähnt <strong>und</strong> die<br />

Verwendung <strong>zur</strong> Behandlung von Hautkrankheiten (z.B. Psoriasis).<br />

Schädliche Wirkungen sind:<br />

- Keratokonjunktivitis<br />

- Katarakte<br />

- Erytheme (Sonnenbrand)<br />

- Alterung der Haut<br />

- Hautkrebse<br />

- biologische Interaktionen (Photosensibilisierung der Haut).<br />

Maximalzulässige UV-Bestrahlung <strong>für</strong> eine Dauer von 8 St<strong>und</strong>en (Arbeitstag). Suva 1999<br />

25


Sichtbares Licht<br />

Es ist gekennzeichnet durch den engen Ausschnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum<br />

von 400-800 nm, von dem die von der Retina erhaltene Energie in Sehen umgesetzt werden<br />

kann. Das Auge benötigt auch Lichtschutzsysteme (Pupillenkontraktion, Wimpern, Verengungsreaktion<br />

der Lider, Abweichen des Blicks).<br />

Die schädlichen Wirkungen lassen sich wie folgt beschreiben :<br />

– Läsion an der Retina (Sonnenfinsternis !)<br />

– Hautläsionen (vor allem bei photosensiblen Menschen)<br />

– Überanstrengung des Auges (bei Lichtmangel)<br />

– indirekte Wirkungen (Einfluss auf die biologischen Rhythmen, epileptische Anfälle bei<br />

Wahrnehmung eines intermittierenden Lichtes).<br />

Infrarotstrahlung<br />

Jedes Objekt mit höherer Temperatur als der absolute Nullpunkt strahlt im Infrarotbereich.<br />

Herkunft<br />

– Sonne<br />

– Industrie (Giesserei, Lampen, Farbtrocknung, Heizungen etc.)<br />

Wirkung<br />

– Pigmentierung der Haut, eventuell sogar Verbrennungen<br />

– Schädigung der Hornhaut<br />

– Schädigung der Iris (1300 nm)<br />

– Katarakt (1400-1600 <strong>und</strong> 1800-2000 nm)<br />

Mikrowellen <strong>und</strong> Radiofrequenzen<br />

Die hohen Frequenzen wie die Mikrowellen werden oberflächlich absorbiert, während die<br />

Radiofrequenzen tief in den Organismus eindringen können. Des letzteren wird sich der<br />

Mensch nicht immer bewusst, weil die Energie auch an einem auf Hitze oder Schmerz unempfindlichen<br />

Ort absorbiert werden kann. Die Energie wird im Organismus nicht gleichmässig<br />

absorbiert.<br />

Herkunft<br />

Die Intensität der natürlichen Strahlung zwischen 100 kHz <strong>und</strong> 300 Ghz (terrestrisches<br />

magnetisches <strong>und</strong> elektrisches Feld) ist sehr niedrig gegenüber der durch die menschlichen<br />

Aktivitäten erzeugten Strahlung (Radiosender, elektrische Einrichtungen, Haushaltapparate,<br />

etc.).<br />

Wirkung<br />

Die Absorption von Mikrowellen kann zu einer Temperaturerhöhung führen, wenn die<br />

Dissipationsfähigkeit der Energie durch den Körper überschritten wird. Bezüglich übriger<br />

möglicher Wirkungen von Mikrowellen <strong>und</strong> Radiofrequenzen gibt es eine Kontroverse.<br />

Hauptsächlich die wissenschaftliche Literatur der Ex-Ostblock-Länder macht auf Wirkungen<br />

auf das Nervensystem (Störungen des Verhaltens, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Kopf-<br />

26


schmerzen, Schlafstörungen etc.) <strong>und</strong> Herz/Kreislauf aufmerksam. Epidemiologische Studien,<br />

namentlich amerikanische, mit Ausrichtung auf beruflich Mikrowellen exponierte Personen<br />

erlaubten bis jetzt keine Bestätigung dieser Beobachtungen. Die Schätzung der erhaltenen<br />

Dosis stellt ein Hauptproblem in der Interpretation dieser Arbeiten dar. Die Mikrowellen<br />

können mit bestimmten Herzschrittmachertypen interferieren.<br />

Laser<br />

Ein LASER (Light Amplification by Stimulated Emission of Radiation) erzeugt fokussiertes<br />

kohärentes Licht, dessen Wellen alle phasisch miteinander übereinstimmen. Jeder Lasertyp<br />

strahlt seine eigene Wellenlänge aus. Im allgemeinen sind es Wellenlängen im Spektrumsbereich,<br />

der das sichtbare Licht, das Ultraviolett <strong>und</strong> das Infrarot umfasst.<br />

Verwendungen<br />

Führung von Bauarbeiten, Baustellentopographie, Mass- <strong>und</strong> Gewichtsk<strong>und</strong>e, Einstellung von<br />

Maschinen, Photokoagulation, Mikrobohren, Gravieren, Verschweissen <strong>und</strong> Trennen /<br />

Abschneiden von Metallen, Materialuntersuchungen, Forschung usw.<br />

Risiken<br />

– elektrische Risiken der Hochspannung<br />

– Hautschäden: Verbrennungen<br />

– Wirkungen auf's Auge: Verbrennungen auf der Retina, Keratokonjunktivitis, Linsenschädigung.<br />

Prävention laserbedingter Unfälle<br />

– Reflexion des Strahlenbündels vermeiden (Spiegel <strong>und</strong> metallische Oberflächen)<br />

– jeden Kontakt zwischen Bündel <strong>und</strong> Personen verhindern<br />

– Örtlichkeiten mit matten <strong>und</strong> dunklen Wänden verkleiden<br />

– den Apparat deutlich kennzeichnen<br />

– wenn möglich den Apparat fixieren<br />

– über ein schnelles Unterbrechersystem verfügen<br />

– nie das Bündel anschauen<br />

– Brillentragen beim Einstellen<br />

Elektromagnetische Felder von sehr niedriger Frequenz<br />

Es handelt sich insbesondere um die Frequenzen des elektrischen Wechselstromnetzes (50-60<br />

Hz) <strong>und</strong> um Aspekte der Hochspannungsübertragungsleitungen.<br />

Für sehr verschiedene Leiden sind elektrische <strong>und</strong> magnetische Felder in Betracht gezogen<br />

worden. Demgegenüber ist die Zahl der durchgeführten Studien beschränkt. Die grossen<br />

methodologischen Schwierigkeiten der diesbezüglichen Studien, insbesondere das Messen der<br />

Exposition, die Identifikation <strong>und</strong> die Mitberücksichtigung von übrigen Risikofaktoren,<br />

erklären ihre relative Seltenheit.<br />

27


An allgemein ges<strong>und</strong>heitsrelevanten Wirkungen auf exponierte Individuen ist auf Depression<br />

<strong>und</strong> Suizid, die Fortpflanzung <strong>und</strong> Krebs im Kindesalter hingewiesen worden, <strong>und</strong> zwar auf<br />

Gr<strong>und</strong> von sehr wenigen, widersprüchlichen <strong>und</strong> von der Methode her sehr kritisch zu<br />

betrachtenden Studien. Zum jetztigen Zeitpunkt scheint kein Argument valide genug, die<br />

elektrischen <strong>und</strong> magnetischen Felder bedeutsam <strong>für</strong> diese Störungen anzuerkennen. Nicht<br />

überzeugend sind die Studien <strong>für</strong> die Rolle einer Wohnexposition (z. B. Wohnung unter einer<br />

Hochspannungsleitung) bezüglich Krebsrisiko beim Erwachsenen.<br />

Die grösste Zahl der Arbeiten zu den elektrischen <strong>und</strong> magnetischen Feldern bezieht sich auf<br />

die berufliche Exposition. Ihre Schlussfolgerungen passen oft nicht zusammen. Man kann<br />

indes von den publizierten Resultaten eine Schätzung der relativen Risiken <strong>für</strong> Leukämien<br />

<strong>und</strong> Hirntumoren ableiten von der Grössenordnug 1,5. Zum Teil können die festgestellten<br />

Assoziationen andersweitig erklärt werden. Chemische Risiken kommen in Frage. Diese sind<br />

sehr oft von elektrischen <strong>und</strong> magnetischen Feldern kaum zu trennen. Einen Einfluss der<br />

letzteren kann man indes nicht <strong>für</strong> ausgeschlossen halten, zumindest nicht <strong>für</strong> die Leukämien.<br />

Wenn überhaupt, so spielen sie aber sicher eine geringe Rolle.<br />

Die Studien bezüglich Assoziationen zwischen Wohnexposition <strong>und</strong> Krebs bei Kindern<br />

stimmen nicht alle überein. Gesamthaft genommen legen sie indes beim aktuellen Kenntnisstand<br />

nahe, eine statistische Beziehung zwischen Magnetfeldern <strong>und</strong> dem Auftreten von<br />

Leukämien als gegeben zu erachten. Ob dies eine kausale Beziehung ist, müsste noch gezeigt<br />

werden. Sollte die Kausalität real sein, muss aufgr<strong>und</strong> der epidemiologischen Daten allerdings<br />

von einer geringfügigen Wirkung ausgegangen werden.<br />

Zur biologischen Plausibilität <strong>und</strong> experimentellen Studien ist zu sagen, dass die Tierversuche<br />

nie karzinogene Wirkungen einer Exposition gegenüber elektrischen <strong>und</strong> magnetischen<br />

Feldern gezeigt haben. Es ist der Schluss zu ziehen, dass die aktuell vorhandenen<br />

epidemiologischen Resultate eine Rolle von magnetischen Feldern beim Auftreten von Leukämien,<br />

speziell beim Kind, nicht ausschliessen <strong>und</strong> neue Untersuchungen dazu nötig machen.<br />

28


Literatur<br />

1. Syndicat CFDT de l’énergie atomique: le dossier électronucléaire, édition du Seuil, série<br />

sciences, 1980.<br />

2. Gesetz über den Strahlenschutz vom 22.3.1991 <strong>und</strong> Verordnung über den Strahlenschutz<br />

(SSVO) vom 22.6.94.<br />

3. <strong>Institut</strong> de radiophysique appliquée, Lausanne: Cours de formation destiné aux experts en<br />

radioprotection, septembre 1997.<br />

4. BAG: dosimétrie deutsch in der Schweiz, jährlich erscheinender Bericht.<br />

5. Weickhardt U. Ionisierende Strahlen. <strong>Arbeitsmedizin</strong> 2869.d-No 4, Suva, Luzern 1999.<br />

6. Weickhardt U. Deutsch. Suva No 2869/2, Luzern 1992.<br />

7. Faculté de Médecine de Grenoble et al.: Médecins et risque nucléaire. Conduite pratique<br />

en cas d’accident. 4ème édition. Grenoble 1992.<br />

8. Boillat M.-A. et Valley J.-F.: Plan d’urgence lors d’accidents avec risque lié aux<br />

radiations ionisantes : collaboration entre la médecine du travail et la radioprotection<br />

(Médecine sociale et préventive 26, 399-403 (1981).<br />

9. Mettler F.A. and Upton A.C.: Medical effects of ionizing radiation. 2nd Ed. W.B.<br />

Sa<strong>und</strong>ers Company. Philadelphia 1995.<br />

10. BAG: Radioaktivität <strong>und</strong> Strahlenschutz, Bern 1999.<br />

11. Organisation internationale du travail (OIT): bibliographie CIS no 16 sur les<br />

rayonnements électromagnétiques (1981).<br />

12. WHO: Ultraviolets radiation. Environmental Health Criteria 14. Genève (1979).<br />

13. WHO: Lasers and optical radiation. Environmental Health Critera 23. Genève (1982).<br />

14. WHO: Radiofrequency and microwaves. Environmental Health Criteria 16. Genève<br />

(1981).<br />

15. Michaelson S.M.: Health implications of exposure to radiofrequency/microwave<br />

energies. Br J Ind Med (1982) 39 : 105-119<br />

16. INRS: risques liés à l’utilisation industrielle des lasers. ND 1246-99-80. CDU 621.384.<br />

Paris (1983).<br />

17. Guénel P., J. Lellouch: Effets des champs électriques et magnétiques de très basse<br />

fréquence sur la santé. Analyse de la littérature épidémiologique. Ed. INSERM, Bayeux<br />

1993.<br />

18. ISSA / AISS / IVSS: Biological Effects of Electromagnetic Fields. Köln 1997.<br />

19. BUWAL: Deutsch, Bern 1988. Thema wiederaufgenommen ebenfalls vom BUWAL:<br />

Heft Nr. 121 (1990) <strong>und</strong> Nr. 214 (1994).<br />

29


2.1.3 Vibrationen<br />

Bei Vibrationen unterscheidet man: Ganzkörpervibrationen <strong>und</strong> Teilvibrationen, die durch<br />

vibrierende Werkzeuge an spezifische Teile des Körpers übertragen werden, z. B. Hände oder<br />

Füsse.<br />

Die Mechanisierung, welche in zahlreichen Berufen stattgef<strong>und</strong>en hat, führte zu einer immer<br />

ausgedehnteren Nutzung von Werkzeugen oder Maschinen, die den Arbeiter Vibrationen<br />

aussetzen, speziell die oberen Gliedmassen. Es begann mit Presslufthämmern. Sie wurden<br />

zuerst 1883 im französischen Kohlebergbau eingesetzt. Das mit dem Gebrauch von<br />

vibrierenden Geräten verb<strong>und</strong>ene periphere Gefässsyndrom ist zum ersten Mal 1911 von<br />

Loriga beschrieben worden. Seither sind in diesem Gebiet zahlreiche epidemiologische<br />

Arbeiten publiziert worden, vor allem betreffend metallurgische (z.B. Kesselschmieden) <strong>und</strong><br />

mechanische Industrien (Minen, Bergbau <strong>und</strong> Steinbrüche), Schuhindustrie, Gummiindustrie<br />

<strong>und</strong> Forst- <strong>und</strong> Holzarbeit mit tragbaren Sägen. Wir werden uns vor allem den vasomotorischen<br />

Störungen der Hände widmen, obwohl die Vibrationen auch ossäre <strong>und</strong> osteoartikuläre<br />

Schäden hervorrufen.<br />

Um die Wirkung von Vibrationen auf den menschlichen Körper zu beurteilen, misst man<br />

meistens die Beschleunigeung (m/s 2 ) der schwingenden Bewegung in drei Koordinatenachsen<br />

(x,y,z) <strong>und</strong> im Frequenzband 1 bis 2000 Hz. Zu diesem Zweck benutzt man eine<br />

komplexe Apparatur, welche Beschleunigungsmesser, Verstärker, Frequenzauflösungs- <strong>und</strong><br />

Aufzeichnungselemente enthält.<br />

30<br />

Festlegung der Vibrationsachsen.<br />

Ganzkörpervibrationen Vibrationen der oberen Glieder<br />

ax postero-anterior axh transversale<br />

ay von Schulter zu Schulter ayh palmo-dorsale<br />

az vertikal aufsteigende azh in Richtung Arm


Beispiele von Maschinen- <strong>und</strong> Vibrations-Frequenzen:<br />

Sitze der grossen Baustellen- 2-16 Hz Arbeiten an öffentlichen Ein-<br />

maschinen <strong>und</strong> von Traktoren richtungen, Landwirtschaft<br />

Presslufthämmer 25-120 Hz Arbeiten in Tunneln, Minen, Stein-<br />

Meissel, Niet- brüchen; Kessel-, Tank- <strong>und</strong><br />

maschinen, Bohrer, Schiffherstellung<br />

Planier- <strong>und</strong> Einrammmaschinen Strassenarbeiten<br />

Handkettensägen 35-500 Hz Waldbewirtschaftung<br />

Schleifmaschinen 70-1000 Hz Giessereien, Steinhauerei <strong>und</strong><br />

Meissel Metallbearbeitung<br />

Risikoquellen [1]<br />

Wirkungen von Vibrationen<br />

Niederfrequente<br />

Vibrationen<br />

Mittelfrequente<br />

Vibrationen<br />

Vibrationen von<br />

hoher Frequenz<br />

2-16 Hz Reisekrankheit, Läsionen der Wirbelsäule,<br />

neuro-vegetative Störungen<br />

16-(30-40)<br />

Hz<br />

(30-40)-<br />

1000 Hz <strong>und</strong><br />

mehr<br />

Osteo-artikuläre Läsionen der oberen<br />

Gliedmassen (Exostosen,<br />

Gelenkdeformationen, Zysten, Malazie,...)<br />

Periphere Gefässläsionen, neuro-muskuläre<br />

Läsionen (häufigste Pathologie, in<br />

Form von Raynaud-Phänomen)<br />

Es scheint, dass Maschinen mit Frequenzen hauptsächlich zwischen 25 <strong>und</strong> 250 Hz mehr<br />

Raynaudsyndrom-Fälle verursachen als Maschinen in andern Frequenzen. Längsschnittstudien<br />

zeigen, dass die Prävalenz vaskulärer Symptome je nach Berufsgruppe sehr variiert,<br />

zwischen 6% (mechanische Säge) <strong>und</strong> 100% (Sockel-montierte Bandschleifmaschine). Die<br />

Prävalenz scheint eng an die Intensität der Vibrationen geb<strong>und</strong>en zu sein, <strong>und</strong> sie ist gleichermassen<br />

abhängig von der Dauer der Exposition [2]. Zahlreiche weitere Faktoren können die<br />

biologische Reaktion modifizieren: dominierende Achse, Greifkraft, Kontaktoberfläche,<br />

Stellung, Unnachgiebigkeit des Materials, Arbeitsrhythmus, individuelle Empfindlichkeit, etc.<br />

Eine spürbare Reduktion der Prävalenz vaskulärer Störungen (auf annähernd 5%) dank der<br />

Einführung von Antivibrationssystemen ist durch Longitudinalstudien bei mit Sägen arbeitenden<br />

Holzfällern aufgezeigt worden.<br />

Klinisches Bild<br />

Das vibrationsgeb<strong>und</strong>ene Raynaudsyndrom trifft die Hände, gewöhnlich auf asymmetrische<br />

Weise <strong>und</strong> kann die Daumen aussparen. In den einfacheren Fällen manifestiert es sich durch<br />

periodische Entfärbung der Fingerspitzen. Am Anfang ist die Störung manchmal auf ein<br />

Fingerglied beschränkt. Bei fortgesetzter Exposition dehnt es sich auf weitere Finger aus <strong>und</strong><br />

schliesslich auf die ganze Länge aller Finger, die sich mit dem vibrierenden Objekt in Kontakt<br />

befinden. Bei bestimmten Personen erscheint manchmal eine dauernde Fingerzyanose. Im<br />

Extremfall kann sich eine kutane Nekrose entwickeln <strong>und</strong> sehr selten der Beginn einer<br />

Gangrän.<br />

31


Auslöser <strong>für</strong> die Episoden des Weiss-werdens ist Kälte. Sie dauern bis zum Wiederaufwärmen<br />

der Finger, d.h. im allgemeinen zwischen fünfzehn <strong>und</strong> sechzig Minuten <strong>und</strong> sind<br />

von einer Reduktion der taktilen Sensibilität begleitet. Das kann die Wahrnehmung von<br />

Schmerzreizen schwierig machen. Das Risiko <strong>für</strong> eine Verw<strong>und</strong>ung, Verbrennung oder<br />

andersweitige Traumatisierung ist dadurch erhöht. Gleichermassen ist die Geschicklichkeit<br />

vermindert, sodass erst wieder am Ende der «Krise» normal gearbeitet werden kann. Im<br />

Moment der Wiederherstellung der Blutzirkulation gibt es eine plötzliche Fingerrötung [4],<br />

die gelegentlich schmerzhaft sein kann.<br />

Die klinische Stadieneinteilung von Taylor <strong>und</strong> Pelmear ist am weitesten verbreitet. Sie<br />

betrachtet vaskuläre <strong>und</strong> neurologische Schäden nicht als gesonderte Entitäten. Auch werden<br />

die Auswirkungen der Störungen auf die beruflichen Aktivitäten <strong>und</strong> das soziale Leben mitberücksichtigt.<br />

Eine Arbeitsgruppe hat 1986 in Stockholm eine neue Klassifikation ausgearbeitet,<br />

die den neurosensoriellen (3 Schweregrade) vom vaskulären Schaden abtrennt<br />

(4 Schweregrade). Sie geht von zwei Typen der klinischen Manifestation aus, die sich unabhängig<br />

entwickeln können <strong>und</strong> auch <strong>für</strong> jede Hand separat evaluiert werden müssen.<br />

Das amerikanische <strong>Institut</strong> <strong>für</strong> arbeitsmedizinische Forschung (NIOSH) empfiehlt, jeden<br />

Arbeiter, der neurologisch oder vaskulär ein Stadium von 2 oder mehr erreicht, von Vibrationen<br />

fernzuhalten. Die Wiederaufnahme der Arbeit mit vibrierenden Geräten ist erst wieder<br />

gestattet, wenn die Störungen verschw<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> nur soweit, als keinerlei erneute<br />

Beschwerden auftreten, selbst im Stadium 1 nicht.<br />

Die Stockholmer Klassifikation vaskulärer (V) <strong>und</strong> neurosensorieller (NS) Störungen<br />

V Vaskuläre Beeinträchtigung (Kälteinduziertes Weisswerden)<br />

OV kein Anfall<br />

1V gelegentliche Anfälle nur an den Enden eines oder mehrerer Finger<br />

2V gelegentliche Anfälle, die distale <strong>und</strong> mediale Glieder (selten proximale) eines oder<br />

mehrerer Finger betreffen.<br />

3V häufige Anfälle alle Glieder der Mehrheit der Finger betreffend<br />

4V Stadium 3 plus trophische Störungen der Fingerspitzenhaut<br />

NS Neurosensorielle Beeinträchtigung<br />

0NS Vibrationsexposition ohne Symptome.<br />

1NS intermittierendes Einschlafen/Taubwerden mit oder ohne Parästhesien.<br />

2NS intermittierendes oder persistierendes Einschlafen/Taubwerden, sensitive Wahrnehmung<br />

reduziert.<br />

3NS intermittierendes oder persistierendes Einschlafen/Taubwerden, reduzierte taktile<br />

Diskrimination <strong>und</strong>/oder Verlust der Geschicklichkeit.<br />

Diagnostik<br />

Sie basiert in erster Linie auf der Anamnese (Vibrationsexposition + Raynaud-Phänome).<br />

Entsprechend dem klinischen Bild <strong>und</strong> <strong>zur</strong> Differentialdiagnose führt man verschiedene<br />

Untersuchungen durch: Kapillaroskopie, Kaltwasserprobe mit Messung der kutanen Wiederaufwärmung,<br />

Plethysmographie, seltener Arteriographie.<br />

32


Prävention<br />

Epidemiologischen Studien haben das gepaarte Zusammenwirken von Intensität <strong>und</strong> Dauer<br />

der Exposition gegenüber Vibrationen beim Auftreten des beruflichen Raynaudsyndroms<br />

deutlich gemacht. Von daher ist es wichtig, dass die Prävention in erster Linie auf dem technischen<br />

Sektor stattfindet.<br />

International anerkannte Expositionsgrenzwerte gibt es laut Suva nicht. Sie hat indes <strong>für</strong> ihre<br />

Arbeitsplatz-Expositions-Grenzwertliste Indikativwerte publiziert. Sie ist der Meinung, dass<br />

bei deren Einhaltung Ges<strong>und</strong>heitsschäden im Prinzip vermieden werden können.<br />

Die Hand- <strong>und</strong> Arm-Vibrationen können bei einer regelmässigen Exposition während<br />

mehrerer Jahre zu Ges<strong>und</strong>heitsschäden führen, wenn die berechnete mittlere Akzeleration ahw<br />

den Mittelwert von 5 m/s 2 im Laufe des Arbeitstages übersteigt [5].<br />

Für Ganzkörpervibrationen gilt das Gleiche <strong>für</strong> einen Wert von 0,8 m/s 2 bezogen auf<br />

Messung a wz in der Longitudinalkörperachse [6].<br />

Gemäss Vorschlag NIOSH soll die Exposition so schwach sein, wie es realisierbar ist. Sie<br />

insistiert dabei insbesondere auf folgende Aspekte:<br />

– Geräte so bauen, dass Gewicht <strong>und</strong> Kraft der zu verrichtenden Arbeit angepasst sind, dies<br />

alles bei weitestgehender Reduktion der Vibrationen;<br />

– Begrenzung der Expositionsdauer;<br />

– bestimmte Aufgaben alternieren;<br />

– ergonomische Aspekte beachten (Haltung, Greifkraft, keine Akkordentlöhnung);<br />

– Vibrationsdämpfende Materialien verwenden <strong>und</strong> diese gut instand halten (Kleider,<br />

Stossdämpfer, etc.);<br />

– adäquate Ausbildung <strong>und</strong> Information des Personals (In-Erinnerung-rufen der Rolle des<br />

Tabakkonsums mit inbegriffen).<br />

Die Suva hat die Möglichkeit, Betrieben, in denen Arbeiter Vibrationen ausgesetzt sind, die<br />

Auflage zu machen, dass die Arbeiter auch einer medizinischen Vorsorge unterzogen werden.<br />

Schon bei der Einstellung müssen vorbestehende periphere vaskuläre Probleme erhoben<br />

werden. Sie könnten sich beim Arbeiten mit vibrierenden Geräten verstärken.<br />

Eine Einstellungsuntersuchung böte auch Gelegenheit, den Bewerber über die mit der Arbeit<br />

verb<strong>und</strong>enen Risiken <strong>und</strong>, vor allem, die <strong>zur</strong> Prävention bestehenden Mittel zu informieren.<br />

Die periodische Untersuchung erlaubt es, eine Schädigung frühzeitig aufzuspüren <strong>und</strong> so<br />

rechtzeitig zu intervenieren.<br />

Literatur<br />

1. M. Parizek: Deutsch. <strong>Arbeitsmedizin</strong> No 16, Suva, 1993.<br />

2. M. Lob et M.-A. Boillat: Intérêt de l’épreuve à l’eau froide pour le diagnostic et le<br />

pronostic du phénomène de Raynaud provoqué par les instruments vibrants. Schweiz. med.<br />

Wschr. 112: 269-272 (1982).<br />

3. R. Fawer: Pathologie professionnelle provoquée par les vibrations des marteaux-piqueurs<br />

et des perforatrices, Thèse de médecine, Lausanne 1977.<br />

4. M. Hack: Mise en évidence du syndrome de Raynaud d’origine professionnelle:<br />

comparaison de deux méthodes. Thèse de médecine, Lausanne 1984.<br />

5. W. Taylor: Hand-arm vibration syndrome: a new clinical classification and an updated<br />

Britisch standard Guide for hand transmitted vibration. Br. J. ind. Med. 45 : 281-282<br />

(1988).<br />

6. Gautherie M. et al: Evaluation chronothermobiologique informatisée du syndrome des<br />

vibrations. Documents pour le médecin du travail. 46 : 113-122, INRS, Paris 1991.<br />

33


2.2 Chemische Gefährdungen<br />

2.2.1 Aufnahme, Verteilung <strong>und</strong> Ausscheidung von Stoffen<br />

Der Mensch steht mit drei grossen Flächen direkt mit seiner Umwelt in Kontakt:<br />

– Lunge<br />

– Haut<br />

– Magen-Darm-Trakt<br />

Sie dienen dem Austausch von Stoffen <strong>zur</strong> Regulation des inneren Stoffwechsel-Gleichgewichtes<br />

des Menschen. Sind die oben genannten Flächen einer Noxe ausgesetzt (= Exposition),<br />

so teilen sich die erfolgenden Wirkungen in direkte Wirkungen an der Eintrittspforte<br />

<strong>und</strong> in Wirkungen an einem Zielorgan (Organ, das bei einer Überschreitung der<br />

notwendigen Konzentration des Giftstoffes als erstes Schäden zeigt). Die Wirkungen an der<br />

Eintrittspforte umfassen eine akute Entzündung mit Rötung, Schwellung <strong>und</strong> deren<br />

Sek<strong>und</strong>ärfolgen. Sie sind unspezifisch <strong>und</strong> treten bei den meisten Substanzen in grösserem<br />

oder kleinerem Umfang auf. Die Besprechung der Wirkungen am Zielorgan erfolgt weiter<br />

unten. Eine Ges<strong>und</strong>heitsgefährdung entsteht also:<br />

– Über die Lunge als häufigste Form einer berufsbedingten Exposition: Einatmen von Gasen,<br />

Dämpfen, Aerosolen, Stäuben oder Rauch. Sofern die Lunge nicht direkt Zielorgan ist (wie<br />

bei der Silikose, bei Verätzungen usw.), so werden die Substanzen in das Blut<br />

aufgenommen <strong>und</strong> verteilt (z.B. Lösungsmittel, bleihaltiger Staub, Kohlenmonoxid usw.).<br />

– Über die Haut: Kontakt zu Dämpfen, Stäuben, Aerosolen, Flüssigkeiten oder Feststoffen.<br />

Die Haut ist <strong>für</strong> einige Substanzen (z.B. Säuren oder Laugen, Kontaktallergene) Zielorgan.<br />

Andere bewirken an der Hautoberfläche nur eine geringe Reizung, wandern durch die Haut<br />

<strong>und</strong> werden via Blutbahn verteilt (z.B. Lösungsmittel, Medikamente, gewisse Agrochemikalien).<br />

– Über den Magen-Darm-Trakt: Stäube oder Aerosole lagern sich auf den Händen ab <strong>und</strong><br />

gelangen bei ungenügender Hygiene bei der Nahrungsaufnahme in den Gastro-Intestinal-<br />

Trakt. Ebenso kann ein Stoff sich in den oberen Atemwegen absetzen <strong>und</strong> über den<br />

Schleim in den Magen gelangen. Gewisse flüssige oder feste Substanzen können<br />

akzidentell eingenommen werden. Nach der Resorption im Darm gelangen die Substanzen<br />

in die Blutbahn <strong>und</strong> werden zuerst durch die Leber geführt.<br />

Zielorgane <strong>und</strong> Metabolismus<br />

Den Zielorganen <strong>für</strong> toxische Wirkungen Nervensystem, Nieren-Blasensystem, Leber,<br />

Knochenmark, Herz <strong>und</strong> Muskulatur sowie Gonaden (Eierstöcke, Hoden) ist gemeinsam, dass<br />

die Giftstoffe über das Blut zu ihnen transportiert werden müssen. Die Substanzen sind im<br />

Blut meistens an Eiweisse oder Erythrocyten geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> werden selten frei transportiert.<br />

Fettgewebe stellt <strong>für</strong> die fettlöslichen Substanzen ein Zwischenlager dar. Metalle (z.B. Blei)<br />

können sich im Knochen anreichern. Damit kann sich der Zeitraum einer Einwirkung der<br />

betroffenen Noxe deutlich verlängern.<br />

34


In der Leber werden die Giftstoffe umgebaut <strong>und</strong> damit häufig entgiftet. Der Vorgang betrifft<br />

vor allem lipophile (fettlösliche) Substanzen, die durch die Enzymsysteme polare Gruppen<br />

(Hydroxylierung), <strong>und</strong> <strong>zur</strong> besseren Wasserlöslichkeit (Glucuronierung) noch Zuckerarten<br />

angekoppelt erhalten. Einige Substanzen (z.B. Tetrachlorkohlenstoff, Trichlorethylen, Paraquat<br />

usw.) werden aber durch die Leber in die eigentlich giftige Form übergeführt.<br />

Die Nieren scheiden <strong>zur</strong> Hauptsache die veränderten, d.h. besser wasserlöslichen Substanzen<br />

im Urin aus. Einige gelangen über die Gallenwege in den Darm, um von dort mit dem<br />

Stuhlgang den Körper zu verlassen.<br />

Akute vs. chronische Toxizität<br />

Die Giftwirkung einer Substanz hängt ab von<br />

– der Art des Stoffes<br />

– der aufgenommen Dosis<br />

– der Eintrittspforte<br />

– dem Zielorgan<br />

Klinisch unterscheidet man eine akute <strong>und</strong> eine chronische Toxizität, die Fähigkeit Krebs<br />

auszulösen (Kanzerogenität) sowie die Fähigkeit, die Fruchtbarkeit zu verringern oder Missbildungen<br />

zu erzeugen (Fertilitätsstörungen bzw. Teratogenität).<br />

Bei akuter Toxizität tritt innert kurzer Zeit (Minuten bis Tage) ein Effekt am betroffenen<br />

Organ auf. Lokale akute Toxizität tritt an der Eintrittspforte der Substanzen auf (z.B. Säuren,<br />

Laugen) <strong>und</strong> führt zu einer Entzündung bis hin zu einer Verbrennung des betroffenen Organs<br />

(z.B. Blasenbildung auf der Haut). Bei erheblichem Ausmass oder kritischem Zielorgan (z.B.<br />

Lunge) kann rasch eine Gefährdung des Lebens eintreten. Die systemische akute Toxizität<br />

entsteht durch eine rasch nach Aufnahme (Inkorporation) einsetzende reversible oder gar<br />

irreversible Schädigung der Zielorgane durch Zerstörung der Zellen <strong>und</strong> damit Beeinträchtigung<br />

des allgemeinen Wohlbefindens (Narkosewirkung, Leberversagen, Nierenversagen,<br />

Blutzersetzung usw.). Das Ausmass der Schäden sowie ihrer Auswirkungen wie vollständige<br />

Heilung, Defektheilung oder Tod, hängt vom Toxin, der Einwirkungsdauer sowie vom<br />

Zielorgan ab.<br />

Chronische Vergiftungen verschieben das Gleichgewicht an Zellzerstörung <strong>und</strong> Reparaturprozessen<br />

in den betroffenen Organen zu Gunsten der Zellzerstörung mit oder ohne Narbenbildung.<br />

Die klinischen Effekte sind am Anfang schlecht zu erfassen. Erst nach langer<br />

Exposition (meist vielen Jahren) mit Dosen, die teilweise deutlich unter denjenigen von<br />

akuten Vergiftungen sind, werden sie eindeutig manifest. Bei der lokalen chronischen<br />

Vergiftung treten Narbenbildungen in den Vordergr<strong>und</strong>. An der Haut heisst das übermässige<br />

Verhornung <strong>und</strong> an der Lunge Versteifung derselben. Als bekanntestes Beispiel von Folgen<br />

einer systemischen chronischen Intoxikation sei die Leberzirrhose erwähnt. Der Zeitraum<br />

vom Auftreten von Schädigungen an der Leber bis hin zum Tode im Leberkoma erstreckt sich<br />

über viele Jahre. Analog führen Schädigungen am Nervensystem, den Nieren <strong>und</strong> am<br />

Knochenmark schleichend zum Versagen des jeweiligen Organs mit den entsprechenden<br />

klinischen Bildern.<br />

35


Genetische Toxizität<br />

Viele Substanzen können Mutationen auslösen <strong>und</strong> führen immer zu Veränderungen der<br />

Informationen in der Erbsubstanz (DNA) (Mutagene). Drei Formen der Veränderung sind<br />

bekannt:<br />

– Aneuploidie: Dies entspricht dem totalen Verlust oder der Aufnahme eines ganzen<br />

Chromosomen in eine Zelle.<br />

– Clastogenese: Es handelt sich hier um den Verlust, die Neuanordnung oder die Addition<br />

von Chromosomenteilen<br />

– Mutagenese: Hier geht es um den Verlust, die Zufuhr oder die Veränderung von Basepaaren<br />

in einem oder mehreren Genen.<br />

Die Zelle kennt Reparaturmechanismen um zerborchene Chromosomen sowie veränderte<br />

Gene zu erkennen <strong>und</strong> zu ersetzen. Ist die Reparatur unvollständig oder nicht gelungen, so<br />

sind grosse Veränderungen häufig nicht mit einem Weiterleben der betroffenen Zelle vereinbar<br />

<strong>und</strong> sie stirbt ab. Veränderungen in einem Gen führen unter Umständen zu Veränderungen<br />

der kodierten Proteine mit entsprechenden Folgen im Stoffwechsel der Zelle.<br />

Alle Substanzen, die einen vererbbaren Effekt auf die Erbsubstanz haben (Mutagene) können<br />

in der Folge auch zu bösartigem Wachstum (Kanzerogenese) oder zu Schädigung der Fortpflanzung<br />

(Teratogenese, Fertilitätsstörungen) führen.<br />

Mittels Verschiedener Teste kann das Verhalten einer Substanz auf Erbmaterial getestet werden.<br />

Am bekanntesten ist der sogenannte ”Ames-Test”. Hier werden Spontanmutationen in<br />

Bakterien nach Exposition <strong>zur</strong> betreffenden Substanz gesucht. Der Test ist aber alleine nicht<br />

schlüssig genug, weshalb noch weitere Tests <strong>und</strong> Tierversuche <strong>zur</strong> Anwendung gelangen, um<br />

eine Aussage über die Karzinogenität oder die Teratogenität einer Substanz zu erhalten.<br />

Kanzerogenität<br />

Die Klassifikation einer Substanz als Kanzerogen ist ein aufwendiger Prozess, der neben Tierversuchen<br />

auch gentechnologische Methoden <strong>und</strong> epidemiologische Untersuchungen beinhaltet.<br />

Ein Karzinogen ist ein Faktor, der die Entstehung einer bösartigen Geschwulst<br />

hervorrufen kann.<br />

Es gibt bei ungefähr 40 Substanzen stichhaltige Hinweise <strong>für</strong> deren krebserzeugende Wirkung<br />

am Menschen. Für einige weitere ist indessen eine solche anzunehmen. Die Suva kennzeichnet<br />

gesicherte <strong>und</strong> mögliche Kanzerogene in ihrer Publikation "Grenzwerte am Arbeitsplatz".<br />

Eine eingehende Besprechung des Themas Berufskrebs erfolgt in Kapitel 2.6<br />

Teratogenität <strong>und</strong> Fertilitätsstörungen<br />

Eine Fruchtschädigung durch Exposition mit Chemikalien am Arbeitsplatz wird sehr<br />

kontrovers beurteilt. Für einige Expositionen gegenüber Medikamenten in therapeutischen<br />

Dosen sind gesicherte humane Daten vorhanden. Für viele Chemikalien ist eine solche<br />

Gefährdung anzunehmen, <strong>und</strong> deshalb ist die schwangere Frau besonders zu schützen.<br />

In der Literatur finden sich Versuche, Grenzwerte <strong>für</strong> eine Teratogenität einzuführen. Die<br />

Suva klassiert die Substanzen auf ihre Teratogenität bei Einhalten des MAK-Wertes. Eine<br />

Empfehlung über zu treffende Massnahmen fehlt jedoch. Die gängige Praxis ist es, womöglich<br />

eine schwangere Frau <strong>für</strong> die Zeit der Schwangerschaft zu versetzen oder von der<br />

Exposition zu gewissen Chemikalien (speziell Kanzerogenen) zu befreien. Für die restlichen<br />

Kontakte zu Chemikalien muss der technische <strong>und</strong> persönliche Schutz optimal ausgenutzt<br />

werden.<br />

36


Fertilitätstörungen bei der Frau äussern sich meist als Fehlgeburten (Aborte), aber auch als<br />

Zyklusstörungen. Diese können z.B. durch Schwermetalle, Lösungsmittel (wie Glykole) oder<br />

Strukturanaloga zu Hormonen (wie DDT) ausgelöst werden.<br />

Männliche Fertilitätsstörungen äussern sich als Veränderungen in der Quantität <strong>und</strong>/oder der<br />

Qualität der Spermien.<br />

Die Spermienproduktion beim Mann wird z.B. durch Blei oder Hitze verringert.<br />

Das Konzept des MAK- <strong>und</strong> BAT-Wertes (vgl. 1.3, Seite 6 f)<br />

Durch Extrapolation einer bekannten Dosis-Wirkungskurve kann <strong>für</strong> viele Substanzen (ohne<br />

Kanzerogene) ein Schwellenwert, der "No Observable Effect Level" (NOEL), bestimmt<br />

werden. Auf der Basis dieses Schwellenwertes wird dann - meist mit einem Sicherheitsfaktor<br />

von 100, der bestimmten Unsicherheiten Rechnung trägt - der maximale Arbeitsplatzkonzentrationswert<br />

(MAK-Wert) festgelegt. Neben der Giftigkeit werden bei der Festlegung<br />

des MAK-Wertes weitere Faktoren wie die Ätzwirkung, die sensibilisierende oder<br />

ernsthaft belästigende Eigenschaften sowie das Hautdurchdringungsvermögen berücksichtigt.<br />

MAK-Werte dienen der Beurteilung der Situation am Arbeitsplatz, sind aber keine sicheren<br />

Grenzen zwischen gefährlichen <strong>und</strong> ungefährlichen Konzentrationen. Zum einen können<br />

empfindliche Personen oder Personen mit Vorerkrankungen auf Werte reagieren, die deutlich<br />

unter dem MAK sind. Auf der anderen Seite bedeutet eine kurzfristige Exposition über dem<br />

MAK noch keineswegs das Auftreten von ges<strong>und</strong>heitlichen Problemen. Kanzerogene Stoffe<br />

werden speziell vermerkt <strong>und</strong> nicht immer mit einem Schwellenwert bzw. MAK-Wert<br />

versehen. Organisationen, die solche Werte erarbeiten sind z.B. die American Conference of<br />

Governmental Industrial Hygienists (ACGIH), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)<br />

<strong>und</strong> das britische Health and Safety Executive (HSE). Diese Gremien haben unterschiedliche<br />

Zugänge <strong>und</strong> Ansichten, sodass die Werte <strong>für</strong> die gleiche Substanz leicht divergent ausfallen<br />

können. Die Suva wird bei der Übernahme von Grenzwerten (meistens aus Deutschland,<br />

manchmal aus den USA) von einer Kommission von Fachleuten beraten. Die Liste der MAK-<br />

Werte der Suva wird periodisch überarbeitet.<br />

Der biologische Arbeitsstofftoleranzwert (BAT-Wert) dient der Beurteilung einer erfolgten<br />

Exposition: durch Analysen des biologischen Materials des Betroffenen (z.B. Urin, Blut) sind<br />

Rückschlüsse auf die effektiv aufgenommene Dosis des Arbeitsstoffes, unabhängig von der<br />

Art der Aufnahme, möglich. Die BAT-Werte sind Grenzwerte <strong>für</strong> diese Parameter des<br />

biologischen Materials. Dieses "biological monitoring of exposure" kann eine gute Ergänzung<br />

der Arbeitsplatzmessungen darstellen. Damit lässt sich auch die Wirksamkeit von Schutzmassnahmen<br />

testen <strong>und</strong> verifizieren. Es können daraus jedoch keine Rückschlüsse auf<br />

Einhalten der MAK-Werte gezogen werden. Voraussetzung <strong>für</strong> die Aufstellung eines BAT-<br />

Wertes sind Kenntnisse der Toxikologie <strong>und</strong> des Verhaltens der zu messenden Stoffe im<br />

Körper. Kritisch ist der Entnahmezeitpunkt <strong>und</strong> die Art der Probe (Blut, Urin, Atemluft), was<br />

mit der obigen Kenntnis beantwortet werden kann.<br />

Für detailliertere Ausführungen siehe die Suva Publikation 1903, Grenzwerte am Arbeitsplatz<br />

2005.<br />

37


2.2.2 Ausgewählte Stoffe (Blei, Quecksilber, Lösungsmittel, Kohlenmonoxid)<br />

Blei<br />

Blei als toxische Substanz ist seit dem Altertum bekannt <strong>und</strong> in vielen Publikationen<br />

beschrieben. Sein Risikopotential am Arbeitsplatz hat Blei nicht eingebüsst. Indessen haben<br />

die Erfahrungen über die Zeit dazugeführt, dass Blei entweder ganz aus den Arbeitsprozessen<br />

verschw<strong>und</strong>en ist (Schriftsetzer) oder mittels technischer <strong>und</strong> persönlicher Schutzmassnahmen<br />

eine Aufnahme von Blei praktisch verhindert wurde. Erreicht wurden diese Erfolge<br />

unter anderem durch den Einsatz von biologischem Monitoring der Bleiexposition. Diese<br />

Methode ist weiter unten ausführlich beschrieben.<br />

Die Suva anerkennt zwischen 0 <strong>und</strong> etwa 5 Bleivergiftungen jährlich, eine deutliche Abnahme<br />

gegenüber früheren Jahren. Blei ist demnach mehr ein umweltmedizinisches als ein arbeitsmedizinisches<br />

Problem geworden.<br />

Für eine exzellente Zusammenfassung der umweltrelevanten Probleme von Blei sei auf die<br />

Broschüre der IPCS, Environmental Health Criteria 165, WHO 1995, verwiesen.<br />

Mögliche berufliche Expositionen (nach Ziegler, Suva) [1]<br />

Industrie Tätigkeit<br />

Batterieherstellung Blei schmelzen, bearbeiten: Rauche, Staub, Dämpfe<br />

Metallindustrie Verwendung von Bleilegierungen, Schmelzen von<br />

Altblei, Roheisenherstellung (bleihaltiger Schrott),<br />

Nicht-Eisen Giessereien<br />

Farben-, Malergewerbe Abschleifen, Abbrennen von Blei-haltigen Farben,<br />

herstellen von Farben aus Bleipigmenten<br />

Keramik-, Porzellanindustrie Verwenden von Bleiglasuren<br />

Kunstoffindustrie Bleistearat als Zusatz<br />

Chemische Industrie Homogenverbleien, Herstellung von Blei-Pigmenten,<br />

Antiklopfmittel (Bleitetraethyl)<br />

Kabel-, Drahtwerke Bleiisolationen<br />

Karosseriewerke, Garagen Lötzinn <strong>und</strong> dessen Bearbeitung<br />

Glashütten Herstellen von Bleiglas<br />

Munitionsfabriken Herstellen von Blei-Sprengstoff (Bleiazid)<br />

Elektrowerkstätten, Spengler Lötzinn <strong>und</strong> dessen Bearbeitung<br />

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus, Exkretion) [2, 3]<br />

Die Aufnahme von Blei erfolgt am besten in der Lunge, wo praktisch die gesamte inhalierte<br />

Bleimenge aufgenommen wird. Im weiteren wird im MDT bei Erwachsenen ca 20-30% der<br />

geschluckten Bleimenge aufgenommen (Kinder bis zu 50 %). Organische Bleiverbindungen<br />

können zusätzlich durch die Haut eindringen.<br />

Einmal im Blut wird Blei <strong>zur</strong> Hauptsache an Erythrocyten geb<strong>und</strong>en. In einer ersten Phase<br />

lagert sich Blei in Bindegewebe <strong>und</strong> inneren Organen wie Leber, Niere <strong>und</strong> Gehirn ab.<br />

Danach wird es sukzessive in Knochen <strong>und</strong> Zähne eingebaut, welche den Hauptspeicher<br />

darstellen. Gr<strong>und</strong>sätzlich besteht der Bleistoffwechsel in einem Gleichgewicht mit drei<br />

Kompartementen: Blut, Innere Organe <strong>und</strong> Knochen.<br />

38


Blei wird <strong>zur</strong> Hauptsache über die Nieren ausgeschieden <strong>und</strong> so aus dem Blut mit einer<br />

Halbwertszeit von ca. 36 Tagen entfernt. Die Bleifraktion in den Weichteilen hat eine<br />

Halbwerts-zeit von 40 Tagen <strong>und</strong> diejenige in den Knochen eine solche von ca. 10-30 Jahren.<br />

Toxizität<br />

Blei verbindet sich bevorzugt mit Sulfhydryl-Gruppen in Enzymen <strong>und</strong> entwickelt möglicherweise<br />

eine Toxizität an Zink-abhängigen Enzymen. Am besten untersucht ist der Effekt von<br />

Blei auf die Hämsynthese (Hemmung der ALA-Dehydrogenase <strong>und</strong> der Ferrochelatase). Indessen<br />

hat Blei auch einen toxischen Effekt auf Enzyme, die <strong>für</strong> intakte Membranen sorgen,<br />

<strong>und</strong> auf den intrazellulären Steroidmetabolismus. Im weiteren ist die Vitamin D-Synthese<br />

durch Blei herabgesetzt. Die Vergiftungserscheinungen von Blei haben ein weites klinisches<br />

Spektrum das von leichter Veränderung der Laborwerte bis hin zu massiven klinischen<br />

Bildern reicht.<br />

a.) Akute Toxizität<br />

Diese kommt nur bei massiver Bleibelastung durch Inhalation vor. Im Vordergr<strong>und</strong> steht eine<br />

akute Enzephalopathie gefolgt von Nierenversagen <strong>und</strong> Koliken. Meistens ist die Exposition<br />

nicht so hoch <strong>und</strong> die Absorption von Blei langsamer über Wochen, was zu subakuten <strong>und</strong><br />

chronischen Vergiftungen führt.<br />

b.) Chronische Toxizität<br />

Blei entwickelt an folgenden Organsystemen eine chronische Toxizität (nach Keogh) [4]<br />

Organsystem Symptome Schädigung Minimaler<br />

Blutbleispiegel<br />

ZNS Enzephalopathie, Kopf- Hirnödem,<br />

>100µg/dl<br />

schmerzen,Stimmungs- neuro-psychologische > 50 µg/dl<br />

schwankungen,Libidoverlust, Schlafstörungen<br />

Teste abnormal<br />

PNS Paresthesien, Myalgien, abnormale Nerven- > 40 µg/dl<br />

mehrheitlich OE leitfähigkeit<br />

Hämatologie Erhöhtes Erythrocyten- Enzyme blockiert, > 20 µg/dl<br />

Porphyrin, Anämie offene Anämie<br />

> 50 µg/dl<br />

MDT Koliken wahrscheinlich<br />

autonomes NS<br />

>45 µg/dl<br />

Nieren Hypertonie<br />

proximale Tubuli bis hin > 30 µg/dl <strong>für</strong><br />

Nierenversagen <strong>zur</strong> chronischen Hypertonie<br />

Gicht<br />

interstitiellen Nephritis > 70 µg/dl <strong>für</strong><br />

Nephropathie<br />

Endokrin/ TSH <strong>und</strong> Vit D Frauen: Hohe Dosen: > 60 µg/dl <strong>für</strong><br />

Fortpflanzung vermindert.<br />

erhöhte Abortraten Aborte, Frühge-<br />

Fertilität bei beiden niedere Dosen: neuroburten; unklar <strong>für</strong><br />

Geschlechtern gestört psychologischeEntwicklungs-<br />

Entwicklungsstörungen störungen(wahrscheinlich 35 µ/dl <strong>für</strong> gestörte<br />

Spermatogenese mit<br />

Asthenospermie,<br />

Teratospermie <strong>und</strong><br />

Hypospermie<br />

Spermatogenese<br />

39


Therapie der Bleivergiftung [4]<br />

Neben einer intensiven Abklärung über die Ursache <strong>und</strong> Entfernung der Person von der Bleiquelle<br />

kann die gesamte Bleibelastung mittels einer Chelationstherapie reduziert werden.<br />

Diese wird typischerweise stationär eingeleitet <strong>und</strong> dann ambulant weitergeführt. Eine<br />

Chelationstherapie soll sich auf die klinischen Symptome <strong>und</strong> nicht auf allfällige Blutbleispiegel<br />

abstützen.<br />

Als ambulantes Therapeuticum kommt 2,3-Dimercaptosuccinat (DMSA) in Frage. Es ist gut<br />

verträglich <strong>und</strong> bindet fast ausschliesslich Blei, Quecksilber <strong>und</strong> Arsen.<br />

Unter Berücksichtigung des erheblichen Nebenwirkungsrisikos können in der stationären<br />

Behandlung, speziell der Enzephalopathie, eventuell EDTA <strong>und</strong> BAL eingesetzt werden.<br />

Über die genaue Anwendung der Substanzen gibt das Toxzentrum ausführlich Auskunft.<br />

Biologisches Monitoring<br />

Auf die Probleme um das biologische Monitoring per se sei auf die spezielle Literatur<br />

verwiesen. Für Blei bestehen folgende Möglichkeiten:<br />

Exposition Parameter Grenzwerte: Suva<br />

Akute Exposition Blutbleispiegel Männer, Frauen >45 j.:<br />

40 µg/dl<br />

Frauen


Blei als umweltmedizinisches Risiko<br />

Mit dem Abnehmen von verbleitem Benzin hat die schleichende Belastung der Gesamtbevölkerung<br />

ebenfalls abgenommen.<br />

Indessen sind weiterhin vorhandene Bleigr<strong>und</strong>ierungen oder sogar bleihaltige Farbanstriche<br />

<strong>für</strong> Aussenfarben ein Problem <strong>für</strong> den Hobbybastler. Deswegen können in einer Allgemeinpraxis<br />

Bleivergiftungen weiterhin, jedoch in abnehmender Zahl, auftreten.<br />

Ein weitere Vergiftungsquelle mit Blei stellen mit Bleiglasuren versehene Keramikgeschirre<br />

dar. Diese als Souvenir gekauften Gegenstände geben bei Gebrauch langsam Blei ab. Ob ein<br />

Keramikstück Blei enthält, muss entweder der Verkäufer bestätigen. Anderweitig kann man<br />

bei den jeweiligen Kantonschemikern anfragen, ob sie gegen Bezahlung eine Bleibestimmung<br />

machen. Wenn man diese Aufwände nicht haben will <strong>und</strong> unsicher ist, so sollte man das<br />

Souvenir ausstellen <strong>und</strong> nicht gebrauchen.<br />

Literatur<br />

1. G. Ziegler, Ges<strong>und</strong>heitliche Gefährdung am Arbeitsplatz durch Blei, Suva 1990,<br />

2869.d No 6<br />

2. Keogh JP, Boyer LV, Chapter 73, Lead, In: Sullivan, Krieger, Clinical Environmental<br />

Health and Toxic Exposures, 2 nd edition, 2001<br />

3. ”Lead”, EHC 165, WHO 1995<br />

4. Keogh JP, ”Lead”, In: Sullivan, Krieger, Hazardous Materials Toxicology, 1992<br />

Quecksilber [1, 2, 3]<br />

In der Berufskrankheitenstatistik der Suva sind nun seit längerem keine Intoxikationen mit<br />

Quecksilber aufgefallen. In der Schweiz spielt dieses Schwermetall eher eine Rolle als<br />

Umweltgift denn als Arbeitsnoxe. Zum einen wurde Hg bei den meisten Prozessen eliminiert,<br />

zum andern sind die verbliebenen Prozesse technisch optimal eingerichtet <strong>und</strong> eine<br />

Exposition der Arbeiter praktisch ausgeschlossen.<br />

Da Quecksilber, wie Blei, ubiquitär ist, soll deshalb das Wissen um dessen Toxizität nicht<br />

gänzlich verschwinden.<br />

Mögliche Berufliche Expositionen<br />

Quecksilber (Hg) kann in verschiedenen Formen vorliegen: Als Metall (z.B. in Thermometer),<br />

als Salz (z.B. HgCl2), als Oxyd (HgO) sowie als organische Hg-Verbindung (unterschieden<br />

in lang oder kurzkettige -aryl <strong>und</strong> –alkyl Verbindungen). Jeder Form von Hg ist eine<br />

etwas andere ”Pharmakologie” <strong>und</strong> Toxikologie eigen.<br />

41


Folgende Industrien oder Produkte haben eine potentielle Exposition mit Hg:<br />

Hg metallisch Hg anorganisch Hg organisch<br />

Zahnmedizin <strong>und</strong> Verwandte<br />

Metallurgie (Gold etc.)<br />

Herstellung von: Barometern,<br />

Thermometer, Blutdruck-<br />

Messgeräte, Solarzellen, div.<br />

Elektrogeräte, Kryopumpen,<br />

diverse chemische Prozesse<br />

(Chlorgewinnung, Pigmente)<br />

Herstellung von Knopfbatterien<br />

42<br />

Herstellung <strong>und</strong> Gebrauch<br />

von Desinfektionsmitteln,<br />

Konservierungsmittel,<br />

Tinten, Fellbearbeitung,<br />

Sprengstoffe, Parfums etc.<br />

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus <strong>und</strong> Exkretion<br />

Pestizide, Saatgutbeizen<br />

Herstellung <strong>und</strong> Gebrauch,<br />

Papierherstellung,<br />

Holzkonservierung<br />

Metallisches Hg wird praktisch nur über die Lunge (da es rasch verdampft) <strong>und</strong> die Haut<br />

(wenn es in direkten Kontakt kommt) in den Körper aufgenommen. Geschlucktes Hg wird<br />

kaum aus dem MDT resorbiert. Im Blut wird metallisches Hg rasch in Hg 2+ übergeführt <strong>und</strong><br />

an die Erythrocyten geb<strong>und</strong>en. Ein kleiner aber signifikanter Anteil bleibt metallisch <strong>und</strong><br />

reichert sich rasch im Gehirn an, wo er ebenfalls in Hg 2+ überführt wird. Als Hg 2+ reichert<br />

sich Hg vornehmlich in der Niere an. Im weiteren sind Leber, Schilddrüse <strong>und</strong> weitere<br />

endokrine Organe betroffen. Das in der Niere angereicherte Hg wird mit einer mittleren<br />

Halbwertszeit von 64 Tagen ausgeschieden. Die Halbwertszeit des im Gehirn angereicherten<br />

Hg beträgt indessen Jahre.<br />

Anorganisches Hg wird mässig gut (7-15 %) aus dem MDT aufgenommen. In Form von<br />

Salben kann es über die Haut absorbiert werden. Die Resorption über die Lunge erfolgt nur zu<br />

einem geringen Mass. Einmal im Körper, verteilt es sich wie metallisches Hg, mit dem Unterschied,<br />

dass es die Blut-Hirnschranke deutlich schlechter passiert <strong>und</strong> eine Anreicherung im<br />

Gehirn weniger im Vordergr<strong>und</strong> steht.<br />

Die Aufnahme, Verteilung, Metabolismus <strong>und</strong> Ausscheidung des organischen Hg hängt<br />

davon ab, ob es sich um ein kurzkettiges oder ein langkettiges Hg-Derivat handelt. Beide<br />

Formen werden rasch <strong>und</strong> praktisch vollständig durch den MDT oder die Lunge aufgenommen.<br />

Hautresorption ist möglich. Beide Formen verteilen sich rasch im Körper <strong>und</strong><br />

lagern sich in der Leber, der Niere, dem Gehirn <strong>und</strong> der Haut ab. Langkettige Hg-Verbindungen<br />

werden rasch in anorganisches Hg übergeführt. Kurzkettige (Methyl-Hg) sind stabiler<br />

<strong>und</strong> werden langsamer aufgespalten. Beide Formen werden mit einer Halbwertszeit von ca 70<br />

Tagen ausgeschieden, die langkettigen wie die anorganischen Hg-Verbindungen, die kurzkettigen<br />

(vornehmlich Methyl-Hg) praktisch unverändert via Faeces.<br />

Toxizität<br />

Hg <strong>und</strong> seine Verbindungen lagern sich mit Vorliebe an SH-Gruppen an <strong>und</strong> stören so den<br />

Stoffwechsel in diversen Organen, vornehmlich im ZNS.<br />

a.) Akute Toxizität<br />

Akute Toxizität tritt nur bei Exposition zu metallischem <strong>und</strong> anorganischem Quecksilber auf.<br />

Metallisches Hg führt zu Reizungen des Respirationstraktes <strong>und</strong> bei Konzentrationen über<br />

1 mg/m 3 zu einer toxischen Lungenentzündung. Anorganisches Hg führt in hohen Konzentrationen<br />

zu Verätzungen der Schleimhäute <strong>und</strong> systemisch zu einem akuten Nierenversagen.<br />

Organische Hg-Verbindungen stehen nicht mit akuten Vergiftungen in Zusammenhang.


.) Chronische Toxizität<br />

Bei metallischem wie organischem Hg stehen die neurologischen Folgen der Vergiftung im<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Müdigkeit, Abgeschlagenheit, zunehmend Depressionen <strong>und</strong> Nervosität sowie<br />

ein Intentionstremor stellen sich ein. Die organischen <strong>und</strong> in einem geringeren Masse metallisches<br />

Hg führen zudem zu einer chronischen Nephropathie.<br />

Anorganisches Hg führt vornehmlich zu einer chronischen Nephropathie mit Proteinurie. Die<br />

ZNS-Symptome treten im Gegensatz zu den anderen Hg-Verbindungen in deutlich subtilerer<br />

Form auf.<br />

Behandlung der Quecksilbervergiftung [4]<br />

Neben dem intravenös verabreichten Dimercaptopropanol (BAL) haben sich nun die oralen<br />

Chelatoren DMSA <strong>und</strong> DMPS bei der Behandlung von akuten Hg-Vergiftungen bewährt.<br />

Weiterführende Antworten sind durch das Toxzentrum erhältlich.<br />

Biologisches Monitoring<br />

Bestimmung der Hg-Konzentration im Blut ist bei einer akuten Hg-Vergiftung angezeigt. Das<br />

Verhältnis Hg Ery zu Hg Plasma sagt etwas über die Art der Vergiftung aus: metallisches <strong>und</strong><br />

anorganisches Hg haben etwa ein Verhältnis 1/1, organisches ein solches von 10/1.<br />

Bei einer chronischen Vergiftung mit metallischem oder anorganischem Hg wird dieses im<br />

Urin bestimmt. Bei den organischen Hg-Verbindungen ist die Blutbestimmung angezeigt, da<br />

diese je nach Länge eher hepato-biliär ausgeschieden werden.<br />

Grenzwerte Suva: Blut: 15 µg/dl, Urin: 35 µg/g Kreatinin<br />

Umweltmedizinische Aspekte von Quecksilber<br />

Jährlich werden weltweit ca. 6000 Tonnen Quecksilber durch vulkanische Aktivität an die<br />

Umwelt abgegeben. Dazu kommen ca. 3000 Tonnen, die durch menschliche Aktivität freigesetzt<br />

werden.<br />

Generell versucht man aber Prozesse <strong>und</strong> Verfahren sowie Anwendungen quecksilberfrei zu<br />

machen <strong>und</strong> den Gesamtverbrauch an Quecksilber zu reduzieren.<br />

Aus umweltmedizinischer Sicht sind grosse Quecksilberfreisetzungen auf kleinem Raum<br />

(Bsp. Goldminen in Rumänien, Quecksilberminen in Peru) durch Unfälle oder andere Ereignisse<br />

von Bedeutung.<br />

Literatur<br />

1. L. Hofer, JR. Meier: Ges<strong>und</strong>heitliche Gefährdung am Arbeitsplatz durch Quecksilber<br />

2. Yip L et al: Chapter 72, Mercury, in: Sullivan/Krieger, Clinical Environmental Health<br />

and Toxic Exposures, 2 nd edition, 2001<br />

3. IPCS: Environmental Health Criteria 86; Mercury-environmental aspects, WHO 1989<br />

<strong>und</strong> 118; Mercury-inorganic, WHO 1991)<br />

4. Yip L et al: Chapter 72, Mercury, in: Sullivan/Krieger, Clinical Environmental Health<br />

and Toxic Exposures, 2 nd edition, 2001<br />

43


Lösungsmittel [1, 2, 3]<br />

Unter Lösungsmitteln verstehen wir eine Vielzahl von chemischen Substanzen (meistens<br />

flüssig), die in der Lage sind andere Substanzen aufzulösen. Die einzelnen Lösungsmittel<br />

unterscheiden sich in ihrer Aufnahme, Verteilung, Metabolismus <strong>und</strong> Ausscheidung, wie auch<br />

in den Leitsymptomen. Gemeinsam ist allen Lösungsmitteln, dass sie über die Haut, die<br />

Schleimhäute (inkl. MDT) <strong>und</strong> die Lunge aufgenommen werden. Eine weitere Gemeinsamkeit<br />

ist, dass praktisch alle Lösungsmittel eine zentrale <strong>und</strong>/oder periphere Neurotoxizität,<br />

eine Hepatotoxizität, eine Nierentoxizität sowie eine Hämatotoxizität aufweisen können.<br />

Welches der Zielorgane im Vordergr<strong>und</strong> steht, hängt dann vom jeweiligen Lösungsmittel ab.<br />

Langjährige deutlich überhöhte (>> MAK) Exposition wird aber alle Zielorgane betreffen.<br />

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Gruppen von Lösungsmitteln <strong>und</strong> ihre<br />

gängigsten Vertreter. Bei speziellen Fragen sei auf weiterführende Literatur, Datenbanken<br />

oder das Toxzentrum verwiesen.<br />

Chemische Stoffgruppe Wichtigster Vertreter<br />

Kohlenwasserstoffe (R-H) n-Hexan<br />

Benzine<br />

Petrol<br />

Benzol<br />

Xylol<br />

Toluol<br />

Halogenierte Kohlenwasserstoffe (R-<br />

Halogen)<br />

Alkohole (R-OH) <strong>und</strong> Glykole (HO-R-<br />

OH)<br />

44<br />

Styrol<br />

Methylenchlorid<br />

Trichlorethylen<br />

Tetrachlorethylen<br />

Tetrachlorkohlenstoff<br />

Methylalkohol<br />

Ethylalkohol<br />

Isopropanol <strong>und</strong> Butanol<br />

Phenol<br />

Ethylenglycol<br />

Ketone (R-CO) Aceton<br />

Methyl-Ethyl-keton (MEK)<br />

Nitroverbindungen (R-NO2) Trinitrotoluol<br />

Aminoverbindungen (R-NH2) Anilin<br />

B-Naphtylamin<br />

Benzidin<br />

Kohlenstoff-Schwefelverbindungen Schwefelkohlenstoff<br />

Dimethylsulfoxid (DMSO)<br />

Lösungsmittel sind häufig auch Ausgangsprodukte <strong>für</strong> weitergehende chemische Synthesen.


Mögliche Berufliche Expositionen<br />

Lösungsmittel sind ubiquitär <strong>und</strong> können in praktisch allen Berufen auftreten. Einzig die Art<br />

<strong>und</strong> die Menge des verwendeten Lösungsmittels unterschiedet sich von Beruf zu Beruf<br />

erheblich.<br />

Verwendungsbereich Verwendungszweck<br />

Erdölindustrie Trenn- <strong>und</strong> Extraktionsmittel<br />

Produkt<br />

Chemische, Pharmazeutische, Kosmetische Ausgansprodukt<br />

<strong>und</strong> Nahrungsmittel-Industrie<br />

Gummi-, Klebestoffindustrie (inkl. Anwender),<br />

Leder- <strong>und</strong> Kunstlederindustrie,<br />

Kunststoffindustrie, Kunstseideproduktion<br />

Trenn- <strong>und</strong> Extraktionsmittel<br />

Hilfsstoffe<br />

Metallindustrie Schmieren, Kühlen, Reinigen <strong>und</strong> Entfetten<br />

Landwirtschaft, Gartenbau Insektizide, Entwesungsmittel,<br />

Unkrautvertilger, Hilfsstoffe<br />

Farb- <strong>und</strong> Lackindustrie<br />

Farben <strong>und</strong> Lacksysteme (Komponenten)<br />

Malereigewerbe, Spritzwerke<br />

Reiniger<br />

Chemische Reinigung Reinigungsmittel<br />

Medizin Narkotika, Alkohole<br />

Da die Lösungsmittel so vielfältig eingesetzt werden <strong>und</strong> weit verbreitet sind, ist es bei der<br />

Abklärung einer Berufserkrankung unabdinglich alle Angaben zu den am Arbeitsplatz verwendeten<br />

Chemikalien, auch der Lösungsmittel, zu erhalten. Eine Schwierigkeit stellt die<br />

häufige Verwendung von Eigennamen bei Lösungsmitteln dar. Diese müssen zuerst in eine<br />

internationale Nomenklatur übersetzt werden, bevor weitere Daten, z.B. über das Internet,<br />

eingeholt werden können.<br />

Anstrengungen in Arbeitshygiene sowie Ersatz bestimmter Lösungsmittel in der Industrie<br />

haben die Anzahl der exponierten Personen wie die Vergiftungsfälle deutlich gesenkt. Am<br />

häufigsten sind noch Kleinbetriebe mit viel manueller Arbeit wie Malergewerbe, Verarbeitung<br />

von Fiberglas, Bodenleger, Drucker <strong>und</strong> Metallbearbeitung betroffen. Hier ist unsachliches<br />

Arbeiten die häufigste Ursache einer Exposition.<br />

Die Suva erlässt eine Liste mit Grenzwerten <strong>für</strong> chemische Stoffe, inkl. Lösungsmittel, am<br />

Arbeitsplatz, die regelmässig aufgearbeitet <strong>und</strong> publiziert wird [4].<br />

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus, Ausscheidung<br />

Alle Lösungsmittel diff<strong>und</strong>ieren rasch durch Membranen. Somit werden sie rasch <strong>und</strong> vollständig<br />

über Haut, Schleimhäute (inkl. MDT) <strong>und</strong> Lunge aufgenommen.<br />

Für die <strong>Arbeitsmedizin</strong> sind jedoch nur die Aufnahme über die Lunge <strong>und</strong> die Haut relevant.<br />

Bei den Lösungsmitteln gibt es einen Fettlöslichkeitsgradienten. Je fettlöslicher, desto besser<br />

<strong>und</strong> schneller ist die Aufnahme in den Körper.<br />

Studien an ges<strong>und</strong>en Freiwilligen zeigten sehr eindrücklich, wie die Gesamtdosis von<br />

Lösungsmitteln im Körper linear mit der zunehmenden physischen Arbeitsbelastung ansteigt.<br />

Einmal aufgenommene Lösungsmittel werden in der Regel in der Leber metabolisiert <strong>und</strong><br />

damit entgiftet. Einige werden unverändert abgeatmet oder hepatobiliär oder renal ausgeschieden.<br />

Wieder andere werden erst durch Metabolisierung aktiviert (Chloroform, Dimethylformamid<br />

u.a.).<br />

45


Die jeweilige Halbwertszeit des Lösungsmittels hängt von seiner Fettlöslichkeit ab. Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

verbleiben stark fettlösliche Substanzen länger im Körper, meist im Fettgewebe<br />

gespeichert als weniger fettlösliche.<br />

Toxizität<br />

In diesem Teil besprechen wir nur die allen Lösungsmittel gemeinsamen Effekte. Für einzelne<br />

Lösungsmittel sei auf die Fachliteratur verwiesen (s. Referenzen).<br />

a.) akute Toxizität<br />

Diese besteht am häufigsten aus einer akuten Reizung der Haut <strong>und</strong> Schleimhäute sowie<br />

Effekten am ZNS, Leber <strong>und</strong> Herz. Das akute Stadium läuft häufig biphasisch ab, meist mit<br />

einem freien Intervall zwischen den einzelnen Symptomen. Das Ausmass der Symptome ist<br />

klar Dosis-abhängig.<br />

Phase 1 ZNS-Wirkungen:<br />

Schwindel, Benommenheit, Erregunszustand, Rausch, Narkose, Atemstillstand<br />

Phase 2 Organschädigung:<br />

toxische Hepatopathie, Herzrhythmusstörungen, selten renale (tubuläre)<br />

Schädigung<br />

b.) chronische Toxizität<br />

Organsystem/Wirkung Symptome/Diagnosen<br />

Haut Sogenannte Abnutzungsdermatose durch chronische Entfettung der<br />

Haut, Boden <strong>für</strong> Kontaktekzeme<br />

ZNS: 1. pseudoneurasthenisches Syndrom mit Müdigkeit,<br />

Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen<br />

2. psychoorganisches Syndrom mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit,<br />

Störungen des Affektes, des Antriebs <strong>und</strong> der<br />

Urteilsfähigkeit<br />

3. Schädigung der vegetativen Zentren mit Libidoverlust,<br />

Menstruale Probleme<br />

PNS sensible <strong>und</strong> motorische Polyneuropathien <strong>und</strong> deren Kombination,<br />

Polyneuropathie des vegetativen NS<br />

Leber Eine Lebertoxizität tritt häufig nach einer ZNS-Tox auf. Die Leberenzyme<br />

können jedoch nach Intoxikation mit praktisch allen<br />

Lösungsmitteln erhöht sein. Häufigster Störfaktor bleibt jedoch der<br />

private Alkoholkonsum.<br />

Niere Es kann sich eine leichte chronische Nephropathie einstellen.<br />

Speziell nach CCl4 Exposition<br />

Kreislauf Lösungsmittel generell können die elektrische Leitfähigkeit des<br />

Herzens verändern <strong>und</strong> so zu Rhythmusstörungen führen. CS2 <strong>und</strong><br />

Methylenchlorid sind mit dem Entstehen einer KHK in Verbindung<br />

gebracht worden.<br />

Knochenmark Benzol führt zu einer aplastischen Anämie, andere, speziell<br />

alkoholische Lösungsmittel führen zu einer makrozytären Anämie.<br />

Karzinogenität Benzol <strong>und</strong> andere Lösungsmittel sind mit diversen Karzinomen in<br />

Verbindung gebracht worden. Benzol ist soweit das einzige Lösungsmittel,<br />

bei dem eine gewisse Einigkeit bezüglich Karzinogenität<br />

herrscht.<br />

46


Behandlung einer Lösungsmittelvergiftung<br />

Bei einer akuten Vergiftung (inhalativ, über Haut) genügt eine symptomatische Behandlung<br />

mit Überwachung der Vitalfunktionen. Spezielle Vorsicht hat bei der Gabe von Adrenalin <strong>und</strong><br />

Adrenalinabkömmlingen inkl. Dopamin zu walten, können doch nicht beherrschbare Herzrhythmusstörungen<br />

speziell bei einer Vergiftung mit chlorierten Kohlenwasserstoffen auftreten.<br />

Nach peroraler Intoxikation darf nie Erbrechen induziert werden.<br />

Die Behandlung der chronischen Vergiftung besteht in einem Entfernen des schädigenden<br />

Agens <strong>und</strong> ist dann auf die Rehabilitation der neurologischen Folgen ausgerichtet.<br />

Biologisches Monitoring<br />

Ein biologisches Monitoring ist <strong>für</strong> viele Lösungsmittel möglich. Entweder werden die<br />

Substanzen selbst oder deren Metaboliten im Urin oder Blut bestimmt. Bei der Durchführung<br />

des biologischen Monitorings ist es sehr wichtig base-line-Daten zu haben sowie Angaben<br />

über allfällige gleichzeitig bestehende Krankheiten. Andernfalls können Fehlinterpretationen<br />

auftreten. Für das Monitoring einzelner Substanzen sei auf die Fachliteratur verwiesen [4, 5].<br />

Als Beispiel einer sehr häufig verwendeten Substanz sei Toluol erwähnt.<br />

Toluol ist eines der häufigst verwendeten Lösungsmittel überhaupt. Neben seiner Verwendung<br />

in Farben, Lösungsmittelmischungen <strong>und</strong> als Ausgangsstoff <strong>für</strong> weitere Synthesen wird<br />

es <strong>zur</strong> Hauptsache als Zusatz zu Benzin eingesetzt (bis zu 7 % des Volumens im Benzin) [6].<br />

Da Toluol leicht flüchtig ist, bestehen viele mögliche Expositionsquellen. Toluol wird über<br />

die Lunge <strong>und</strong> die Haut, bei direktem Kontakt, rasch absorbiert. Toluol hat eine predominante<br />

Neurotoxizität, die bei chronischer Vergiftung zu Ataxie, Tremor, cerebrale <strong>und</strong> cerebelläre<br />

Atrophie mit nachfolgenden Symptomen wie verschlechtertes Lern- <strong>und</strong> Erinnerungsvermögen,<br />

cerebelläre Ataxie <strong>und</strong> corticospinale Dysfunktion nach sich ziehen. Im weiteren<br />

ist bei massiver chronischer Vergiftung eine tubuläre Nierenstörung beschrieben. Im Körper<br />

wird Toluol zu ca 70 % in Hippursäure umgebaut <strong>und</strong> mit einer Halbwertszeit von 12 h renal<br />

ausgeschieden. Der MAK-Wert <strong>für</strong> Toluol ist 190 mg/m 3 , die BAT-Werte sind 1 mg/l Blut<br />

am Ende der Schicht <strong>für</strong> Toluol oder 2,0 g/g Kreatinin entweder am Ende der Schicht oder am<br />

Ende der Woche <strong>für</strong> Hippursäure [4].<br />

Literatur<br />

1. M. Hofmann: Erkrankungen durch Lösungsmittel<br />

2. Sullivan/Krieger: Clinical Environmental Health and Toxic Exposures, 2 nd edition, 2001,<br />

Chapters 58, 59, 60, 67, 105, 106, 107, 108<br />

3. Gerr F, Organic Solvents, in Rom: Environmental and Occupational Medicine, 3rd ed,<br />

1998, Chapter 78<br />

4. Grenzwerte am Arbeitsplatz, Suva 1999, Publikation 1903.d<br />

5. Lauwerys R, Hoet P: Industrial Chemical Exposure, 3rd edition, 2001<br />

6. Sullivan JB, Chapter 105, in Sullivan/Krieger: Clinical Environmental Health and Toxic<br />

Exposures, 2 nd edition, 2001<br />

47


Kohlenmonoxid [1]<br />

Kohlenmonoxid entsteht bei unvollständiger Verbrennung von organischer Materie. Vergiftungen<br />

treten bevorzugt an Orten auf, bei denen Verbrennungprozesse verb<strong>und</strong>en mit ungenügender<br />

Ventilation auftreten. Eine weitere, seltenere Quelle von CO ist der Metabolismus<br />

von Methylenchlorid zu CO in der Leber (ca. 30 % der Gesamtdosis von Methylenchlorid).<br />

Mögliche Berufliche Expositionen<br />

Berufsgruppen, die speziell dem Risiko einer CO-Vergiftung ausgesetzt sind, umfassen:<br />

Feuerwehrleute, Lastwagen- <strong>und</strong> Automechaniker, Lagerarbeiter (wenn Gas- oder Diesel-<br />

betriebene Gabelstapler im Einsatz sind), Giessereiarbeiter (wenn organische Festiger oder<br />

Hilfsmittel in die Gussformen eingearbeitet sind).<br />

Die wichtigste nicht-berufliche CO-Exposition besteht durch das Rauchen.<br />

Aufnahme, Verteilung, Metabolismus, Ausscheidung<br />

CO wird rasch <strong>und</strong> vollständig aus der Lunge aufgenommen. Da es eine ca. 200-fach höhere<br />

Affinität <strong>für</strong> Häm hat als O2, lagert es sich rasch an die Erythrocyten an. Danach folgt es dem<br />

Verteilmuster von O2. Die Elimination von CO erfolgt wiederum über die Lunge. Dessen<br />

Eliminationszeit ist sehr komplex <strong>und</strong> scheint mit der Expositionsdauer <strong>und</strong> -art (dauernd,<br />

intermittierend) im Zusammenhang zu stehen.<br />

Bei Zimmertemperatur <strong>und</strong> normaler Atemluft beträgt die Halbwertszeit ca. 4.5 h. Diese kann<br />

mittels Erhöhung des O2-Gehaltes <strong>und</strong> des Druckes deutlich gesenkt werden (100 % O2, 3<br />

Atmosphären Druck: ca. 23 Minuten).<br />

Toxizität<br />

a) akute Toxizität<br />

CO führt zu einer Gewebe-Hypoxie. Deshalb ist das Gehirn, als sauerstoffempfindlichstes<br />

Organ als erstes betroffen (speziell: Globus pallidus). Die Hypoxämie führt dann sek<strong>und</strong>är<br />

auch zu einer Hypotonie sowie einem Pumpversagen des Herzens. Das führt zu einer weiteren<br />

Beschleunigung der peripheren Hypoxämie <strong>und</strong> zum Tode.<br />

Anzeichen einer Vergiftung sind Kopfschmerzen, zunehmende Konzentrationsschwäche,<br />

Delir <strong>und</strong> Koma.<br />

Wird eine akute Vergiftung überlebt, so stellen sich häufig neurologische Spätfolgen wie<br />

Persönlichkeitsveränderungen, Ataxie, Parkinson oder Psychosen ein.<br />

Die Höhe des Carboxyhemoglobins ist nicht aussagekräftig <strong>für</strong> die klinischen Symptome. Sie<br />

beweist nur eine stattgef<strong>und</strong>ene Exposition. Schwere neurologische Verläufe werden jedoch<br />

selten von CO-Hb-Spiegeln unter 50 % gesehen.<br />

b) chronische Toxizität<br />

Die Auswirkungen einer chronischen Exposition gegenüber CO sind umstritten. Generell besteht<br />

ein Trend zu erhöhter koronarer Herzkrankheit bei Exponierten (Hb-CO über 6 %).<br />

Indessen braucht es noch weitere Abklärungen, um diese Hypothese zu erhärten.<br />

48


Behandlung einer Kohlenmonoxidvergiftung<br />

Die sofortige Entfernung des Patienten aus der CO-Umgebung, mit entsprechendem Selbstschutz<br />

des Rettenden, mit nachfolgender Verabreichung von 100 % O2 ist von überragender<br />

Bedeutung. Alle CO-Vergiftungen gehören hospitalisiert <strong>und</strong> überwacht.<br />

Biologisches Monitoring<br />

Für das biologische Monitoring hat sich die Messung des CO-Hb im venösen Blut als Goldstandard<br />

bewährt. Als Grenzwert setzt die Suva 5 % CO-Hb, wie international empfohlen.<br />

Diese 5 % CO-Hb entsprechen einer Exposition gegenüber 35 mg/m 3 CO über einen 8-<br />

St<strong>und</strong>en Tag. Diese 35 mg/m 3 stellen damit den MAK dar [2].<br />

Alternativ zum Blut kann mittels einer Bestimmung des CO-Gehaltes in der Ausatmungsluft<br />

das CO-Hb extrapoliert werden. Entsprechend geeichte Röhrchen sind auf dem Markt.<br />

Rauchen stellt den grössten Störfaktor dar (es sind Spitzenwerte bis 22 % CO-Hb möglich).<br />

Literatur<br />

1. Seger D.L.: Chapter 56, in Sullivan/Krieger: Clinical Environmental Health and Toxic<br />

Exposures, 2 nd edition, 2001<br />

2. Grenzwerte am Arbeitsplatz, Suva 2001, Publikation 1903.d<br />

2.3 Biologische Gefährdungen<br />

Unter biologischen Stoffen sind Proteine <strong>und</strong> Zellen sowie Infektionserreger gemeint, die<br />

aufgr<strong>und</strong> einer Allergie oder Infektion zu einer Beeinträchtigung der Ges<strong>und</strong>heit führen. Die<br />

Allergien sind anderweitig in diesem Text ausführlich behandelt.<br />

Die möglichen beruflichen Kontakte zu Infektionserregern wie Pilzen, Bakterien oder Viren<br />

sind mannigfaltig. Viele sind <strong>für</strong> den Menschen ungefährlich. Dennoch stellt auch im<br />

beruflichen Bereich die Übertragung von Krankheiten eine deutliche Gefahr dar. In Blut,<br />

frischem Gewebe <strong>und</strong> Körperflüssigkeiten können neben Viren auch Bakterien, Pilze <strong>und</strong><br />

Protozoen <strong>und</strong> Prionen übertragen werden. Dies gilt neben humanem auch <strong>für</strong> tierisches<br />

Material. Ebenso kann beim Kontakt zu kranken Menschen oder Tieren eine Übertragung<br />

stattfinden (z.B. Tuberkulose, Hepatitis B). Die möglichen Übertragungswege sind vor allem:<br />

– Kontakt von infektiösem Material als Flüssigkeit oder Aerosol mit vorgeschädigter Haut<br />

oder Schleimhaut<br />

– direkte Verletzung der Haut durch Stiche, Schnitte mit kontaminierten Instrumenten, aber<br />

auch Bisse, Kratzw<strong>und</strong>en usw. durch infizierte Tiere<br />

– Einatmen von Aerosolen, die bei bestimmten Arbeitsschritten (z.B. Homogenisieren von<br />

infektiösem Material) entstehen. Einatmen von pathogenen Sporen (Anthrax).<br />

49


Infektionskrankheiten, vorallem bei Medizinalberufen, Labor <strong>und</strong> Forschung<br />

Infektionskrankheiten machten 1997 r<strong>und</strong> 10 % der gesamten Berufserkrankungen aus, die<br />

jährlich bei der Suva <strong>und</strong> anderen Unfallversicherern gemeldet werden [1].<br />

Zur Hauptsache sind dies jedoch Erkrankungen, die auf Reisen <strong>für</strong> das Geschäft aufgetreten<br />

sind. (69 % der Fälle, meistens Malaria, Durchfallerkrankungen, Hepatitis A etc.). Je 11 %<br />

entfallen auf Infektionen, die im Ges<strong>und</strong>heitswesen auftraten <strong>und</strong> auf Zoonosen (durch<br />

Kontakt mit Tieren) <strong>zur</strong>ückzuführen waren. Die restlichen 9 % haben diverse, nicht näher<br />

spezifizierte berufliche Ursachen.<br />

Mögliche Berufliche Expositionen<br />

Das grösste Gefahrenpotential ausserhalb der beruflichen Reisetätigkeit eine arbeitsplatzbedingte<br />

Infektionskrankheit zu erlangen, besteht in Berufen des Ges<strong>und</strong>heitswesens.<br />

Darunter sind die Pflegeberufe wie die entsprechenden diagnostischen <strong>und</strong> Forschungslaboratorien<br />

gemeint. Indessen ist das Risiko zu erkranken wegen der weltweit fast ausnahmslos<br />

durchgeführten Schutzmassnahmen (universal precautions, Einteilung der Laboratorien<br />

in Biosafety levels) sowie der existierenden Gesetzgebungen (u.a. OSHA: Bloodborne<br />

Pathogen Standard) <strong>und</strong> daraus abgeleiteten Programmen (Empfehlungen der WHO, des<br />

CDC, NIOSH, Suva) [2] drastisch verringert.<br />

Pflegeberufe:<br />

Hier sind vor allem die blutübertragenen Erkrankungen im Vordergr<strong>und</strong>: HIV, Hepatitis B,<br />

<strong>und</strong> C, seltener Lues. Als nächste Erkrankung sei TBC wegen der zunehmenden Resistenz<br />

gegen Tuberkulostatica erwähnt. Andere virale <strong>und</strong> bakterielle Erkrankungen sind zwar<br />

möglich, treten aber selten auf (z.B. Salmonellen).<br />

Medizinische Laboratorien:<br />

In dieser Berufsgruppe spielen wiederum die blutübertragbaren Erkrankungen eine grosse<br />

Rolle. Indessen können auch andere Infektionen auftreten, speziell in Labors, die Nachweise<br />

von Infektionen über Kulturen machen.<br />

Forschungslaboratorien:<br />

Diese Laboratorien haben meistens definierte Infektionserreger, die aber von erheblicher<br />

Virulenz oder Pathogenität sein können (HIV-Viren, Gelbfieber, Adenoviren, Yersinien,<br />

Salmonellen etc.).<br />

Tierpfleger/Fellhändler [3]:<br />

Es gibt ca. 200 Zoonosen, die im einzelnen nicht beschrieben werden sollen. Neben Infektionen,<br />

die durch Bisse übertragen werden können, sind Infektionen des MDT <strong>und</strong> der Haut<br />

(Pilze) sowie der Lunge (Q-Fieber, Psittacose) erwähnenswert.<br />

Als gefährlichste Erkrankung <strong>für</strong> Personen mit Tierkontakt sei das Herpes Simiae Virus<br />

(Synonyme: Herpes B-Virus oder Cercalopithecine herpes virus 1) erwähnt. Diese Erkrankung<br />

führt bei den betroffenen Affen (meist Makaken) zu einem Herpes simplex-ähnlichen<br />

Krankheitsbild. Durch Biss oder Kontakt mit infektiösem Speichel etc. auf den Menschen<br />

übertragen, tritt eine in ca 80 % letale, fieberhafte Erkrankung mit Encephalitis auf. Diese<br />

kann mittels Acyclovir/Gancyclovir behandelt werden. Eine einmal begonnene Therapie muss<br />

wahrscheinlich zeitlebens fortgesetzt werden [4, 5].<br />

Fellhändler haben seltenerweise Anthrax, der, wenn unerkannt, als letale Pneumonie verläuft.<br />

50


Klinik <strong>und</strong> Therapie<br />

Für die Klinik <strong>und</strong> die entsprechende Therapie der jeweiligen Infektionskrankheit sei auf die<br />

spezielle Fachliteratur verwiesen. Für die <strong>Arbeitsmedizin</strong> stehen die präventiven Massnahmen<br />

im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Prävention<br />

Gr<strong>und</strong>legend in der Prävention von beruflichen Infekten ist das Prinzip der ”universal<br />

precautions”:<br />

– Generelle Massnahmen: Optimale Hautpflege, Impfprogramme (Di-Te, Hepatitis A/B,<br />

Grippe etc.), Base-line Untersuchungen <strong>und</strong> Auffrischimpfungen.<br />

– Schutzmassnahmen: Laboreinrichtungen gemäss Bio-Sicherheits Einstufung, persönliche<br />

Schutzmassnahmen (Schürzen, Handschuhe, Schutzschilde, Masken etc.)<br />

– Organisatorische Massnahmen: Verhütung von Schnitt- <strong>und</strong> Stichverletzungen, Desinfektionsvorgaben,<br />

Reinigungsprocedere, Vorgehen nach Verletzungen (inkl. Bereithalten<br />

von entsprechenden Medikamenten), Zutrittsberechtigungen oder Quarantänemassnahmen.<br />

Speziell auf dem Gebiet der Nadelverletzungen nach Blutentnahmen haben sich die technischen<br />

Schutzmassnahmen deutlich verbessert. Deshalb hat z.B. der US-B<strong>und</strong>estaat New<br />

Jersey die Verwendungen solcher Systeme im Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>für</strong> obligatorisch erklärt.<br />

Literatur<br />

1. Fünfjahresbericht UVG 1993-1997, Suva, 1999<br />

2. Verhütung von blutübertragbaren Infektionen im Ges<strong>und</strong>heitswesen: Suva 1996, 2869/30.d<br />

3. Dieckhaus KD: Occupational Infections, In: Rom; Environmental and Occupational<br />

Medicine, 3rd ed, 1998, PP 755-774<br />

4. Davenport D. et al: Diagnosis and Management of Human B-Virus (Herpes Virus Simiae)<br />

Infections in Michigan; Clinical Infectious Disease, 1994; 19; 33-41<br />

5. Holmes G.P. et al, Guidelines for the prevention and treatement of B-Virus infections in<br />

exposed persons; Clinical Infectious Disease; 1995, 20, 421-439<br />

51


2.4 Berufsbedingte Atemwegserkrankungen <strong>und</strong> Pneumopathien<br />

Einleitung<br />

Jedes Individuum steht in intensivem Kontakt mit seiner Umwelt, welche nicht nur auf seine<br />

Haut, sondern auch auf die mit r<strong>und</strong> 70 m 2 wesentlich ausgedehntere Lungenoberfläche<br />

einwirkt. Expositionen aus der Arbeitswelt können dabei in besonderem Masse zu Funktionsstörungen<br />

<strong>und</strong> Krankheiten führen, weil sie - vor allem im industriellen <strong>und</strong> gewerblichen<br />

Bereich nicht selten mit überdurchschnittlichen inhalativen Belastungen <strong>und</strong> Einwirkungen<br />

verb<strong>und</strong>en sind.<br />

Berufsbedingte Pneumopathien, also Lungenkrankheiten, die gemäss Art. 9/1 des UVG in<br />

mindestens überwiegendem Masse durch Arbeitsplatz bedingte Faktoren verursacht werden,<br />

sind denn auch verhältnismässig häufig. In der Berufskrankheitenstatistik nehmen sie nach<br />

Enthesiopathien (Erkrankungen von Sehnen bzw. Sehnenscheiden), Dermatosen <strong>und</strong> Gehörsstörungen<br />

mit r<strong>und</strong> 250 Fällen pro Jahr den vierten Platz ein.<br />

Der vorliegende Text soll dem Studierenden <strong>und</strong> dem mit der Thematik weniger vertrauten<br />

Arzt einen Überblick über die in der Schweiz beobachteten berufsbedingten Pneumopathien<br />

geben. Die einzelnen Krankheitsgruppen werden dabei in allgemeiner Form kurz dargestellt<br />

<strong>und</strong> durch Nennung ihrer wichtigsten Vertreter abger<strong>und</strong>et.<br />

Asthma bronchiale<br />

Das Berufsasthma ist mit r<strong>und</strong> 120 Fällen pro Jahr die häufigste berufsbedingte Pneumopathie.<br />

Es hat damit die früher hohe Zahl von Pneumokoniosen deutlich übertroffen.<br />

Tabelle 1 orientiert über einige häufige Auslöser von Berufsasthma. Im Vordergr<strong>und</strong> stehen<br />

Bäckereiallergene, v.a. Mehle gefolgt von Isocyanaten. Soweit heute bekannt, wirken Mehle<br />

<strong>und</strong> Isocyanate über unterschiedliche Pathomechanismen, <strong>und</strong> die beiden durch sie ausgelösten<br />

Asthmaformen weisen möglicherweise auch prognostisch Unterschiede auf [1,24,25].<br />

Beim Asthma, das durch Mehle <strong>und</strong> Backhilfsmittel verursacht wird, herrscht die Typ I<br />

Allergie vor. Mehle weisen ein breites allergenes Spektrum auf, das mehrere Dutzend verschiedene<br />

Epitope umfasst <strong>und</strong> je nach Getreidesorte <strong>und</strong> Ausmahlungsgrad unterschiedlich<br />

zusammengesetzt ist. In der Regel lassen sich beim Bäckerasthma mit den gängigen<br />

Methoden (z. B. CAP, Prick Test) in den meisten Fällen von klinisch relevanten Mehlstaubsensibilisierungen<br />

spezifische IgE gegen Getreideproteine <strong>und</strong> -Enzyme nachweisen.<br />

Im Gegensatz dazu ist über die Wirkungsweise der Isocyanate weit weniger bekannt.<br />

Diskutiert werden direkt pharmakologische Wirkungen (Tachykininrezeptoren....) aber auch<br />

ein Protein-Hapten Mechanismus mit entsprechender Bildung von spezifischen IgE <strong>und</strong> IgG.<br />

Solche lassen sich aber nur in ca. 15-20 % der Fälle nachweisen. In etwa dasselbe gilt <strong>für</strong> die<br />

übrigen niedermolekularen asthmaauslösenden Verbindungen wie Formaldehyd, Phthalsäure-<br />

sowie Trimellitinsäureanhydrid <strong>und</strong> andere mehr. Praktisch bedeutet dies, dass man weder ein<br />

Isocyanatasthma noch ein anderes Asthma, dessen Auslöser der Gruppe der niedermolekularen<br />

Verbindungen angehört, angesichts eines negativen IgE Nachweises<br />

ausschliessen kann. Dieser niedrigen Sensitivität steht hingegen mit bis zu 70% eine relative<br />

hohe Spezifität gegenüber.<br />

52


Tabelle 1 Als Berufsasthmaauslöser bekannte Arbeitsstoffe [1]<br />

ASTHMAAUSLÖSENDE SUBSTANZEN GEFÄHRDETE BERUFSGRUPPEN<br />

a) hochmolekular (biologisch)<br />

– tierische Produkte <strong>und</strong> Ausscheidungen<br />

(Haare, Federn, Schuppen, Blut- <strong>und</strong><br />

Urineinweisse)<br />

Tier- <strong>und</strong> Vogelzüchter, Laborpersonal von<br />

Versuchstierställen (Kleinsäuger)<br />

– pflanzliche Produkte<br />

Getreide Landwirtschaftliche Betriebe,<br />

Transportunternehmen<br />

Mehl Müller, Bäcker<br />

Textilien: Hanf, Flachs, (Wild-) Seide, Textilarbeiter<br />

Baumwolle<br />

Holz (tropische, seltener einheimische Schreiner, Zimmerleute<br />

Arten)<br />

Gewürze, Kräuter Lebensmittel-, Reformbetriebe, Drogerien<br />

Latex Medizinalpersonal<br />

Enzyme (Amylasen, Proteasen) Bäckereien, Waschmittelindustrie<br />

– Pharmaka (Antibiotika) Pharmazeutische Industrie<br />

b) niedermolekular organisch<br />

– Isocyanate (Härter) Kunststoffindustrie (Herstellung <strong>und</strong><br />

Verarbeitung von verschiedenen<br />

Polymerisaten, z.B. Polyurethanschaumstoffe).<br />

Umgang mit<br />

Zweikomponentenklebern <strong>und</strong> –lacken<br />

– Phtalsäureanhydrid (Warmhärter)<br />

– organische Amine (Kalthärer)<br />

(Autogewerbe)<br />

Herstellung <strong>und</strong> Verarbeitung von<br />

Epoxidharzen als Kleber (z. B. Araldit®),<br />

Bauteile, Spezialmörtel, Bodenbeläge<br />

– Kolophonium (Abietin- <strong>und</strong> Pimarsäure) Herstellung elektrischer <strong>und</strong> elektronischer<br />

Apparate (Flussmittel zum Weichlöten),<br />

Bestandteil zahlreicher Kosmetika, Farben<br />

<strong>und</strong> Haushaltprodukte<br />

– Formaldehyd Spanplattenherstellung <strong>und</strong> -verarbeitung,<br />

Kernmacherei <strong>und</strong> Giesserei, Umgang mit<br />

Desinfizienzien <strong>und</strong> verschiedenen<br />

Haushaltprodukten<br />

– Azofarbstoffe Färbereien (Aktivfärben, d.h. Farbe wird<br />

chemisch geb<strong>und</strong>en)<br />

c) niedermolekular anorganisch<br />

– Nickel- <strong>und</strong> Chromsalze Galvanische Industrie, Gerbereien<br />

– Platinkomplexsalze Platinraffination<br />

53


Isocyanate werden als Härter bei der Produktion von Polyurethanen eingesetzt, zum Beispiel<br />

<strong>für</strong> Schaumstoffe, Spritzlacke (Auto- <strong>und</strong> Industriemalerei), Klebestoffe, sog. Elastomere<br />

(z.B. Schuhsohlen) u.a.m. Demgegenüber sind handelsübliche Kunstharzfarben <strong>und</strong> Lösungsmittel<br />

(z.B. Nitroverdünner, Terpentinersatz usw.) wie sie etwa in der Baumalerei Verwendung<br />

finden, in der Regel nicht isocyanathaltig <strong>und</strong> auch nicht als primäre Asthmaauslöser<br />

bekannt.<br />

Die Behandlung des Berufsasthmas entspricht derjenigen des nicht beruflich bedingten.<br />

Hinzukommt beim Berufsasthma, dass jede weitere Exposition gegenüber dem auslösenden<br />

Agens, allenfalls bis hin zum Berufswechsel, unterb<strong>und</strong>en wird. In manchen Fällen kann so<br />

eine klinische Heilung oder zumindest Besserung erzielt werden. Bei langer symptomatischer<br />

Dauer des Berufsasthmas kommt es jedoch oft zu chronischen Verläufen [2,25].<br />

Bronchitis<br />

Die inhalative Belastung mit Stäuben, Dämpfen <strong>und</strong> vor allem Reizgasen (NOx, 03, NH3, HCl,<br />

Cl2, SO2, Brandgasen usw.) kann sowohl akute als auch chronische Entzündungen der<br />

Atemwege verursachen.<br />

Intensive, meist akzidentelle Reizgasinhalationen können zu Atemnot, Husten <strong>und</strong> Auswurf,<br />

das heisst <strong>zur</strong> akuten Bronchitis bis hin zum toxischen Lungenödem führen. Dieses tritt<br />

typischerweise mit einer Latenzzeit von 24 <strong>und</strong> mehr St<strong>und</strong>en auf. Seltener werden in<br />

derartigen Situationen auch obliterierende Bronchiolitiden beobachtet.<br />

Eine weitere Komplikation akuter <strong>und</strong> hoher Expositionen gegenüber Atemwegsirritanzien ist<br />

das sogenannte „reactive airway dysfunction syndrome“ RADS [25]. Es entwickelt sich<br />

typischerweise bei zuvor Ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> ist von einer langdauernden, manchmal sogar<br />

chronischen asthmatischen Bronchitis gefolgt.<br />

Eine über Jahre andauernde inhalative Belastung mit Stäuben, Dämpfen <strong>und</strong> Räuchen kann<br />

schliesslich auch <strong>zur</strong> chronischen Bronchitis führen. Verschiedene Studien zeigen, dass sich<br />

diese nicht nur auf Husten <strong>und</strong> Auswurf beschränkt. Vielmehr kann auch eine irreversible<br />

obstruktive Ventilationsstörung hinzukommen, so dass von einer eigentlichen COPD gesprochen<br />

werden muss. Berufliche Noxen stehen im Vergleich zum Rauchen aber deutlich im<br />

Hintergr<strong>und</strong>. Mitunter ist es schwierig, Abgrenzungen zwischen beruflichen <strong>und</strong> tabakrauchbedingten<br />

Anteilen einer COPD voneinander abzugrenzen, was versicherungsmedizinisch zu<br />

Kontroversen führen kann [11].<br />

Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass Patienten <strong>und</strong> Patientinnen mit Asthma bronchiale<br />

oder einer COPD an inhalativ belastenden Arbeitsplätzen eine Akzentuierung oder gar<br />

richtungsweisende Verschlimmerung ihrer Erkrankung erleiden können. Auch wenn in<br />

solchen Fällen keine primär berufsbedingte Erkrankung vorliegt, so kann doch die weitere<br />

Eignung des Betroffenen <strong>für</strong> seine bisherige Tätigkeit in Frage gestellt sein.<br />

Pneumokoniosen<br />

Pneumokoniosen sind durch langdauernde Inhalation von vorwiegend anorganischen Stäuben<br />

verursachte chronisch fibrosierende Lungenkrankheiten. Eine der bekanntesten <strong>und</strong> klassischen<br />

Pneumokoniosen ist die Silikose [12]. Sie hat dank wirksamer technischer Schutzmassnahmen<br />

<strong>und</strong> einer zunehmenden Mechanisierung im Untertage- <strong>und</strong> Tiefbausektor erheblich<br />

an Bedeutung verloren. Nach wie vor ist aber in unserem Land mit r<strong>und</strong> 15 neuen Fällen pro<br />

Jahr zu rechnen, die allerdings nicht mehr denselben Schweregrad aufweisen wie früher.<br />

Leider ist davon auszugehen, dass sich die Silikose trotz aller Vorsorgemassnahmen nicht<br />

vollkommen eliminieren lässt. Vielmehr dürfte sie sich auf einem gewissen Minimum<br />

einpendeln. Es hat sich in diesem Zusammenhang gezeigt, dass auch moderne Arbeitsplätze<br />

54


zu Silikosen führen können (Maschinenführer von Tunnelfräsen, staubintensive Abbruch-,<br />

Umbau- <strong>und</strong> Fassadenarbeiten im Schutz dichter Fassadenverkleidungen aus Plastik).<br />

Verursacher der Silikose ist quarzhaltiger Feinstaub, das heisst alveolengängige Partikel mit<br />

einem Durchmesser von weniger als 0,005 mm [15,17]. Eine pathogenetisch zentrale Rolle<br />

fällt dabei den Alveolarmakrophagen zu, die gleichzeitig mit der Phagozytose des zytotischen<br />

SiO2 verschiedene Entzündungsmediatoren freisetzen <strong>und</strong> damit die silikosetypische Form<br />

der Immunkaskade auslöst, welche letztlich in der Bildung der charakteristischen Silikoseknötchen<br />

endet. Diese vergrössern sich im Laufe der Zeit <strong>und</strong> wachsen zu grossen<br />

Konglomeratknoten <strong>und</strong> Schwielen zusammen [9,20].<br />

Erstaunlich ist, wie silikotische Veränderungen von Nichtrauchern wesentlich länger ohne<br />

subjektive Symptome <strong>und</strong> funktionelle Einbussen toleriert werden [19]. Beeinträchtigt sind<br />

dagegen lokale Immunvorgänge, was zu rezidivierenden bronchopulmonalen Infekten <strong>und</strong><br />

unter anderem zu einer vermehrten Anfälligkeit <strong>für</strong> die Tuberkulose führt [16]. Auch ist<br />

gezeigt worden, dass die Silikose ein Risikofaktor <strong>für</strong> die Entstehung von Bronchialkarzinomen<br />

darstellt [21,22].<br />

Da <strong>für</strong> die Silikose keine Heilung möglich ist, kommt der Prävention grosse Bedeutung zu.<br />

Alle regelmässig quarzstaubexponierten Arbeitnehmer werden daher durch die Suva in<br />

dreijährigen Abständen im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung mit Anamnese, Kurzstatus,<br />

Spirometrie <strong>und</strong> konventionellem Thoraxröntgenbild arbeitsmedizinisch überwacht.<br />

Eine weitere, diffuse Pneumokonioseform, die Asbestose, ist trotz ihrer durchschnittlichen<br />

Latenzzeit von 20 <strong>und</strong> mehr Jahren seltener geworden. Zu ihrer Entstehung sind beträchtliche<br />

Asbeststaubkonzentrationen erforderlich, die die heute maximal zulässigen um ein Vielfaches<br />

übersteigen <strong>und</strong> früher vorwiegend bei Asbestspritzarbeiten anzutreffen waren.<br />

Die Asbestose ist ebenfalls mit einem deutlich erhöhten Bronchuskarzinomrisiko assoziiert;<br />

selbst bei einer Exposition von 25 <strong>und</strong> mehr Arbeitsjahren <strong>und</strong> einer gleichzeitigen Faserkonzentrationen<br />

von 1/ml Atemluft ist das Bronchuskarzinomrisiko im Vergleich zu Nichtexponierten<br />

doppelt so hoch [4,7,8].<br />

Ebenfalls Asbeststaub bedingt <strong>und</strong> mit jährlich ca. 60 berufsbedingten Fällen vergleichsweise<br />

häufiger ist das maligne Mesotheliom der Pleura, ein bis heute kaum behandelbarer bösartiger<br />

Tumor, der allerdings in 10-20 % der Fälle auch spontan, also ohne Asbestexposition<br />

auftreten kann [5, 14].<br />

Typischerweise liegt die Asbestexposition bis 40 <strong>und</strong> mehr Jahre <strong>zur</strong>ück, was deren<br />

Abklärung verständlicherweise erschwert. Auch weniger intensive Einwirkungen, als sie zum<br />

Erwerb einer Asbestose notwendig sind, können <strong>für</strong> die Entstehung eines Mesotheliomes<br />

genügen, wobei diese aber immer noch deutlich über dem Durchschnitt der nichtexponierten<br />

Bevölkerung liegen.<br />

Eine vergleichsweise häufig vorkommende, gutartige Asbest-bedingte Veränderung stellen<br />

die in der Regel beidseitig diaphragmal <strong>und</strong>/oder dorso- bis anterobasal lokalisierten<br />

Pleuraplaques dar. Sie sind in dieser Lokalisation nahezu pathognomonisch <strong>für</strong> eine frühere<br />

Asbestexposition. In der Regel fehlt ihnen ein Krankheitswert, <strong>und</strong> sie sind pathologischanatomisch<br />

sowie klinisch von einer Asbestose klar abzugrenzen, gelten also nicht als<br />

Präkanzerose [6,10].<br />

Im Gegensatz <strong>zur</strong> Silikose <strong>und</strong> <strong>zur</strong> Asbestose gelten inerte Stäube (Eisenoxydstaub, Gips,<br />

Kalkstaub usw.) nicht als Auslöser von Pneumokoniosen. Allenfalls sind diskrete radiologische<br />

Veränderungen, d.h. eine vermehrte retikuläre Zeichnung des Lungengerüstes zu<br />

55


eobachten, insbesondere bei der Siderose, d.h. der durch Eisenoxydstaub (u.a. Schweissrauche)<br />

ausgelösten Form. Die damit einhergehenden diskreten Gewebeveränderungen sind<br />

nach Expositionsaufgabe teilweise reversibel [2].<br />

Allergische Alveolitiden (Hypersensitivitätspneumonitiden)<br />

Allergische Alveolitiden, eigentlich Bronchioloalveolitiden oder gem. dem angelsächsischen<br />

Sprachgebrauch Hypersensititivätspneumonitiden, entstehen im beruflichen Umfeld durch die<br />

Inhalation von hoch- <strong>und</strong> niedermolekularen, organischen <strong>und</strong> anorganischen Gefahrstoffen,<br />

bzw. Allergenen, welche in der Lage sind, im Lungeninterstitium allergisch-entzündliche<br />

Reaktionen vom Typ III <strong>und</strong> teilweise Typ IV nach Coombs <strong>und</strong> Gell auszulösen [23,26].<br />

Diese gehen sowohl mit pulmonalen als auch mit Allgemeinsymptomen wie Fieber, Abgeschlagenheit,<br />

Schüttelfrösten <strong>und</strong> evtl. Gelenkbeschwerden einher. Lungenfunktionell findet<br />

man eine Restriktion sowie eine Verminderungen der CO-Diffusionskapazität (gestörter<br />

Gasaustausch), während sich radiologisch retikulonoduläre Veränderungen bzw. zusätzliche<br />

milchglasartige Verschattungen im CT zeigen. Die Symptomatik ist – vor allem in der<br />

Frühphase – in Abhängigkeit <strong>zur</strong> Exposition reversibel. Wahrscheinlich gibt es aber auch<br />

sogenannt stumme klinische Verläufe, die erst dann symptomatisch werden, wenn irreversible<br />

fibrotische Veränderungen eingetreten sind. Die wichtigsten heute bekannten Auslöser von<br />

Hypersensitivitätspneumonitiden sind in Tabelle 2 zusammengefasst.<br />

Tabelle 2 Wesentliche Ursachen berufsbedingter Hypersensitivitätspneumonitiden (exogen<br />

allergischer Alveolitiden) [2]<br />

KRANKHEIT ANTIGENQUELLE ANTIGEN<br />

Farmerlunge schimmliges Heu, Stroh Thermoaktinomyceten<br />

(micropolyspora faeni,<br />

thermoactinomyces vulgaris)<br />

Vogelzüchterlunge Federn, Ausscheidungen Vogelproteine<br />

Befeuchterlunge Kontaminiertes Befeuchter- Thermoaktinomyceten,<br />

wasser<br />

Aureobasidien, Amoeben<br />

Pilzarbeiterlunge Kompoststaub Thermoaktinomyceten, Pilzsporen<br />

Malzarbeiterlunge Schimmlige Gerste Aspergillus clavatus<br />

Käsewascherlunge Schimmel Penicillium casei<br />

Korkarbeiterlunge Schimmliger Kork Penicillium frequentans<br />

Proteasenlunge Waschmittelproteasen Bacillus subtilis<br />

Isocyanatalveolitis Isocyanathärter Hexamethylendiisocyanat (HDI)<br />

Methyldiphenyldiisocyanat (MDI)<br />

Naphtylendiisocyanat (NDI) u.a.<br />

TMA-Lunge Säureanhydridhärter Trimellitinsäureanhydrid (TMA)<br />

Pyrethrumalveolitis Insektizide Pyrethrum<br />

Hartmetallstaublunge Kobalt/Wolfram<br />

56


Im nichtindustriellen beruflichen Bereich steht die Farmerlunge im Vordergr<strong>und</strong>, im<br />

industriellen Bereich dagegen die Befeuchterlunge. Ursache der Farmerlunge ist schimmelsporenhaltiger<br />

Heustaub, während bei der Befeuchterlunge vor allem thermophile Aktinomyceten<br />

<strong>und</strong> andere mikrobielle Kontaminanten des Befeuchterwassers eine Rolle spielen.<br />

Die meisten Fälle von Befeuchterlunge werden in Druckereien sowie in Papier- <strong>und</strong> Textil-<br />

verarbeitenden Betrieben beobachtet, in denen aus technischen Gründen eine Luftbefeuchtung<br />

notwendig ist.<br />

Die Gruppe der Hypersensitivitätspneumonitiden zeigt mitunter ein facettenreiches klinisches<br />

Bild, das heisst, es können fliessende Übergänge zwischen obstruktiv-asthmatischen <strong>und</strong><br />

interstitiell alveolitischen Symptomkombinationen bestehen, etwa bei der Befeuchterlunge<br />

<strong>und</strong> beim Befeuchterasthma.<br />

Ebenfalls an dieser Stelle zu erwähnen ist das Krankheitsbild der Byssinose, das durch den<br />

Umgang mit Rohbaumwolle verursacht wird <strong>und</strong> gleichfalls asthmatische <strong>und</strong> interstitielle<br />

Veränderungen aufweist, welche in den Spätstadien nicht mehr reversibel sind. Als Auslöser<br />

werden bakterielle Toxine sowie allergenes biologisches Material der Baumwollfaser angenommen.<br />

Als weitere Sonderform einer exogenen allergischen Lungenkrankheit ist diejenige durch<br />

Hartmetall zu nennen (allen voran Kobalt in Verbindung mit Wolfram u.a.). Sie tritt in erster<br />

Linie als Asthma in Escheinung, manifestiert sich gelegentlich aber auch als Hypersensitivitätspneumonitis<br />

mit Übergang in eine irreversible Lungenfibrose (Hartmetallpneumopathie)<br />

[27].<br />

Nicht selten tritt nach Inhalation verschiedener Stäube weder ein Asthma noch eine Alveolitis<br />

auf, sondern ein klinisches Bild, das durch kurzdauernde, reversible d.h. 24-48 St<strong>und</strong>en<br />

dauernde grippeartige Allgemeinsymptome gekennzeichnet ist [28]. Pathogenetisch handelt<br />

es sich um eine unspezifische Immunstimulation <strong>und</strong> nicht um eine Allergie. Je nach Auslöser<br />

spricht man in diesen Fällen von Getreidestaubfieber, Befeuchterfieber (sog. "organic dust<br />

toxic syndrome“ bzw. „inhalation fever“) oder auch Metallrauchfieber. Das letztgenannte<br />

wird hauptsächlich nach Inhalation von Zinkoxydrauch beobachtet. Inhalations- <strong>und</strong><br />

Metallrauchfieber führen weder zu lungenfunktionellen noch zu radiologischen Veränderungen<br />

<strong>und</strong> sie hinterlassen nach heutigem Wissen keine bleibenden Schäden.<br />

Die Behandlung der Hypersensitivitätspneumonitiden bzw. der allergischen Alveolitiden besteht<br />

in der Elimination jeglicher weiterer Exposition sowie – wenn nötig – in der Verabreichung<br />

immunsuppressiver Pharmaka, allen voran von Corticosteroiden.<br />

Zur Diagnostik berufsbedingter Pneumopathien<br />

Die Diagnostik berufsbedingter Pneumopathien setzt pneumologische Basisuntersuchungen<br />

voraus (Spirometrie, Röntgen, Labor usw.)<br />

Es gibt allerdings kaum pathognomonische Symptome oder Bef<strong>und</strong>e berufsbedingter<br />

Pneumopathien, <strong>und</strong> sogar der Nachweis von Asbestfasern oder von spezifischen IgE beweist<br />

lediglich den Kontakt mit dem entsprechenden Agens nicht aber die Diagnose. Erst die<br />

Anamnese <strong>und</strong> die Expositionsverhältnisse am Arbeitsplatz können zusammen mit der Klinik<br />

die berufliche Verursachung eine Pneumopathie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit<br />

belegen. Es ist deshalb entscheidend, bei der Abklärung einer Lungenkrankheit frühzeitig die<br />

Arbeitsplatzverhältnisse in die differentialdiagnostischen Überlegungen miteinzubeziehen.<br />

Das Erheben der Arbeitsanamnese ist allerdings oftmals aufwändig, denken wir nur ans<br />

maligne Mesotheliom, dessen Verursachung bis zu 40 <strong>und</strong> mehr Jahren <strong>zur</strong>ückliegen kann.<br />

Überdies ist es dem Praktiker aus Zeitgründen kaum möglich, den Arbeitsplatz zu besuchen<br />

57


oder es fehlen ihm die Kenntnisse, um diesen zu beurteilen, so dass die Hilfe eines<br />

Fachmannes in Anspruch genommen werden muss.<br />

Ein entscheidendes Element bei der Abklärung einer berufsbedingten Pneumopathie ist die<br />

Arbeitsabhängigkeit der Symptomatik, insbesondere in ihrer Anfangsphase. Das gilt ganz<br />

besonders beim Asthma. Wird nicht darauf geachtet, ist diese Abhängigkeit dem Patienten<br />

später nicht mehr erinnerlich oder die Erkrankung hat sich eventuell schon soweit<br />

verselbständigt, dass diese Frage nicht mehr beantwortet werden kann.<br />

Zur Asthmaabklärung geeignet sind beispielweise mindestens viermal täglich durchgeführte<br />

<strong>und</strong> protokollierte serielle Peak-flow-Messungen über drei bis vier Wochen, wobei unbedingt<br />

eine Vergleichsperiode unter Arbeitskarenz eingeplant werden sollte [1]. Alternativ kommen<br />

auch serielle Spirometrien über einen Arbeitstag hinweg in Frage, die aussagekräftiger <strong>und</strong><br />

weniger kooperationsabhängig sind. Sie erfordern aber normalerweise die Anwesenheit einer<br />

Medizinalperson <strong>und</strong> sind deshalb wesentlich aufwändiger.<br />

Im Falle von Pneumokoniosen, die oft Zufallsbef<strong>und</strong>e sind, bestehen in der Regel keine oder<br />

zumindest keine krankheitstypischen Symptome. Hingegen sind diese Patienten – vor allem<br />

die Silikotiker – häufig obstruktiv, zeigen also das Bild der COPD, was allerdings oft auf den<br />

begleitenden Nikotinkonsum <strong>zur</strong>ückzuführen ist, auch wenn zwischen den beiden Noxen<br />

Wechselbeziehungen bestehen [19].<br />

Fehlt eine eindeutige berufliche Exposition mit einem verdächtigen Gefahrstoff, obwohl das<br />

klinische <strong>und</strong> vor allem das radiologische Bild mit einer Pneumopathie vereinbar sind [18],<br />

werden unter Umständen weitergehende, invasive Untersuchungen wie Bronchoskopie, BAL<br />

transbronchiale Lungenbiopsie oder Thorakoskopie unumgänglich.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich kann sich im Fall von berufsbedingten Pneumopathien, ja von Berufskrankheiten<br />

überhaupt, eine frühzeitige Zusammenarbeit zwischen Hausarzt bzw. klinischem<br />

Spezialisten sowie dem <strong>Arbeitsmedizin</strong>er als hilfreich erweisen. In bezug auf die Beurteilung<br />

der Expositionsverhältnisse verfügt dieser in der Regel über die grössere Erfahrung.<br />

Literatur, Standardwerke <strong>zur</strong> Übersicht<br />

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59


2.5 Berufsdermatosen [1,2,3]<br />

Berufsdermatosen sind Erkrankungen der Haut, die durch Komponenten des Arbeitsplatzes<br />

ausgelöst werden oder die bestehende Erkrankungen verschlechtern.<br />

Im weltweiten Vergleich stellen die Berufsdermatosen ca. 40 % aller Berufserkrankungen. In<br />

der Schweiz ist ihr Anteil 27 % (vegleiche Seite 8). Berufsdermatosen <strong>und</strong> muskulo-skelettale<br />

Erkrankungen sind die beiden häufigsten Berufskrankheiten gemäss Statistik [4].<br />

Berufsdermatosen entstehen als Resultat von vier Hauptfaktoren, die alleine oder in<br />

Kombination auftreten:<br />

– Mechanischer Stress: Reibung, Druck<br />

– Chemischer Stress: organische <strong>und</strong> anorganische Substanzen mit diversen pH<br />

– Physikalischer Stress: Hitze, Kälte, Strahlung<br />

– Biologischer Stress: diverse Infektionskrankheiten<br />

Trotz der Vielfältigkeit von möglichen Läsionen treten drei gr<strong>und</strong>sätzliche Reaktionstypen an<br />

der Haut auf:<br />

– Entzündlich: Rötung, Jucken, Schwellung<br />

– Neoplastisch: Hautverdickung, semi-maligne, maligne<br />

– Infektiös: Rötung, Schwellung mit den klassischen Zeichen der jeweiligen Infektion.<br />

Die überwiegende Mehrzahl der Berufsdermatosen ist entzündlicher Natur. Ca. 80% davon<br />

sind toxische Ekzeme <strong>und</strong> 20 % sind allergische Ekzeme.<br />

Diese werden in der Folge beschrieben.<br />

Hautkrebse treten zwar immer wieder auf, sind aber eher selten. Deshalb werden sie nicht<br />

speziell betrachtet.<br />

Bei der Anamnese betreffend beruflicher Hauterkrankungen sind die folgenden Punkte<br />

wichtig:<br />

– Wo auf der Haut sind die Probleme, wo begannen sie?<br />

– Wann traten die Beschwerden erstmalig auf?<br />

– Welche Tätigkeit üben Sie aus (inkl. Hobbies)?<br />

– Was geschieht an Tagen ohne Arbeit <strong>und</strong> in den Ferien?<br />

– Was ist aus der Sicht des Patienten die Ursache des Problems?<br />

– Sind andere Mitarbeiter auch betroffen?<br />

– Sind irgendwelche Veränderungen am Arbeitsplatz oder an Prozessen vorgenommen<br />

worden?<br />

– Persönliche Anamnese, insbesondere Neurodermitis<br />

Die Prävention einer Berufsdermatose stützt sich auf drei Pfeiler:<br />

– Hautschutz:<br />

Ziel: Verhinderung eines direkten Kontaktes der Noxe mit der Haut.<br />

Ausführung: Verwendung von Schutzartikeln wie Handschuhen oder, wo angebracht,<br />

Schutzssalben; Einsatz von Instrumenten.<br />

60


– Hautpflege:<br />

Ziel: Erhalten von ges<strong>und</strong>er Haut, Wiederherstellen von leicht angegriffener Haut<br />

Ausführung: Regelmässige Anwendung von pflegenden Hautcremes, speziell nach der<br />

Hautreinigung<br />

– Hautreinigung:<br />

Ziel: möglichst schonende Reinigung der verschmutzten Haut<br />

Anwendung: milde, pH-neutrale Reiningungsmittel, meist mehrmalige Applikation. Wenn<br />

Scheuereffekte notwendig sind, Verzicht auf Sand. Geeigneter sind pflanzliche Scheuermittel<br />

oder Bürsten. Dringende Anwendung von Pflegecrèmes nach eingehender<br />

Reinigung.<br />

Toxisches Ekzem (ca. 80 % der Fälle)<br />

Mögliche berufliche Exposition<br />

Ein toxisches Ekzem kann durch eine Vielzahl von Substanzen sowie Prozesse ausgelöst<br />

werden. Zur Hauptsache handelt es sich um<br />

Säuren: organische <strong>und</strong> anorganische<br />

Laugen: organische <strong>und</strong> anorganische<br />

Zement<br />

Lösungsmittel: u.a. Alkohole, Ketone, chlorierte Kohlenwasserstoffe<br />

Seifen, Detergentien, Surfactants<br />

Petroldestillate: u.a. Teer<br />

Metallsalze von Antimon, Arsen, Chrom, Cobalt, Nickel, Quecksilber <strong>und</strong> Zink<br />

Einige dieser Substanzen sind zugleich Kontakt-Allergene.<br />

Ist die Pathologie an der Haut einmal in Gang gesetzt, so sinkt die Resistenzschwelle der<br />

Haut <strong>und</strong> es braucht viel weniger Reizung um die Krankheit zu unterhalten.<br />

Viele Berufe haben das Risiko eines toxischen Ekzems. Speziell betroffen sind Berufsgruppen<br />

mit viel Kontakt zu Wasser sowie einigen der oben beschriebenen Substanzen, <strong>und</strong> ungenügendem<br />

Hautschutz (Frisöre, Bauarbeiter, Hauswartungen, Nahrungsmittelindustrie,<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen, Gartenbau etc.). Ein weiteres Problem stellt der unsachgemässe Umgang<br />

mit Lösungsmitteln in der metallverarbeitenden Industrie dar, sind diese doch stark entfettend<br />

<strong>und</strong> zerstören damit den Säureschutzmantel.<br />

Eine Gruppe von Chemikalien führt, wenn sie auf die Haut gelangen, durch Aufnahme von<br />

UV-Licht zu einem toxischen Ekzem. Beispiele sind Teerderivate <strong>und</strong> diverse Pflanzen (incl.<br />

Sellerie).<br />

Klinik<br />

Toxische Ekzeme beginnen meist schleichend an einer oder beiden Händen. Ausgehend von<br />

einer leicht juckenden, mehr brennenden Rötung entwickelt sich eine Verhornungsstörung,<br />

die häufig mit ausgedehnter Rhagadenbildung einhergeht.<br />

Im Verlauf ist das Ekzem über die Wochenenden kaum besser, kann jedoch nach den Ferien<br />

besser sein. In der Regel bleibt das toxisch-irritative Ekzem an der inititalen Stelle <strong>und</strong> breitet<br />

sich nicht aus.<br />

61


Differentialdiagnostisch wie morphologisch unterscheidet sich das allergische Kontaktekzem<br />

aber kaum vom toxisch-irritativen. Deshalb ist <strong>zur</strong> Differenzierung häufig eine Hauttestung<br />

mit den betroffenen Chemikalien notwendig.<br />

Behandlung<br />

Die Behandlung stützt sich zum einen auf die Verringerung der Entzündung sowie den<br />

Wiederaufbau der normalen Haut. Dazu sei auf die dermatologische Fachliteratur verwiesen.<br />

Indessen sind alle therapeutischen Versuche zwecklos, wenn nicht die betroffene Person<br />

begleitende Massnahmen am Arbeitsplatz <strong>und</strong> im Privatleben einführt. Für den Arbeitsplatz<br />

drängen sich technische Massnahmen <strong>zur</strong> Veränderung der Prozesse sowie Hautschutz mittels<br />

Cremen <strong>und</strong> persönlichen Schutzartikeln auf. Im Privatleben soll eine peinliche Hautpflege<br />

sowie minimaler Wasserkontakt angestrebt werden.<br />

Allergisches Ekzem (ca. 20 % der Fälle)<br />

Mögliche berufliche Exposition<br />

Die Liste der möglichen Kontaktekzem verursachenden Substanzen wird immer länger.<br />

Häufig handelt es sich um Substanzen aus dem täglichen Leben (z.B. Konservierungsmittel,<br />

Parfume, Nickel).<br />

Zur Entwicklung eines Kontaktekzemes sind ca. 4 Wochen Kontakt notwendig. Indessen<br />

haben die meisten Leute über Monate oder gar Jahre Kontakt mit den Substanzen, bis sie<br />

allergisch reagieren. Ursache <strong>für</strong> den Wandel können veränderte Arbeitsbedingungen, eine<br />

unspezifische Dermatitis oder sonstige Veränderungen der Hautzusammensetzung sein.<br />

An Berufsgruppen können praktisch alle Berufe betroffen sein. Indessen stechen wiederum<br />

die Berufe mit einer erheblichen mechanischen Belastung der Haut sowie häufigem Wasserkontakt<br />

<strong>und</strong> ungenügender Hautpflege hervor.<br />

Die folgende Tabelle gibt eine Auswahl der wichtigsten betroffenen Berufsgattungen.<br />

Berufsgattung Mögliches Allergen<br />

Textilindustrie Farbstoffe, Formaldhyd<br />

Malergewerbe Epoxy-Harze, Acrylate<br />

Druckereien Epoxy-Harze, Acrylate<br />

Gartenbau/Agrobusiness Pestizide, Pflanzen, Gummi<br />

Nahrungsmittelindustrie Geschmacksverstärker, Konservierungsmittel<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen (inkl. Veterinäre) Gummi, Desinfektionsmittel, Acrylate,<br />

Medikamente<br />

Frisöre Paraphenylendiamin, Nickel, Gummi, Parfums<br />

Metallverarbeitende Industrie Biozide in Kühlflüssigkeiten, Metalle<br />

Gummiherstellung Thiurame, Carbamate<br />

Lederherstellung Chromate, Formaldehyd<br />

Plastikindustrie Formaldehyd, phenolische <strong>und</strong> Epoxy-Harze<br />

Bauindustrie Chromat im Zement<br />

Ein Spezialfall stellen Photo-allergische Reaktionen dar. Die Substanz wird durch Licht<br />

chemisch in ein Allergen umgewandelt <strong>und</strong> führt damit zum Ekzem. Als Vertreter davon<br />

seien PABA-Ester zum Sonnenschutz erwähnt.<br />

62


Klinik<br />

Das wichtigste klinische Symptom der Kontaktallergie ist der Juckreiz. Dieser ist praktisch<br />

obligat <strong>und</strong> geht häufig den weiteren Hautveränderungen voraus.<br />

Ausgehend von einer Rötung entwickeln sich Papulo-vesikel, die typische Morphe des allergischen<br />

Ekzems. Mit weiterem Fortschreiten bildet sich jedoch auch eine Verhornungsstörung,<br />

z.T. mit Rhagadenbildung aus. Damit ist das allergische Ekzem morphologisch kaum<br />

mehr vom toxischen zu unterscheiden.<br />

Ein weiteres Merkmal der Kontaktallergie ist indessen die Möglichkeit der Ausbreitung an<br />

andere Hautstellen (Gesicht, Vorderarme etc.), wahrscheinlich durch unbemerktes Verschleppen<br />

der Substanz.<br />

Die Diagnose einer Kontaktallergie erfolgt über die patch-Testung. Neben einer Standardreihe<br />

sollen immer auch die von der betroffenen Person angeschuldigten Substanzen mit untersucht<br />

werden. Dabei kommt es darauf an, die richtige Verdünnung der Substanz zu finden, erhält<br />

man sonst ein nicht verwertbares Resultat.<br />

Behandlung<br />

Die Behandlung einer Kontaktallergie stützt sich auf die Verringerung der Entzündung sowie<br />

den Wiederaufbau der normalen Haut. Für die Details der Behandlung sei auf die einschlägige<br />

Literatur verwiesen.<br />

Flankierend dazu muss der Kontakt zum Allergen am Arbeitsplatz (wie auch im Privatleben)<br />

ausgeschlossen werden. Das kann unter Umständen eine Versetzung an eine andere Arbeit<br />

oder gar eine Umschulung nach sich ziehen. Welche Massnahmen getroffen werden müssen,<br />

hängt vom jeweiligen Allergen ab. Je weiter verbreitet das Allergen (z.B. Epoxy-Harze),<br />

desto einschneidender die notwendigen Massnahmen <strong>zur</strong> Verhinderung eines Rezidives.<br />

Literatur<br />

1. Shama S., Chapter 17:Occupational Skin disorders in McCunney RJ; A practical approach<br />

to Occupational and Environmental Medicine 2nd ed, 1994<br />

2. Cohen DE, Chapter 46; Occupational Skin Disease, in Rom; Environmental and<br />

Occupational Medicine 3rd ed.1998,<br />

3. Ziegler G; Berufliche Hautkrankheiten, Suva, 2869/11 d<br />

4. Fünfjahresbericht UVG 1998-2002, Suva, 2004<br />

63


2.6 Die Berufskrebse<br />

Allgemeines<br />

Der erste Berufskrebs wurde 1775 in England durch Sir Perceval Pott beschrieben, nachdem<br />

er den Hodenkrebs der Kaminfeger der Wirkung des Russes zugeschrieben hatte. Seither<br />

wurden etliche chemische Substanzen beschrieben, die einen engen Zusammenhang mit dem<br />

gehäuften Auftreten gewisser Krebse innerhalb exponierter Gruppen von Arbeitern zeigen.<br />

Manchmal wurde die kanzerogene Wirkung eines Produktes nur beim Tier aufgezeigt, mit der<br />

Annahme, dass eine solche Feststellung de facto auch <strong>für</strong> den Menschen gilt.<br />

In den Industrieländern entwickeln ein bis zwei auf vier Individuen im Laufe ihres Lebens<br />

einen Krebs. Beim Erwachsenen ist dies verb<strong>und</strong>en mit verschiedenen Faktoren, abhängig<br />

von Lebensstil <strong>und</strong> Umwelt. Man nimmt an, dass 2 bis 8% aller Krebse beim Menschen durch<br />

berufliche Exposition bedingt sind. Die unten stehende Tabelle aus der bekannten Studie von<br />

Doll <strong>und</strong> Peto zeigt die Rolle der beruflichen Aktivität in der Ätiologie der Krebse (4% der<br />

Todesfälle):<br />

64<br />

beste Schätzung in % akzeptable Grenzwerte in %<br />

berufliche Aktivitäten 4 2 - 8<br />

Industrieprodukte


Karzinogenese<br />

Hypothesen: Zwei Mechanismen scheinen eine Rolle zu spielen: der eine durch Veränderung<br />

oder Mutation des Genoms selber (Aktivierung eines Proto-Onkogens oder Inaktivierung von<br />

supprimierenden Genen oder Anti-Onkogenen), der andere (epigenetisch, nicht genetisch)<br />

durch Interferenz mit den Mechanismen der Zellteilung, ohne unbedingt das Zellgenom zu<br />

verändern. Man spricht zwar von Initiatoren oder Promotoren, aber die beiden (genotoxisch<br />

<strong>und</strong> epigenetisch) Mechanismen überlagern sich wahrscheinlich oft: die eigentlichen Kanzerogene<br />

(Initiatoren) würden eine Mutation in der Endform von proliferierenden veränderten<br />

Zellen hervorrufen, stimuliert ihrerseits durch andere epigenetisch aktive Kanzerogene<br />

(Promotoren).<br />

Initiatoren Promotoren<br />

genotoxisch nicht genotoxisch, epigenetischer Mechanimus<br />

Karzinogene allein Karzinogene nur mit Initiator<br />

generell sehr elektrophile, höchst aktive nicht elektrophile Komponenten<br />

Komponenten (oft freie Radikale)<br />

kovalente nukleophile Verbindungen (DNS),<br />

die zu irreversiblen Veränderungen des<br />

genetischen Materials führen<br />

ihre Wirkungen werden im allgemeinen<br />

durch Schnelltests nachgewiesen<br />

eine Schwellendosis kann nicht verifiziert<br />

werden<br />

im allgemeinen nicht an die DNS geb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> sie nicht verändernd; reagieren durch<br />

Induktion der Zellproliferation.<br />

Die Wirkung kann reversibel sein.<br />

ohne Wirkung in den Schnelltests<br />

es existiert wahrscheinlich eine Schwelle<br />

Unterscheidung zwischen Initiatoren <strong>und</strong> Promotoren der Karzinogenese nach LaDou J.<br />

Occupational & Environmental Medicine [2].<br />

Kenntnis der Schwellendosis<br />

Für einige genetisch nicht-aktive Substanzen kann man sogar eine Schwellendosis identifizieren,<br />

bei welcher ein Krebsrisiko besteht. Dann werden ungenügende Dosen, um biochemische<br />

oder morphologische Zellstörungen hervor<strong>zur</strong>ufen, als ohne kanzerogenes Risiko<br />

betrachtet. Hingegen besteht eine grosse Kontroverse in Bezug auf Substanzen mit<br />

genetischem Wirkungsmechanismus. Die einen beschränken sich auf Phänomene im Zellinnern,<br />

welche die kanzerogenen Substanzen inaktivieren <strong>und</strong> die DNS reparieren, um zu<br />

bestätigen, dass es eine Schwelle des Ueberschreitens der Fähigkeit dieser Mechanismen <strong>zur</strong><br />

Inaktivierung <strong>und</strong> Reparation geben muss. Andere denken, dass gewisse Moleküle des<br />

kanzerogenen Stoffes oder seiner Metabolite dem Inaktivierungsmechanismus entgehen, auch<br />

wenn diese Wahrscheinlichkeit klein ist, <strong>und</strong> fixieren sich auf die DNS. Da eine kritische<br />

Mutation genügt, um einen Krebs zu induzieren, ist die Definition einer Schwellendosis<br />

unmöglich. Umgekehrt weiss man nicht, ob die genannten Reparaturen auf dem Niveau der<br />

DNS mit Sicherheit ohne Irrtümer sind.<br />

Wie schon erwähnt, ist es infolge der langen Latenzzeit schwierig, den Kausalzusammenhang<br />

zwischen einer Substanz <strong>und</strong> dem entstehenden Krebs zu beweisen. Weiterhin wird das<br />

Vorhandensein von Mechanismen mit genetischer <strong>und</strong> nicht-genetischer Wirkung in der<br />

Kanzerogenese noch diskutiert. Diese akademischen Spannungen erklären die Komplexität<br />

<strong>und</strong> die Dynamik der Klassifizierung der kanzerogenen Stoffe in der <strong>Arbeitsmedizin</strong>.<br />

65


Evaluationsmethoden der Kanzerogenität von Substanzen<br />

Sie sind epidemiologisch <strong>und</strong> experimentell. Die epidemiologischen Studien zeigen die<br />

kanzerogene Aktivität von gewissen Substanzen beim Menschen durch erhöhte Prävalenz bei<br />

exponierten Arbeitern (meist Fall-Kontroll-Studien). Die experimentellen Studien beruhen<br />

auf klassischen Tierexperimenten, In-vitro-Tests an Säugetierzellen, Schnelltests (Messung<br />

der Veränderung der DNS, Mutationen, Chromosomeneffekte) mit Indikatoren von Viren,<br />

Bakterien, Pilzen, Pflanzen <strong>und</strong> sogar Insekten. Ein guter Schnelltest ist derjenige von Ames,<br />

der die Induktion von Mutanten innerhalb der Stämme Salmonella typhi murium analysiert,<br />

wobei auch andere Organismen verwendet werden können. Zu Beginn definierten Ames <strong>und</strong><br />

seine Mitarbeiter als Mutagene eine Gesamtheit von Substanzen, welche 90% einer Batterie<br />

von als kanzerogen bekannten Substanzen darstellen, <strong>und</strong> 13% der Produkte, die als nicht<br />

kanzerogen betrachtet werden, stellten einen gewissen Grad von Mutagenität dar.<br />

Global gesehen waren die experimentellen Studien beim Tier gute Prädiktoren <strong>für</strong> die<br />

Kanzerogenität beim Menschen, da ungefähr ein Drittel der <strong>zur</strong> Zeit <strong>für</strong> den Menschen<br />

bekannten kanzerogenen Substanzen vorher auch <strong>für</strong> das Tier kanzerogen war. Hingegen gibt<br />

es manchmal verschiedene Sensitivitäten <strong>und</strong> Reaktionen gegenüber Substanzen zwischen<br />

den verschiedenen Spezies <strong>und</strong> einem Kanzerogen. Eine Reaktion z.B. beim Tier muss nicht<br />

unbedingt dieselbe beim Menschen sein.<br />

Die epidemiologischen Studien stossen an die Grenzen, wenn sie die Effekte der Exposition<br />

gegenüber neuen Substanzen oder neuen eventuell kanzerogenen Agenzien aufzeigen sollen:<br />

oft ist die exponierte Population klein oder die Expositionsdosis minimal. So ist es praktisch<br />

unmöglich, jeglichen Berufskrebs, dessen Erhöhung weniger als 20-30% der gewöhnlichen<br />

Prävalenz beträgt, zu entdecken.<br />

Kriterien der Kanzerogenität <strong>und</strong> Klassifikation<br />

Um die Kanzerogenität einer Substanz zu berücksichtigen <strong>und</strong> zu bestimmen, sind die von der<br />

OSHA (Occupational Safety and Health Administration) vorgeschlagenen Kriterien geeignet,<br />

durch welche sich auch die europäische Gesetzgebung in ihrer Leitbestimmung 67/548 der<br />

CEE hat inspirieren lassen. Sie enthalten die gesetzlichen <strong>und</strong> administrativen Richtlinien <strong>und</strong><br />

Reglementierungen in Bezug auf die Klassifizierung, Verpackung <strong>und</strong> Etikettierung<br />

gefährlicher Substanzen, besonders jener, von denen man annimmt, sie würden einen Krebs<br />

induzieren (R45). Die Kriterien lauten wie folgt:<br />

– Substanz, die <strong>für</strong> den Menschen bereits als kanzerogen bekannt ist<br />

– Substanz, die <strong>für</strong> zwei Säugetierspezies kanzerogen ist<br />

– Substanz, die nur <strong>für</strong> eine Säugetierspezies kanzerogen ist, jedoch mit positiven Resultaten<br />

im Verlauf von zwei verschiedenen Experimenten<br />

– Substanz, die <strong>für</strong> eine einzige Säugetierspezies kanzerogen ist, jedoch mit positiven Resultaten<br />

in einem Schnelltest<br />

Zur Klassifikation dieser Substanzen benützt man diejenige, die von einem Expertenkomitee<br />

der WHO vorgeschlagen wurde (Klassifizierung ICRC: WHO + IARC [The International<br />

Agency for Research on Cancer]).<br />

66


Sie unterscheidet 4 Kategorien [3]:<br />

Gruppe 1 <strong>für</strong> den Menschen kanzerogene Substanzen, Substanzgruppen oder<br />

Industrieprodukte<br />

Gruppe 2 A wahrscheinlich <strong>für</strong> den Menschen kanzerogene Substanzen oder<br />

Substanzgruppen<br />

Gruppe 2 B Substanzen oder Substanzgruppen, die <strong>für</strong> den Menschen kanzerogen sein<br />

können<br />

Gruppe 3 Substanzen oder Substanzgruppen, die bezüglich ihrer Kanzerogenität nicht<br />

klassifiziert werden können<br />

Gruppe 4 wahrscheinlich nicht kanzerogene Substanzen oder Substanzgruppen<br />

Die folgende Liste beschreibt zum Beispiel die Substanzen der Gruppe 1 [2]:<br />

Substanzen hauptsächliche Lokalisation der Tumoren<br />

Arsen <strong>und</strong> Arsenderivate<br />

Asbest<br />

Chrom (gewisse 6-wertige Derivate)<br />

Nickel (Raffinerie)<br />

Benzol<br />

Auramin<br />

β-Naphtylamin<br />

Benzol<br />

Benzidin<br />

Beryllium<br />

Kadmium<br />

4-Aminodiphenyl<br />

4-Nitrodiphenyl<br />

Di(chloromethyl)aether<br />

Chlormethylmethylaether (Technik)<br />

Vinylchlorid<br />

Erionid<br />

Teer, Russ, Teerpech, Mineralöle<br />

Produktion von Isopropylalkohol (Prozedur<br />

starker Säure)<br />

Senfgas<br />

gewisse polyzyklische Kohlenwasserstoffe<br />

Starke anorganische Schwefelsäure enthaltende<br />

Säuren<br />

Aethylenoxid<br />

Holzstaub<br />

Haut, Lunge<br />

Lunge, Pleura<br />

Lunge, Larynx, Nasenhöhlen<br />

Nasenhöhle, Lunge, Larynx<br />

Knochenmark<br />

Blase<br />

Blase<br />

Leukämie<br />

Blase<br />

Lunge<br />

Lungen<br />

Blase<br />

Blase<br />

Lunge<br />

Lunge<br />

Leber (Lunge, ZNS, Lymphsystem)<br />

Pleura<br />

Haut, Lunge<br />

Nasenhöhle, Larynx, Lunge<br />

Lunge<br />

Lunge, Haut (Blase)<br />

Lunge<br />

Leukämie<br />

Nasenhöhle, Sinus<br />

Diese Liste ist nicht abschliessend. Man kann ihr noch die ionisierenden Strahlen (Leukämie,<br />

Haut, anderer Krebs), das Radium (Osteosarkom), das Radon (Lunge) <strong>und</strong> die Sonnenbestrahlung<br />

(Haut) hinzufügen.<br />

67


Ein anderer nützlicher Zugang, ebenfalls zu Gruppe 1, besteht in der Nennung der Industrie<br />

oder der Art der Aktivität mit bekanntem kanzerogenem Risiko.<br />

Indistrie Art der Aktivität hauptsächliche Lokalisation kausales oder<br />

des Krebses<br />

verdächtiges Agens<br />

Landwirtschaft, Berieseln mit arsenhaltigen Haut, Lunge<br />

Arsen <strong>und</strong> Metabolite<br />

Wälder, Fischfang Insektiziden<br />

Berufsfischer<br />

Haut, Lippen<br />

UV-Strahlen<br />

Minen Arsenmineure<br />

Haut, Lunge<br />

Arsen <strong>und</strong> Derivate<br />

Eisenmineure (Hämatit) Lunge<br />

Radon<br />

Asbestmineure<br />

Lunge, Pleura<br />

Asbest<br />

Uraniummineure<br />

Lunge<br />

Radon<br />

Talkmineure<br />

Lunge<br />

Asbestfasern enth.Talk<br />

Chemie<br />

Produktion von Di(chlormethyl)- Lunge<br />

Di(chlormethyl)aether<br />

(Produktion) aether, Chlormethylaether,<br />

<strong>und</strong> Chlormethylaether<br />

Vinylchlorid,<br />

Leber (Angiosarkom) Vinylchlorid<br />

Chrompigmenten,<br />

Lunge, Larynx, Nasenhöhle 6-wertiges Chrom<br />

Farbstoffen,<br />

Blase<br />

Benzidin, 2-<br />

Naphtylamin, 4-<br />

Aminodiphenyl<br />

Pestiziden, Herbiziden usw. Lunge<br />

Arsen <strong>und</strong> Derivate<br />

Leder Stiefel-<strong>und</strong> Schuhfabrikation Sinus,Leukämie Lederstaub, Benzol<br />

Holz <strong>und</strong> Derivate Lieferanten, Schreiner,<br />

Dachdecker<br />

Sinus Holzstaub<br />

Gummi Gummiproduktion<br />

Leukämie<br />

Benzol<br />

Blase<br />

aromat. Amine<br />

Pneufabrikation<br />

Leukämie<br />

Benzol<br />

Latex-, Kabelproduktion, usw. Blase<br />

aromat. Amine<br />

Asbest Produktion, Isolierungen,<br />

Verarbeitung von Textil u.<br />

Faserzement<br />

Lunge, Pleura Asbest<br />

Metallurgie Produktion von Aluminium Lunge, Blase<br />

polyzyklische aromat.<br />

Kohlenwasserstoffe<br />

(PAK), flüchtige<br />

Teerbestandteile<br />

Kupfer<br />

Lunge<br />

Arsen <strong>und</strong> Derivate<br />

Chrom<br />

Lunge, Larynx, Nasenhöhle 6-wertiges Chrom<br />

polyzyklische aromat.<br />

Eisen <strong>und</strong> Giessereien<br />

Lunge<br />

Kohlenwasserstoffe<br />

(PAK),<br />

Dämpfe,Kieselerde<br />

Nickelraffinerien<br />

Nasenhöhle, Lunge, Larynx Nickelzus.- setzungen<br />

Cadmiumproduktion (Batterien,<br />

Cadmium <strong>und</strong> Derivate<br />

Pigmente, Elektroden, Löten),<br />

Zusammensetzung von<br />

Polyvinylchlorid<br />

Lunge<br />

Metallurgie Berylliumproduktion u. raffinerie Lunge Beryllium <strong>und</strong> Derivate<br />

Schiffswerft, Konstruktion-Isolation von Lunge, Pleura Asbest<br />

Automobilind.,<br />

Eisenbahnen<br />

Schiffen, Autos <strong>und</strong> Wagons<br />

Bau, Baustellen Sanit. Installationen u.<br />

Isolationen<br />

Lunge, Pleura Asbest<br />

Asphaltierung Lunge polyzyklische aromat.<br />

Kohlenwasserstoffe<br />

(PAK)<br />

Anderes med. <strong>und</strong> paramed. Aktivitäten<br />

Malerarbeiten (Bau, Industrie,<br />

Haut, Leukämie<br />

ionisierende Strahlen<br />

Automobil, Karosserie usw.) Lunge<br />

nicht identifiziert<br />

nach Waldron HA <strong>und</strong> Edling C. Occupational Health Practice herausgegeben [4].<br />

68


Gestützt auf die oben beschriebenen Kenntnisse hat die Suva <strong>für</strong> die Schweiz eine Liste<br />

kanzerogener Substanzen herausgegeben [5]: Darin spricht sie von "Substanzen, bei denen die<br />

Erfahrung gezeigt hat, dass sie sich beim Menschen im Forschungsexperiment als kanzerogen<br />

erwiesen haben, <strong>und</strong> zwar unter vergleichbaren Bedingungen mit der Exposition eines<br />

Menschen am Arbeitsplatz". Es werden zwei deutlich verschiedene Gruppen genannt:<br />

Substanzen, <strong>für</strong> die ein MAK-Wert [5], (siehe Kap. 1.3, Seite 6 f) existiert <strong>und</strong> solche, <strong>für</strong> die<br />

man noch nicht über die nötigen Daten <strong>zur</strong> dessen Bestimmung verfügt. Diese Unterscheidung<br />

beruht auf der vorherigen Diskussion über die Schwellendosis <strong>und</strong> veranlasst die<br />

Suva zu folgendem Kommentar: "Mindestens beim aktuellen Wissensstand ist es unmöglich,<br />

<strong>für</strong> chemische Kanzerogene eine sicher unschädliche Konzentration anzugeben. Die<br />

Respektierung eines eventuellen MAK-Wertes gibt keine Sicherheit gegenüber einem sehr<br />

kleinen "Rest"risiko eines bösartigen Tumors. Dieses Risiko scheint jedoch nicht höher zu<br />

sein als dasjenige, welches gewisse Umweltfaktoren <strong>für</strong> die Menschen darstellen, zum<br />

Beispiel die allgemeine Luftverschmutzung. Da hingegen die kanzerogene Wirkung einer<br />

Substanz, wie im Falle jeden schädlichen Produktes, von der Luftkonzentration <strong>und</strong> der<br />

Expositionsdauer abhängt, müssen diese Werte unbedingt <strong>und</strong> in jedem Fall so gering wie<br />

möglich gehalten werden."<br />

Prävention <strong>und</strong> medizinische Überwachung<br />

Wenn man von der Präventions-"kaskade" gegen Berufskrankheiten am Arbeitsplatz ausgeht<br />

– Ersatz einer schädlichen Substanz durch eine weniger gefährliche, Herstellung hinter<br />

verschlossenen Türen, (in R<strong>und</strong>schaltung, Isolation des Produktes), reduzierte Exposition<br />

(lokale Aspiration, Kondensation toxischer Dämpfe), Tragen persönlicher Schutzmittel, limitierte<br />

Kontaktdauer mit dem schädlichen Produkt – so muss natürlich die Ausschaltung des<br />

kanzerogenen Agens als Ziel ins Auge gefasst werden. Für klar dokumentierte Substanzen ist<br />

dies nicht allzu schwierig. Hingegen ist dies in Anbetracht der Kontroversen zu den Schwellendosen<br />

<strong>und</strong> der Unsicherheiten <strong>für</strong> eine grosse Zahl von anderen Substanzen oft nicht<br />

möglich. Auch das Bedürfnis <strong>und</strong> der Druck der Industrie sowie die ökonomischen, politischen,<br />

technischen <strong>und</strong> sozialen Interessen erschweren die Erreichung dieses Ziels. Dennoch<br />

muss ein maximaler Schutz des Arbeiters angestrebt werden.<br />

Bezüglich Krebsrisiko beruht die medizinische Überwachung auf zwei Pfeilern: einerseits auf<br />

einem sensitiven <strong>und</strong> einfach auszuführenden Screeningtest <strong>und</strong> anderseits, im Falle der Entdeckung<br />

von präkanzerösen Anomalien oder von Tumoren im Frühstadium, auf einer Behandlung<br />

oder wirksamen Massnahme, welche Mortalität <strong>und</strong> Morbidität reduziert. Allerdings<br />

ist es in der <strong>Arbeitsmedizin</strong> oft schwierig, diese Anforderungen zu erfüllen.<br />

Neben den oben erwähnten Messungen der Konzentration der Kanzerogene in der Umgebung<br />

der Arbeitsplätze <strong>und</strong> entsprechenden MAK-Werten gibt es <strong>für</strong> einige kanzerogene Substanzen<br />

die Möglichkeit des biologischen Monitorings, wobei man sich im Klaren sein muss,<br />

dass <strong>zur</strong> Zeit keine maximalen unschädlichen Konzentrationen festgelegt werden können. Das<br />

Risiko sollte sich auf demselben Niveau befinden, wie es durch andere Umwelteinflüsse, wie<br />

die Luftverschmutzung im allgemeinen, hervorgerufen wird. Da dasselbe Risiko mit der<br />

Konzentration <strong>und</strong> der Expositionsdauer variiert, sollten diese immer nach Möglichkeit<br />

maximal reduziert werden. "Das biologische Monitoring besteht in der Quantifizierung der<br />

Exposition des Arbeiters gegenüber einer chemischen Substanz, indem man diese oder ihre<br />

Metaboliten in einem biologischen Substrat (Belastungsparameter) misst oder durch die<br />

Variation eines biologischen Indikators, der von der Reaktion des Organismus auf die<br />

betreffende chemische Substanz zeugt (Versuchsparameter)" [5]. Indem man die erhaltenen<br />

69


Resultate mit den existierenden biologischen zulässigen Werten (BAT) in Beziehung bringt,<br />

kann man das Ges<strong>und</strong>sheitsrisiko beurteilen.<br />

Für die Schweiz hat die Suva BAT-Werte (biologische Arbeitsstoff-Toleranz-Werte) [5],<br />

(siehe Kap. 1.3, Seite 6 f) <strong>für</strong> 4 kanzerogene Substanzen aufgestellt: Cadmium, 6-wertiges<br />

Chrom, Kobalt, Nickel (Metall, Karbonat, Oxyd, Sulfat).<br />

Schweizerische Statistiken<br />

Die Suva unterteilt die Berufskrankheiten grob in 9 Gruppen [6]: Bewegungsapparat,<br />

Hautkrankheiten, andere Krankheiten (durch unbekannte Substanzen bedingt, Risiko durch<br />

Stiche, Schnitte, Übertragung, Tropenkrankheiten), lärmbedingte Taubheit, Krankheiten der<br />

Atmungsorgane, physikalische Agenzien (90% = durch Löten verursachte Erblindung,<br />

Vibrationen, Kälte, Kompressionsluft), Vergiftungen (CO, Toluen, halogenierte organische<br />

Verbindungen), Erkrankungen durch Asbest, nicht durch Asbest bedingte Pneumokoniosen.<br />

Anerkannte Berufskrankheitsfälle nach Krankheitsgruppe, alle Versicherer, 1993 bis 1997,<br />

geordnet nach Häufigkeit im Jahre 1993:<br />

Das schweizerische Register der Berufskrankheiten wurde 1990 eingeführt. Es verfügt über<br />

eine detaillierte Analyse der als Berufskrankheit anerkannten Malignome, dargestellt in einer<br />

Publikation der Suva über die Unfallstatistiken von 1983-1987. Darin waren von 121 anerkannten<br />

Krebsfällen 101 durch Asbest, 10 durch aromatische Amine <strong>und</strong> 4 durch Holzstaub<br />

bedingt. Dazu kamen in der gleichen Zeitperiode noch 6 durch die Gruppe Teer/Asphalt/ Pech<br />

verursachte Krebsfälle [7].<br />

Im Auszug von 1989 fand man 26 durch Asbest (hauptsächlich Pleura-Mesotheliome), 3<br />

durch aromatische Amine (Tumoren der Harnwege) <strong>und</strong> 3 durch Holzstaub (Tumoren der<br />

Nasenhöhle) verursachte Karzinome.<br />

70<br />

2000<br />

1800<br />

1600<br />

1400<br />

1200<br />

1000<br />

800<br />

600<br />

400<br />

200<br />

0<br />

1993 1994 1995 1996 1997<br />

Bewegungsapparat Hautkrankheiten<br />

Andere Krankheiten Lärmschwerhörigkeit<br />

Atemwegkrankheiten Physikalische Einwirkungen<br />

Vergiftungen Asbest-Krankheiten<br />

Staublungen (exkl. Asbestose)


Von 1993 bis 1997 wurden 243 Krebsfälle als Berufskrankheiten anerkannt. Davon handelt es<br />

sich bei 200 um bösartige durch Asbest verursachte Tumoren, wovon 193 Pleura-Mesotheliome<br />

sind. Weiterhin findet man 25 Fälle von mehrheitlch durch aromatische Amine<br />

provozierte Malignome der Blase, ferner noch 7 durch den Holzstaub verursachte Krebse der<br />

Nasenhöhle <strong>und</strong> der Sinus.<br />

Mittelwert der anerkannten Berufskrebse <strong>und</strong> ursächliche Substanzen. Suva:<br />

Fünfjahresperiode 1993-97<br />

"Für die Jahre 1993-1997 machen allein die Kosten <strong>für</strong> die ausbezahlten Überbliebenenrenten<br />

im Falle von Erkrankungen durch Asbest im Durchschnitt mehr als 20% der durch Berufskrankheiten<br />

verursachten Gesamtkosten aus. In der Gruppe der Erkrankungen der Luftwege<br />

haben die durch Holzstaub bedingten Krebse am meisten Kosten verursacht. Weiter sind die<br />

Hinterlassenenrenten aus der Gruppe "andere Krankheiten" <strong>zur</strong> Hauptsache den Blasenkrebsen<br />

durch Arylamine zuzuschreiben."<br />

Zuteilbare Kostenanteile der Krankheitsgruppen, alle Versicherer, 1993 bis 1997, geordnet<br />

nach Kostenanteil im Jahre 1993<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

Asbest<br />

Aromatische<br />

Amine<br />

Holzstaub<br />

1.4<br />

5<br />

0 10 20 30 40<br />

Anzahl Fälle<br />

1993 1994 1995 1996 1997<br />

40<br />

Asbest-Krankheiten<br />

Atemwegkrankheiten<br />

Hautkrankheiten<br />

Bewegungsapparat<br />

Lärmschwerhörigkeit<br />

Andere Krankheiten<br />

Staublungen (exkl. Asbestose)<br />

Vergiftungen<br />

Physikalische Einwirkungen<br />

71


Tatsächlich machen die Berufskrebse durch die Hinterlassenenrenten einen überwiegenden<br />

Anteil der Versicherungskosten aus (indirektes Abbild der Mortalität).<br />

Prozentuale Verteilung der Kosten nach Krankheitsgruppe <strong>und</strong> Kostenart, alle Versicherer,<br />

Durchschnitt der Jahre 1993-1997:<br />

Generell ist zu bedenken, dass die Statistiken die Realität unvollständig wiedergeben.<br />

Tatsächlich können die Berufskarzinome wegen der Nicht-Spezifität dieser Affektionen nicht<br />

leicht von anderen Krebsformen abgegrenzt werden, um so mehr als die Krankheit erst nach<br />

einer gewissen Latenzzeit auftritt.<br />

Durch Asbest bedingte Krebse<br />

Wie wir gesehen haben, ist es der Asbeststaub, der die meisten anerkannten Berufsmalignome<br />

verursacht.<br />

Der Asbest ist ein natürliches Silikat mit bemerkenswerten zu Industriezwecken ausnützbaren<br />

Eigenschaften. Seit 1990 ist er in der Schweiz verboten. In den 50er Jahren hat der Asbest<br />

eine rasche Entwicklung <strong>für</strong> zahlreiche Verwendungen erfahren <strong>und</strong> wurde bis zu den 80er<br />

Jahren vielseits benutzt.<br />

Heute weiss man, dass eine intensive Asbestexposition über längere Zeit <strong>zur</strong> Asbestose führen<br />

kann. Diese beinhaltet eine diffuse Verdickung des Lungenparenchyms, das sich in 15-20%<br />

der Fälle nach einer Latenzzeit von im allgemeinen 20 Jahren mit einem Bronchus- oder<br />

Lungenkrebs assoziieren kann. Auch wenn die Wirkung des Asbestes allein <strong>zur</strong> Zeit bekannt<br />

ist, besteht ein synergistischer <strong>und</strong> multiplikativer Effekt mit dem Rauchen.<br />

Eine sogar nur kurz dauernde aber intensive Exposition kann ein Mesotheliom (Sitz in der<br />

Pleura, seltener im Peritoneum) verursachen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e verlangt eine solche<br />

klinische oder anatomische Diagnose die Abklärung nach einer eventuellen Asbestexposition.<br />

Bekanntlich kann die Latenzzeit bis 40 Jahre dauern.<br />

72<br />

Hautkrankheiten<br />

Atemwegkrankheiten<br />

Vergifuntungen<br />

Staublungen (exkl. Asbestose)<br />

Lärmschwerhörigkeit<br />

Bewegungsapparat<br />

Physikalische Einwirkungen<br />

Asbest-Krankheiten<br />

Andere Krankheiten<br />

Prozent<br />

0 5 10 15 20 25 30<br />

Heilkosten Taggeld<br />

Kapialwerte der Invalidenrenten Integritätsentschädigungen<br />

Kapitalwerte der Hinterlassenenrenten


Gewisse Studien weisen auf eine mögliche Rolle des Asbestes bei der Inzidenz der<br />

Karzinome im gastro-intestinalen, laryngealen, ovariellen oder hämopoetischen Bereich sowie<br />

des Brustkrebses hin.<br />

Zurzeit liegt die Zahl der durch den Asbest bedingten deklarierten Erkrankungen jährlich<br />

zwischen 60 <strong>und</strong> 80 (nur einige Fälle zu Beginn der 70er Jahre). Davon sind ungefähr 40<br />

Karzinome. Die Asbesterkrankungen scheinen noch weiter zuzunehmen. Diese Fälle machen<br />

1997 nur 2% der Berufskrankheiten aus, jedoch ungefähr einen Drittel der jährlichen<br />

Todesfälle durch Berufskrankheiten.<br />

Die Suva hat regelmässige Kontrolluntersuchungen reglementiert: Alle 2-3 Jahre werden eine<br />

medizinische Untersuchung, ein Röntgen, eine Messung der Vitalkapazität <strong>und</strong> ein<br />

Tieffeneautest bei den Arbeitern mit einer Exposition in der Vergangenheit durchgeführt,<br />

auch wenn sie <strong>zur</strong> Zeit nicht mehr aktiv sind. Diese Massnahmen gelten vor allem <strong>für</strong> die<br />

früheren Sektoren der chemischen Industrie, des Textilgewerbes, Abrieb-Verputz im Baugewerbe,<br />

der Fabrikation von Asbest-Zement <strong>und</strong> der Isolation. Das Risiko scheint in Isolationsbetrieben<br />

besonders gross zu sein [8].<br />

Krebse durch Holzstaub<br />

Der Holzstaub ist <strong>für</strong> die Adenokarzinome von Nase <strong>und</strong> Sinus verantwortlich. Dies sind<br />

seltene Krankheiten, die nur 0.2-0.8% aller Tumoren ausmachen. Am häufigsten ist das<br />

Adenokarzinom des Ethmoids. Ungefähr 65% der davon betroffenen Personen haben in der<br />

Holzindustrie gearbeitet. Diese Berufsgruppe stellt nur 7% der Gesamtpopulation dar.<br />

In der Klinik sind die spärlichen <strong>und</strong> scheinbar banalen Frühzeichen praktisch die Regel. Die<br />

Latenzzeit zwischen den ersten Symptomen <strong>und</strong> der Diagnosestellung kann gross sein <strong>und</strong><br />

manchmal mehr als 2 Jahre betragen. Die Symptome hängen von Sitz <strong>und</strong> Ausdehnung ab.<br />

– Beim Sitz in der Nase oder den Sinus sind akute Probleme selten. Die Störungen entwickeln<br />

sich progressiv, wie Nasenobstruktion, schleimiger oder schleimig-eitriger Nasenfluss,<br />

minimes wiederholtes Nasenbluten. Die Zeichen sind meist einseitig. Geruchsstörungen<br />

sind häufig, jedoch selten erwähnt.<br />

– Ophthalmologisch können eine Diplopie, ein Exophthalmus sowie plötzliches Tränen<br />

beobachtet werden. Die Schwellung des innern Augenwinkels ist <strong>für</strong> ein auf das Ethmoid<br />

übergreifendes Karzinom bezeichnend.<br />

– Neurologisch werden frontale Kopfschmerzen oder ausnahmsweise diskrete Verhaltensstörungen<br />

(Gereiztheit) beschrieben. Häufig sind verschiedenen Zeichen miteinander<br />

assoziiert.<br />

– Ganz besonders muss betont werden:<br />

– die Einseitigkeit der Symptome<br />

– das fast völlige Fehlen einer akuten Symptomatologie<br />

– die Resistenz gegenüber selbst wiederholten Behandlungen.<br />

Im Gegensatz zu den andern Malignomen der obern Luft- <strong>und</strong> Verdauungswege sind<br />

Metastasen der zervikalen Ganglien sowie Fernmetastasen (Lunge, Leber, Knochen; Hirn)<br />

selten.<br />

Es ist bemerkenswert, dass eine grosse Anzahl von Holstaub exponierten Arbeitern, jedoch<br />

ohne sichtbares Karzinom, eine chronische, hypertrophe Rhinitis, trockene <strong>und</strong> atrophische<br />

Nasenschleimhaut <strong>und</strong> Polypen entwickelt.<br />

73


Krebse durch aromatische Amine<br />

Diese betreffen die Blase. Der Blasenkrebs stellt 2% aller bösartigen Tumoren dar <strong>und</strong> seine<br />

Inzidenz nimmt zu. Das Rauchen ist mit 60% der Fälle die häuigste Ursache. 20% stammen<br />

aus beruflicher Exposition.<br />

1895 beschrieb der Schweizer Urologie Rehn eine Inzidenz von Blasenmalignomen bei<br />

Arbeitern, die mit Anilin als Farbstoff arbeiteten. Später wurden noch weitere beteiligte<br />

Substanzen (Benzidin, Beta-Naphthylamin) entdeckt, deren Absorption durch Inhalation,<br />

Ingestion oder Hautpassage erfolgen kann.<br />

Man nimmt an, dass der wiederholte Kontakt mit dem Kanzerogen im Urin nach der<br />

Konzentrierung des Produktes durch die Niere die Entstehung eines Karzinoms nach sich<br />

zieht. Um kanzerogen zu werden, müssen die aromatischen Amine in der Leber mit der<br />

Glukuronsäure oder mit Sulfaten konjugiert werden. Diese konjugierten Amine gelangen<br />

durch die Nieren in die Harnwege, wo sie der vom pH abhängigen Beta-Glukuronidase<br />

ausgesetzt werden. Das Epithelium ist dann den hydroxylierten kanzerogenen Formen<br />

exponiert, die sich in der Blase anhäufen.<br />

Das Hauptsymptom eines Blasenkarzinoms ist die Hämaturie, die in 80% der Fälle beobachtet<br />

wird. Sie ist häufig beträchtlich, indolent, aber intermittierend. Bei 20% der betroffenen<br />

Individuen kommen noch Reizblase, Dysurie, Nykturie <strong>und</strong> falsche Miktionen dazu.<br />

Sitz von Metastasen sind mit abnehmender Häufigkeit die Beckenganglien, die Lungen, die<br />

Knochen <strong>und</strong> die Leber.<br />

Die Diagnostik besteht in der Zytologie des Urins, die <strong>zur</strong> Früherkennung allgemien<br />

anerkannt ist, verb<strong>und</strong>en mit der Suche nach einer Hämaturie. Tatsächlich liegt in 75% der<br />

Fälle eine abnorme Urinzytologie vor. Dies entspricht einer Sensibilität von 75% <strong>und</strong> einer<br />

Spezifität von 99,9%. Die definitive Diagnose wird durch die Zystoskopie <strong>und</strong> die transurethrale<br />

Biopsie der verdächtigen Zonen gestellt. Die Urinzytologie <strong>und</strong> die Hämaturie<br />

stellen somit wichtige Elemente der medizinischen Überwachung, dort wo sie sich aufdrängt,<br />

dar.<br />

Benzol<br />

Benzol ist ein zyklischer Kohlenwasserstoff der durch Destillation von Rohöl oder Steinkohlenteer<br />

gewonnen wird. Seine Verwendung als Lösungsmittel in der chemischen Industrie<br />

(Produktion von Kosmetika, Seifen, Parfums, Farbstoffe, Sprengstoffe), der Kautschukverarbeitung,<br />

<strong>und</strong> der Schuhindustrie ist weitverbreitet. Es wird zudem als Ausgangsprodukt<br />

<strong>für</strong> die Synthese zahlreicher Zwischen- <strong>und</strong> Endprodukte (Phenol/ Nitrobenzol, Chlorbenzol<br />

etc.) eingesetzt. Benzol kommt auch im Autobenzin mit 1-5 % vor. Ebenfalls findet sich im<br />

Zigarettenrauch 47 ppm Benzol. Ein Raucher (20-30 Zigaretten/Tag) inhaliert somit 2 mg<br />

Benzol täglich (0.2 mg / Tag <strong>für</strong> einen Nichtraucher). Die frühere Verwendung von Benzol<br />

als Entfettungsmittel in der Metallindustrie <strong>und</strong> in chemischen Reinigungen ist heute<br />

untersagt.<br />

Eine benzolbedingte aplatische Anämie wurde erstmalig 1897 beschrieben. Benzol blieb die<br />

häufigste Ursache <strong>für</strong> eine toxische aplastische Anämie bis in die 50er Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Der toxische Effekt ist in klarer Abhängigkeit der aufgenommenen Dosis sowie der<br />

Expositionsdauer. Die Anämie ist nach Beendigung der Exposition reversibel. Indessen ist die<br />

Latenzzeit bis zum Auftreten erster Symptome variabel (Monate bis Jahre). Die Symptome<br />

können auch erst einige Zeit nach Beendigung der Exposition auftreten.<br />

74


In der Literatur sind einige Fallberichte von akuten Leukämien bei Personen mit lang<br />

andauernder aplatischer Anämie oder Panzytopenie beschrieben. Man nimmt die Inzidenzrate<br />

<strong>für</strong> Leukämie bei dieser Population mit 1.7% an. Als mögliche Ursachen werden die toxische<br />

Wirkung von Benzol-Epoxyden <strong>und</strong> phenolische Benzolabkömmlinge auf das Knochenmark<br />

diskutiert.<br />

Die akute Toxizität entspricht derjenigen eines lipophilen Lösungsmittels (s. dort), u.a. Kopfschmerzen,<br />

Benommenheit <strong>und</strong> Übelkeit bis zu einer narkotischen Wirkung.<br />

Benzol wird <strong>zur</strong> Hauptsache über die Lunge aufgenommen. Ca. 50 % einer inhalierten Dosis<br />

wird resorbiert <strong>und</strong> gelangt in die Blutbahn. Benzol wird ebenfalls über die Haut aufgenommen.<br />

Die Elimination von Benzol erfolgt über drei Wege:<br />

– Biotransformation in der Leber (ca. 50-80 %)<br />

– unverändert ausgeatmet (ca. 10-50 %)<br />

– unverändert über die Niere ausgeschieden ( 1 %)<br />

Der aktuelle MAK-Wert der Suva beträgt 1 ppm (ml/m 3 ) oder 3.2 mg/m 3 .<br />

Andere Berufsmalignome<br />

Wie wir in den vorangegangenen Tabellen gesehen haben, gibt es verschiedenartige<br />

Substanzen, die einen Krebs induzieren können. Aus diesem Gr<strong>und</strong> ist die detaillierte<br />

Berufsanamnese das wichtigste Element, um eine eventuelle Exposition am Arbeitsplatz zu<br />

verstehen. Dies kann auch <strong>für</strong> neue Substanzen nützlich sein, um eine mögliches Risiko zu<br />

dokumentieren <strong>und</strong> zu erhärten.<br />

Konkrete Bedeutung<br />

Zur Zeit erlauben unsere Kenntnisse nicht, eine sicher unschädliche Konzentration <strong>für</strong><br />

chemische Kanzerogene anzugeben. Die Respektierung eines eventuellen MAK-Wertes gibt<br />

keine Sicherheit gegenüber einem sehr kleinen "Rest"risiko eines bösartigen Tumors. Da das<br />

Krebsrisiko einer Substanz im allgemeinen von ihrer Konzentration in der Luft <strong>und</strong> der Dauer<br />

der Exposition abhängt, müssen absolut <strong>und</strong> in jedem Fall diese beiden Werte so klein wie<br />

möglich gehalten werden.<br />

Kanzerogene sollten wenn möglich durch andere unschädliche oder weniger schädliche<br />

Substanzen ersetzt werden. Wenn nicht auf deren Benutzung verzichtet werden kann, müssen<br />

technische <strong>und</strong> hygienische Massnahmen am Arbeitsplatz getroffen werden, um das Personal<br />

überhaupt nicht oder nur minimal der Gefahr auszusetzen. Zu diesen Massnahmen gehören<br />

unter anderem die Verminderung der Intensität <strong>und</strong> der Dauer der Exposition, sowie die<br />

regelmässige medizinische Überwachung der exponierten Personen. Zusätzlich sollte die<br />

Anzahl der Personen im Kontakt mit Kanzerogenen so weit wie möglich reduziert werden.<br />

Die Arbeiter, die in den Kontakt mit solchen Substanzen kommen können, müssen über die<br />

Gefahr orientiert werden.<br />

Diese Richtlinien entsprechen denjenigen der Artikel 2, 4 <strong>und</strong> 5 der in der Schweiz ratifizierten<br />

Konvention Nr. 139 der Internationalen Organisation der Arbeit über die Berufskrebse.<br />

75


Literatur<br />

1. Doll R, Peto R. The causes of cancer: Quantitative estimates of avoidable risks of Cancer<br />

in the United States today. Journal of the National Cancer <strong>Institut</strong>e. 1981; 66: 1191 -<br />

1308.<br />

2. LaDou J. Occupational & Environmental Medicine. Second edition. Appleton & Lange,<br />

1997.<br />

3. International labour office (ILO), Geneva. Encyclopaedia of Occupational Health and<br />

Safety. Fourth edition. Volume 1: 2.1-2.18. 1998.<br />

4. Waldron HA, Edling C. Occupational Health Practice. Fourth edition. Butterworth-<br />

Heinemann. Reed Educational and Professional Publishing Ltd 1997.<br />

5. Suva 1903.d, 2001. Grenzwerte am Arbeitsplatz, 112 ff.<br />

Suva. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt. Postfach, 6002 Luzern.<br />

Tel. (041)419 51 11 Fax. (041) 419 59 17 (<strong>für</strong> Bestellungen). Internet : www.suva.ch<br />

6. Suva. Fünfjahresbericht UVG 1993-1997.<br />

7. Suva. Statistik der Berufskrankheiten: Aktuelle Situation <strong>und</strong> Tendenzen,<br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong>. Broschüre Nr. 22. 2869/22.d. Juli 1992.<br />

8. Suva. Schütz R. Asbest bedingte Krankheiten. <strong>Arbeitsmedizin</strong>. Broschüre Nr. 1. 2869.d.<br />

Februar 1984.<br />

76


3 Ergonomie <strong>und</strong> Arbeitsorganisation<br />

3.1 Einführung in die Ergonomie<br />

Definition<br />

Zusammengesetzt aus den griechischen Wörter "ergon" (Arbeit) <strong>und</strong> "nomos" (Gesetz),<br />

bedeutet Ergonomie buchstäblich das Studium oder die Messung der Arbeit.<br />

Die Ergonomie kann als "Anpassung der Arbeit an den Mensch" definiert werden oder<br />

genauer als den Einbezug wissenschaftlicher Kenntnisse über den Menschen <strong>für</strong> die<br />

Entwicklung von Werkzeugen, Maschinen <strong>und</strong> technischen Anlagen, welche von den meisten<br />

Menschen mit einem Maximum an Komfort, Sicherheit <strong>und</strong> Wirksamkeit benutzt werden<br />

können (Alain Wisner).<br />

Geschichtliches<br />

Der Begriff "Ergonomie" wurde offiziell in England 1949 auf die Initiative von Murrel, einen<br />

walisischen Ingenieur, ins Leben gerufen.<br />

Ursprünglich zielte die Ergonomie darauf ab Bedingungen, welche die menschliche Leistung<br />

limitierten, zu verbessern – z.B. in der militärischen Luftfahrt – <strong>und</strong> Mittel zu entwickeln um<br />

die industrielle Produktion zu steigern (speziell in der Industrie, wo die Frauen seit <strong>und</strong><br />

während des 2. Weltkrieges die Männer ersetzen mussten). Immer mehr aber begann die<br />

Ergonomie sich den Risiken der Arbeit <strong>für</strong> die Ges<strong>und</strong>heit der Arbeitnehmenden anzunehmen<br />

um diesen Beeinträchtigungen vorzubeugen. Die Ergonomie verlagerte ihren Schwerpunkt<br />

von der Produktionssteigerung hin <strong>zur</strong> Sicherheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsschutz am Arbeitsplatz; hin<br />

<strong>zur</strong> Erhaltung der Arbeitsfähigkeit.<br />

Ziele<br />

Die Ergonomie :<br />

• erarbeitet die Konzeption von Installationen, Maschinen, Werkzeugen, Arbeitsorganisationen,<br />

usw.<br />

• untersucht das Individuum an der Arbeit; diese Tätigkeitsanalyse <strong>und</strong> Belastungsanalyse<br />

untersucht <strong>für</strong> einen Arbeitnehmer zu einem bestimmten Zeitpunkt den<br />

Zusammenhang zwischen den Ansprüchen der Arbeitsaufgabe <strong>und</strong> seiner Fähigkeit<br />

(physisch <strong>und</strong> mental) diese zu erfüllen.<br />

• zielt darauf ab die Arbeitssituation, die Arbeitsbedingungen sowie die Arbeitsaufgaben,<br />

welche zu erfüllen sind zu verbessern (z.B. gefährliche Arbeitssituationen<br />

zu eliminieren oder zu korrigieren).<br />

Die Ergonomie versucht eine grösstmögliche Übereinstimmung zwischen den Arbeitsanforderungen<br />

<strong>und</strong> den psychischen, sozialen <strong>und</strong> physiologischen Bedingungen <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />

der arbeitenden Person zu finden.<br />

Das Vorgehen der Ergonomie : Arbeits- <strong>und</strong> Tätigkeitsanalyse<br />

Die Ergonomie versucht die Arbeitssituationen in ihrer Gesamtheit zu erfassen:<br />

• die Arbeitsausführenden: Wissen über das Funktionieren des Menschen (physische<br />

Tätigkeit : Arbeitsphysiologie, mentale Tätigkeiten : Arbeitspsychologie!)<br />

• die zu verrichtenden Arbeitsaufgaben (Art der Aufgabe, Menge, zeitliche Bedingungen<br />

/ Frequenz)<br />

• die Arbeitsmethode <strong>und</strong> die Werkzeuge<br />

• die Gestaltung des Arbeitsplatzes<br />

77


78<br />

• die Arbeitsbelastung<br />

� physische Belastung: Haltung, Bewegungsabläufe, Heben <strong>und</strong> Tragen von<br />

Lasten, usw.<br />

� mentale Belastung: Aufmerksamkeit, Vigilanz, Konzentrationsanforderungen,<br />

Genauigkeit, Abwechslung der Aufgaben, Schnelligkeit der Ausführung, usw.<br />

• Arbeitsumgebung<br />

� Einrichtung, Mobiliar<br />

� Beleuchtung<br />

� Temperatur, Feuchtigkeit<br />

� Lärmbelastung<br />

� Umfallrisiko<br />

� Physikalische <strong>und</strong> chemische Exposition<br />

• Arbeitsindikatoren (v.a. im Kollektiv): Produktivität, Arbeitsqualität, Arbeitsanwesenheit<br />

oder Absentismus, Arbeitsunfälle oder Zwischenfälle, arbeitsassoziierte Krankheiten,<br />

Probleme der Eignung <strong>für</strong> ein Arbeitsplatz usw.<br />

• Die Auswirkungen auf den Arbeitenden<br />

Daten-Quellen<br />

• Betriebsdaten<br />

• Fragebogen-Erhebungen bei den Arbeitenden (soziodemographische Daten, ges<strong>und</strong>heitsbezogene<br />

Daten, berufliche Expositionen, Organisatorische Bedingungen usw.)<br />

• Gespräche mit den Arbeitnehmenden <strong>zur</strong> Erkennung von Unfallrisiken, Erkennung<br />

von Arbeitsausführungsproblemen, schwierige Arbeitsstufen usw.<br />

• Direkte Beobachtungen am Arbeitsplatz (meist mittels standardisierten Beobachtungsschemen)<br />

• Physiologische Messungen in der Arbeitssituation können die Arbeitsanalyse vervollständigen<br />

(z.B. Aufzeichnung der Herzfrequenz).<br />

Die Arbeitsplatz Evaluation beinhaltet das subjektive Einschätzen des Arbeitsplatzes durch<br />

den Arbeitenden sowie die, durch die direkte Beobachtung erhobenen, objektiven Daten. Die<br />

Analyse kann auf den Arbeitsplatz oder auf die Arbeitsaufgabe beschränkt sein.<br />

Videoaufzeichnungen werden häufig herangezogen um die einzelnen Arbeitsschritte zu<br />

analysieren oder die Arbeit in Gruppen, hinsichtlich der Arbeitsaufteilung <strong>und</strong> Zeitablaufen,<br />

zu untersuchen. Videoanalysen sind ergänzende Analysen, die aber die direkte Arbeitsbeobachtung<br />

nicht ersetzen können.<br />

Ein solches Vorgehen erlaubt auch die gr<strong>und</strong>legenden Arbeitszyklen zu identifizieren, welche<br />

den sich immer wiederholenden Hauptstätigkeiten entsprechen (z.B. die Zusammensetzung<br />

eines Motors, eines Moduls) sowie dazugehörenden Tätigkeiten die nur ab <strong>und</strong> zu auszuführen<br />

sind (wie das Bereitstellen von Teilchen, Wartung von Maschinen, Aufräumen). In<br />

einem zweiten Schritt können die gr<strong>und</strong>legenden Arbeitszyklen in kleinere Arbeitsschritte<br />

zugelegt werden, wie z.B. Ergreifen eines Teilchens, Schraubenmutter anbringen, Schraubenzieher<br />

aufnehmen, ausschrauben, zusammensetzen, Produkt weiterreichen usw.)


Die ergonomische Analyse erlaubt :<br />

• Das Erkennen der Abweichung zwischen :<br />

� der vorgegebenen Arbeit = Arbeitsauftrag<br />

� der reellen Arbeit = wie sie der Arbeitende ausführt<br />

• Die Variationen im Arbeitszyklus zu erkennen, sowie nicht vorgegebene Arbeitsaufgaben<br />

<strong>und</strong> Strategien, welche aber <strong>für</strong> die Arbeitserfüllung notwendig sind.<br />

• Risikofaktoren zu erkennen insbesondere <strong>für</strong> muskuloskeletale Probleme: Kraftaufwendung,<br />

Zwangshaltungen, repetitive Bewegungen usw.<br />

• Verbesserungsvorschläge <strong>und</strong> Präventionsmassnahmen zu erarbeiten, einen Aktionsplan<br />

zu erstellen, sowie das Begleiten seiner Umsetzung.<br />

Die Durchführung einer ergonomischen Arbeitsanalyse bedingt Zugang zum Arbeitsplatz <strong>und</strong><br />

kann nicht theoretisch oder rein auf Fragenbogenerhebungen realisiert werden. Um wirkungsvoll<br />

zu sein ist es wichtig Verbindungen mit der Direktion eines Unternehmens, den Arbeitnehmenden,<br />

den leitenden Angestellten sowie mit den Präventions-Verantwortlichen<br />

(Hygieniker, Sicherheits-Verantwortliche usw.) aufzubauen.<br />

Literaturhinweise:<br />

– Singleton W.-T. La nature et les objectifs de l'ergonomie. Encyclopédie de santé et<br />

sécurité au travail, vol. 1: 29.2-29.5<br />

– De Keyser V. Analyses d'activités, de tâches et de systèmes de travail. Encyclopédie de<br />

santé et sécurité au travail, vol. 1:29.6-29.11.<br />

– Christol J. Introduction à l'ergonomie. Encyclopédie Médico-Chirurgicale, Toxicologie et<br />

pathologie professionnelle, 16-780-A10.<br />

– St-Vincent M, Chicoine D, Simoneau S. Les groupes ERGO: un outil dans la prévention<br />

des lésions musculosquelettiques associées au travail répétitif. Guide de l'Association<br />

paritaire pour la santé et la sécurité du travail et de l'IRSST du Québec, 1998, 111 pages.<br />

79


3.2 Bildschirmarbeitsplatz<br />

Bedingt durch die technische Entwicklung <strong>und</strong> die Verlagerung der Arbeitswelt in den<br />

westlichen Ländern von der Produktion hin zu Serviceleistungen arbeiten immer mehr<br />

Menschen am Computer: >50 % der Arbeitnehmende brauchen den Computer mindestens<br />

zeitweise (SECO 2004). Im Moment arbeitet 1 % der Beschäftigten während ihrer gesamten<br />

Arbeitszeit am Computer. Die Bildschirmarbeit ist eine statische Arbeit, welche die<br />

Arbeitshaltung einschränkt <strong>und</strong> eine Belastung <strong>für</strong> die Augen darstellt. Die Haltungs- <strong>und</strong><br />

Augenbelastung durch die Bildschirmarbeit können das Wohlbefinden stören <strong>und</strong><br />

ges<strong>und</strong>heitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Zudem muss die mentale Belastung der<br />

Bildschirmarbeit mitberücksichtigt werden (Monotonie, Aufmerksamkeitsanforderungen).<br />

Bildschirmarbeit <strong>und</strong> Augenanforderungen<br />

Die Arbeit am Bildschirm fordert das Sehen durch die dauernden Akomodations – Anstrengungen,<br />

durch die Konvergenz, die Fixierung <strong>und</strong> die Adaptation an die Beleuchtungssituation.<br />

• Basierend auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt es keine spezifischen<br />

ophtalmologischen Erkrankungen durch die Arbeit am Bildschirm.<br />

• Mehrere St<strong>und</strong>en Arbeit am Bildschirm kann eine Augenermüdung <strong>zur</strong> Folge haben<br />

(Gefühl der Schwere der Augen, Stechen der Augen, Blendungen, Kopfschmerzen).<br />

Diese Symptome werden gehäuft festgestellt, wenn der Arbeitsplatz ergonomisch<br />

schlecht eingerichtet ist oder wenn die Augen nicht gut auf die Bildschirmarbeit<br />

eingestellt, das heisst korrigiert sind. Die Augenermüdung verschwindet nach genügender<br />

Erholung.<br />

• Durch die starken visuellen Anstrengungen der Bildschirmarbeit können Visusstörungen<br />

(Ametropien, Fusionsstörungen) erst in Erscheinung treten.<br />

• Viele Bildschirmarbeiter leiden unter Symptomen der Augentrockenheit (Brennen der<br />

Augen, Fremdkörpergefühl, oder Augenreizung) weil die lange Zeit aufrecht gehaltene<br />

Fixierung des Bildschirmes eine Verminderung des physiologischen Lidschlages auslösen<br />

kann, was eine Dehydrierung der Kornea <strong>zur</strong> Folge hat. Aber auch andere Faktoren<br />

können zusätzlich zu einer vermehrten Augentrockenheit beitragen: Klimatisierung,<br />

Zugluft, zu tiefe Feuchtigkeit in Arbeitsräumen, hohe Temperaturen <strong>und</strong> Innenraumverschmutzung<br />

mit Partikeln wie Tabakrauch, Ozon durch Fotokopierer etc. sowie auch<br />

zahlreiche Medikamente.<br />

Bildschirmarbeit <strong>und</strong> Arbeitshaltung<br />

Die meist sitzende Arbeitshaltung zieht eine Anspannung in der Nackenmuskulatur, der<br />

Schultermuskulatur <strong>und</strong> des gesamten Rückens nach sich. Auch die repetitiven Bewegungen<br />

des Kopfes <strong>und</strong> des Rumpfes sowie der Hände <strong>und</strong> Arme können chronische Schmerzen im<br />

Nacken, im Rücken oder Schulterblatt begünstigen.<br />

Ist z.B. der Bildschirm weit oberhalb des Augen positioniert, das abzutippende Dokument<br />

unten auf der Tischplatte, resultieren ständige Nick- <strong>und</strong> Hebebewegungen im Nacken.<br />

Die repetitiven Bewegungen während langen Perioden, wie auch die Konfiguration oder die<br />

Art <strong>und</strong> Weise wie die Tastatur benutzt wird, können lokalisierte Schmerzen im Bereich der<br />

Finger-, Armsehnen <strong>und</strong> Gelenken <strong>zur</strong> Folge haben (Tendosynovitiden, Bursitiden,<br />

Karpaltunnel-Syndrom).<br />

Wenn der Druck durch die Hände auf die Maus zu hoch ist können Tendinopathien des<br />

Zeigefingers oder des Daumens ausgelöst werden. Auch eine zu kleine oder zu grosse Maus<br />

80


(in Bezug auf die Hand des Benutzers) können ähnliche Schmerzphänomene im Bereich des<br />

kleinen Fingers <strong>und</strong> des Ringfingers nach sich ziehen.<br />

Die Arbeitsaufgabe beeinflusst die Sitzverhalten <strong>und</strong> damit das Risiko <strong>für</strong> muskuloskeletale<br />

Beschwerden. Das höchste Risiko besteht bei monotoner Bildschirmarbeit.<br />

Bildschirmarbeit <strong>und</strong> mentale Belastung<br />

Es handelt sich hierbei um ein komplexes Geschehen bei dem die Ausbildung, die Erfahrung<br />

des Arbeitenden, sowie die Software <strong>und</strong> der Einsatz der Informatik in der Arbeitsorganisation<br />

eine Rolle spielen.<br />

Bildschirmarbeitsplatz –Einrichtung<br />

Um die oben angeführten Probleme zu vermeiden oder zu vermindern existieren verschiedene<br />

Empfehlungen <strong>für</strong> die Einrichtung eines Bildschirmarbeitsplatzes (Abbildung 1). Der<br />

Bildschirmarbeitsplatz muss auf die Grösse des Benutzers angepasst sein: Arbeitsfläche auf<br />

Höhe der Ellenbogen, Bildschirm auf Augenhöhe, Füsse auf einen rückwärtsgeneigten<br />

Ausruhe-Fläche, um das Gewicht um einen Bein auf das andere zu verlagen.<br />

1. genügend Arbeitsraum<br />

� damit der Arbeitende sich bewegen kann<br />

� damit die Arbeitshaltung gewechselt werden kann<br />

� um die Beine zu strecken / entspannen<br />

2. Bildschirm in der Mitte vor sich in Hauptblickrichtung. Aufstellung des Bildschirmes<br />

senkrecht zum Fenster<br />

3. Anpassen der künstlichen <strong>und</strong> natürlichen Beleuchtung<br />

� Vermeidung von Blendung + Reflexen<br />

� Anbringen von Storen oder Vorhängen an Fenstern<br />

� Ausstattung der Deckenbeleuchtung mit feinen Gittern / oder indirekte<br />

Beleuchtung<br />

� Genügende Beleuchtung <strong>für</strong> die Arbeitsaufgabe. Eine Punktbeleuchtung kann<br />

notwendig sein <strong>für</strong> Dokumentvorlagen, etc.<br />

� Regelmässig vom Bildschirm weg in die Ferne schauen!<br />

Abbildung 1: nach F. Metzger, INRS<br />

4. Regulierung der Heizung, Klimatisierung <strong>und</strong> mechanischer Ventilation.<br />

� Luft weder zu trocken noch zu feucht (30 % - 50 % Feuchtigkeit)<br />

� angenehme Temperatur um 18°-20°<br />

� angemessene Lüftung<br />

81


82<br />

5. Mobiliar (Abbildung 2)<br />

� Verstellbar: Der Bildschirmarbeitsplatz muss auf die Grösse des Benutzers<br />

angepasst sein! Arbeitsfläche auf Höhe der Ellbogen, Bildschirm auf Augenhöhe.<br />

Schulung der Mobiliareinstellung.<br />

� Arbeitsfläche nicht spiegelnd<br />

� Bei Benützung von Papiervorlagen; Dokumentträger seitlich des Bildschirmes auf<br />

Sichthöhe aufgestellt.<br />

� Bildschirmoberrand auf Augenhöhe, etwas unterhalb bei Presbiopen. Der<br />

Bildschirm sollte direkt auf dem Arbeitstisch platziert sein <strong>und</strong> nicht auf den<br />

Computer ! (kann man unter den Schreibtisch stellen)<br />

Rücklehne<br />

einstellbar<br />

Höhe einstellbar<br />

Auge-Bildschirm :<br />

50-70 cm<br />

Füsse flach auf dem Boden oder auf Fussstütze<br />

Bildschirm leicht<br />

nach hinten geneigt<br />

Arbeitsfläche :<br />

Höhe anpassbar<br />

Abbildung 2 nach F. Metzger ("Méthodes d'aménagement de postes assis avec écran<br />

de visualisation", Documents pour le médecin du travail, 59 TL 14, 1994)


6. Wahl der Hardware<br />

� Gute Bildschirmqualität <strong>und</strong> Grösse angepasst an die Arbeitsaufgabe<br />

� Reflexgeschützte Bildschirme<br />

� Leuchtstärke des Bildschirmes regulierbar.<br />

� Regelmässige Staubreinigung des Bildschirmes<br />

� Bildschirmhintergr<strong>und</strong> : helle Farbe (weniger Augen ermüdend)<br />

� Form + Grösse der Maus angepasst an Benutzer-Hand <strong>und</strong> links- oder rechts<br />

Händigkeit.<br />

� Evtl. ergonomische, geteilte Tastatur<br />

�<br />

7. Regelmässige Arbeitspausen oder Wechsel der Arbeitstätigkeit. Z.B. Telefonieren,<br />

Post im Stehen erledigen!<br />

Achtung !<br />

Bei Veränderungen des Arbeitsplatzes (anderer Bildschirm, Beleuchtung, etc.) oder Visus-<br />

Korrekturen muss der Bildschirmarbeitsplatz evtl. modifiziert <strong>und</strong> neu angepasst werden!<br />

Literaturhinweise<br />

• Lips W.; Krueger H.; Rauterberg M. Le travail à l'écran de visualisation. Informations<br />

détaillées pour spécialistes et inétressés. SUVA, Réf. 44022.f., 2001, 108 p.<br />

• Le travail sur écran. Documentation INRS. http://www.inrs.fr<br />

• Exigences ergonomiques pour travail de bureau avec terminaux à écrans de visualitations,<br />

norme ISO 9241 et norme AFNOR X35-122.<br />

• Elias R. et coll. Les écrans de visualitation. Guide méthodologique pour le médecin du<br />

travail. Editions INRS, ED 666, 1998, 86 p.<br />

3.3 Arbeitsorganisation<br />

Nacht- <strong>und</strong> Schichtarbeit<br />

Definition<br />

Schichtarbeit definiert sich durch berufliche Arbeit zu wechselnden <strong>und</strong> / oder konstant<br />

ungewöhnlichen Zeiten.<br />

Nachtarbeit wird definiert durch berufliche Arbeit zwischen 20 Uhr <strong>und</strong> 6 Uhr.<br />

(Arbeitsgesetz, Art. 10: Grenzen der Tagesarbeit <strong>und</strong> andere Artikel, Verordnung 1 <strong>und</strong> 2).<br />

Physiologische Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Der Mensch unterliegt einer circadianen Rhythmik, das heisst einer Rhythmik in der die<br />

verschiedensten Körperfunktionen in einem 24-St<strong>und</strong>en Rhythmus wechseln. Die inneren<br />

Rhythmen sind individuell unterschiedlich <strong>und</strong> bewegen sich zwischen 22 <strong>und</strong> 25 St<strong>und</strong>en.<br />

Durch verschiedene äussere Zeitgeber werden die individuell unterschiedlichen Rhythmen auf<br />

24 St<strong>und</strong>en synchronisiert. Die äusseren Zeitgeber sind Hell-Dunkel-Wechsel, soziale<br />

Kontakte, Arbeit <strong>und</strong> das Wissen um die Uhrzeit. Funktionen, die eine auffallende circadiane<br />

Rhythmik aufzeigen sind Schlaf, Leistungsbereitschaft, Stoffwechsel, Körpertemperatur,<br />

Herzfrequenz, Blutdruck etc.<br />

83


Gesetzliche Gr<strong>und</strong>lagen<br />

Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz (ArGV 1) Artikel 44<br />

Absatz. 1: Arbeitnehmer, die 25 <strong>und</strong> mehr Nachteinsätze pro Jahr leisten, haben Anrecht auf<br />

eine medizinische Untersuchung <strong>und</strong> Beratung.<br />

Absatz 2. Der Anspruch kann in regelmässigen Abständen von zwei Jahren geltend gemacht<br />

werden. Nach Vollendung des 45. Lebensjahres kann eine jährliche Untersuchung geltend<br />

gemacht werden.<br />

Die medizinische Untersuchung ist gemäss Artikel 45 obligatorisch <strong>für</strong><br />

– Jugendliche<br />

– Arbeitnehmer, die dauernd oder regelmässig wiederkehrende Nachtarbeit leisten <strong>und</strong> dabei<br />

belastenden oder gefährlichen Tätigkeiten ausgesetzt sind, wie<br />

– Lärm,<br />

– Erschütterung<br />

– Hitze<br />

– Kälte<br />

– Luftschadstoffe >50 % des MAK-Wertes nach UVG<br />

– etc.<br />

– alleinarbeitende Personen<br />

– Personen mit verlängerter Dauer der Nachtarbeit<br />

– Personen mit Nachtarbeit ohne Wechsel mit Tagarbeit<br />

Die Untersuchung wird von einem Arzt oder Ärztin durchgeführt, der oder die sich mit dem<br />

Arbeitsprozess, den Arbeitsverhältnissen <strong>und</strong> den arbeitsmedizinischen Gr<strong>und</strong>lagen vertraut<br />

ist. Frauen haben Anspruch auf eine Untersuchung <strong>und</strong> Beratung bei einer Ärztin<br />

Schlaf<br />

Ein quantitativ <strong>und</strong> qualitativ unbeeinträchtigter Schlaf ist eine unabdingbare Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit, Wohlbefinden <strong>und</strong> Leistungsfähigkeit. Wechselschichten mit Nachtschicht<br />

oder Dauernachtschicht bewirken häufig Schlafstörungen. Unregelmässige Schichtsysteme<br />

(z.B. wöchentlicher Wechsel zwischen Früh-, Spät- <strong>und</strong> Nachtschicht, die am häufigsten<br />

praktizierte Schichtform) führen ebenfalls zu Schlafstörungen. Wechselschichten ohne Nachtschicht<br />

führen in der Regel nicht zu Schlafstörungen (z.B. 06.00 bis 14.00 Uhr im Wechsel<br />

mit 14.00 Uhr bis 22.00 Uhr).<br />

Die durchschnittliche Dauer des Tagschlafs von Schichtarbeitern beträgt 6 St<strong>und</strong>en. An<br />

Ruhetagen steigt die Schlafdauer auf 10-12 St<strong>und</strong>en. Der Schlaf am 2. Ruhetag ist länger als<br />

am 1. Ruhetag. Das heisst, Nachtarbeiter gehen eine Schlafschuld ein, die an Ruhetagen<br />

<strong>zur</strong>ückbezahlt werden muss. Ein Ruhetag scheint nicht zu genügen, da erst in der zweiten<br />

Nacht begonnen wird, die Schlafschuld abzutragen. Das bedeutet, dass der Tagschlaf des<br />

Nachtarbeiters verkürzt ist <strong>und</strong> einen qualitativ geringeren Erholungswert hat. Verschiedene<br />

Autoren haben Schlafstörungen bei Schichtarbeitern untersucht <strong>und</strong> bei 63-66% der Schichtarbeiter<br />

Schlafstörungen diagnostiziert, dies im Gegensatz zu 5-11% Schlafstörungen bei<br />

Tagarbeitern. Nachtarbeiter, die aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen die Nachtarbeit aufgeben<br />

mussten, wiesen in 84-97% der Fälle Schlafstörungen auf.<br />

Appetitstörungen<br />

Untersuchungen über Appetitstörungen bei Schichtarbeitern weisen einen deutlich erhöhten<br />

Wert auf. Tagarbeiter <strong>und</strong> Wechselschichtarbeiter ohne Nachtschicht wiesen 5-30% Appetitstörungen<br />

auf (je nach Untersuchung). 20-75% der Wechselschichtarbeiter <strong>und</strong> 40% der<br />

Dauernachtschichtarbeiter wiesen Appetitstörungen auf. 55% der ehemaligen Schichtarbeiter,<br />

die die Nachtschicht wegen ges<strong>und</strong>heitlicher Probleme aufgeben mussten, beklagten sich über<br />

Appetitstörungen.<br />

84


Ähnliche Zahlen finden sich bei Magen-Darmbeschwerden. Tagarbeiter <strong>und</strong> Wechselschichtarbeiter<br />

weisen in 10-40% Magen-Darmbeschwerden auf, wohingegen Wechselschichtarbeiter<br />

mit Nacht (5-55%) <strong>und</strong> Dauernachtschichtarbeiter (40-50%) höher Werte aufweisen.<br />

30-60% der ehemaligen Schichtarbeiter, die die Nachtschicht wegen ges<strong>und</strong>heitlicher<br />

Probleme aufgeben mussten, beklagten sich über Magen-Darmbeschwerden.<br />

Die „Berufskrankheit“ der Nachtarbeiter<br />

Nachtschichtarbeiter weisen Folgesymptome chronischer Ermüdungszustände auf: Müdigkeitsempfinden<br />

auch nach dem Schlaf, Reizbarkeit, Neigung zu depressiven Verstimmungen,<br />

allgemeine Antriebsschwäche <strong>und</strong> Arbeitsunlust. Sie beklagen sich häufiger über psychosomatische<br />

Störungen, insbesondere Appetitstörungen, Schlafstörungen <strong>und</strong> Störungen der<br />

Verdauungsorgane.<br />

Die Ursache dieser Beschwerden liegt in der Desynchronisation der Zeitgeber. Der Zeitgeber<br />

Arbeit läuft in entgegengesetzter Richtung zu den Zeitgebern Hell-Dunkel <strong>und</strong> den sozialen<br />

Kontakten. Keiner dieser Zeitgeber scheint eindeutig zu dominieren.<br />

Es besteht eine individuelle Anfälligkeit, Das Ausmass der ges<strong>und</strong>heitlichen Auswirkung ist<br />

individuell sehr unterschiedlich. R<strong>und</strong> 2/3 der Nachtschichtarbeiter weisen Störungen des<br />

Wohlbefindens auf. R<strong>und</strong> 1/3 der Nachtschichtarbeiter müssen die Schichtarbeit wegen<br />

ges<strong>und</strong>heitliche Störungen aufgeben. Mit zunehmendem Alter findet eine Abnahme der<br />

Belastbarkeit gegenüber Schichtsystemen statt. Der Schlaf ist im zunehmenden Alter<br />

störungsanfälliger, die Erholungsmöglichkeiten sind kleiner. Es gibt keine Anpassung an die<br />

Nachtschicht im Laufe der Jahre, es gibt eine progressive Anfälligkeit <strong>für</strong> die beruflich<br />

bedingte Erkrankung bei Nachtarbeit.<br />

<strong>Sozial</strong>e Auswirkungen<br />

Nachtschichtarbeiter beklagen sich oft über eine soziale Isolation gegenüber der Familie <strong>und</strong><br />

dem Fre<strong>und</strong>eskreis.<br />

Zusammenfassung<br />

Eine volle Anpassung an die Nachtarbeit findet nicht statt, der Organismus wird nur<br />

beschränkt in der Nacht auf Leistung <strong>und</strong> am Tag auf Schlaf <strong>und</strong> Erholung umgestellt. Als<br />

Folge entsteht quantitativ <strong>und</strong> qualitativ ungenügender Schlaf mit reduzierten Regenerationsvorgängen<br />

mit dem Entstehen einer Schlafschuld <strong>und</strong> somit einer chronischen Ermüdung. Da<br />

die Ernährungsbedingungen ungünstig sind (Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme, qualitativ<br />

häufig ungünstige Zusammensetzung der Nahrung) äussern sich die ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Störungen des Nachtschichtarbeiters häufig im Bereich des Magen-Darm-Traktes.<br />

Empfehlungen<br />

Eingestreute Nachtschichten von 2-3 Tagen sind besser als lange Perioden ununterbrochener<br />

Nachtarbeit. Die Länge der Schicht soll nach der Schwere der Arbeit festgelegt werden.<br />

Schwere Arbeiten 6 St<strong>und</strong>en, leichte Arbeiten 8 St<strong>und</strong>en oder mehr. Der Beginn der Frühschicht<br />

sollte nicht vor 5 Uhr zu liegen kommen. Zwischen Ende einer Schicht <strong>und</strong> Beginn<br />

der nächsten Schicht sollten möglichst 12 arbeitsfreie St<strong>und</strong>en zu liegen kommen.<br />

Kontinuierliche Schichtsysteme sollten möglichst viele Wochenenden mit zwei arbeitsfreien<br />

Tagen enthalten.<br />

Nachtschichtarbeiter sollten nicht jünger als 25-jährig <strong>und</strong> nicht älter als 50-jährig sein.<br />

Vollwertige Ernährung mit warmen Mahlzeiten sollte gesichert sein. Ungeeignet sind<br />

Personen mit Neigung zu Magen-Darm-Krankheiten (z.B. M. Crohn, Colitis ulcerosa),<br />

Schlafstörungen <strong>und</strong> psychischen Störungen.<br />

85


Literatur<br />

1. B<strong>und</strong>esgesetz über Arbeit in Industrie, Gewerbe <strong>und</strong> Handel (Arbeitsgesetz ArG). SR<br />

822.11<br />

2. Verordnung 1 zum ArG: Allgemeine Verordnung (ArGV1)<br />

Verordnung 2 zum ArG: Sonderbestimmungen (ArGV2)<br />

3. Plain language about shiftwork; Roger R. Rosa, Michael J. Colligan; U.S. Department of<br />

Health and human services July 1997; www.cdc.gov/niosh/pdfs/97-145.pdf<br />

4. Shift work and health; AJ Scott; Prim Care 2000 Dec; 27(4): 1057-1079<br />

5. Toward the 24-hour society – new approaches for aging shift workers?; MI Harma, JE<br />

Ilmarinen; Scand J Work Environ Health 1999 Dec; 25:610-5<br />

6. Effects of quick rotating shift schedules on the health and adjustment of air traffic<br />

controllers; C Cruz, P Della Rocca, C Hackworth; Aviat Space Environ Med 2000 Apr;<br />

71(4): 400-7<br />

7. Shift work, social class, and ischaemic heart disease in middle aged and elderly men; a 22<br />

year follow up in the Copenhagen Male Study; H Boggild et al.; Occup Environ Med<br />

1999 Sep; 56(9):640-5<br />

8. Relationship between shift work and onset of hypertension in a cohort of manual workers;<br />

Y Morikawa et al.; Scand J Work Environ Health 1999 Apr; 25(2):100-4<br />

9. Shift work, risk factors and cardiovascular disease; H. Boggild, A. Knutsson; Scand J<br />

Work Environ Health 1999 Apr;25(2):85-99<br />

10. Guidelines for the medical surveillance of shift workers; G. Costa; Scand J Work Environ<br />

Health 1998; 24 Suppl 3;151-5<br />

11. Industrial shift systems; L. Smith et al.; Appl Ergon 1998 Aug; 29(4): 273-80<br />

86


Absentismus<br />

Wirtschaftlicher Zusammenhang<br />

Fehlzeiten durch Unfälle oder Krankheit können laut Suva bis zu 20 Prozent der Lohnkosten<br />

ausmachen. Sie sind deshalb ein nicht zu vernachlässigender betriebswirtschaftlicher Kostenfaktor.<br />

Die Öffentlichkeit befasst sich aber nur periodisch mit dem Thema Absentismus. 1991<br />

war Absentismus zum letzten Mal aktuell, als das deutsche Nachrichtenmagazin "Der<br />

Spiegel" das Thema <strong>zur</strong> Titelgeschichte krönte. Seither nimmt das öffentliche Interesse am<br />

Absentismus stetig ab <strong>und</strong> ist während der Rezession praktisch ganz aus den Medien verschw<strong>und</strong>en.<br />

Dies ist begründbar in den markant tieferen Absenzraten, welche in wirtschaftlich<br />

unsicheren Zeiten überall zu beobachten sind. Fehlen am Arbeitsplatz ist ein zu grosses<br />

Risiko, weil man Angst hat, den Arbeitsplatz zu verlieren. Zusätzlich ist die Angst vor einem<br />

Imageverlust der Firma durch offen kommunizierte Absenzzahlen zu hoch.<br />

Definition Absentismus<br />

Wenn Mitarbeitende ihrem Arbeitsplatz fernbleiben, entstehen Absenzen oder Fehlzeiten.<br />

Man unterscheidet zwischen verschiedenen Fehlzeitenarten. Die Ursachen können gesetzlich<br />

(z.B. Ferien), betrieblich (Geschäftsreise) oder persönlich (krank) bedingt sein. Unter<br />

Absentismus versteht man persönlich bedingte Abwesenheiten durch Kranksein, deren<br />

Wurzeln nicht in der medizinisch begründbaren Krankheit (Arbeitsunfähigkeit), sondern in<br />

der fehlenden Motivation zu suchen ist. Landläufig gilt Absentismus als „ein nicht ausreichend<br />

begründetes Fehlen am Arbeitsplatz mit einer gewissen Schuldzuweisung an die<br />

fehlende Person“.<br />

Motivationsbedingte Abwesenheiten können nicht nur physisch auftreten, sondern auch in<br />

verdeckter Form vorkommen. Der verdeckte, psychische Absentismus äussert sich in Resignation<br />

<strong>und</strong> innerer Kündigung einer Person, indem sie der Firma ihre Kreativität <strong>und</strong> Integrationsleistung<br />

entzieht. Diese Form des Absentismus betrifft vor allem Personen, die stärker<br />

sanktionsgefährdet sind, so zum Beispiel Führungskräfte.<br />

Ursachen von Absentismus<br />

Die firmenspezifischen Ursachen von Absentismus sind zum Beispiel ein schlechtes Arbeitsklima,<br />

ein unbefriedigender Arbeitsinhalt oder ein breiter Handlungsspielraum ohne Entscheidungskompetenz.<br />

Neben den meist medizinisch begründeten Langzeitabsenzen, wo die<br />

Führungskraft <strong>zur</strong> Abklärung der Wiedereingliederung auf Fachpersonen (<strong>Sozial</strong>beratung,<br />

Betriebsärztlicher Dienst) angewiesen ist, kann sie bei den motivationsbegründeten Kurzzeitabsenzen<br />

das Problem oft selbst in Erfahrung bringen. Deshalb ist die Unterscheidung in<br />

Langzeit- <strong>und</strong> Kurzzeitabsenzen <strong>für</strong> das Vorgehen im Umgang mit den Mitarbeitenden<br />

entscheidend.<br />

Rolle des Arztes/der Ärztin<br />

Im Gespräch mit dem Arzt oder der Ärztin soll die Führungskraft die Prognose <strong>und</strong> allfällige<br />

Leistungsfähigkeit des/r Mitarbeitenden beurteilen lassen, jedoch nicht die Diagnose erfragen.<br />

Gleichzeitig soll sie der Ärzteschaft alternative Einsatzmöglichkeiten aufzeigen, die einen<br />

früheren Einsatz des Patienten oder der Patientin am Arbeitsplatz ermöglichen.<br />

Gefahren des Absenzenmanagements<br />

Das Absenzenmanagement soll ein Hilfsmittel <strong>und</strong> kein Disziplinierungsmittel sein. Nur<br />

wenn Interesse <strong>und</strong> Anteilnahme am Leben der Mitarbeitenden, wohlwollend gemeinte<br />

Unterstützung <strong>und</strong> gelebte Offenheit im Betrieb <strong>und</strong> im Team durch Führungskräfte<br />

gewährleistet sind, dient ein Absenzenmanagement dem Wohle der Mitarbeitenden.<br />

87


3.4 Arbeitslosigkeit<br />

Die International Labour Organisation (ILO) definiert Arbeitslosigkeit anhand dreier<br />

Kriterien:<br />

88<br />

1. Ohne Anstellung sein<br />

2. Bereit sein mit einer Arbeit zu beginnen innerhalb einer Frist von 2 Wochen.<br />

3. Aktiv nach einer Anstellung zu suchen (das heisst sich innerhalb der letzten 4 Wochen<br />

beworben zu haben).<br />

Die Arbeitslosenrate wird errechnet indem die Zahl der arbeitslos gemeldeten Personen<br />

mal 100 durch die Anzahl der aktiven Personen geteilt wird.<br />

Arbeitslosigkeit 1 1970 1980 1990 2000 2001 2002 2003<br />

Arbeitslose 104 6’255 18’133 71’987 67’197 100’504 145’687<br />

Davon Langzeitarbeitslose<br />

% 2<br />

…. … 6.6 20.1 15.7 12.5 15.9<br />

Arbeitslosenrate 0.0 0.2 0.5 1.8 1.7 2.5 3.7<br />

- Männer …. 0.2 0.4 1.7 1.6 2.5 3.7<br />

- Frauen …. 0.3 0.6 2.0 1.8 2.6 3.7<br />

1 Arbeitslosigkeit gemäss Definition des seco<br />

2 Langzeitarbeitslose: Arbeitslosigkeit länger als 12 Monate<br />

Zahlreiche Personen sind an einem oder anderen Moment ihres Arbeitsleben arbeitslos. Das<br />

Phänomen kann die Jungen am Ende ihrer Ausbildung betreffen, wo es schwierig sein kann<br />

eine erste Anstellung zu finden. Aber in mehr als 50% der Fälle handelt es sich um Angestellte,<br />

die wegen ökonomischen Kürzungen oder Restrukturierungen des Betriebes ihre<br />

Anstellung verlieren.<br />

Nicht alle sozio-professionellen Umgebungen sind gleichermassen betroffen, die Arbeitslosenrate<br />

ist zweimal so gross bei den un- oder angelernten Arbeitern <strong>und</strong> Angestellten<br />

verglichen mit den leitenden Angestellten oder den gelernten Berufen.<br />

Verschiedene Untersuchungen aus Europa <strong>und</strong> den USA zeigen, dass die Auswirkungen der<br />

Arbeitslosigkeit vielfältig sind <strong>und</strong> einerseits das Gesamtkollektiv (Finanzierung der Ersatzleistungen,<br />

Verlust an Produktivität, Verschärfung der sozialen Probleme) andererseits das<br />

Individuum betreffen (Einkommensverlust, Störung des Familienlebens, Ges<strong>und</strong>heitsprobleme,<br />

Risiko des sozialen Abstieges).<br />

Gewisse Auswirkungen der Arbeitslosigkeit betreffen nicht nur die eigentliche arbeitslose<br />

Periode. In den meisten Fällen zieht der Verlust der Arbeit längerfristige ökonomische<br />

Einschränkungen nach sich, wenn der Arbeitssuchende eine weniger qualifizierte <strong>und</strong><br />

schlechter bezahlte Arbeit als die vorherige annehmen muss. Selbst einige Jahre später ist das<br />

Einkommen der ehemaligen Arbeitslosen geringer, verglichen mit Kollegen, die nie arbeitslos<br />

waren.


Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die Ges<strong>und</strong>heit<br />

Es gibt keine spezifische durch Arbeitslosigkeit verursachte Krankheit. Die meisten Untersuchungen<br />

weisen aber daraufhin, dass die Arbeitslosen ihren allgemeinen Ges<strong>und</strong>heitszustand<br />

negativer wahrnehmen <strong>und</strong> mit der Dauer der Arbeitslosigkeit nimmt diese negative<br />

Wahrnehmung zu. Immer wieder wird ein Zusammenhang zwischen dem Verlust der Arbeitsstelle<br />

<strong>und</strong> der Manifestation von Angst- <strong>und</strong> Depressionszuständen beschrieben. Die in<br />

Frankreich zwischen 1996-1997 durchgeführte Credes-Studie (Centre de recherche, d’etude et<br />

de documentation en économie de la santé) zeigte, dass 25% der Arbeitlosen gegenüber 13%<br />

der Aktiven an einer Depression litten.<br />

Die Todesrate <strong>und</strong> schwere Verletzungen durch Verkehrsunfälle sind bei arbeitslosen Autofahrern<br />

erhöht, verglichen mit der Allgemeinbevölkerung. Auch allgemein ist das Sterberisiko<br />

der Arbeitlosen leicht erhöht. Teilweise kann das durch die Tatsache erklärt werden, dass man<br />

unter den Arbeitslosen mehr ‚fragile’ Personen findet wie z.B. Personen mit chronischen<br />

Krankheiten oder Handikaps als in der Allgemeinbevölkerung. Der Zustand der Arbeitslosigkeit<br />

an sich spielt aber auch eine Rolle. Das niedrigere Einkommen sowie die soziale<br />

Marginalisierung limitiert den Zugang zu Hilfe <strong>und</strong> Pflege, auch dieses Phänomen nimmt mit<br />

der Dauer der Arbeitslosigkeit zu.<br />

Nicht-medizinische Auswirkungen<br />

Viele Beobachtungen <strong>und</strong> Erfahrungen weisen darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit <strong>und</strong><br />

speziell die Langzeit-Arbeitslosigkeit einhergeht mit einem Motivations- <strong>und</strong> Antriebs-<br />

Verlust, was auch die Suche nach einer neuen Arbeitsstellung immer schwieriger macht.<br />

Die Arbeitslosigkeit stellt einen wichtigen Risikofaktor <strong>für</strong> den sozialen Abstieg dar.<br />

Einerseits ist dies mit der Infragestellung des Eigenwertes der arbeitslosen Person <strong>und</strong><br />

anderseits mit dem Verlust gewisser Rechte <strong>und</strong> Privilegien verb<strong>und</strong>en, wie z.B. Verlust von<br />

Versicherungsleistungen im Zusammenhang mit der Anstellung.<br />

Arbeitslosigkeit stellt ein wichtiges soziales Problem dar mit Auswirkungen auf den<br />

Ges<strong>und</strong>heitszustand des Betroffenen wie auf die Familie <strong>und</strong> sein näheres Umfeld. Diese<br />

Problematik benötigt medizinische <strong>und</strong> psycho-soziale Unterstützung. Die <strong>Arbeitsmedizin</strong>er<br />

ihrerseits sollten speziell Acht geben auf Arbeitnehmende, welche nach einer Arbeitslosigkeit<br />

wieder eine Stelle aufnehmen. Bei solchen Personen ist in den ersten Monaten das<br />

Arbeitsunfallrisiko erhöht. Bei an sich risikoreichen Arbeitsstellen wird dieses Phänomen<br />

noch zusätzlich durch eine häufig mangelnde Ausbildung <strong>für</strong> den Job verschärft. Die ersten<br />

Monate einer Arbeitsaufnahme müssen also sorgfältig begleitet <strong>und</strong> unterstützt werden.<br />

Volkswirtschaftlich führt die Arbeitslosigkeit durch Belastung des Ges<strong>und</strong>heitswesens <strong>und</strong><br />

der Versicherungen zu erheblichen Kosten <strong>und</strong> ist sicher nicht rentabel. Da, wie aus der<br />

eingangs aufgeführten Tabelle hervorgeht, die Arbeitslosigkeit aus einem vor 30 Jahren<br />

praktisch unbekannten Phänomen zu etwas wie einer Epidemie geworden ist <strong>und</strong> zudem unter<br />

dem starken Invalidenberentungsanstieg sich wohl auch ein Teil Arbeitslosigkeit versteckt,<br />

sind Fragen <strong>zur</strong> Prävention nicht unerheblich. Es geht auch also darum, die Arbeitslosigkeit<br />

sofern möglich zu vermeiden. Die <strong>Arbeitsmedizin</strong> lässt sich dazu am besten in ein Netz<br />

betrieblicher Ges<strong>und</strong>heitsförderung einbinden, um proaktiv <strong>und</strong> bei Bedarf rehabilitativ den<br />

Bedrohten beizustehen.<br />

Von der Reintegration bedingt einsetzbarer Mitarbeiter handelt das folgende Kapitel.<br />

89


Literaturhinweise<br />

• A Sen. L'inégalité, le chômage et l'Europe d'aujourd'hui. Revue internationale du Travail,<br />

1997, vol. 136, n° 2 : 169-186.<br />

• Office fédéral de la statistique, Neuchâtel<br />

• H Berth, P Forster, E Brahler. Unemployment, job insecurity and their consequences for<br />

health in a sample of young adults. Ges<strong>und</strong>heitswesen, 2003 Oct;65(10):555-60.<br />

• UG Gertdham, M Johannensson. A note of the effect of unemployment on mortality. J<br />

Health Econ. 2003 May;22(3):505-18.<br />

• FC Breslinb, C Mustard. Factors influencing the impact of unemployment on mental<br />

health among young and older adults in a longitudinal, population-based survey. Scand J<br />

Work Environ Health. 2003 Feb;29(1):5-14.<br />

• Les inégalités sociales de santé, ouvrage collectif initié par l'Inserm, Editions La<br />

découverte, 448 pages.<br />

90


3.5 Arbeits-Rehabilitation / Case-Management<br />

Die Reintegration oder Arbeitsplatz-Rehabilitation von erkrankten Mitarbeitern ist Teil der<br />

arbeitmedizinischen Tertiärprävention <strong>und</strong> verlangt eine hohe Diskussionsbereitschaft <strong>und</strong><br />

Koordination verschiedenster Akteure: Patient, Personalabteilung, Linienvorgesetzte, <strong>Sozial</strong>arbeiter,<br />

behandelnder Arzt, Facharzt, Rehabilitationsmediziner, Ergonome, Mitarbeiter der<br />

<strong>Sozial</strong>versicherung, wenn immer möglich koordiniert durch den <strong>Arbeitsmedizin</strong>er.<br />

Insbesondere die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit von Mitarbeitern mit arbeitsassoziierten<br />

Erkrankungen ist essentiell, auch um IV-Fälle zu vermeiden, sind doch die zwei<br />

hauptsächlichen IV Gründe psychische <strong>und</strong> muskuloskeletale Erkrankungen.<br />

Die zentrale Idee des arbeitsmedizinischen Case-Managements ist die Koordination der<br />

bestmöglichen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit einerseits <strong>und</strong> die Anpassung der<br />

Arbeit <strong>und</strong> der Arbeitsbedingungen an die Fähigkeiten des erkrankten Mitarbeiters andererseits.<br />

Erfahrungsgemäss werden die Chancen der Arbeits-Reintegration desto geringer, je<br />

länger jemand arbeitsunfähig ist. Bei den Rückenschmerzen ist bekannt, dass nach 60 Tagen<br />

Arbeitsabwesenheit nur noch 20% dieser Betroffenen wieder in ihrer gewohnten Arbeit<br />

arbeitsfähig werden. Hat ein Betroffener seinen ursprünglichen Arbeitsplatz krankheitshalber<br />

verloren, ist die Reintegration um ein Vielfaches schwieriger. Es gilt also, die Rückkehr an<br />

die angestammte Arbeit frühzeitig <strong>und</strong> aktiv in Angriff zu nehmen!<br />

Das Vorgehen bei Arbeitnehmenden mit längerer Arbeitsabwesenheit aufgr<strong>und</strong> muskuloskelettaler<br />

Schmerzen (z.B. Rückenschmerzen) ist in der folgenden Abbildung schematisch<br />

aufgezeichnet. Frühzeitig sollte eine ‚Standortbestimmung’ durchgeführt werden, um<br />

allfällige zugr<strong>und</strong>e liegende spezifische Erkrankungen auszuschliessen, Komorbiditäten<br />

aufzudecken, die Rehabilitationsfähigkeit <strong>und</strong> -bereitschaft des Patienten zu evaluieren, die<br />

muskulo-skelettale Funktionskapazität erfassen <strong>und</strong> die existierenden Ressourcen des<br />

Betroffenen zu erfassen. Die Arbeit <strong>und</strong> die Arbeitsbedingungen sind zu untersuchen, um<br />

einerseits die Anforderungen der Arbeit <strong>und</strong> damit die Trainingsziele zu bestimmen <strong>und</strong><br />

andererseits mögliche Verbesserungen des Arbeitsplatzes zu evaluieren. Gemäss diesen<br />

Abklärungen erfolgt das Training <strong>und</strong> die Schulung des Patienten, wird gemeinsam mit ihm<br />

<strong>und</strong> Arbeitgeber ein Reintegrationsplan erstellt <strong>und</strong> die möglichen Verbesserungen der<br />

Arbeitsbedingungen werden veranlasst. Eventuell wird vorübergehend auch ein weniger<br />

belastender Arbeitsplatz <strong>zur</strong> Verfügung gestellt. Die Koordination <strong>und</strong> Kommunikation, wenn<br />

möglich unter der Leitung des <strong>Arbeitsmedizin</strong>ers, bestimmt massgeblich den Erfolg der<br />

genannten Massnahmen. Ein solches Vorgehen erlaubt auch dem Betrieb eine bessere<br />

Planung <strong>und</strong> hat eine positive Signalwirkung <strong>für</strong> die anderen Mitarbeiter.<br />

Aber auch bei anderen chronischen Erkrankungen muss <strong>zur</strong> Erhaltung der Arbeitsfähigkeit<br />

die Arbeit miteinbezogen werden. So sollte z.B. die Betreuung eines Diabetikers – neben der<br />

Einbindung in ein qualitätsgesichertes Behandlungsprogramm – immer auch eine Überprüfung<br />

<strong>und</strong>, falls notwendig, Anpassung der Arbeitssituation umfassen. Beim Diabetiker<br />

geht es z. B. um die Möglichkeit der Blutzuckerbestimmung <strong>und</strong> Einnahme von Zwischenmahlzeiten.<br />

Dazu kommt eine begleitende individuelle Beratung <strong>zur</strong> Ges<strong>und</strong>heitsförderung.<br />

Die <strong>Arbeitsmedizin</strong>erin <strong>und</strong> die Hausärztin sollen eng zusammenarbeiten.<br />

91


Case-Management am Beispiel der chronischen muskuloskeletalen Erkrankungen<br />

92<br />

Akteure Schritte<br />

Personalwesen<br />

(Absenzenmanagement)<br />

Behandelnder Arzt<br />

Taggeldversicherer<br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong>er<br />

Rheumatologe,<br />

Physiotherapeut,<br />

Psychologe etc.<br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong>er,<br />

Ergonome <strong>und</strong><br />

andere Spezialisten<br />

der Arbeitssicherheit<br />

Rehabilitationsteam<br />

<strong>Arbeitsmedizin</strong>er<br />

Linienvorgesetzter,<br />

Personalwesen<br />

-Work-Hardening<br />

-Verhaltensschulung<br />

-Rückenschulung<br />

-Entspannung<br />

Längere<br />

Arbeitsabwesenheit :<br />

(z.B. > 20 Tage)<br />

Standortbestimmung<br />

Health Assessment :<br />

- Klinische Evaluation<br />

- Funktionale Kapazität<br />

- Psychomentale Faktoren<br />

- Ressourcen<br />

Arbeits- <strong>und</strong> Arbeitsplatz-Evaluation<br />

- Rehabilitationsplan<br />

- Arbeitsplatz-<br />

Adaptationen


3.6 Arbeitsklima<br />

Stress am Arbeitsplatz<br />

Ursprung<br />

Der Begriff Stress bedeutete ursprünglich „Anspannung, Verzerrung, Verbiegung“ <strong>und</strong> wurde<br />

auf dem Gebiet der Materialprüfung angewendet. Der Mediziner Hans Selye übertrug 1950<br />

den Begriff Stress in die Biologie. Er sagte, dass Lebewesen ebenfalls Belastungen <strong>und</strong><br />

Anspannungen ausgesetzt sind, die eine körperliche oder psychische Reaktion, also Stress,<br />

hervorrufen.<br />

Definition: Stress ist eine körperliche, seelische <strong>und</strong> verhaltensmässige Reaktion einer<br />

Person, um sich an innere <strong>und</strong> äussere Belastungen anzupassen.<br />

Stressoren<br />

Auslöser der Stressreaktion sind Stressoren. Diese können ein Ereignis, eine Situation, eine<br />

Person oder ein Objekt sein. Stressoren wirken individuell. Sie werden dann als Stressor<br />

wahrgenommen, wenn sie als bedrohlich oder unangenehm empf<strong>und</strong>en werden. Typische<br />

Stressoren im heutigen Arbeitsleben sind psychische Überforderung, Zeit- <strong>und</strong> Leistungsdruck,<br />

körperliche Überforderung, zunehmende Kontrolle durch Vorgesetzte, Existenzangst<br />

<strong>und</strong> der heute dauernde Wechsel am Arbeitsplatz mit Firmenzusammenschlüssen, immer<br />

neuen Aufgaben, dauernd wechselnden Vorgesetzten <strong>und</strong> MitarbeiterkollegInnen. Auch hohe<br />

Arbeitsanforderungen bei wenig Entscheidungskompetenzen wirken sich stark belastend auf<br />

die MitarbeiterInnen aus. Die psychosozialen Belastungsfaktoren werden um ein vielfaches<br />

belastender wahrgenommen als physische (z.B. Hitze, Staub, Lasten heben), da sich die<br />

Arbeitstätigkeit vom Industriesektor (körperbetonte Arbeit) stark in den Dienstleistungssektor<br />

(Bildschirmarbeitsplätze, sitzende Tätigkeit) verschoben hat. Je nach beruflicher Position,<br />

Arbeitsinhalt <strong>und</strong> Geschlecht werden die gleichen Belastungsfaktoren unterschiedlich stark<br />

wahrgenommen. <strong>Sozial</strong>e Unterstützung <strong>und</strong> ein positives Arbeitsklima tragen wesentlich zu<br />

einem stressfreien Umfeld bei <strong>und</strong> somit zu weniger Beschwerden – auch bei grosser<br />

Arbeitsmenge.<br />

Sinn des Stressmechanismus<br />

Stress ist eine reflexartige Lebenserhaltungsreaktion, indem innert kürzester Zeit Energie<br />

bereitgestellt wird. Stress ist ein bei Mensch <strong>und</strong> Tier eingebauter natürlicher Verteidigungsmechanismus.<br />

Stress kann bis zu einem gewissen Grad positiv wirken <strong>und</strong> zu Leistungsfähigkeit<br />

anspornen (Eustress). Zu hohe aber auch zu geringe Belastungssituationen führen zu<br />

negativem Stress (Distress). Körperliche Beschwerden, schlechte Leistungen <strong>und</strong> Resignation<br />

sind die Folge.<br />

Ges<strong>und</strong>heitliche Auswirkungen<br />

Ges<strong>und</strong>heitliche Folgen von Stress sind u.a. muskuläre Überforderungsreaktionen (z.B.<br />

Schulter / Nackenschmerzen, Spannungskopfschmerzen), sexuelle Beschwerden (z.B. Zyklusstörungen),<br />

Hautveränderungen (z.B. seborrhoische Dermatitis), neurologische Beschwerden<br />

(z.B. Migräne), Atembeschwerden (z.B. Hyperventilation), Herz-/Kreislaufbeschwerden (z.B.<br />

Hypertonie, höheres Infarktrisiko), Magen-Darmbeschwerden (z.B. Aerophagie mit Flatulenz)<br />

etc. Folgen von chronischem Distress können aber auch emotionale Überforderungsreaktionen<br />

sein wie z.B. Angst, Aggressionsbereitschaft, Nervosität, Depressionen, Hypochondrie<br />

etc. Weitere mögliche Anzeichen einer stressbedingten Überforderungsreaktion sind<br />

Konzentrations-, Gedächtnis- <strong>und</strong> Leistungsstörungen, Rigidität, Realitätsflucht oder Wahrnehmungsverschiebungen.<br />

93


Risikofaktoren<br />

Gewisse Bewältigungsstrategien von Stress sind gleichzeitig ges<strong>und</strong>heitliche Risikofaktoren.<br />

Die Flucht in Tabak- <strong>und</strong> Alkoholkonsum, übermässig konsumierte fett- <strong>und</strong> cholesterinhaltige<br />

Nahrungsmittel kombiniert mit Bewegungsmangel („Die Arbeit lässt mir keine Zeit<br />

<strong>für</strong> sportliche Betätigung!“) können die negativen Auswirkungen von chronischem Distress<br />

verstärken. Auch unverhältnismässiges Engagement in der Freizeit (Freizeitstress) kann<br />

erneuten Stress generieren.<br />

Bewältigungsstrategien<br />

Geeignete Bewältigungsstrategien vermindern einerseits das Erregungsniveau während einer<br />

Stressituation (kurzfristige Bewältigungsstrategie) oder setzen andererseits an einer Veränderung<br />

der Stressursache an (langfristige Bewältigungsstrategie). Firmenspezifische Bewältigungsstrategien<br />

(strukturelle Bewältigungsstrategien) zielen schlussendlich immer auf eine<br />

befriedigende Arbeitssituation hin, sei dies im Hinblick auf eine menschengerechte Einrichtung,<br />

eine optimale Arbeitsorganisation <strong>und</strong> ein dem Leistungsniveau entsprechender<br />

Arbeitsinhalt (siehe auch betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung). Individuelle Stressbewältigungssmassnahmen<br />

sind Entspannungstechniken (Yoga, autogenes Training, Zen etc.),<br />

sportliche Betätigung (aerobes Training steigert die Stresstoleranz signifikant besser als<br />

anaerobes <strong>und</strong> dieses Wiederum signifikant besser als kein Training), soziale Kontakte.<br />

Mobbing<br />

Definition<br />

Mobbing beschreibt negative kommunikative Handlungen, die gegen eine Person gerichtet<br />

sind <strong>und</strong> die sehr oft <strong>und</strong> über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen <strong>und</strong> damit die<br />

Beziehung zwischen Täter <strong>und</strong> Opfer kennzeichnen.<br />

Unterschied Konflikt – Mobbing<br />

Mobbing unterscheidet sich von einem alltäglichen Konflikt in zwei Punkten:<br />

1. Bei Mobbing handelt es sich um bestimmte Verhaltensmuster (die 45 häufigsten Mobbing-Handlungen<br />

von Leymann).<br />

2. Mobbing hat einen zeitlichen Verlauf, der Konflikt entwickelt sich in bestimmten Phasen.<br />

Mobbing-Handlungen<br />

• Angriffe auf die Möglichkeit, sich mitzuteilen (z.B. ständige Kritik, Kontaktverweigerung,<br />

Drohung, ständige Unterbrechungen)<br />

• Angriffe auf soziale Beziehungen (z.B. Versetzung weg von Kollegen, wie „Luft“ behandeln,<br />

nicht mehr mit jedem sprechen)<br />

• Angriffe auf das soziale Ansehen (z.B. Gerüchte verbreiten, lächerlich machen, Entscheidungen<br />

in Frage stellen)<br />

• Angriffe auf die Berufs- <strong>und</strong> Lebenssituation (z.B. keine, sinnlose, ständig neue, kränkende<br />

Arbeitsaufgaben)<br />

• Angriffe auf die Ges<strong>und</strong>heit (ges<strong>und</strong>heitsschädigende Arbeit, körperliche Gewalt)<br />

94


Mobbing-Phasen<br />

Absc hieben <strong>und</strong><br />

Kaltstellen<br />

mehrere<br />

Versetzungen<br />

nache inand er<br />

1<br />

Konflikte, einzeln e<br />

Unversch mtheiten <strong>und</strong><br />

Gemeinheiten<br />

2<br />

† bergang zu Mobbing <strong>und</strong><br />

Psych oterror<br />

3<br />

Rechtsb r che durch † ber- <strong>und</strong><br />

Fehlgriffe der<br />

Personalverwaltung<br />

4<br />

Aussc hluss aus der Arbeitswelt<br />

Fr hpensionierung<br />

Einlieferung in<br />

Psych iatrie<br />

Langfristige<br />

Kranksch reibung<br />

Abfindung<br />

Phase 1: Alltägliche Konflikte: noch kein Mobbing!<br />

Zeitliche Komponente fehlt!<br />

Meinungsverschiedenheiten, ausgeglichenes<br />

Kräfteverhältnis zwischen zwei Konfliktparteien<br />

Phase 2: Mobbing etabliert sich: urprünglicher<br />

Konflikt ungelöst, Kräftverhältnis in Richtung Opfer<br />

– Täter verschoben, Opfer gerät in<br />

Verteidigungshaltung, erste Krankheitssymptome,<br />

Umfeld bemerkt Geschehnisse, greift aber nicht ein<br />

Phase 3: Destruktive Personalverwaltung:<br />

Mobbingprozess stört betrieblichen Alltag, Opfer ist<br />

nun „offizieller“ Fall <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlich stark<br />

angeschlagen, Täterschaft ist in Sicherheit,<br />

Management interveniert <strong>und</strong> will „Störquelle“<br />

entfernen<br />

Phase 4: Ausschluss: Opfer wird aus der<br />

Konfliktsituation entfernt, Krankschreibung, Firma ist<br />

„Problemfall“ los, eigentlicher Konflikt ist nicht<br />

gelöst, Ges<strong>und</strong>heitswesen, Justiz, <strong>Sozial</strong>ämter werden<br />

involviert<br />

Wer wird gemobbt?<br />

Es kann jede Person Opfer von Mobbinghandlungen werden. Gemäss Studien spielt die<br />

Persönlichkeitsstruktur keine Rolle.<br />

Was passiert mit dem Mobbingopfer?<br />

Das Opfer steht durch die ständigen Angriffe unter Stress, die eigenen Bedürfnisse werden<br />

immer stärker unterdrückt, Symptome wie Schlaf- <strong>und</strong> Essstörungen, Herzbeschwerden,<br />

Versagensängste, Flucht in die Sucht etc. können auftreten. Für die Umgebung ist das Opfer<br />

mit einem „Fehler“ behaftet (z.B. zu langsam). Mit der Zeit identifizert sich das Opfer mit<br />

diesen Schuldzuweisungen <strong>und</strong> wird in die soziale Isolation gedrängt.<br />

Wieso bleibt Täterschaft unangetastet?<br />

(Täterschaft = Mobbende <strong>und</strong> passive Dritte)<br />

Im heutigen Klima von Konkurrenz <strong>und</strong> Leistungsdruck sind Auseinandersetzungen<br />

allgemein akzeptiert <strong>und</strong> sind auf den ersten Blick nichts ungewöhnliches. Meist werden die<br />

Ursachen des Konflikts beim Opfer gesucht, da sich das Opfer auffällig benimmt. Die<br />

Täterschaft fühlt sich im Recht <strong>und</strong> bleibt in Sicherheit. Passive Dritte nehmen aber auch aus<br />

Angst vor Repressionen Partei <strong>für</strong> den Stärkeren ein (Täterschaft z.B. hierarchisch<br />

höhergestellt).<br />

Ursachen von Mobbing<br />

Unklare strukturelle, organisatorische Arbeitsabläufe bei schlechtem Informationsfluss <strong>und</strong><br />

fehlenden Ansprechpersonen, fehlende soziale Kompetenz seitens der Führungsebene.<br />

95


Was kostet Mobbing dem Betrieb?<br />

Reduziertes Arbeitsvermögen von Opfer <strong>und</strong> Täterschaft, schlechtes Arbeitsklima, erhöhte<br />

Fluktuationsrate, Verlust von Know-how, erhöhte Beanspruchung von Vorgesetzten, Personaldienst,<br />

<strong>Sozial</strong>beratung, Betriebsärztlichem Dienst<br />

In Zahlen kostet Mobbing dem Betrieb: 15'000 bis 400'000 Franken, je nach hierarchischer<br />

Position <strong>und</strong> Phase des Mobbingprozesses (volkswirtschaftliche Kosten nicht einbegriffen)<br />

Was kann ich gegen Mobbing tun?<br />

Möglichst frühzeitig eingreifen!!! Sich nicht ein dickes Fell zulegen – auf die Dauer ist dies<br />

nicht durchzuhalten, direkte Aussprache unter vier Augen, nicht zuviel (Privates) reden, sich<br />

Verbündete schaffen, mit dem Partner/der Partnerin über Probleme sprechen, spontane<br />

Ausbrüche vermeiden, keine zweideutigen Anspielungen hinnehmen, das Selbstbewusstsein<br />

stärken (Freizeit), sich über die Vorfälle Notizen machen, Vorgesetzte, Personalvertretung,<br />

Personalabteilung, <strong>Sozial</strong>beratung, Betriebsärztlichen Dienst informieren<br />

Rechtliche Lage<br />

ArGV 3 <strong>und</strong> 4 / OR Art. 328: ArbeitgeberInnen sind verpflichtet, in den Betrieben Massnahmen<br />

zu treffen, welche zum Schutz der physischen <strong>und</strong> psychischen Ges<strong>und</strong>heit sowie der<br />

Persönlichkeit der Arbeitnehmenden nötig sind (v.a. sexuelle Belästigung, Mobbing).<br />

Literatur<br />

Schüpbach K. & Torre R.: Mobbing verstehen, überwinden, vermeiden. Ein Leitfaden <strong>für</strong><br />

Führungskräfte <strong>und</strong> Personalverantwortliche. Kaufmännischer Verband Zürich, 1996.<br />

Leymann H.: Mobbing. Psychoterror am Arbeitsplatz <strong>und</strong> wie man sich dagegen wehren<br />

kann. Hamburg, Rowohlt, 1996.<br />

Schiller-Stutz K. & Baumann M.: Gib Mobbing keine Chance. In: „Schweizer Arbeitgeber“<br />

20, S. 970-74, 10.98.<br />

3.7 Betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

Die herkömmlichen Schutzmassnahmen am Arbeitsplatz genügen bei den heute aktuellen<br />

Belastungsfaktoren bei weitem nicht mehr. Stress, Bewegungsmangel, Reorganisationen,<br />

Territorialitätskonflikte im Grossraumbüro, Existenzangst <strong>und</strong> viele mehr sind die wahren<br />

Belastungsfaktoren im heutigen Berufsalltag. Ihnen kann mit klassischem Ges<strong>und</strong>heitsschutz,<br />

wie er im Unfallversicherungsgesetz (UVG) <strong>und</strong> im Arbeitsgesetz (ArG) propagiert wird,<br />

nicht mehr begegnet werden. Ein erweitertes, ganzheitlicheres Konzept ist gefragt. Ein<br />

Konzept, wie es die betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung bietet.<br />

Ges<strong>und</strong>heitsförderung ist mehr als klassische Prävention. Es geht nicht mehr nur um die<br />

herkömmliche Frage „was macht Kranke krank“, d.h. welche Risikofaktoren es am Arbeitsplatz<br />

gibt <strong>und</strong> wie sie vermieden werden können. Das Konzept der Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

setzt seinen Fokus auf die Frage „was erhält Ges<strong>und</strong>e ges<strong>und</strong>“, also welches die Ressourcen<br />

der Mitarbeitenden sind <strong>und</strong> wie diese gefördert werden können.<br />

Alles beginnt im Kopf!<br />

Will eine Firma betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung einführen, muss sie sich erstmal mit den<br />

Strategien dieses Konzeptes auseinandersetzen. Ges<strong>und</strong>heitsförderung im Betrieb setzt nichts<br />

weniger als einen Kultur- <strong>und</strong> Wertewandel in einer Firma in Gang. Betriebliche<br />

96


Ges<strong>und</strong>heitsförderung ist somit nicht ein einmaliges Projekt in Form eines Rüeblitages <strong>für</strong> die<br />

Belegschaft oder eines Fitnessabos <strong>für</strong> die Mitarbeitenden, sondern bedeutet ein Denkwandel<br />

in den Köpfen aller Betroffenen. Betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung muss innerhalb der<br />

Firma, innerhalb der Abteilungen <strong>und</strong> in jedem einzelnen Mitarbeitenden stattfinden.<br />

Ges<strong>und</strong>heitsförderung muss gelebt werden.<br />

Selbstverständlich setzt die erfolgreiche Einführung betrieblicher Ges<strong>und</strong>heitsförderung einen<br />

langen Atem voraus. Dieser Atem ist nicht nur von ideeller Natur, sondern ganz konkret auch<br />

von finanzieller. Die Geschäftsleitung muss voll <strong>und</strong> ganz hinter dem Konzept der Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

stehen. Es handelt sich um ein „top-down-Projekt“. Ges<strong>und</strong>heitsförderung ist<br />

„Chefsache“.<br />

Erst wenn in den Leitsätzen der Personalpolitik die Kernelemente der Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

verankert sind, können gezielt Umsetzungsmassnahmen in Angriff genommen werden. Die<br />

Kernelemente setzen sich aus den drei Eckpfeilern Empowerment, Partizipation <strong>und</strong><br />

multisektorielles Vorgehen zusammen.<br />

Eigenverantwortliche Mitarbeitende<br />

Der erste Eckpfeiler ist das „Empowerment“, was soviel wie „Befähigung/Ermächtigung“<br />

bedeutet. Das Menschenbild in der Ges<strong>und</strong>heitsförderung geht vom selbständigen, eigenverantwortlichen<br />

Mitarbeitenden aus, welcher vom Vorgesetzten genügend Handlungsspielraum<br />

erhält, um diese Eigenverantwortung seiner Ges<strong>und</strong>heit gegenüber auch wahrnehmen zu<br />

können. Einer der grössten Stressoren am Arbeitsplatz ist nicht umsonst viel Veranwortung<br />

gepaart mit wenig Handlungsspielraum.<br />

Zusätzlich gehört zum Empowerment, dass die Belegschaft ihr Wissen in ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Themen fördert. Sie sollte regelmässig über ges<strong>und</strong>heitsrelevante Aspekte informiert werden.<br />

Dies kann zum Beispiel in eine flächendeckende Informationskampagne gepackt werden.<br />

Geeignete Themen <strong>für</strong> eine Kampagne, welche alle Mitarbeitenden anspricht, sind von<br />

persönlichem Nutzen <strong>für</strong> die Betroffenen. Als Beispiele können Kampagnen unter dem Motto<br />

„Ein ges<strong>und</strong>er Business-Lunch“, „Nichtrauchen ist cool“, „Ergonomie am Bildschirmarbeitsplatz“<br />

oder generell Aufklärung über Herz/Kreislauf-Risikofaktoren, Alkohol oder<br />

Mobbing genannt werden. Eine Informationskampagne hat jedoch meist bloss individuellen<br />

Charakter, d.h. nur interessierte Mitarbeitende besuchen sie <strong>und</strong> profitieren davon.<br />

Die effizientere <strong>und</strong> nachhaltigere Methode, betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung umzusetzen,<br />

sind Massnahmen im strukturellen Bereich. Diese betreffen nicht nur die interessierte<br />

Zielgruppe, sondern alle Mitarbeitenden sind involviert. Vom Effekt her sind strukturelle<br />

Massnahmen wirkungsvoller, bergen aber auch zwangsläufig mehr Konfliktpotential. Will<br />

eine Firma beispielsweise ihre Büroräume rauchfrei gestalten, trifft sie somit auf deutlich<br />

mehr Widerstand als wenn sie <strong>für</strong> eine ausgewählte Zielgruppe, beispielsweise ausstiegswillige<br />

Raucherinnen <strong>und</strong> Raucher, Ausstiegshilfe anbietet.<br />

Laien <strong>und</strong> Experten werden zu Partnern<br />

Der zweite Eckpfeiler der Ges<strong>und</strong>heitsförderung ist die Partizipation. Die Mitarbeitenden sind<br />

durch die Umsetzung der Partizipationsgr<strong>und</strong>sätze nicht bloss passive Massnahmenempfänger,<br />

wie es bis anhin im UVG <strong>und</strong> ArG postuliert wurde, sondern beteiligen sich aktiv<br />

an der Mitgestaltung ihrer Arbeitsumgebung <strong>und</strong> -organisation. Mit der Einführung der<br />

Partizipation kann sich ein Weltbild verändern. Wo sich vorher Experte <strong>und</strong> Laie gegenüber<br />

standen, begegnen sich nun gleichwertige Partner mit verschiedenem, aber gleichwertigem<br />

97


Erfahrungswissen. Deutlich kann dieser Wandel im betriebsärztlichen Dienst beobachtet<br />

werden: die verunfallten oder erkrankten Mitarbeitenden sind nicht mehr nur passive<br />

Rezepturempfänger, sondern liefern entscheidende Informationen bezüglich ihres Arbeitsplatzes<br />

<strong>zur</strong> Optimierung der problematischen Situation. Das Umdenken muss also nicht nur<br />

seitens der Mitarbeitenden zu mehr Eigenverantwortung, sondern auch seitens der Vorgesetzten<br />

zu mehr Mitbestimmung ihrer Mitarbeitenden stattfinden.<br />

Partizipation ist der entscheidende Faktor, wenn es um tiefgreifende Veränderungen im<br />

Arbeitsumfeld oder in der Arbeitsorganisation geht. Muss beispielsweise eine Abteilung von<br />

Kleinraumbüros in ein Grossraumbüro umziehen, kann nur ein begleitender <strong>und</strong> mitbestimmender<br />

Prozess die entstehenden Territorial- <strong>und</strong> Privatsphäreproblematiken <strong>und</strong> das<br />

Unbehagen bezüglich Innenraumbedingungen auffangen. Dazu gehört eine Ist-Analyse der<br />

Innenraumbedingungen <strong>zur</strong> Evaluation der Problembereiche, die Bildung einer Arbeitsgruppe,<br />

welche in Form eines Ges<strong>und</strong>heitszirkels Massnahmen <strong>zur</strong> Optimierung erarbeitet<br />

sowie eine begleitende Aufklärungskampagne <strong>zur</strong> Information der anderen Mitarbeitenden.<br />

Der Vorgesetzte ist wichtiger als der Hausarzt<br />

Der dritte Eckpfeiler ist das „multisektorielle Vorgehen“. Mit multisektoriell ist das Einbinden<br />

der Ges<strong>und</strong>heitsförderung in alle Bereiche des Betriebes gemeint. Ges<strong>und</strong>heitsförderung<br />

ist nicht Sache des Hausarztes oder im Fall einer Grossfirma Sache des betriebsärztlichen<br />

Dienstes, sondern gehört ins Pflichtenheft des Arbeitgebers. Um am Arbeitsplatz<br />

ges<strong>und</strong> zu bleiben, muss nicht der Hausarzt ein Ass sein, sondern der Umgang der<br />

Führungskraft mit den Mitarbeitenden ist entscheidend. Sie kann die Absenzenrate wesentlich<br />

beeinflussen.<br />

Multisektoriell muss das Vorgehen auch sein, weil die Ges<strong>und</strong>erhaltung <strong>und</strong> -förderung der<br />

Mitarbeitenden nicht nur ihr körperliches, sondern auch ihr psychisches <strong>und</strong> soziales Wohlbefinden<br />

beinhaltet. Gerade <strong>für</strong> die beiden letztgenannten Punkte besitzt der Vorgesetzte eine<br />

Schlüsselfunktion. Er bestimmt das Arbeitsklima, den Umgang mit ständig wachsendem Zeit-<br />

<strong>und</strong> Termindruck, den Grad der Unterstützung schwächerer Mitarbeitender <strong>und</strong> vieles mehr.<br />

Den Führungskräften sollte deshalb durch gezielte Schulung diese Verantwortung gegenüber<br />

ihren Mitarbeitenden bewusst gemacht werden. Es ist ihre Aufgabe, problematische Veränderungen<br />

bei Mitarbeitenden frühzeitig zu erkennen <strong>und</strong> adäquat zu handeln. In der Praxis geht<br />

bei diesem Statement jeweils ein ungläubiges Raunen durch die Führungsetage: Neben dem<br />

täglichen Geschäft bleibt nach Meinung der Vorgesetzten schlicht keine Zeit <strong>für</strong> solche „soft<br />

factors“.<br />

Die „soft factors“ der Führung wie Stressbewältigung, Sucht- <strong>und</strong> Mobbingprävention,<br />

Absenzmanagement <strong>und</strong> Existenzsicherung gehören jedoch ganz zentral in den Aufgabenkatalog<br />

der Führungskraft. Keine Führungskraft muss das Alkoholproblem ihres Mitarbeiters<br />

lösen. Aber sie muss das Problem erkennen <strong>und</strong> ansprechen. Zusammen mit Fachpersonen<br />

kann dann gemeinsam im unterstützenden Netzwerk von Arbeitgeber – Arbeitnehmer –<br />

<strong>Sozial</strong>beratung/Betriebsarzt eine Lösung gef<strong>und</strong>en werden.<br />

98


Betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung ist ein „win-win“-Konzept<br />

Die Einführung einer ganzheitlichen Ges<strong>und</strong>heitsförderung in einem Betrieb hat <strong>für</strong> die<br />

Mitarbeitenden wie <strong>für</strong> die Geschäftsleitung Vorteile. Die Mitarbeitenden profitieren durch<br />

mehr Handlungsspielraum <strong>und</strong> Mitbestimmungsrecht von mehr Einflussmöglichkeiten auf<br />

ihre direkte Arbeitsumgebung <strong>und</strong> -organisation. Die Firmenleitung profitiert finanziell dank<br />

motivierteren, leistungsfähigeren <strong>und</strong> kreativeren Mitarbeitenden <strong>und</strong> durch ein positives<br />

Image in der Öffentlichkeit. Wieso haben also nicht längst alle Firmen die betriebliche<br />

Ges<strong>und</strong>heitsförderung eingeführt? Betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsförderung stellt – wie eingangs<br />

erwähnt – eine Denkweise dar. Und eine andere Denkweise verlangt einen Kultur- <strong>und</strong> Wertewandel.<br />

Dieser muss von oben vorgelebt <strong>und</strong> nach unten umgesetzt werden. Etwas Geduld ist<br />

neben einer kompetenten Begleitung dieses Prozesses durch Fachpersonen die Gr<strong>und</strong>voraussetzung<br />

<strong>zur</strong> erfolgreichen Einführung betrieblicher Ges<strong>und</strong>heitsförderung. Mittel- <strong>und</strong><br />

langfristig ist sie ein ausgezeichnetes Mittel, um im Konkurrenzdruck der heutigen Wirtschaft<br />

wettbewerbsfähig zu bleiben.<br />

3.8 Betriebliche Unfallverhütung<br />

Unfälle in Betrieben können zu erheblichem Leiden <strong>für</strong> betroffene Personen sowie Kosten <strong>für</strong><br />

den Arbeitgeber führen. Folgende Abbildung zeigt den Zusammenhang zwischen medizinischen<br />

Kosten <strong>und</strong> zusätzlichen Kosten eines Unfalles.<br />

Unfallkosten „Eisberg“<br />

99


Es wird ersichtlich, dass es sich gr<strong>und</strong>sätzlich lohnt, Unfälle zu verhindern.<br />

Eine Betriebliche Unfallverhütung kann nur erfolgreich sein, wenn sie in Zusammenarbeit der<br />

Spezialisten der Arbeitssicherheit entstanden ist. Als ersten Schritt wird eine Risikoanalyse<br />

durchgeführt. Die Methodik ist im Heft Arbeitshygiene der Schriftenreihe Sicherheit der<br />

ESCIS genauer beschrieben [1].<br />

Der <strong>Arbeitsmedizin</strong>er ist bei der Sammlung der Daten sowie der Beurteilung der ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Relevanz der Ergebnisse beteiligt.<br />

Massnahmen aus einer Risikoanalyse fallen in folgende Kategorien, die als anzustrebende<br />

Hierarchie anzusehen sind:<br />

1.) Elimination durch Substitution<br />

2.) Falls 1.) nicht möglich: Verhinderung einer möglichen Gefahrenexposition durch<br />

technische Massnahmen<br />

3.) Falls 1.) <strong>und</strong> 2.) nicht möglich: Einsatz von persönlicher Schutzausrüstung (Masken,<br />

Kleidung, Handschue etc.)<br />

Um die volle protektive Wirkung zu erzielen, sollten immer noch flankierend organisatorische<br />

Massnahmen getroffen werden. Diese richten sich nach dem jeweiligen Gefahrenpotential.<br />

Als Beispiel seien Absperrungen oder Zutrittsberechtigungen erwähnt.<br />

In einer zweiten Stufe geht es darum stattgef<strong>und</strong>ene Unfälle abzuklären <strong>und</strong> die Lehren <strong>für</strong><br />

Verbesserungen der Abläufe oder der Arbeitsplätze zu ziehen. Dazu werden heute einige<br />

Computerprogramme <strong>zur</strong> Aufbereitung, Analyse <strong>und</strong> Massnahmenbestimmung angeboten.<br />

Wichtig daran ist, dass die Aufarbeitung systematisch geschieht <strong>und</strong> dass diese Arbeit in einer<br />

anklagelosen Kultur erfolgt.<br />

Die Lehren aus dem Unfall können dann mit den oben beschriebenen Massnahmenkategorien<br />

weiter gezogen werden.<br />

Die Umsetzung von Sicherheitskonzepten erfodert, dass das Linien Mangement voll dahinter<br />

steht <strong>und</strong> die Ideen der Unfallverhütung gänzlich in die Arbeitsprozesse eingebaut werden.<br />

Dazu gehören die Themengebiete Sicherheitsschulung (Gefahrenpotentiale an den Arbeitsplätzen,<br />

getroffene Schutzmassnahmen, Wirkungsweisen von Schutzartikeln etc.), Notfallorganisation<br />

sowie Politik nach einem Ereignis.<br />

Verschiedene Sicherheits-Firmen bieten hier Ihre Konzepte an. Diese umfassen, neben der<br />

Erfüllung der Verordnungen 3 <strong>und</strong> 4 zum Arbeitsgesetz auch Angebote <strong>zur</strong> Risikoanalyse.<br />

Wichtig ist in jedem Fall, dass das Sicherheitskonzept in die Kultur des jeweiligen Betriebes<br />

passt. Ansonsten verlieren Management wie Mitarbeiter das Interesse.<br />

Literatur<br />

1 Arbeitshygiene der Schriftenreihe Sicherheit der ESCIS.<br />

2 Arbeitsgesetz (ArG), Verordnungen 3 <strong>und</strong> 4.<br />

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