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13. Ethik

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ISPM - Universität Bern - SPM-Skript – <strong>13.</strong> <strong>Ethik</strong> (Entwurf v.2)<br />

<strong>13.</strong> <strong>Ethik</strong><br />

(Kurt Laederach-Hofmann)<br />

Inhaltsübersicht:<br />

Allgemeine Bedeutung der medizinischen <strong>Ethik</strong>.<br />

Wesentliche Begriffe : «<strong>Ethik</strong>», «biomedizinische <strong>Ethik</strong>», «Mikro-» und<br />

«Makroethik»<br />

Grundprinzipien (Autonomierespekt, «Non maleficience», «Beneficence»,<br />

«Equity»)<br />

Fragestellungen aufgrund der ethischen Grundprinzipien beurteilen im Bereich<br />

Prävention und Gesundheitswesen<br />

Dialektische Spannung zwischen individuellem und gemeinschaftlichem<br />

Interesse<br />

«Informed consent»-Regel<br />

Zwei bestehende Leitlinien: Empfehlungen des CIOMS und der SAMW<br />

Beziehungen zwischen ethischen Empfehlungen und juristischen Bestimmungen<br />

(aus Lernzielkatalog SPM 2003)<br />

<strong>13.</strong>1 Allgemeine Bedeutung der medizinischen <strong>Ethik</strong><br />

<strong>Ethik</strong> (gr. Sittenlehre) ist die Wissenschaft, die als Aufgabe die Findung<br />

von Antworten auf Fragen nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit zum Ziel hat.<br />

Als Moral eines einzelnen Menschen oder einer Gesellschaft wird die Gesamtheit<br />

der für diesen Menschen bzw. Gesellschaft grundlegenden Verhaltensweisen,<br />

Einstellungen und Überzeugungen verstanden. Unter <strong>Ethik</strong><br />

verstehen wir hingegen die kritisch-rationale Auseinandersetzung bzw.<br />

theoretische Beschäftigung mit Moral. Moral ist somit gewissermassen der<br />

“Gegenstand” der <strong>Ethik</strong>. Begrifflich kann man demnach zwischen Moral<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 1


ISPM - Universität Bern - SPM-Skript – <strong>13.</strong> <strong>Ethik</strong> (Entwurf v.2)<br />

und <strong>Ethik</strong> unterscheiden. Allerdings handelt es sich in der Praxis dabei aber<br />

nicht um einen scharfen Unterschied, sondern eher um einen fliessenden<br />

Übergang.<br />

Die Ausdrücke ‘ethisch’ und ‘moralisch’ werden im Alltag häufig wertend<br />

verwendet, so etwa in Bewertungen wie eine Handlung sei unethisch oder<br />

unmoralisch. Eine solche (ab-)wertende Verwendung der erwähnten Ausdrücke<br />

gibt es bei unserer terminologischen Festlegung nicht: Ob ein<br />

Thema oder die theoretische Beschäftigung in dem hier festgelegten Sinn<br />

ethisch ist bzw. zur <strong>Ethik</strong> gehört oder nicht, hängt nämlich ausschliesslich<br />

von ihrem Inhalt ab, mit dem sich der Handelnde (der Arzt) auseinandersetzen<br />

muss.<br />

Folgende Tabelle stellt vereinfachend die wichtigsten Begriffe dar:<br />

<strong>Ethik</strong>: befasst sich mit der Erforschung<br />

der Verhaltensnormen oder –regeln<br />

(Regelethik, Normethik), der Analyse<br />

der Werte und den Überlegungen<br />

über die Grundlagen von Verpflichtungen<br />

(Deontologische <strong>Ethik</strong>)<br />

oder Werten. Daneben beschäftigt<br />

sie sich mit der Verwirklichung der<br />

Werte in konkreten Situationen.<br />

Bioethik: Wertebedingte (normethische) Diskussion<br />

um die verantwortungsvol-<br />

Biomedizinische<br />

<strong>Ethik</strong>:<br />

le menschliche Lebensführung.<br />

kann als <strong>Ethik</strong> des ganzen Gesundheitsbereiches<br />

verstanden werden.<br />

und schliesst damit die Beschäftigung<br />

mit allen ethischen Fragen im<br />

Bereich der Medizin, Biologie, Psychologie<br />

und Gesundheit, des Gesundheitswesens<br />

und des Wohlbefindens<br />

mit ein. (Bereich des Public<br />

Health inkl. Prävention)<br />

Mikroethik: beschäftigt sich aus der Perspektive<br />

der Klinik oder Forschung mit<br />

individuellen Fällen. Sie ist somit<br />

auf die individuelle Ebene bezogen<br />

(von Bedeutung für den Alltag des<br />

Klinikers und praktizierenden Arztes)<br />

Makroethik: befasst sich im gesellschaftlichen<br />

Rahmen im mit dem Gleichgewicht<br />

der Rechte und mit den zu<br />

errichtenden sozialen und rechtlichen<br />

Strukturen bzw. deren ethi-<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 2


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schen Bedingtheiten.<br />

Auch Entwicklungen und Massnahmen<br />

auf individueller Ebene<br />

können Auswirkungen auf gesellschaftlicher<br />

Ebene haben und erfordern<br />

entsprechende Hinterfragung<br />

(ganzheitliche Betrachtungsweise).<br />

<strong>13.</strong>2 Pluralität der <strong>Ethik</strong>-Konzepte und <strong>Ethik</strong> in der Medizin<br />

Die Frage nach dem, was jemand tun darf oder tun soll, steht im Mittelpunkt<br />

jeder ethischen Reflexion. Liberale Rechtsstaaten schützen und respektieren<br />

die Freiheit unterschiedliche moralische Positionen zu vertreten.<br />

Wer hingegen verantwortlich handeln will, sollte sein Handeln, Unterlassen<br />

und Verhalten sorgfältig prüfen. Insbesondere im Verhältnis von Ärzten<br />

und Patienten ist es für letztere wichtig zu wissen, inwiefern Ärzte ihr Tun<br />

auch ethisch reflektieren. Doch nicht immer geben wir ausdrücklich Rechenschaft;<br />

oft kann man sich mit dem begnügen, was üblicherweise erwartet<br />

wird. Sobald wir jedoch ausdrücklich darüber reflektieren, ob die<br />

herrschende Moral richtig ist, anerkannt werden soll und womöglich allgemeine<br />

Geltung beanspruchen darf, nehmen wir eine distanziertere, beobachtende<br />

Perspektive ein. In diesem Sinne kann man die „<strong>Ethik</strong>“ die<br />

„Reflexion“ oder „Theorie der Moral“ nennen.<br />

<strong>13.</strong>3 Warum <strong>Ethik</strong> in der Medizin?<br />

Jeder, der handelt, muss seine Handlungen begründen können. Dies gilt<br />

besonders in der Medizin: Obgleich es beispielsweise aus mikrobiologischer<br />

Sicht klar ist, dass dieses oder jenes Antibiotikum zur erfolgreichen<br />

Behandlung einer Infektion verwendet werden kann, muss der Arzt entscheiden,<br />

ob und unter welchen Umständen er zu einer Handlung schreitet<br />

(beispielsweise dem Patienten das Antibiotikum injiziert) oder ob er es ihm<br />

in der ambulanten Behandlung lediglich nahelegt, oder in einer besonderen<br />

Situation darauf verzichtet, es dem Patienten zu geben. Diese „moralischen“<br />

bzw. bewertenden Elemente sind es, die ethisch begründbar sein<br />

müssen.<br />

<strong>Ethik</strong> in der Medizin (auch „medizinische <strong>Ethik</strong>“) ist deshalb ein Spezialgebiet<br />

der „angewandten <strong>Ethik</strong>“ („applied ethics“). Angewandte <strong>Ethik</strong> heisst:<br />

Anwendung ethischer Theorien, Prinzipien, Argumentationsformen und<br />

Entscheidungsverfahren auf Probleme, Fragen und Herausforderungen, die<br />

sich im Zusammenhang mit bestimmten gesellschaftlichen Funktionsbereichen,<br />

Institutionen und Berufen stellen. <strong>Ethik</strong> in der Medizin ist angewand-<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 3


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te <strong>Ethik</strong>, die sich im weitesten Sinne auf das „Gesundheitswesen“ erstreckt.<br />

Medizinische <strong>Ethik</strong> handelt 1 von spezifischen beruflichen Herausforderungen<br />

und Pflichten und ist somit eine Berufs- oder „Standesethik“. Sie fragt<br />

vor allem nach der Gebotenheit, Erlaubtheit oder Nicht-Zulässigkeit bestimmter<br />

Entscheidungen, Handlungen, Unterlassungen und Verhaltensweisen<br />

von Medizinalpersonen unter verschiedenen Bedingungen. Sie betrifft<br />

2 im Wesentlichen spezielle, regelmässig wiederkehrende Probleme im<br />

Bereich ärztlichen und pflegerischen Handelns. Oft sind dies Probleme, die<br />

zu einem grossen Teil mit typischen Lebenssituationen zusammenhängen<br />

wie Empfängnis und Geburt, Leiden und Heilung, Alter und Tod. Die Medizinethik<br />

fragt hier nach Grundsätzen für handlungsleitende Regeln und<br />

nach den Problemen ihrer Anwendung 3 .<br />

Während besonders in der Naturwissenschaft und somit in einem wesentlichen<br />

Teil der Medizin und Biologie beschreibende (deskriptive) und faktische<br />

Fragen interessieren, beschäftigt sich <strong>Ethik</strong> mit wertenden (normativen)<br />

Fragen.<br />

Durch den gesellschaftlichen Wertepluralismus haben sich in der Medizin<br />

ethische Fragestellungen und Diskussion über Normen und Werte in den<br />

letzten Jahren akzentuiert. So gibt es in der Medizin die grundsätzliche<br />

Frage, ob in schwierigen Entscheiden Einigkeit in normativen oder deskriptiven<br />

Fragen möglich ist. Solche Überlegungen sind – bedingt durch die<br />

erhöhte Sensibilisierung der Öffentlichkeit via Medien – nicht mehr aus<br />

dem Alltag der ärztlichen Tätigkeit wegzudenken.<br />

Als Beispiele für normative (syn. „wertende“) Fragen können gelten 4 :<br />

- Ist es gut, die Organe zur Transplantation freizugeben?<br />

- Soll die Ärztin passive Sterbehilfe zu leisten.<br />

- Darf der Arzt die Behandlung abbrechen?<br />

Auf der anderen Seite lassen sich oft bei deskriptiven (faktischen) Fragen<br />

eher konsensuelle Lösungen finden:<br />

- Wie gross ist die Überlebenschance?<br />

- Wie lange dauert die Operation?<br />

- Wie viel Blut hat die Patientin verloren?<br />

1 Zur Einführung und Übersicht vgl. Dietrich Ritschl, Art. Medizinische <strong>Ethik</strong>, EKL 3. Aufl., Bd. 3, 1992, 349-356<br />

2 Siehe hierzu Heinz Eduard Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: ders., Perspektiven<br />

theologischer <strong>Ethik</strong>, München 1988, 21-48; Hermann Ringeling, Ethische Normativität und Urteilsfindung, in:<br />

ders., Christliche <strong>Ethik</strong> im Dialog. Beiträge zur Fundamental- und Lebensethik II, Fribourg-Freiburg-Wien 1991,<br />

107-131<br />

3 Die wesentlichsten Anteil dieses Abschnittes gehen auf die Medizinervorlesung von W. Lienemann (Bern) zurück<br />

und wurden durch Inhalte aus Diskussionen mit G. Maio (Zürich) und D. Hell (Zürich) ergänzt.<br />

4 Zitiert nach R. Givel, Crash-Course in Medizinischer <strong>Ethik</strong> für Medizinstudierende<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 4


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<strong>13.</strong>4 Allgemeine Bedeutung der Biomedizinischen <strong>Ethik</strong><br />

Wie aus dem obigen Beispiel hervorgeht, stellen ethische Fragen in Medizin<br />

und Gesundheitswesen eine tägliche Herausforderung dar. Andererseits<br />

ist anzunehmen, dass die Bedeutung ethischer Fragestellungen zukünftig<br />

durch finanzielle Restriktionen im Gesundheitswesen, die Bewertungen<br />

ökonomischer Eingriffe etc. weiter zunehmen wird. Abgesehen von<br />

individuellen ethischen Fragen beschäftigen uns in Medizin und Gesundheitswesen<br />

heute im Wesentlichen folgende Fragen:<br />

- Arzt-Patienten-Beziehung und Therapie<br />

- Non-Compliance<br />

- Sterbehilfe (aktive, passive, indirekt aktive)<br />

- Ansteckungsgefahr (HIV, HCV, Tbc etc.)<br />

- Experimente am Menschen (GCP (good clinical practice) -Richtlinien)<br />

- medizinisch unterstützte Fortpflanzung (IVF)<br />

- Früherfassung genetischer Prädispositionen (Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik)<br />

- Eingriffe in die Erbmasse (Gentherapie, Stammzellenforschung),<br />

- rechtliche Grenzen für die Forschung<br />

- Verteilung von Mitteln innerhalb des Gesundheitswesens (Allokationsfragen)<br />

- Kosten der Spitzenmedizin (Organtransplantation)<br />

- Konkurrenz zwischen kurativer und präventiver Medizin<br />

- Qualitätssicherung im Gesundheitswesen<br />

Aus dieser, nicht abschliessenden Liste geht unmittelbar hervor, dass eine<br />

ärztliche Tätigkeit ohne ethische Überlegungen undenkbar ist.<br />

Rischl unterscheidet medizinethische Problemfelder, die sich überlappen:<br />

- Arzt-Patient Beziehungen (Ebene personaler Interaktionen)<br />

- Gesundheitspolitik und -versorgung (Ebene der strukturellen Probleme)<br />

- Gesundheitserwartungen/Gesundheitsverhalten (kulturelle Ebene)<br />

Die meisten Überlegungen zur <strong>Ethik</strong> in der Medizin gehen von der Sicht<br />

der Medizinalpersonen (Mikroethik) aus; ihre primären Adressaten sind<br />

Ärzte und Pfleger. Das ist richtig, insofern diese Menschen letztendlich<br />

massgeblich die meisten Interaktionen und Entscheidungen im Gesundheitswesen<br />

bestimmen. Auf der anderen Seite ist es hingegen nötig, regelmässig<br />

auch in die Lage der übrigen Beteiligten zu versetzen: der Gesunden<br />

und Kranken, ihrer Angehörigen, der Laboranten und Pharmaforscher,<br />

der Krankenhausverwalter und der Krankenkassen-Beitragszahler,<br />

nicht zuletzt auch der Politiker und vor allem Finanzpolitiker, die für Allokationsentscheidungen<br />

im Gesundheitswesen zuständig sind (Makroethik).<br />

Weiter behandelt die <strong>Ethik</strong> in der Medizin strukturelle Probleme des Gesundheitswesens<br />

einer Gesellschaft oder im internationalen Zusammen-<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 5


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hang. Sie setzt sich insbesondere mit neuen technischen Entwicklungen<br />

und den ökonomischen Grundlagen und Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens<br />

auseinander. Schliesslich geht es um spezifische kulturelle<br />

Erwartungen an das Gesundheitswesen, das Verständnis der Menschen<br />

von Gesundheit, Krankheit und Tod und die besonderen Weisen des<br />

Umganges mit entsprechenden Grenzerfahrungen von Menschen in verschiedenen<br />

Kulturen 5 .<br />

Da vielmals nicht nur der Arzt, sondern im besonderen der sich einer Behandlung<br />

unterziehende Patient oder der freiwillig an einer Studie teilnehmende<br />

Proband von denselben Fragen betroffen sind, wurden die ethischen<br />

Richtlinien des sog. „Informed Consent“ ausgearbeitet, zu dessen<br />

Einhaltung sich die Ärzteschaft durch Standesregeln verpflichtet hat.<br />

Der Informed Consent beinhaltet im Besonderen die Aufklärung, die Risikoabschätzung,<br />

die Bewertung der Notwendigkeit einer medizinischen<br />

Massnahme, die Folgen bei Aussetzen bspw. der vorgeschlagenen<br />

Therapie und die Eröffnung der Einholung einer Zweitmeinung über<br />

die zu treffende Massnahme.<br />

Der Informed Consent setzt einen urteils- bzw. verhandlungsfähigen Patienten<br />

oder Probanden voraus. Somit werden direkt oder indirekt folgende<br />

4 BIOEHTISCHE PRINZIPIEN tangiert:<br />

1. Autonomie<br />

2. Non-Malefizienz (nicht schaden)<br />

3. Gerechtigkeit<br />

4. Fürsorge<br />

Während Autonomie die Selbstbestimmung menschlichen Entscheidens<br />

und Handelns bedeutet, setzt dieser Begriff auch voraus, dass der Betroffene<br />

frei von Zwang sein muss (darüber nachzudenken ist hier kein Platz;<br />

die Überlegung, wie zwangsfrei der Status eines Patienten allerdings ist,<br />

lohnt sich trotzdem hier anzufügen). Gleichzeitig wird impliziert, dass der<br />

Betroffene sich einer angepassten Information über Vor- und Nachteile<br />

einer Massnahme, Therapie oder medizinischen Intervention (auch einer<br />

Medikation!) bedienen kann.<br />

Diese Voraussetzung ist jedoch in vielen medizinischen Entscheidungsphasen<br />

nicht (mehr) gegeben oder anzunehmen. Somit kann davon ausgegangen<br />

werden, dass im oft unfreiwilligen Übergang vom „freien Bürger“<br />

zum „Patient“ Teile der Autonomie verloren gehen oder abgegeben werden<br />

müssen. Dieser Problematik hat sich die Epoche der Aufklärung gewidmet,<br />

doch bestehen die Probleme selbstverständlich heute ebenso weiter<br />

wie damals. Damit wird die Grenze zwischen Sein und Sollen, zwischen<br />

Ideal und Wirklichkeit deutlich.<br />

5 Vgl. Markus Zimmermann-Acklin, Töten und Sterbenlassen: ethische Aspekte der gegenwärtigen Euthanasie-<br />

Diskussion, in: Alberto Bondolfi/Hansjakob Müller (Hrsg.), Medizinische <strong>Ethik</strong> im ärztlichen Alltag, Basel-Bern<br />

1999, 363-379<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 6


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Im Bestreben des Arztes, Teile der vom Patienten oft mutuell abgetretenen<br />

Autonomie im Sinne und Interessen desselben und zu vertreten, führen<br />

direkt zur Frage der sog. Fürsorge. Die Geschichte zeigt, dass sich die<br />

Ärzteschaft vieler dieser Fragen nicht bewusst war, bzw. durch bestimmte<br />

gesellschaftliche Normen die Frage der Fürsorge nicht zwangsläufig zu<br />

Gunsten des Patienten, sondern vielmehr zu Gunsten der Gesellschaft<br />

auslegte (man denke dabei an die Tötungen im 3. Reich oder an die<br />

Zwangssterilisationen behinderter Frauen bis in die 70-iger Jahre in der<br />

Schweiz). In dieser Situation war es deshalb nötig, Rechtsnormen aufzustellen,<br />

die den Patienten vor dem Arzt und umgekehrt auch den Arzt vor<br />

Ansprüchen des Patienten schützen. Dazu haben auch standesethische<br />

Regulative beigetragen, wie sie in den Richtlinien der Schweizerischen Akademie<br />

der Medizinischen Wissenschaften laufend aktualisiert, d.h. den<br />

neuen medizinischen Gegebenheiten bzw. der aktuellen ethischen und<br />

rechtlichen Normvorstellungen angepasst werden.<br />

Es gibt damit – philosophisch argumentiert – keinen sog. „pflichtfreien<br />

Raum“ für den Arzt. Ebenso wie Aufklärung besonders bei der Wahl von<br />

Behandlungsmöglichkeiten oder bei höherem Schweregrad der Krankheit<br />

absolute Pflicht ist, kann kein medizinischer Eingriff ohne Einwilligung des<br />

Patienten erfolgen, weil er sonst den juristischen Tatbestand einer Körperverletzung<br />

darstellt.<br />

In denselben Kontext gehören die Auseinandersetzung mit den Fragen der<br />

Verteilung von Mitteln (Allokation) bzw. der Gerechtigkeit und das Prinzip<br />

des Nicht-Schadens (Non-Malefizienz). Um diese Begriffe näher zu charakterisieren,<br />

schieben wir hier einen kurzen Exkurs über ethische Argumentation<br />

ein.<br />

<strong>13.</strong>5 EXKURS: Ethische Argumentation<br />

Wie lassen sich normative (= wertende) Sätze begründen?<br />

Normative Sätze lassen sich logisch herleiten. Als Beispiel einer gültigen<br />

Herleitung eines normativen Satzes diene:<br />

p1<br />

Das Töten eines Menschen ist immer schlecht.<br />

p2 Jeder menschliche Embryo ist ein Mensch.<br />

Das Töten eines Embryos ist immer schlecht.<br />

Eine logische Herleitung ist genau dann valid (= korrekt/gültig), wenn es<br />

ausgeschlossen ist, dass die Konklusion (= hergeleiteter Satz) falsch ist,<br />

obwohl alle Prämissen (= Voraussetzungen) wahr sind. Die Herleitung der<br />

obigen Konklusion ist also logisch korrekt. Trotzdem könnte die Konklusion<br />

falsch sein. Jedoch ist kein logischer Schluss mit normativer Konklusion<br />

gültig, der nicht mindestens einen normativen Satz als Prämisse setzt.<br />

Wer eine normative Konklusion ausschliesslich aus deskriptiven Sätzen<br />

ableitet, begeht einen sogenannten naturalistischen Fehlschluss<br />

(G. E. Moore: „naturalistic fallacy“). Damit stellt sich das Problem des<br />

infiniten Regresses (=Begründung ohne Ende): Leitet man einen normativen<br />

Satz u.a. aus einem normativen Satz ab, so muss sich dieser wieder<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 7


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aus einem normativen Satz ableiten usw. Um den infiniten Regress zu<br />

vermeiden, muss die Richtigkeit mindestens eines normativen Satzes behauptet<br />

werden können, ohne dass sich diese durch logische Ableitung<br />

begründen lässt.<br />

Erfahrungsgemäss sind wir uns bei zahlreichen normativen Sätzen uneinig.<br />

Aus dieser Tatsache zu schliessen, dass keine Einigung bezüglich der<br />

zu setzenden normativen Sätzen möglich ist, wäre allerdings voreilig:<br />

Dass jemand die normative Konklusion des obigen Beispiels bestreitet,<br />

kann daran liegen, dass er im Gegensatz zu jemand anderem der deskriptiven<br />

Prämisse p1 nicht zustimmt. Uneinigkeit bezüglich normativer Sätze<br />

kann also auf Uneinigkeit bezüglich deskriptiver Sätze zurückzuführen<br />

sein. Dieses Phänomen können wir vermeintlichen Wertestreit nennen 6<br />

und dieser ist weit häufiger in medizinischen Diskussionen anzutreffen, als<br />

man gemeinhin annehmen könnte.<br />

Um auszuschliessen, dass die Uneinigkeit bezüglich deskriptiver Sätze die<br />

Suche nach intersubjektiv anerkannten normativen Sätzen beeinträchtigt,<br />

unterscheiden wir wie folgt:<br />

Intrinsisch ist ein normativer Satz, wenn er unabhängig von der<br />

Wahrheit deskriptiver Sätze wahr oder falsch ist;<br />

Extrinsisch ist ein normativer Satz, wenn er abhängig von der Wahrheit<br />

mindestens eines deskriptiven Satzes wahr oder falsch ist.<br />

Da alle apriorischen (=unabhängig von sinnlicher Erfahrung erkennbaren)<br />

Sätze auch notwendig (=in jeder logisch möglichen Welt) wahr sind, müssen<br />

intrinsische Sätze notwendigerweise wahr sein.<br />

Aus dem Unterschied zwischen Angewandter <strong>Ethik</strong> und Normativer <strong>Ethik</strong><br />

ergibt sich die übliche Zweiteilung in:<br />

- Aufgabe der Normativen <strong>Ethik</strong> ist es, die wahren intrinsischen Sätze<br />

herauszufinden;<br />

- Aufgabe der Angewandten <strong>Ethik</strong> (z.B. medizinische <strong>Ethik</strong>) ist es, die<br />

wahren extrinsischen Sätze herauszufinden. Die Beantwortung von Fragen<br />

der Angewandten <strong>Ethik</strong> hängt demnach von der Normativen <strong>Ethik</strong><br />

ab, die der Beantwortung zugrunde liegt.<br />

Im Verlaufe der Philosophiegeschichte haben sich zwei grosse normativethische<br />

Traditionen entwickelt: Der Konsequentialismus und die Deontologie.<br />

Konsequentialistische (teleologische {Gr. VWXYZ: Ziel}) Theorien bewerten<br />

Handlungen aufgrund ihrer Konsequenzen. Zu den Konsequentialisten<br />

gehören u.a. Bentham, Mill, Sidgwick und Singer. Im Konsequentialismus<br />

gibt es grob gesagt zwei unterschiedliche Formen, nämlich der Egoismus<br />

und der Utilitarismus. Beide halten sie das Hervorrufen angenehmer<br />

Empfindungen für gut und das Hervorrufen negativer Empfindungen für<br />

schlecht. Während der Egoist aber nur die eigenen Empfindungen für rele-<br />

6 Selbst wenn beide der deskriptiven Prämisse zustimmen und bezüglich der normativen Prämisse uneinig sind,<br />

kann diese Uneinigkeit auf eine Uneinigkeit bezüglich deskriptiver Sätze zurückzuführen sein. Enthält die zur<br />

normativen Prämisse führende Begründung ihrerseits eine deskriptive Prämisse, so sind die beiden vielleicht<br />

bezüglich dieser uneinig.<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 8


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vant betrachtet, bewertet der Utilitarist die Empfindungen aller Wesen<br />

gleichwertig. Geht der Utilitarist an eine Fragestellung der angewandten<br />

<strong>Ethik</strong>, so fragt er in der Regel zuerst nach den empfindungsfähigen Wesen,<br />

die in die Folgen der Handlungen involviert sind. Dann versucht er,<br />

die angenehmen und unangenehmen Empfindungen abzuschätzen und<br />

gegeneinander abzuwägen.<br />

Deontologische {Gr. \WY]: Pflicht, ^W_: ich muss} Theorien bewerten<br />

Handlungen nicht aufgrund ihrer Konsequenzen, jedenfalls nicht ausschliesslich.<br />

Wichtige Vertreter dieser <strong>Ethik</strong> sind Kant, Nagel und Williams.<br />

Es gibt Deontologen – unter ihnen Immanuel Kant – die keinerlei utilitaristische<br />

Werte akzeptieren. Ihnen zufolge sind die Handlungen unabhängig<br />

ihrer Konsequenzen wahr oder falsch. Ein solcher Deontologe kann eine<br />

Liste aller gebotenen und eine Liste aller verbotenen Handlungen erstellen<br />

(Versprechen halten, nicht töten, nicht lügen etc.). Heute anerkennen jedoch<br />

die meisten Deontologen utilitaristische Werte, limitieren diese aber<br />

durch gewisse gebotene und verbotene Handlungen. Viele von ihnen heben<br />

aber diese Limitierungen wieder auf, wenn die Konsequenzen besonders<br />

deutlich vorauszusehen sind und besonders deutlich ausfallen. Die<br />

meisten Deontologen sind anthropozentrisch. Das heisst die Liste verbotener<br />

und gebotener Handlungen betreffen nur Menschen. Das Tötungsverbot<br />

etwa bedeutet dann, dass nur Menschen nicht getötet werden dürfen,<br />

Tiere und Pflanzen hingegen schon 2 .<br />

<strong>13.</strong>6 Problemfelder der <strong>Ethik</strong> in der Medizin im engeren Sinne<br />

Ethische Reflexion setzt immer dann ein, wenn zwischen verschiedenen<br />

Handlungsmöglichkeiten gewählt werden kann und womöglich gewählt<br />

werden muss. <strong>Ethik</strong> als Reflexion bezieht sich immer auf Wahlmöglichkeiten,<br />

die letztlich ihren Grund in menschlicher Freiheit haben. Wie Menschen<br />

von ihrer Freiheit Gebrauch machen, darüber sind sie rechenschaftsfähig<br />

und rechenschaftspflichtig. Nur auf dem Boden der Freiheit<br />

entsteht so etwas wie menschliche Verantwortung; hier aber wird sie unabweisbar.<br />

Sie nicht wahrzunehmen oder bei einer rechenschaftspflichtigen<br />

Wahl zu versagen, kann einen Menschen schuldig werden lassen.<br />

Diese auf die Fähigkeit und Pflicht zur Verantwortung bezogene Schuld<br />

kann wiederum rechtlicher (legaler) oder sittlicher (moralischer) Art sein.<br />

Es gibt immer wieder Situationen, wo jemand – auch als Ärztin oder Pfleger<br />

oder Finanzverwalter – im rechtlichen Sinn als unschuldig befunden<br />

wird und sich doch selbst moralisch als schuldig empfindet.<br />

Wie oben summarisch bereits angeführt, betreffen die wichtigsten Problemfelder<br />

der <strong>Ethik</strong> in der Medizin Entscheidungen in Situationen, in denen<br />

nicht nur aufgrund medizinischer Überlegungen, sondern auch mit ethischen,<br />

also normativen (=wertenden) Gründen gewählt werden muss.<br />

2 Ein wesentlicher Anteil dieses Exkurses geht auf die Arbeit von R. Givel (Bern) zurück.<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 9


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Diese Fragen konzentrieren sich bemerkenswerterweise auf Beginn und<br />

Ende des Lebens (siehe S. 4).<br />

Hinzu kommen als allerdings oft vernachlässigte Bereiche der <strong>Ethik</strong> in der<br />

Medizin zwei Problemfelder:<br />

- Ethische Probleme des Umganges mit Langzeit- und chronisch kranken<br />

Patienten, besonders auch ethische Probleme im Umgang mit<br />

psychisch kranken Menschen<br />

- Ethische Probleme der Prävention und Rehabilitation<br />

Neu hinzugekommen sind vor allem ethische Fragen, die sich auf die Erweiterung<br />

technischer Möglichkeiten und die (wirtschaftlichen) Grenzen<br />

der Finanzierbarkeit medizinischer Leistungen beziehen:<br />

- Organtransplantation und Xenotransplantation<br />

- Forschung an Embryonen und Stammzellen<br />

- intergenerationelle somatische Gentherapie<br />

Auf der einen Seite stehen die hochtechnisierten Möglichkeiten, auf der<br />

anderen Seite der Zugang zu massenwirksamen, bezahlbaren Basismedikamenten<br />

oder zur Prävention. Dies ist die Problematik der Allokation<br />

bzw. (Verteil-)Gerechtigkeit.<br />

Urteilsbildung in der medizinischen <strong>Ethik</strong>: Das Vorgehen<br />

Die meisten medizinischen Entscheidungen, die Gegenstand expliziter oder<br />

impliziter ethischer Reflexion sind oder sein sollten, sind nicht von der Art,<br />

dass aus ethischen Prinzipien fallweise konkretisierende Handlungsanweisungen<br />

abgeleitet werden könnten. Am Beginn praktischer Überlegungen<br />

zur <strong>Ethik</strong> in der Medizin stehen vielmehr in der Regel konkrete Probleme<br />

und Herausforderungen.<br />

Die explizite ethische Reflexion im Blick auf konkrete Probleme der Medizin<br />

bildet den engeren Kern der angewandten <strong>Ethik</strong>. Es hat sich weithin<br />

bewährt, diese Reflexion in bestimmten, aufeinander bezogenen Schritten<br />

zu vollziehen, also methodisch einem Schema der ethischen Urteilsbildung<br />

zu folgen. Dabei geht man so vor, dass man im Blick auf einen Fall oder<br />

ein bestimmtes Problem zuerst versucht, das Problemfeld zu strukturieren<br />

und insbesondere Handlungsalternativen aufzuzeigen, sodann nach den<br />

einschlägigen Gütern, Normen oder Werten fragt, um schliesslich zu einem<br />

– oft vorläufigen – zusammenfassenden Urteilsentscheid zu gelangen.<br />

Beispiel:<br />

Ein 32-jähriger, an einem unheilbaren Hirntumor leidender Patient, der<br />

noch im vollen Besitz seiner geistigen Fähigkeiten ist, wünscht vom behandelnden<br />

Arzt die „Todesspritze“, zum Zeitpunkt, wenn ihn seine psychischen<br />

oder physischen Kräfte verlassen sollten und er unter starken,<br />

kaum erträglichen Schmerzen leiden würde. Arzt und Patient stimmen in<br />

(v 2.0 / 23.7.07 - siehe „http://www.ispm.ch/index.php?id=downloads/“ für aktualisierte Version sowie weitere Kapitel) 10


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der Beurteilung überein, dass in diesem Stadium keine Hoffnung auf Genesung<br />

oder auf die Erhaltung einer als menschenwürdig empfundenen<br />

Lebensqualität mehr gegeben sei. Der Patient versichert, dass auch seinen<br />

Angehörigen mit seinem Wunsch nach einer aktiven Sterbehilfe einverstanden<br />

seien. Der Arzt zögert, dem Patienten ohne weiteres die Erfüllung<br />

seines Wunsches für jeden Fall zuzusagen und bittet um Bedenkzeit bis<br />

zum nächsten Gespräch mit dem Patienten.<br />

Die nachfolgende Tabelle 7 gibt Auskunft über eine mögliche Strategie der<br />

ethischen Reflexion des oben angeführten Beispiels. Dabei erscheint vor<br />

allem wichtig, dass alle nachfolgend angeführten Elemente in einer ethischen<br />

Argumentationskette berücksichtigt werden.<br />

1. Medizin-wissenschaftliche Befunde<br />

- Diagnose<br />

- Prognose<br />

- Therapiemöglichkeiten<br />

- Ökonomie<br />

- Nützlichkeit für den Patienten<br />

- Nutzen/Schaden<br />

- Behandlungsressourcen<br />

2. Medizin-ethische Befunde<br />

- Gesundheit und Lebensqualität des Patien-<br />

ten<br />

- Selbstbestimmung<br />

- Wertsystem des Patienten<br />

- Stv. des Patienten<br />

- Ärztliche Verantwortung<br />

3. Zusatzfragen<br />

- Konsistenz der Behandlung<br />

- Folgekosten (Angehörige, Gemeinschaft)<br />

- Güterabwägung<br />

- Studie: informed consent<br />

4. Problemlösung<br />

- Lösungsoptionen<br />

- Verpflichtung gegenüber neuen Patienten<br />

- Argument für und gegen den Entscheid<br />

- Zustimmung des Patienten, Gesellschaft<br />

Schema der Elemente ethischer Urteilsbildung<br />

1. Problembestimmung:<br />

7<br />

Verändert nach Vorgaben des Bochumer Arbeitsbogens der Medizinethik, (Autoren: Sass & Viefhues) durch K.<br />

Laederach-Hofmann und W. Lienemann<br />

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Wahrnehmung eines Sachverhaltes als problematisch - Erfahrungen, Erwartungen,<br />

Kontext, Wahlfreiheiten.<br />

Vordergründig besteht das ethische Problem im skizzierten Fall nur darin,<br />

das Pro und Contra hinsichtlich aktiver Sterbehilfe zu klären. Aber schon<br />

die Frage nach dem, was hier der Fall ist, ist nicht einfach zu beantworten.<br />

Was ist überhaupt „Sterbehilfe“? Meist versteht man darunter das Töten<br />

oder Sterbenlassen eines auf den Tod kranken, schwer leidenden Menschen.<br />

Dabei muss man freilich folgende Näherbestimmungen unterscheiden:<br />

a Sterbebegleitung: Aufmerksamkeit, Hilfe und Begleitung bei Sterbenden<br />

(vgl. besonders die Einrichtungen der Hospizbewegung)<br />

b Passive Euthanasie: Verzicht auf medizinische „Überbehandlung“ bei einem<br />

schwer leidenden, todkranken Patienten (Therapieverzicht/-abbruch)<br />

c Indirekte Euthanasie: Therapien oder Schmerzbehandlung mit lebensverkürzender<br />

Wirkung<br />

d Aktive Euthanasie (Tötung auf Verlangen): Verabreichung eines Mittels<br />

zur möglichst schmerzlosen (Selbst-)Tötung (Bereitstellung oder Verabreichung<br />

des Mittels)<br />

5 Aktive Euthanasie (ohne Verlangen des Patienten): strafrechtlich Mord<br />

oder Totschlag<br />

Diese Unterscheidungen beziehen sich in der Regel auf Patienten, die irreversibel<br />

und todkrank sind. Daneben gibt es wenigstens drei Fallgruppen,<br />

bei denen sich ebenfalls die Frage einer Sterbehilfe stellen kann:<br />

- Menschen im chronisch vegetativen Zustand („persistent vegetative<br />

state“ – PVS)<br />

- Menschen mit der sicheren Prognose einer schweren, mehr oder weniger<br />

nicht therapierbaren Krankheit (Alzheimer, Chorea Huntington, unheilbarer<br />

Tumor)<br />

- Menschen mit chronischen, äusserst schmerzhaften Krankheiten einschliesslich<br />

schwerer Depressionen in Verbindung mit Suizidabsichten<br />

In unserem Fall geht es also um einen Eventualwunsch unter Voraussetzung<br />

einer bestimmten, zuverlässigen Diagnose einer unheilbaren Krankheit.<br />

Folgende Aspekte sind in diesem Falle noch zu berücksichtigen:<br />

a) Die gesellschaftlichen Wahrnehmungen hinsichtlich der Antastbarkeit<br />

oder Unantastbarkeit des Lebens von Menschen<br />

b) Die Auswirkungen auf das Verhältnis von Ärzten und Patienten unter<br />

der Bedingung, dass menschliches Leben nicht mehr unantastbar ist<br />

2. Situationsanalyse:<br />

Kontext von Problemen - enger oder weiter gefasst. Zuordnung zu beruflichen<br />

und/oder politischen Kompetenzen, wissenschaftlichen Disziplinen,<br />

gesellschaftlichen Zusammenhängen. Erfassung von problemrelevanten<br />

Zielvorstellungen (Gütern, Zwecken). Bevor man die Kriterienfrage erörtert,<br />

muss der tatsächlich gegebene Handlungsspielraum betrachtet werden.<br />

Dazu gehören wenigstens folgende Hinweise:<br />

a) Strafrechtlich: Gemäss Art. 114 StGB ist in der Schweiz (und ähnlich<br />

in Deutschland) aktive direkte Sterbehilfe verboten. Suizidbeihilfe<br />

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wird nur dann bestraft, wenn sie aus selbstsüchtigen Gründen erfolgt<br />

(115 StGB), aber unterlassene Hilfeleistung bei suizidgefährdeten<br />

Personen ist strafbar. Die Abgrenzung der Tatbestände erfolgt<br />

gemäss der Zurechenbarkeit von Handlungen und Unterlassungen<br />

zum jeweiligen Willen von Patient und Arzt.<br />

b) Gesellschaftspolitisch: Es ist wichtig, sich die aktuellen Fragestellungen,<br />

Kontexte und Probleme der Euthanasiedebatte zu vergegenwärtigen.<br />

Dazu gehören u.a. folgende Aspekte:<br />

- Die Debatte um Rationierung im Gesundheitswesen und vor<br />

diesem Hintergrund eine zunehmende Bereitschaft, in Grenzfällen<br />

aus Kostengründen medizinische Leistungen zu begrenzen.<br />

- Ein gesellschaftlich verbreitetes Verständnis von Gesundheit<br />

und eine entsprechende Intoleranz gegenüber „behindertem“<br />

Leben (Druck in Richtung perinatale Diagnostik unter Einschluss<br />

der Bereitschaft zum Schwangerschaftsabbruch)<br />

- Ein verbreiteter Diskurs über die „Überalterung“ der Gesellschaft<br />

- Neuere Vorstellungen von Verbesserung der genetischen Basis<br />

einer Population (Eugenik)<br />

c) Insgesamt gehört zu einer sensiblen Problemwahrnehmung auch die<br />

Rechenschaft darüber, ob und inwiefern menschliches Leben zunehmend<br />

unter Nützlichkeitsgesichtspunkten wahrgenommen wird.<br />

3. Verhaltensoptionen:<br />

Bestimmung von Spielräumen, Alternativen, konkreten Wahlfreiheiten<br />

(Möglichkeiten der Zielwahl und der Mittelwahl). Bestimmung und Erläuterung<br />

des eigenen Verhältnisses (einschliesslich der eigenen Affekte) zu<br />

den sinnvollen Optionen. Hypothetische und vergleichende Folgenabschätzungen.<br />

Im gewählten Fallbeispiel soll das angenommene Zögern des Arztes darauf<br />

verweisen, dass es häufig nicht auf schnelle Entscheidungen, sondern<br />

auf sorgfältige Überlegungen und Abwägungen ankommt. In der Wahrnehmungsperspektive<br />

des Arztes können folgende Gesichtspunkte eine<br />

wichtige Rolle spielen:<br />

- Respekt vor der Autonomie des Patienten<br />

- Berücksichtigung der besonderen biographischen Bedingungen und<br />

des familiären Umfeldes des Patienten<br />

- Unterscheidungsvermögen zwischen einem aktuell geäusserten<br />

Wunsch eines Patienten und der künftigen Gesundheits- oder Krankheitsgeschichte<br />

Welche Optionen ein Arzt in einer Situation wie der angenommenen erkennt<br />

und wahrnimmt, ist letztlich auch abhängig von dem gesammelten<br />

und reflektierten Erfahrungswissen im Umgang mit vergleichbaren Patienten.<br />

Die vermutlich schwierigste Alternative bezeichnet die Entscheidung<br />

zwischen dem (bekundeten oder mutmasslichen) Willen eines Patienten<br />

und dem Leben des Patienten (voluntas versus salus).<br />

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4. Normenprüfung:<br />

Beschreibung und Analyse problemrelevanter Normen unterschiedlicher<br />

Art (technisch/rechtlich/sittlich). Der Normbegriff ist in der gesamten medizinischen<br />

<strong>Ethik</strong> problematisch. Ein pragmatisch brauchbarer soziologischer<br />

Normbegriff betrifft wechselseitige Erwartungen von Menschen; danach<br />

sind Normen kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen<br />

(Luhmann).<br />

Der rechtliche Begriff der Norm stellt das nach geltender Rechtsauffassung<br />

Erlaubte, Zulässige oder Gebotene heraus, welchem zuwiderzuhandeln<br />

Sanktionen auslösen kann. Schliesslich gibt es technisch-professionelle<br />

Normen, welche die übliche Handlungskompetenz in einem Beruf wie der<br />

Medizin betreffen und damit gleichzeitig „Kunstfehler“ zu bezeichnen ermöglichen.<br />

Darüber hinaus gibt es ethische Normen, die sich dadurch auszeichnen,<br />

dass sie erstens nicht bloss rechtlich oder technisch definiert<br />

und sanktionsfähig sind, und dass sie zweitens nicht allgemein verbindlich<br />

vorgeschrieben werden können.<br />

Diese Unterscheidung von Legalität und Moralität ist für den neuzeitlichen<br />

Rechtsstaat grundlegend. Von Rechts wegen kann von Ärzten nicht<br />

mehr verlangt werden, als dass sie ihre Profession im Rahmen der für alle<br />

Bürger geltenden gesetzlichen Regeln korrekt ausüben. Hinsichtlich der<br />

sittlichen Verpflichtungen muss jede Ärztin und jeder Arzt indes sich selbst<br />

und anderen darüber Rechenschaft geben, welchen Kriterien er oder sie<br />

folgt.<br />

Nach Lienemann 8 unterscheidet man hier folgende Typen:<br />

Legalist: entscheidend ist nur, was von Recht und Gesetz gefordert ist<br />

(passive Euthanasie nach Massgabe geltenden Rechts).<br />

Utilitarist: entscheidend ist – im Rahmen der Gesetze - was ein Patient<br />

als für ihn selbst nützlich ansieht (passive und indirekte Euthanasie nach<br />

Massgabe von Gesetz und Patientenwille).<br />

Prinzipialist: entscheidend ist – über die korrekte Gesetzestreue hinaus -<br />

die allgemeine Befolgung moralischer Prinzipien ohne Ansehung der konkreten<br />

Lebensumstände (von den konkreten Umständen unabhängige Ablehnung<br />

jeder Euthanasie ebenso wie grundsätzliche Anerkennung jedes<br />

Patientenwillens).<br />

Kreationist: entscheidend ist die einzelfallbezogene, biographische Besonderheiten<br />

umfassend berücksichtigende Orientierung an den konkreten<br />

Lebensumständen eines Patienten (auch unter Vernachlässigung dessen<br />

Willens im Grenzfall).<br />

Unterscheiden muss man in diesen Fragen übrigens stets zwischen der<br />

faktischer Anerkennung und der problematischen Geltung von Normen.<br />

Überdies beziehen sich alle Normen auf "Güter", das heisst auf erstrebte<br />

und geschätzte Gegenstände des menschlichen Strebens wie Gesundheit,<br />

Selbstbestimmung, Überleben, Erhaltung der eigenen Würde und dergleichen.<br />

Hier kann es zu Konflikten zwischen Gütern und Normen kommen,<br />

8 Wolfgang Lienemann, Vorlesung <strong>Ethik</strong> für Medizinstudierende<br />

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wenn beispielsweise lebenserhaltende Massnahmen in der subjektiven<br />

Perspektive der Betroffenen mit deren Verständnis von selbstverantwortlicher<br />

Lebensführung kollidieren.<br />

Die Reflexion der Gründe und Begründungen für konfliktträchtige Normen<br />

im ärztlichen Alltag sollte daher an Fällen geübt und in der Praxis immer<br />

wieder mit Kolleginnen und Kollegen ausdrücklich reflektiert werden.<br />

5. Verbindlichkeitsprüfung:<br />

Erläuterung von Geltungserwartungen, Verallgemeinerungsansprüchen;<br />

Zumutbarkeitsprüfung und Bestimmung von Abweichungstoleranzen.<br />

Im gewählten Beispiel kann ein Aspekt der Verbindlichkeitsprüfung darin<br />

gefunden werden, als dass der Patient versichert, dass seine Angehörigen<br />

seine Auffassung und seinen Wunsch teilten. Jeder Patient ist grundätzlich<br />

ein Mensch in Beziehungen zu anderen. Darum ist es so entscheidend<br />

wichtig, dass Medizinalpersonen die Patienten im Gefüge ihrer Familie und<br />

Freundschaften bewusst wahrnehmen. In einer derartigen sozialen Konstellation<br />

sind wiederum unterschiedliche normative Vorstellungen und<br />

Normenkonflikte unvermeidlich.<br />

6. Synthese:<br />

Vorschlag und Urteilsentscheid<br />

7. Rückblick:<br />

Adäquanzkontrolle<br />

Hier bleibt zu betonen, dass es ausserordentlich wichtig sein dürfte, dass<br />

Medizinalpersonen sich und ihrer Mitwelt regelmässig und sorgfältig Auskunft<br />

über ihre handlungsleitenden Gründe und Entscheidungen geben.<br />

Gerade in Grenzbereichen wie dem der Sterbehilfe sollten zudem Ärzte<br />

regelmässig die beratende Hilfe von Supervisoren in Anspruch nehmen.<br />

Probleme<br />

Es ist leicht einzusehen, dass die einzelnen Momente der Urteilsbildung<br />

sich überschneiden; insbesondere gehen schon in die Problembestimmung<br />

in der Regel normative Vorstellungen ein.<br />

Das vorgeschlagene Schema hat deshalb vor allem den Zweck, die eigene<br />

Aufmerksamkeit so zu steuern, dass im Beratungsfall die Argumentation<br />

für die Adressaten hinreichend transparent wird und sie den Weg zur Findung<br />

eines Beratungsvorschlages nachvollziehen können. Schematas folgen<br />

rational-kognitiven Prämissen und setzen kompetente, einem rationalen<br />

Diskurs zugetane Subjekte voraus.<br />

Von einer solchen Argumentation ausgenommen bleiben oft traditionale,<br />

affektive und charismatische Elemente bei den meisten Ziel- und Mittelwahlen.<br />

Gerade Ärzte sollten sich aufgrund ihrer naturwissenschaftlich orientierten<br />

Ausbildung gegen diese Dimension ihres Tuns nicht abschotten.<br />

Ein Schema setzt zudem als Kontext eine Art toleranter, demokratischer<br />

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Öffentlichkeit voraus. Diese ist aber in vielen Gesellschaften keineswegs<br />

gegeben. Umso wichtiger ist, dass sich auch die Medizinalpersonen an den<br />

öffentlichen gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen mit der Kraft<br />

guter Argumente beteiligen.<br />

<strong>13.</strong>7 Schlussbetrachtungen<br />

Ziel dieser kurzen Übersicht und Anleitung zur ethischen Argumentation<br />

war es, dem Studierenden vorzuführen, dass einige Grundlagen zur differenzierten<br />

ethischen Begründung der Tätigkeit in der Medizin notwendig<br />

sind. Darin sind einerseits die Kenntnisse des aktuellen Rechts vorausgesetzt<br />

und andererseits auf unsere Traditionen beruhende ethischmoralische<br />

Aspekte zu berücksichtigen. Während für erstere klare Normen<br />

und auch Sanktionen vorhanden sind, gelten letztere als Leitlinien und haben<br />

demnach empfehlenden Charakter. Dies ist wichtig zu wissen, zumal<br />

bei schwierigen Entscheiden diese letzteren Aspekte oft den Stellenwert<br />

einer Rechtsverbindlichkeit erhalten, die sie nicht haben. Dennoch muss<br />

betont werden, dass es entscheidend ist, sich über den aktuellen Stand<br />

dieser Richtlinien zu informieren. Während für die praktische ärztliche Tätigkeit<br />

die Leitlinien der SAMW (Schweizerische Akademie der Medizinischen<br />

Wissenschaften) herangezogen werden können, gelten für andere<br />

Bereiche des Gesundheitssystems die Leitlinien der CIOMS (Council for<br />

International Organizations of Medical Sciences). In einer freiheitlich organisierten<br />

Gesellschaft wie der unsrigen sind neben der Einhaltung der<br />

rechtlichen Vorgaben auch die Vertretung eigener ethischer und moralischer<br />

Werte und Vorstellungen wichtig. Wir möchten Allen Mut machen,<br />

diese zu differenzieren und in den Dialog einzubringen.<br />

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