Rundbrief Nr. 1 - Verwaiste Eltern und Geschwister Bremen eV
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Alain Ehrenberg<br />
Das erschöpfte Selbst<br />
Depression in Gesellschaft <strong>und</strong> Gegenwart<br />
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft,<br />
1.Aufl. 2008<br />
Depression ist ein wichtiges Thema für<br />
Trauernde, zumal wenn sich das eigene<br />
Kind das Leben genommen hat. Fast alle<br />
Hinterbliebenen quälen sich mit der Frage,<br />
weshalb sie eine mögliche Depression des<br />
Verstorbenen nicht erkannt haben <strong>und</strong> nicht<br />
nachdrücklich auf eine möglicherweise erfolgreiche<br />
Behandlung gedrängt haben. Dazu<br />
kommt, dass die Trauernden oft selbst<br />
mit der selbst mit der Diagnose Depression<br />
konfrontiert werden – <strong>und</strong> sei es nur, weil<br />
Ärzte meinen, dass ihnen Antidepressiva in<br />
der schweren Zeit helfen könnten.<br />
Auch ich habe diese Erfahrungen nach dem<br />
Suizid unseres Sohnes gemacht. Sie haben<br />
mich auf das Buch "Das erschöpfte Selbst"<br />
des französischen Soziologen Alain Ehrenberg<br />
aufmerksam gemacht.<br />
Ehrenberg fragt sich, weshalb die Zahl der<br />
"Depressiven" in den zehn Jahren von 1980<br />
bis 1990 um 50% gestiegen ist <strong>und</strong> heute 5<br />
bis 7% der Bevölkerung an einer Depression<br />
leiden (die Zahlen beziehen sich auf<br />
Frankreich).<br />
Er versucht, als Soziologe mögliche Ursachen<br />
dieser Entwicklung in den Veränderungen<br />
der Gesellschaft <strong>und</strong> in der Entwicklung<br />
der Medizin zu finden.<br />
Seine erste These lautet: "Depression ..... ist<br />
die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm<br />
nicht mehr auf Schuld <strong>und</strong> Disziplin<br />
gründet, sondern auf Verantwortung<br />
<strong>und</strong> Initiative." In dem Maße, wie sich der<br />
Einzelne in den 60er Jahren von den Zwän-<br />
gen der Moral, seiner Herkunft etc. befreit<br />
hat, musste er auf der<br />
Edvard Munch - Melancholie<br />
anderen Seite die volle Verantwortung dafür<br />
übernehmen, diese Freiheit auch zu nutzen.<br />
Konnten wir "Alten" uns für ausbleibenden<br />
Erfolg noch mit mangelnden Bildungschancen<br />
entschuldigen, empfinden unsere Kinder<br />
Misserfolge als eigenes Unvermögen.<br />
Die Gesellschaft erklärt den Einzelnen zum<br />
alleinigen "Schmied seines Glücks", verdammt<br />
aber auch den Gescheiterten zum<br />
alleinigen Verantwortlichen seines Unglücks<br />
- zum Looser. Ehrenberg: "Depression ist<br />
die Krankheit des Individuums, das sich<br />
scheinbar von den Verboten emanzipiert<br />
hat, das aber von der Spannung zwischen<br />
dem Möglichen <strong>und</strong> dem Unmöglichen zerrissen<br />
wird.... so ist die Depression die Tragödie<br />
der Unzulänglichkeit."<br />
Ehrenberg weist in einer weiteren These<br />
darauf hin, dass sich die Definition des Begriffs<br />
Depression sowie auch Diagnose <strong>und</strong><br />
Therapie völlig verändert haben. Die "Melancholie",<br />
so wird die Depression in der<br />
beginnenden Neuzeit genannt, wurde<br />
durchaus nicht als Krankheit, sondern als<br />
andere Seite der besonderen Begabung -<br />
der Genialität - gesehen. Michelangelo,<br />
Goethe, Schiller gelten als Zeugen. "Die<br />
Leiden des jungen Werthers" wird in dieser<br />
Zeit ein Jahrh<strong>und</strong>ertroman, obwohl oder weil<br />
Goethe in seinem Roman die Unfähigkeit<br />
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