15.06.2013 Aufrufe

DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Titelbild: Mediziner in Deutschland porträtiert von Benno Kraehahn für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.kraehahn.com; postproduction: px-group.de<br />

PREIS DEUTSCHLAND 4,20 €<br />

Paul Brandenburg,<br />

Facharzt<br />

für Allgemein-<br />

und Notfallmedizin<br />

Nur kein Verbot<br />

Den Schmähfi lm müssen wir ertragen. Er gefährdet den<br />

Frieden in Deutschland nicht VON ÖZLEM TOPÇU<br />

Aufgepasst: Der Prophet Mohammed<br />

hatte Sex! Wahrscheinlich hat<br />

er als Befehlshaber bei den frühisla<br />

mi schen Expansionskriegen<br />

auch einige Menschen eigenhändig<br />

getötet. Gläubige Muslime,<br />

die den Gesandten Gottes mit einer oft kindlichen,<br />

reinen Liebe betrachten, stellen sich das nicht gern<br />

vor. Aber Mohammed war nicht nur ein Prophet,<br />

er war auch ein Mensch aus Fleisch und Blut.<br />

Nun gibt es einen Filmtrailer im Internet, der<br />

den Propheten, an den mehr als eine Milliarde<br />

Menschen glauben, als lüsternen, blutrünstigen<br />

Vollidioten darstellt. Ein absurdes Machwerk,<br />

das nur ein Ziel verfolgt: jene, die sich provozieren<br />

lassen wollen, zu provozieren. Die Bilder aufgebrachter<br />

Muslime gehen gerade um die Welt,<br />

auch wenn noch nicht in jedem Fall ausgemacht<br />

ist, ob das Video allein der Grund für ihre Wut<br />

ist (Seite 6). Eine bedeutungslose<br />

rechte Splitterpartei hat<br />

jetzt angekündigt, den Film in<br />

voller Länge in Deutschland<br />

zeigen zu wollen. Aus Angst vor<br />

Ausschreitungen will die Bundesregierung<br />

diese Vorführung<br />

verbieten, die Kanzlerin sagt,<br />

dafür gebe es »gute Gründe«.<br />

Ein solches Verbot wäre ein<br />

Fehler, und die Verlierer dieses<br />

Verbots wären am Ende die<br />

deutschen Muslime.<br />

Warum?<br />

Zuallererst ist die Meinungsfreiheit<br />

natürlich existenziell<br />

wichtig für dieses Land – selbst wenn es sich hier<br />

ohne Zweifel um einen Drecksfilm handelt, der<br />

nur den Zweck hat, Menschen zu verletzen. Es ist<br />

anzunehmen, dass es den Rechten bei ihrem Plan,<br />

den Film öffentlich vorzuführen, nicht in erster<br />

Linie um die Freiheit der Kunst oder die freie<br />

Rede geht, sondern um die Abwertung des Fremden,<br />

das sie in Deutschland einfach nicht dulden<br />

wollen. Dennoch bleibt es dabei: Auch eine dumme,<br />

sogar eine böse Meinung ist eine Meinung.<br />

Gegen ein Verbot spricht ebenso, dass dafür<br />

das Bild des »irren Muslims« bedient werden<br />

muss. Denn die »guten Gründe« der Kanzlerin<br />

bestehen einfach in der Sorge, dass es zu Ausschreitungen<br />

kommt, wenn dieser Film gezeigt<br />

wird. Nur gibt es weder »den Muslim« noch<br />

»den irren Muslim«. Es gibt einige Irre, ja, und<br />

die werden von den Verfassungsschutzämtern<br />

beobachtet. Allein die Ansage, dass ein Verbot<br />

für die Wahrung des öffentlichen Friedens besser<br />

wäre, führt in die falsche Richtung. Denn sie<br />

suggeriert, dass die Muslime so sehr durchdrehen<br />

würden, dass die Sicherheitskräfte die Sache<br />

dann nicht mehr in den Griff kriegen können.<br />

Doch sind die Muslime nicht so verrückt,<br />

und die deutsche Polizei ist nicht so schwach.<br />

Der wichtigste Grund, der gegen ein Verbot<br />

spricht, besteht für die deutschen Muslime aber<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong><br />

WOCHEN<strong>ZEIT</strong>UNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR<br />

Hassvideo gegen den Islam<br />

Ursula Stüwe,<br />

Chirurgin<br />

im darin mitschwingenden Paternalismus. Da<br />

die Regierung unbedingt verhindern will, dass<br />

eine Minderheit der Fundamentalisten durchdreht<br />

(was wahrscheinlich ist), nimmt sie den<br />

normalen Muslimen die Möglichkeit, sich selbst<br />

öffentlich mit dem Hass auseinanderzusetzen.<br />

Dabei wäre es befreiender, sich den Trailer anzuschauen<br />

und dem Hass laut zu widersprechen.<br />

Diejenigen, die die Möglichkeit haben, können<br />

das öffentlich tun: Politiker in Reden, Autoren in<br />

Artikeln, Büchern oder Blogs, Lehrer in Klassenzimmern;<br />

diejenigen, die keine Öffentlichkeit<br />

haben, müssen und werden lernen, gelassen mit<br />

dem Hass umzugehen und sich weder von den<br />

islamfeindlichen noch von den islamistischen<br />

Ideologen für ihre Sache vereinnahmen zu lassen.<br />

Das wäre ein Akt der Eman zi pa tion. Und<br />

eine gute Übung: auszuhalten, was in diesem<br />

Film zu sehen ist – es wird nicht die letzte<br />

Schmähung sein. Und es wäre<br />

eine De mons tra tion. Menschen<br />

funktionieren nicht so fremdgesteuert:<br />

Licht aus, Film an,<br />

Muslim dreht durch.<br />

Der deutsche Staat ist stark<br />

genug, um eine Vorführung zu<br />

ermöglichen. Ein Verbot würde<br />

zu Misstrauen führen. Man<br />

kann sich die Verschwörungstheorien<br />

schon vorstellen: Die<br />

da oben pampern die beleidigten<br />

Muslime; die Scharia ist<br />

weiter auf dem Vormarsch.<br />

Natürlich kann es zu Ausschreitungen<br />

kommen, wie bei<br />

jeder De mons tra tion. Wie in Bonn im Mai, als<br />

Fanatiker 29 Polizisten verletzten, nachdem rechte<br />

Extremisten Mohammed-Karikaturen vor einer<br />

Moschee ausgestellt hatten. Aber die Fanatiker<br />

sind nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit.<br />

Die Mehrheit verhält sich wie im August in Berlin,<br />

als die Rechten wieder Karikaturen zeigten.<br />

Verblüfft, ruhig, etwas des inte res siert.<br />

Dieser Mehrheit könnte die Bundesregierung<br />

ruhig ein wenig Vertrauen entgegenbringen.<br />

Nicht zuletzt ist da die religiöse Frage: Kann<br />

für einen Muslim, der an Allah und seinen Gesandten<br />

glaubt, oder für einen Christen, der an<br />

Gott und seinen Sohn glaubt, überhaupt etwas<br />

seinen Glauben beleidigen? Nein. Gott ist unbeleidigbar.<br />

Kein Katholik hat bei uns randaliert, als<br />

der Papst mit Urinfleck auf seiner Soutane auf<br />

dem Cover der Titanic gezeigt wurde – und der<br />

Papst hat nur geklagt. Niemand, der wirklich<br />

glaubt, kann von jemandem, der nicht glaubt, im<br />

Innersten gekränkt werden.<br />

Und für alle, die leicht zu erzürnen sind, gilt,<br />

hin und wieder ihr Vorbild nachzuahmen: Laut<br />

Überlieferung soll Mohammed geraten haben,<br />

auf Schmähungen mit Gelassenheit und Barmherzigkeit<br />

zu reagieren.<br />

www.zeit.de/audio<br />

Urban Wiesing,<br />

Arzt und<br />

Medizinethiker<br />

Topmanagement<br />

Michael Scheele,<br />

ehemaliger<br />

Chefarzt in der<br />

Geburtshilfe<br />

»Patienten sind wichtiger als Profit«<br />

Der Eid der Mediziner wird in Deutschlands Krankenhäusern jeden Tag tausendfach gebrochen.<br />

Ärzte und Pfl eger fordern deshalb eine moderne Standesethik. Ein Manifest<br />

WISSEN SEITE 31–33<br />

Zum Thema<br />

Was steckt wirklich hinter<br />

der Wut in der islamischen<br />

Welt? Politik S. 6/7<br />

Keine Kompromisse!<br />

Ein Gespräch mit Salman<br />

Rushdie Feuilleton S. 45<br />

Seyran Ateş: Wider das<br />

religiöse Eiferertum<br />

Glauben & Zweifeln S. 58<br />

Glücksfall Chefin<br />

So viele Frauen wie nie rücken in den Unternehmen nach oben.<br />

Jetzt können sie den Kapitalismus verändern VON UWE JEAN HEUSER<br />

Schlechte Nachrichten für die Frauenquote,<br />

gute für die Frauen – wie passt<br />

das zusammen? In Deutschland führen<br />

die Arbeitsministerin Ursula von<br />

der Leyen (pro) und die Familienministerin<br />

Kristina Schröder (kontra)<br />

eine lähmende Debatte. Und in Europa ist die<br />

Quote fürs Erste sogar gestoppt – zur Freude der<br />

Staaten, die sich mit der Frauenförderung weiter<br />

Zeit nehmen wollen.<br />

Gleichzeitig vollzieht sich in Deutschland<br />

eine historische Wende. Bislang ist unsere Wirtschaft<br />

in Frauenfragen zwar alles andere als ein<br />

Vorbild. Aber endlich kommen die Frauen auf<br />

dem Weg in die Führungsetagen voran, und die<br />

Bewegung erreicht gerade eine kritische Masse.<br />

Das deutsche Beispiel zeigt, dass schon die<br />

Androhung der Quote das Umdenken beschleunigt.<br />

Seit Jahren erklärt die Politik der Wirtschaft,<br />

wenn sie nicht weiblicher würde, dann käme ein<br />

Gesetz. Das hat geholfen, auch wenn es die Chefs<br />

nicht allein zum Einlenken bewegt – viele merken<br />

schlicht, dass sie mit einer reinen Männerpolitik<br />

selbst zum Auslaufmodell werden.<br />

In fortschrittlichen Unternehmen geht es<br />

nicht mehr um den bewussten und bemühten<br />

Versuch, mal eine Frau für die obere Etage zu<br />

finden. Das ist inzwischen Managementroutine,<br />

betriebliche Normalität.<br />

Daher müssen sich in der Deutschland AG<br />

auch nicht mehr diejenigen Manager rechtfertigen,<br />

die Frauen befördern. Am Rand stehen nun<br />

jene, die ihre Männerwelt verteidigen. Statistiken<br />

bestätigen, dass die deutsche Wirtschaft die Jahre<br />

der Abwehr und des Stillstands überwindet. Die<br />

Personalberatung Egon Zehnder hat untersucht,<br />

wie die europäischen Großunternehmen zuletzt<br />

bei Neubesetzungen in ihren Vorständen und<br />

Aufsichtsräten entschieden. In Deutschland gingen<br />

40 Prozent der Führungspositionen an Frauen,<br />

europaweit waren es 30 Prozent. Zwar wurden<br />

die meisten Frauen dabei »nur« Aufsichtsrätinnen,<br />

kontrollieren also Chefs, statt selbst zu<br />

führen, aber künftig werden sie die neuen Vorstände<br />

berufen.<br />

Eine positive Überraschung ist es auch, dass<br />

mehr als ein Fünftel der mittelständischen Unternehmen<br />

von Frauen geführt wird. Der Grund ist<br />

nicht, dass den Vätern die männlichen Erben<br />

fehlen. Oft sind die Töchter einfach besser – wie<br />

im Fall des Maschinenbauers Trumpf, dessen<br />

Chefin Nicola Leibinger-Kammüller nebenbei<br />

die Lufthansa und Siemens kontrolliert und die<br />

Bundesregierung berät. So kommt es, dass der<br />

Mittelstand sogar noch besser dasteht, wenn man<br />

nur die jungen Führungskräfte anschaut. Die<br />

sind schon zu fast 40 Prozent weiblich.<br />

Mehr Frauen rücken nach, und die Frage ist,<br />

ob sie sich der männlichen Wirtschaft anpassen<br />

– oder sie verbessern. Früher wurde die Debatte<br />

von Forschern bestimmt, die erklärten, mit mehr<br />

weiblichen Führungskräften würde alles besser,<br />

was denn sonst? Aber das war erst der Anfang.<br />

Eine aufsehenerregende Studie über Norwegen<br />

warnt jetzt, dass unerfahrene Quotenfrauen im<br />

Aufsichtsrat den Börsenwert mindern. Andere<br />

Kommentatoren erklären schon eine ganze Generation<br />

junger Männer für verloren. Das ist alles<br />

etwas abwegig, und doch zeigt es, dass wir vorangekommen<br />

sind und nicht mehr über das Ob diskutieren,<br />

sondern über die Folgen.<br />

Soll sich die Wirtschaft wirklich wandeln,<br />

dann reicht es nicht, dass die Frauen Führungsposten<br />

besetzen. Jetzt, da sie mehr werden und<br />

nicht allein unter Männern auf der Chefetage<br />

sitzen, können sie ihre Umgebung auch prägen<br />

– und den Kapitalismus nachhaltig verändern.<br />

Viel spricht dafür, dass mit mehr Frauen an<br />

der Spitze eine neue Wirtschaft entsteht. Heute<br />

dürfen weibliche – und sogar männliche – Autoren<br />

sagen, dass Frauen mit anderen Erwartungen<br />

und Verhaltensweisen in die Wirtschaft kommen.<br />

Hat die Familienforscherin und Unternehmerin<br />

Gisela Erler recht, dann sind Frauen weniger hierarchiebesessen<br />

und streben mehr nach einer<br />

sinnvollen Aufgabe als nach Macht, mal als Chefin,<br />

mal im Team. Sie kämpfen gerne, aber bitte<br />

gegen die Konkurrenz und nicht untereinander.<br />

So gesehen würde eine weiblichere Wirtschaft<br />

also eher fragen, wer was am besten kann, als, wer<br />

wen am schnellsten besiegt.<br />

Wäre eine weiblichere Wirtschaft auch<br />

krisenfester? Manches spricht dafür<br />

Familiengerechter könnte sie auch sein. Nicht so<br />

wichtig, wie lange jemand am Schreibtisch hockt,<br />

sagen viele Frauen, Hauptsache, die Leistung<br />

stimmt. Außerdem sind sie es oft, die ihre Arbeitszeiten<br />

je nach Lebensphase verändern müssen. Bei<br />

Trumpf können die Mitarbeiter jetzt alle zwei<br />

Jahre neu bestimmen, wie viele Stunden pro Woche<br />

sie arbeiten. »Standardarbeitsverträge werden der<br />

komplexen Lebenswirklichkeit nicht mehr gerecht«,<br />

sagt die Chefin. Punkt.<br />

Es gibt sogar Indizien, dass eine weiblichere<br />

Wirtschaft krisenfester wäre. Anlageexperten behaupten,<br />

Frauen ließen sich nicht so schnell vom<br />

Fieber übertriebener Begeisterung anstecken.<br />

Auch als Unternehmerinnen seien sie vorsichtiger,<br />

hat die Förderbank KfW herausgefunden.<br />

Deshalb wuchsen ihre Firmen vor der Finanzkrise<br />

zwar nicht so schnell wie die Unternehmen<br />

der Männer. Aber in der Krise schrumpften sie<br />

auch weniger und waren daher sicherer.<br />

Niemand soll glauben, dass in einer weiblicheren<br />

Wirtschaft alles besser läuft. Auch neue<br />

schlechte Eigenschaften werden sich ausprägen.<br />

Aber ein flexibleres, selbstbestimmteres und<br />

etwas weniger krisenanfälliges Wirtschaftsleben<br />

– das wäre ein Gewinn für alle. Die Chance dazu<br />

eröffnet sich jetzt, sofern die Frauen die Wirtschaft<br />

verändern können, bevor die Wirtschaft<br />

die Frauen verändert.<br />

www.zeit.de/audio<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Promi-Bonus<br />

oder Promi-Malus?<br />

Doris Schröder-Köpf will in<br />

die Politik. Ihr Mann ist ihr<br />

dabei nicht immer eine Hilfe<br />

Dossier Seite 13–15<br />

Berlin gegen die<br />

Deutsche Bank<br />

Die SPD will den Bankern<br />

an den Kragen – bis hin zur<br />

Aufspaltung des Geldhauses<br />

Wirtschaft Seite 19/20<br />

Eine Liebe, so<br />

stark wie der Tod<br />

Michael Hanekes grandioser<br />

Film über die letzten Wochen<br />

eines alten Ehepaares in Paris<br />

Feuilleton Seite 46<br />

PROMINENT IGNORIERT<br />

Motte und Meise<br />

Die Miniermotte, die aus prächtigen<br />

Kastanien im Nu triste Ruinen<br />

macht, wird neuerdings von Meisen<br />

gemocht und verzehrt. Schon<br />

der Biologe Wilhelm Busch hat<br />

über sie lobend vermerkt: »Sie gucken<br />

scharf in alle Ritzen, / wo<br />

fette Mottenlarven sitzen, / und<br />

fangen sonst noch Myriaden / Insekten,<br />

die dem Menschen schaden;<br />

/ und hieran siehst du außerdem,<br />

/ wie weise das Natursystem.«<br />

Sein Wort in Gottes Ohr. GRN<br />

Kleine Bilder: Wolfgang Wilde; Frederik Jurk<br />

für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/sepia-online.com; X Verleih;<br />

Imago; Rouf Bhat/AFP (l.)<br />

<strong>ZEIT</strong> ONLINE GmbH: www.zeit.de;<br />

<strong>ZEIT</strong>-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de<br />

Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,<br />

20079 Hamburg<br />

Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail:<br />

DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de<br />

ABONNENTENSERVICE:<br />

Tel. 0180 - 52 52 909*,<br />

Fax 0180 - 52 52 908*,<br />

E-Mail: abo@zeit.de<br />

**) 0,14 € /Min. aus dem deutschen Festnetz,<br />

max. 0,42 €/Min. aus dem deutschen Mobilfunknetz<br />

PREISE IM AUSLAND:<br />

DKR 43,00/NOR 62,00/FIN 6,70/E 5,20/<br />

Kanaren 5,40/F 5,20/NL 4,50/A 4,30/<br />

CHF 7.30/I 5,20/GR 5,70/B 4,50/P 5,20/<br />

L 4,50/HUF 1690,00<br />

AUSGABE:<br />

<strong>39</strong><br />

67. JAHRGANG<br />

C 7451 C<br />

4 190745 104203 3 9


2 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Worte der Woche<br />

»<br />

Damit gießen sie grob<br />

fahrlässig Öl ins Feuer. Dagegen<br />

muss man mit allen rechtlich<br />

zulässigen Mitteln vorgehen.«<br />

Hans-Peter Friedrich, Bundesinnenminister (CSU),<br />

über das Vorhaben der rechtsextremen<br />

Partei Pro Deutschland, den Film<br />

»Unschuld der Muslime« in Berlin zu zeigen<br />

»Tot oder lebendig.«<br />

Ahmed Hicazi, Offizier der Freien Syrischen<br />

Armee, über die 25 Millionen Dollar Prämie,<br />

die auf den Kopf von Präsident<br />

Baschar al-Assad ausgesetzt sind<br />

»Herr Rösler ist gerne Vizekanzler –<br />

und das kann ich gut verstehen.«<br />

Angela Merkel, Bundeskanzlerin (CDU),<br />

auf die Frage, ob Philipp Rösler, FDP,<br />

sie in ihrem Amt ablösen möchte<br />

<strong>DIE</strong> NACHRICHT<br />

«<br />

Grenzen für Google<br />

CDU will Einschränkung der<br />

Speicherdauer bei Suchmaschinen<br />

In der CDU wird erwogen, Suchmaschinen<br />

und Soziale Netzwerke stärker zu regulieren.<br />

So sei die maximale Speicherdauer für<br />

persönliche Suchanfragen bei Google von<br />

bislang 18 Monaten »auf ein weniger bedrohliches<br />

Maß zu reduzieren, beispielsweise<br />

eine Woche«, heißt es in einem Papier<br />

des CDU-Netzpolitikers Thomas Jarzombek.<br />

Der Suchverlauf könne einen Datenbestand<br />

mit einer »ungeheuren Macht« bilden,<br />

um Menschen zu kompromittieren, so<br />

die Begründung. Die Nutzung durch Suchmaschinen<br />

wie Soziale Netzwerke berge die<br />

»Gefahr einer geistigen Monokultur«, da<br />

die meisten Nutzer sich nicht über die eingesetzten<br />

Filterfunktion im Klaren seien.<br />

Deshalb sei es nötig, einen »Neutralitätsbutton«<br />

direkt auf der Homepage zu installieren.<br />

Bislang böten zwar einige Anbieter<br />

einen neutralen Zugang an, doch sei<br />

dies nur einer Minderheit der Nutzer bekannt<br />

und setze die Registrierung mit persönlichen<br />

Daten voraus. THI<br />

<strong>ZEIT</strong>SPIEGEL<br />

Ausgezeichnet<br />

Harald Martenstein ist für sein Dossier Der<br />

Sog der Masse (<strong>ZEIT</strong> Nr. 46/11) mit dem<br />

Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay<br />

ausgezeichnet worden. In seinem Text beschreibt<br />

Martenstein die erschreckende<br />

Macht des Mainstreams – und verteidigt das<br />

Schwimmen gegen den Strom. Der Theodor-<br />

Wolff-Preis ist einer der renommiertesten<br />

Journalistenpreise. Er wurde in diesem Jahr<br />

zum 50. Mal verliehen. DZ<br />

In Hanoi erhält Rösler<br />

die Ehren doktorwürde,<br />

mit Übersetzung<br />

Volksheld wider Willen<br />

Auf seiner Vietnamreise glauben alle zu wissen, wer Philipp Rösler ist. Und er selbst? VON KHUÊ PHAM<br />

Hanoi<br />

Obwohl Philipp Rösler niemandem<br />

auffiel, als er am Morgen nach<br />

seiner Ankunft um den Hoan-<br />

Kiem-See in Hanoi joggte, obwohl<br />

er schwarze Haare hat wie<br />

jeder hier und diesen typisch schmalen Körper, ist<br />

er nicht so vietnamesisch, wie er erst mal wirkt.<br />

Wenn er neben anderen vietnamesischen Männern<br />

steht, überragt er sie. Seine Haut ist heller<br />

und glatter als ihre, und wenn er spricht, kommen<br />

ziemlich deutsche Politikerworte aus seinem<br />

Mund: Vietnam, das ist für ihn ein Investitionsstandort,<br />

eine dynamische Bevölkerung, ein strategischer<br />

Partner. Und natürlich vergisst Rösler<br />

nicht, die Demokratie und die Menschenrechte<br />

anzumahnen. Das ist die Sicht des deutschen<br />

Wirt schafts minis ters auf dieses Land.<br />

Obwohl Philipp Rösler als neun Monate alter<br />

Waisenjunge aus Vietnam adoptiert wurde, obwohl<br />

er Udo Jürgens liebt und seine Heimat Niedersachsen,<br />

ist er nicht so deutsch, wie er gern wäre.<br />

Während er mit den Geschäftsleuten und Journalisten<br />

seiner Wirt schafts dele ga tion von Montag bis<br />

Mittwoch durch das Land reist, schauen sie ihn stets<br />

mit diesem erwartungsvollen Blick an: Wann wird<br />

er endlich zu geben, dass seine Wurzeln hier liegen?<br />

Seine andere Seite, seine besondere Geschichte<br />

machen ihn, den FDP-Chef in der Krise, interessant.<br />

Das ist die Sicht der Deutschen auf ihren Minister<br />

mit Migrationshintergrund.<br />

Und es gibt eine dritte Sicht auf Philipp Rösler<br />

auf dieser Reise. Sie spiegelt sich in den ehrfurchtsvollen<br />

Gesichtern der vietnamesischen Minister, die<br />

ihn mit großen Blumensträußen empfangen. Sie<br />

drückt sich aus in dem Juchzen der Souvenirverkäuferin<br />

im Literaturtempel, die den deutschen<br />

Minister aus dem Fernsehen kennt. In dem Wir-<br />

sind-Vizekanzler-Denken, das er bei so vielen Vietnamesen<br />

hervorruft, weil sie ihn als einen von ihnen<br />

ansehen. Die Vietnamesen denken in Familien, in<br />

Abstammung, und Rösler, das ehemalige Waisenkind,<br />

verkörpert für sie einen Traum: dass jeder<br />

Vietnamese alles erreichen kann, wenn er nur die<br />

Möglichkeiten für seine Selbstentfaltung bekommt.<br />

Sie sprechen ihn mit »Herr Vizekanzler, Minister<br />

für Wirtschaft und Technologie und Vorsitzender<br />

der FDP«, an, sie kennen seine Biografie genau.<br />

»Vietnam hat stolz jeden Erfolg von Philipp<br />

Rösler verfolgt«, sagt der Rektor der Wirtschaftsuniversität<br />

von Hanoi, als er ihm die Ehrendoktorwürde<br />

für seine Verdienste um die deutsch-vietnamesischen<br />

Beziehungen verleiht. Dabei hat sich Rösler<br />

bis zu dieser Reise gar nicht für Vietnam engagiert,<br />

und auch in seiner Dan kes rede spricht er ausdrücklich<br />

von »meinem Heimatland Deutschland«. Er<br />

referiert außerdem über Ludwig Erhard, Otto Graf<br />

Lambsdorff und die Prinzipien der freien Marktwirtschaft,<br />

so als sei er auf einem FDP-Parteitag und<br />

nicht in einem sozialistischen Land. Rösler versucht,<br />

sich zu wehren, er will kein vietnamesischer Volksheld<br />

sein. Als er nach der Zeremonie mit Talar und<br />

Hut ins Freie tritt, atmet er tief durch.<br />

Rösler hat die Frage nach seiner Herkunft oft<br />

gehört, und vielleicht hat er irgendwann angefangen,<br />

seine Antworten zu glauben. Nein, er wolle seine<br />

leiblichen Eltern nicht kennenlernen, er habe schon<br />

welche. Nein, er habe kein Bedürfnis, sein altes<br />

Waisenhaus zu besuchen, bei seinem letzten Besuch<br />

vor sechs Jahren nicht und jetzt auch nicht. Nein,<br />

ihm fehle nichts, schon gar nicht irgendwelche<br />

Wurzeln in Vietnam. Es muss anstrengend sein, die<br />

Herkunft, die er selbst nicht kennt, immer wieder<br />

erklären zu müssen. Vielleicht macht er deshalb<br />

manchmal diese Witze über Schlitz augen oder<br />

Asiaten, die von zu viel Alkohol rot werden. Viel-<br />

leicht will er sich dagegen wehren, dass jeder in ihm<br />

etwas sieht, was er selbst nicht fühlt.<br />

Es ist schwer für Rösler, auf dieser Reise den<br />

Bildern der anderen zu entgehen, die sie auf ihn<br />

projizieren. Der Vorstellung der Vietnamesen, er<br />

kehre zurück in seine Heimat. Der Vorstellung der<br />

Deutschen, er suche nach seinen Wurzeln. Seiner<br />

eigenen Vorstellung, er könne seine Abstammung<br />

einsetzen wie einen Joker, den er mal zückt und mal<br />

versteckt. »Um das Motto des deutschen Mittelstandes<br />

zu zitieren«, sagt er bei einem Empfang der<br />

deutschen Botschafterin in Hanoi: »Es ist egal, wo<br />

du herkommst. Entscheidend ist, wo du hinwillst.«<br />

Was das mit dem deutschen Mittelstand zu tun hat,<br />

bleibt unklar. Aber die Botschaft ist eindeutig.<br />

Was ihn berührt, kann man sehen, als er ein Dorf<br />

mit behinderten Kindern besucht. Es sind Enkel<br />

von Menschen, die im Vietnamkrieg dort lebten,<br />

wo das Giftgas Dioxin versprüht wurde, Agent<br />

Orange. Manche von ihnen können nicht sprechen,<br />

andere haben deformierte Körper. Rösler hat sie<br />

gesehen und an sein eigenes Schicksal gedacht, an<br />

das Glück, mitten im Krieg herausgekommen zu<br />

sein aus diesem Land. Betroffen läuft er durch die<br />

ärmlichen Häuser, in denen die Kinder schlafen,<br />

Krankengymnastik machen und sticken. Er denkt<br />

an seine Adop tion und sagt: »Man stellt sich schon<br />

die Frage, was gewesen wäre, wenn sich meine Eltern<br />

nicht dazu entschieden hätten.«<br />

»Man«, sagt er und meint sich selbst. Er redet<br />

in dieser unpersönlichen dritten Person, er versucht,<br />

das von sich fernzuhalten, was ihm nahegeht.<br />

Vielleicht geht es nicht anders, vielleicht will<br />

er nicht anders. Deutsche und Vietnamesen meinen<br />

zu wissen, wer er sei. Aber kann er das nicht<br />

selbst entscheiden?<br />

A www.zeit.de/audio<br />

Foto: Michael Gottschalk/dapd (Philipp Rösler nach Verleihung d. Ehrendoktorwürde; Hanoi/Vietnam; 17.09.<strong>2012</strong>)<br />

POLITIK<br />

Mail aus: TBILISSI<br />

Von: johannes.voswinkel@zeit.de<br />

Betreff: Gott hatte Pause<br />

Wer es als Beifahrer gefährlich mag, sollte bei<br />

Sasa einsteigen. Der Georgier liebt das Gaspedal<br />

und verachtet feiges Bremsen. Bei jeder<br />

Kirche, an der er vorbeibraust, schlägt er mit<br />

einer Hand das Kreuz vor seiner Brust. Doch<br />

heute ist Gott kurzzeitig verhindert. Beim gewagten<br />

Lückenhüpfen zwischen Tbilissi und<br />

Borschomi fährt Sasa auf das Auto vor ihm<br />

auf. Der Heckspoiler ist gebrochen. Sasa und<br />

der betroffene Fahrer betrachten den Schaden,<br />

einigen sich, und weiter geht es. »Eigentlich<br />

ist mein Vordermann schuld«, sagt Sasa.<br />

Vermutlich, weil er zu dicht vor ihm hergefahren<br />

war. Für einige Kilometer hat Sasa seinen<br />

Schwung verloren. Er flucht leise vor sich hin,<br />

meidet ehrfürchtig die Gegenfahrbahn und<br />

bremst seinen Landcruiser in Ortschaften auf<br />

80 Stundenkilometer herab. In einer schwachen<br />

Minute hält er sogar für einen Fußgänger<br />

am Zebrastreifen. Aber schon bald bricht<br />

der Abenteurertrieb wieder durch. Wenn eine<br />

kurvige Bergstraße zur Ideallinie einlädt, sind<br />

weder knochige Kühe noch qualmende Lastwagen<br />

auf der Fahrbahn ein Argument zur<br />

Vorsicht. Sasa gibt Gas.<br />

Später erzählt Sasa, er habe dem Fahrer des<br />

kaputten Autos großzügig angeboten, den<br />

Schaden zu reparieren. Und wenn der Mann<br />

Ärger gemacht hätte? »Dann hätte ich ihn verprügelt<br />

und wäre weitergefahren«, sagt Sasa,<br />

der früher bei der Spezialpolizei arbeitete und<br />

Kampfsport ohne Regeln trainiert. Da hat<br />

sein Vordermann noch richtig Glück gehabt<br />

mit dem Blechschaden.<br />

Mail aus: PEKING<br />

Von: angela.koeckritz@zeit.de<br />

Betreff: Schlafen bei Ikea<br />

Der Ikea-Laden in Peking ist eine Legende,<br />

nicht wegen der Rockbands, die am Wochenende<br />

im Familienrestaurant spielen. Meist<br />

handelt es sich um gestandene Rocker, denen<br />

die Scham, sich hier die Miete zu verdienen,<br />

deutlich anzusehen ist. Nein, der eigentliche<br />

Grund für die Berühmtheit des Ikea-Ladens<br />

sind die vielen schlafenden Menschen. Sie<br />

lümmeln auf Sofas, liegen auf Betten und<br />

dösen in Liegestühlen. Einige haben die Schuhe<br />

ausgezogen, andere Freund, Freundin, die<br />

ganze Familie mitgebracht.<br />

Immer wieder kreisten Pekinger Gespräche<br />

um die mysteriösen Schlafenden. Sind sie erschöpft<br />

über dem Ikea-Katalog zusammengebrochen?<br />

Wollen sie kein Möbelstück erwerben,<br />

das sie nicht mindestens fünf Stunden<br />

lang erfolgreich beschlafen haben? Nun hat<br />

das parteinahe Blatt Global Times einige<br />

Schlafende geweckt. Da ist etwa der 71-jährige<br />

Rentner Wang, der um sieben Uhr morgens<br />

aufsteht, um den Bus zu Ikea zu nehmen.<br />

»Wir verbringen gerne den ganzen Tag hier«,<br />

sagt er. »Meine Frau und ich haben es satt,<br />

immer zu Hause rumzuhängen oder in Parks<br />

zu gehen. Wir wollen nichts kaufen. Unsere<br />

Kinder leben im Ausland, und manchmal<br />

fühlen wir uns allein. Hier können wir uns<br />

ausruhen, reden, die Klimaanlage genießen<br />

und rausfinden, was es Neues gibt.« Gibt es<br />

eine schönere Bestätigung des Ikea-Slogans:<br />

»Wohnst du noch oder lebst du schon?«


POLITIK<br />

Im ersten Moment denkt man immer: Kann<br />

das gut gehen? Doch dann fällt einem ein,<br />

dass es schon so oft gut gegangen ist, wenn<br />

die CDU zusammen mit Helmut Kohl Helmut<br />

Kohl feiert: runde Geburtstage, Mauerfalljubiläen,<br />

Einheitsfeste und andere Gedenktage<br />

der Parteihistorie. Nächste Woche beispielsweise<br />

jährt sich zum dreißigsten Mal der Tag, an dem<br />

Helmut Kohl Kanzler wurde!<br />

Dass sich eine Partei mit ihrem bedeutendsten<br />

lebenden Repräsentanten schmücken will, um historische<br />

Kontinuität und Größe zu demonstrieren,<br />

ist eigentlich selbstverständlich. Doch wenn Helmut<br />

Kohl, Angela Merkel und Wolfgang Schäuble<br />

aufeinandertreffen, ist nichts selbstverständlich.<br />

Auch über ein Jahrzehnt nach dem Ende der Ära<br />

Kohl sind die Wunden nicht verheilt, die damals<br />

geschlagen wurden. Die gemeinsamen Feierstunden<br />

sind Versuche, Normalität zu zelebrieren, aber<br />

sie zeigen vor allem, dass Normalität sich nicht<br />

einstellen will. Wann immer die drei prägenden<br />

Gestalten der jüngeren CDU-Geschichte zusammenkommen,<br />

erinnern sie an das Drama, in das<br />

sich Politik im Extremfall verwandeln kann. Zu<br />

sehen sind dann die Spielarten der Macht, die offen<br />

brutale und die nüchtern berechnende, und<br />

die Fallen bedingungsloser Loyalität. Es lässt sich<br />

dann studieren, wie aus politischen Freunden<br />

Feinde werden oder wie einer seinen Nachruhm<br />

verdirbt, wenn er zu sehr an ihm interessiert ist.<br />

Und natürlich kann man beobachten, wie sich das<br />

alles mit nüchterner Entschlossenheit in einer Feierstunde<br />

auch wieder verhüllen lässt.<br />

Angela Merkel wird am kommenden Donnerstag<br />

die Laudatio auf Kohl halten. Sie hat darin inzwischen<br />

eine gewisse Übung. Zwar war sie es, die<br />

im Dezember 1999, auf dem Höhepunkt der<br />

CDU-Spendenaffäre, den Bruch mit dem Patriarchen<br />

vollzog; aber seither arbeitet sie an dessen<br />

kontrollierter Reintegration. Von Wolfgang<br />

Schäuble lässt sich das nicht behaupten. Er wird<br />

sich der Festveranstaltung im Deutschen Historischen<br />

Museum nicht entziehen. Aber der einst<br />

wichtigste Helfer Helmut Kohls will nicht Teil einer<br />

Inszenierung werden. Um Missverständnissen<br />

vorzubeugen, hat er gerade noch einmal klargestellt,<br />

wie er zu dem Mann steht, dem er über zwei<br />

Jahrzehnte loyal gedient hat: »Meine Beziehung zu<br />

Helmut Kohl ist beendet.«<br />

Den Altkanzler wird das wahrscheinlich nicht<br />

abhalten, auch diesmal wieder einen seiner demonstrativen<br />

Annäherungsversuche an den einstigen<br />

Freund zu starten. Schäuble wird es kühl<br />

über sich ergehen lassen. »Ich habe wohl schon zu<br />

viel meiner knapp bemessenen Lebenszeit mit dir<br />

verbracht«, mit diesen Worten hat Schäuble im<br />

Januar 2000 die Verbindung zu Kohl gekappt. In<br />

den letzten Jahren hat er sich angewöhnt, ganz<br />

ohne Groll, fast ein wenig gelangweilt über das<br />

Zerwürfnis zu sprechen. Das verstärkt den Eindruck,<br />

es sei endgültig.<br />

Kohl ließ nicht los, wollte noch<br />

einmal gewinnen – oder untergehen<br />

Auf den Fotos vom 1. Oktober 1982, auf denen<br />

Helmut Kohl nach seiner Wahl im Bundestag die<br />

Gratulationen entgegennimmt, steht Schäuble<br />

hinter ihm und applaudiert. Er ist gerade 40 geworden,<br />

ein schmächtiger, konzentriert wirkender<br />

Mann. Dass er einmal die wichtigste Stütze Kohls<br />

werden wird, weiß man da noch nicht. Auch nicht,<br />

dass er nach Jahren größter Loyalität mit ihm brechen<br />

wird. Dass zwei so prägende Politiker, die füreinander,<br />

für ihre Partei und die Republik so wichtig<br />

gewesen sind, sich offen verfeinden, hat es so<br />

noch nicht gegeben.<br />

»Wir sind Freunde«, hat Kohl 1997 einmal erklärt,<br />

»wer das nicht versteht, gehört auf die<br />

Couch.« Noch über die Jahre hinweg glaubt man<br />

den berstend-aggressiven Ton zu hören, den Kohl<br />

anschlug, wenn er Zweifel niederwalzen wollte.<br />

Doch Zweifel an dieser Freundschaft, vor allem<br />

daran, ob der Kanzler seinen treuesten Helfer<br />

wirklich als seinen Nachfolger sehen wollte, waren<br />

nur allzu begründet. Kohl ließ nicht los, wollte<br />

lieber noch einmal gewinnen oder untergehen und<br />

scheiterte dann bei den Wahlen 1998.<br />

Für Schäuble blieb danach nur ein Jahr als<br />

Übergangsvorsitzender und Oppositionsführer.<br />

Nicht er, sondern seine Generalsekretärin Angela<br />

Merkel drängte den Altkanzler in jenes politische<br />

Abseits, aus dem er sich nie mehr ganz herausgearbeitet<br />

hat. So laut kann Angela Merkel am<br />

kommenden Donnerstag ihren großen Vorgänger<br />

gar nicht loben, als dass er ihr diesen Schlag verzeihen<br />

würde.<br />

Wenn man fragt, warum Kohl trotz seiner historischen<br />

Leistungen im Ruhestand nie die vorbehaltlose<br />

Würdigung erfahren hat und warum er<br />

sich mit vielen seiner einstigen Weggefährten überwarf,<br />

stößt man immer auf die gleiche Ursache.<br />

Mehr noch als sein selbstherrliches Verhalten in<br />

der Spendenaffäre war es die rabiate Unduldsamkeit<br />

gegen jede Form von Kritik, mit der Kohl<br />

glaubte, seine Lebensleistung absichern zu müssen.<br />

Der beispiellose Erfolg seiner Kanzlerschaft hätte<br />

ihm eigentlich Generosität verleihen sollen. Doch<br />

Kohl, der wie kein anderer Kanzler seine Erfolge<br />

gegen Widerstand und Häme erkämpfen musste,<br />

ist diesem Modus auch treu geblieben, als selbst<br />

seine Kritiker ihm längst erlegen waren.<br />

Nie ist er dem Gefühl entwachsen, in einem<br />

immerwährenden Kampf seine Leistungen, ja sich<br />

selbst verteidigen zu müssen, nicht nur im Großen,<br />

sondern bis ins Detail; nicht nur gegenüber<br />

politischen Gegnern, sondern selbst gegenüber<br />

Freunden. Seine mehrere Tausend Seiten umfassenden<br />

Memoiren sind Dokumente der Rechthaberei,<br />

ja naiver Selbstverherrlichung. Warum der<br />

Kanzler der Einheit niemals zugestehen konnte,<br />

dass selbst er während seines langen politischen<br />

Wirkens nicht immerzu auf die Wiedervereinigung<br />

hingearbeitet hat, bleibt ein skurriles Rätsel.<br />

Viel mehr als der Starrsinn in der Parteispenden-<br />

affäre war es Kohls Hang, alles seinem Geschichtsbild<br />

zu unterwerfen, der seinen Nachruhm gefährdet.<br />

Er hat sich damit um die verdiente Rolle als<br />

Elder Statesman, als weiser politischer Ratgeber, als<br />

erfahrener Interpret des Zeitgeschehens gebracht.<br />

Die Popularität und Autorität, die ein Brandt, ein<br />

Weizsäcker oder Schmidt im Alter erreichten, ist<br />

ihm verwehrt geblieben. Stattdessen arbeitet er zusammen<br />

mit seiner zweiten Ehefrau am letzten<br />

Band seiner Erinnerungen.<br />

Fotos (Montage DZ): Samuel Kubani/AFP/Getty Images (l.); Marc-Steffen Unger (m.); Daniel Biskup/laif (r.)<br />

Kohls unrühmlicher Abgang in der Spendenaffäre<br />

und Merkels steiler Aufstieg berühren sich<br />

an einem entscheidenden Punkt. Indem sie Kohl<br />

aus dem Weg räumte, der Schäuble mit in den<br />

Abgrund riss, begründete sie ihre Karriere. Kohl<br />

hat gegen sie gewütet, hinter ihrem Rücken intrigiert,<br />

über ihre ostdeutsche Herkunft polemisiert,<br />

ihr die Fähigkeit zur Kanzlerschaft abgesprochen,<br />

nur um am Ende immer wieder erkennen<br />

zu müssen, dass sein Furor ihr nichts anhaben<br />

konnte. Noch im vergangenen Jahr lautete<br />

sein Verdikt: »Die macht mir mein Europa kaputt.«<br />

Und doch hat ihn das Ressentiment gegen<br />

seine ungeliebte Nachfolgerin nie daran gehindert,<br />

sich bei den passenden Anlässen von ihr<br />

hofieren zu lassen.<br />

In letzter Zeit hört man auch anderes: Er<br />

schimpfe nicht mehr so laut über die Kanzlerin wie<br />

früher. Seine harsche Kritik an Merkels Außenpolitik<br />

in einem Interview sei eher ein Versehen als ein<br />

bewusster Affront gewesen, streut ein Kohl-Vertrauter.<br />

Selbst im Kanzleramt wird inzwischen,<br />

halb ungläubig, halb ironisch, für nicht mehr ganz<br />

abwegig gehalten, der Alte taste sich langsam an<br />

die Vorstellung heran, dass die Frau aus Ostdeutschland,<br />

die er einst an seinen Kabinettstisch<br />

holte, vielleicht nicht ganz zu Unrecht Kanzlerin<br />

wurde. Zumindest ihrer machtpolitischen Verve,<br />

die unzweifelhaft an seine Schule erinnert, dürfte<br />

Kohl den Respekt nicht verweigert haben.<br />

Jüngere Berichte über milde Anwandlungen<br />

beim Altkanzler klingen plausibel. Dem 82-Jähri-<br />

In Feindschaft<br />

vereint<br />

Sie haben sich gestützt, bekämpft und gestürzt.<br />

Jetzt feiern sie gemeinsam Helmut Kohl – und teilen die<br />

Sorge um die Rettung Europas VON MATTHIAS GEIS<br />

gen geht es seit Jahren gesundheitlich nicht gut.<br />

Während er im Kopf wach und klar ist, kann er<br />

sich nur noch äußerst mühsam artikulieren. Er<br />

hat sich mit seinem immerwährenden Misstrauen<br />

verausgabt. Er hat mit dem Selbstmord seiner<br />

Frau und dem öffentlich zelebrierten Bruch seines<br />

Sohnes auch schwere private Schicksalsschläge erlitten.<br />

Es muss ihn besonders getroffen haben, wie<br />

sein Sohn Walter aus der familiären Erfahrung<br />

heraus das Bild eines berechnenden, brachialen,<br />

egomanischen Mannes entworfen hat, wie es sonst<br />

nur Kohls ärgste Gegner gezeichnet haben. Dass<br />

der Alte immer auch eine weiche, sentimentale<br />

Ader hat, ist unbestritten. Er weinte am Krankenbett<br />

Wolfgang Schäubles und auf CDU-Parteitagen.<br />

Es würde nicht überraschen, wenn ihn auch<br />

heute bisweilen Stimmungen überkommen, in<br />

denen er versöhnlicher auf seine Nachfolger<br />

blickt. Von Leuten, die ihn besuchen, wird berichtet,<br />

der 82-Jährige wolle in der Zeit, die ihm<br />

noch bleibt, das Verhältnis zu Wolfgang Schäuble<br />

»in Ordnung bringen«. Allerdings zweifeln selbst<br />

wohlwollende Beobachter daran, dass dieser<br />

Wunsch mit der Ahnung einhergehen könnte, er,<br />

Kohl, habe sich im Verhältnis zu seinem früheren<br />

Freund etwas vorzuwerfen. Eine passende Gelegenheit<br />

jedenfalls, die Lebensleistung Schäubles<br />

zu würdigen, hat Kohl gerade ausgeschlagen. Zur<br />

Feier von dessen 70. Geburtstag im Deutschen<br />

Theater, einen Tag vor der Kohl-Sause im Historischen<br />

Museum, war auch der Altkanzler geladen.<br />

Er ließ absagen.<br />

Die Wunden, die sie<br />

einander schlugen,<br />

sind noch<br />

nicht verheilt:<br />

Angela Merkel,<br />

Wolfgang Schäuble<br />

und Helmut Kohl<br />

Seit Schäuble im Januar 2000, nach einem<br />

letzten Versuch, Kohl zur Nennung der Spendernamen<br />

zu bewegen, die Beziehung beendet hat,<br />

lässt er an der Endgültigkeit dieser Entscheidung<br />

keinen Zweifel. Er lebt in dem Zerwürfnis mit<br />

Kohl das Ultimative aus, für das es in seiner politischen<br />

Biografie sonst keinen Ort gibt. Im Laufe<br />

seiner Karriere, besonders an ihren Bruchstellen,<br />

drängte sich immer wieder einmal die Frage auf,<br />

warum der Mann, der für die Politik sogar seine<br />

Gesundheit geopfert hat, von der Politik nicht<br />

lassen wollte. Das Attentat im Oktober 1990, sein<br />

Sturz als Parteivorsitzender im Januar 2000 oder<br />

Merkels Weigerung, ihn als Präsidentschaftskandidaten<br />

zu nominieren, wären jeweils Grund genug<br />

gewesen, sich zurückzuziehen. Aber fasziniert<br />

von der Politik und gefesselt an den Rollstuhl,<br />

blieb Schäuble in Wahrheit gar kein Spielraum für<br />

solche Konsequenz. Er konnte nicht hinschmeißen,<br />

und seine Widersacher wussten das. In den<br />

Machtkämpfen mit Kohl und Merkel hat ihn das<br />

entscheidend geschwächt.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 3<br />

Wolfgang Schäuble hat sich trotz der schweren<br />

Behinderung mit seiner Disziplin, seinem Intellekt<br />

und seiner ungeheuren Erfahrung für beide politischen<br />

Spitzenämter der Republik empfohlen. Erkämpfen<br />

konnte er sie nicht. Kohl torpedierte seine<br />

Kanzlerschaft, Merkel die Präsidentschaftskandidatur.<br />

Doch nach jedem Rückschlag hat sich<br />

Wolfgang Schäuble auf die neue Lage eingestellt.<br />

Der Mann, der manchmal unduldsam erscheint,<br />

ist im Kern zur Duldsamkeit gezwungen. Nur bei<br />

Kohl, dem er quasi posthum die Freundschaft<br />

kündigte, war er am Ende zur äußersten Konsequenz<br />

bereit.<br />

Darin steckt natürlich auch ein Stück Bitterkeit<br />

über sich selbst, darüber, dass er all die Jahre so<br />

loyal gewesen ist. Und doch hat Wolfgang Schäuble<br />

seinen Dienst an Kohl einmal sehr fein und<br />

selbstbewusst differenziert: Er habe in all den Jahren<br />

nicht getan, was Kohl wollte, sondern, was gut<br />

für den Kanzler gewesen sei. Damit demonstriert<br />

Schäuble noch gegenüber dem Regierungschef das<br />

intellektuelle Überlegenheitsgefühl, das er immer<br />

wieder gerne einmal ausspielt. Und Kohl witterte<br />

wohl selbst bei seinem treuesten Mitarbeiter etwas<br />

von der intellektuellen Überheblichkeit, von der<br />

sich der Mann aus der Provinz sein Leben lang verfolgt<br />

sah.<br />

In dieser Hinsicht kann sich der Altkanzler<br />

über seine Nachfolgerin nicht beklagen. Angela<br />

Merkel ist so intelligent, dass sie es nicht einmal<br />

zeigen muss. Nichts deutet darauf hin, dass sie ihre<br />

Überlegenheit genießt. Demonstrationen der<br />

Macht sind ihr fremd. Wo sie straft, siegt, ins Abseits<br />

drängt, geschieht es berechnend, funktional<br />

und ohne erkennbare Emotion. Sie zieht keine Befriedigung<br />

daraus, andere einzuschüchtern, wie<br />

Kohl, oder daraus, ihnen zu zeigen, dass sie nicht<br />

mithalten können, wie Schäuble. Merkel spielt<br />

nicht mit der Macht. Sie ist allein an deren kalkuliertem<br />

Einsatz interessiert. Dass Kohl, der ein<br />

Machtberserker sein konnte, den Kampf gegen sie<br />

verlor, ist deshalb kein Zufall.<br />

Die Sorge um Europa kettet<br />

das tragische Trio aneinander<br />

Merkel hat Kohls realen Einfluss in der Partei radikal<br />

beschnitten, um ihn als Denkmal wieder<br />

aufzurichten. Und sie hat dem gestürzten Parteichef<br />

Schäuble bedeutet, dass er nur in dem Rahmen,<br />

den sie ihm gewährte, sein politisches Betätigungsfeld<br />

behalten würde. Sie wollte keinen intellektuellen<br />

Überkanzler im Präsidentenamt und<br />

keinen Nebenkanzler im Kabinett. Doch als<br />

Schäuble 2009 hinlänglich bewiesen hatte, dass er<br />

bereit war, die von ihr gesteckten Grenzen zu akzeptieren,<br />

machte ihn Merkel zum Finanzminister<br />

und gab ihm damit den Schlüsseljob in ihrem Kabinett.<br />

So ist Wolfgang Schäuble heute der höchst<br />

seltene Fall eines Politikers, der ganz im Zentrum<br />

der operativen Politik steht und zugleich über<br />

Aura und Autorität eines Elder Statesman verfügt.<br />

Als er im Jahr 2011 an seine gesundheitlichen<br />

Grenzen stieß, war es Angela Merkel, die ihm alle<br />

Zeit zur Genesung gewährte. Inzwischen gehen<br />

sie sogar zusammen ins Kino: Ziemlich beste<br />

Freunde!<br />

Angela Merkel ist eine unerbittliche Machtpolitikerin.<br />

Doch sobald sie gesiegt hat, geht sie dazu<br />

über, neue Arrangements zu suchen. Das ist<br />

machtpolitische Nachbereitung, und im besten<br />

Falle für beide Seiten nützlich. So ist es für die<br />

Vorsitzende einer Partei, die nach den Wenden<br />

und Modernisierungsschüben der letzten Jahre<br />

entkernt wirkt, durchaus sinnvoll, dem machtlos<br />

gewordenen Patriarchen einen symbolischen Wirkungsraum<br />

in der Partei einzuräumen. Ein Besuch<br />

beim Altkanzler mit Streuselkuchen auf der Terrasse<br />

in Oggersheim passt in jedes Wahljahr. Merkel<br />

weiß, dass man einen Helmut Kohl nicht aus<br />

der Geschichte der Union herausoperieren kann,<br />

ohne die Identität der CDU zu beschädigen. So<br />

entschieden sie einst den Altkanzler vorübergehend<br />

exkommunizierte, so entschieden hofiert sie<br />

ihn seither. Von irgendwelchen Emotionen lässt<br />

sie sich dabei nicht beirren.<br />

Nun werden Kohl, Merkel und Schäuble in der<br />

kommenden Woche zusammenkommen, um sich<br />

an den Anfang der Ära Kohl zu erinnern. Damals<br />

begann, mit der deutschen Einheit als Höhepunkt,<br />

die vielleicht erfolgreichste Phase in der<br />

Geschichte der Union. Das wird gefeiert. Mit einem<br />

Anflug jenes Glücksstolzes, den er auf den<br />

Gratulationsfotos von 1982 ausstrahlt, wird Kohl<br />

der Laudatio seiner Nachfolgerin lauschen. Sie<br />

wird seine historischen Verdienste so stark ausleuchten,<br />

dass alle Unstimmigkeiten verschwinden.<br />

Und Wolfgang Schäuble wird dazu mal milde,<br />

mal maliziös lächeln.<br />

Vielleicht gibt es ja wirklich Wichtigeres als die<br />

Wunden und Brüche von einst. Mit der europäischen<br />

Krise steht ein Thema auf der politischen<br />

Tagesordnung, das die drei nicht nur beim Blick in<br />

die Vergangenheit, sondern in Zukunft an ein ander<br />

kettet. Helmut Kohls historische Bilanz ist<br />

plötzlich von der Frage überschattet, ob die Einführung<br />

des Euro der späte Höhepunkt seiner<br />

Kanzlerschaft oder doch deren gefährlichste Weichenstellung<br />

markiert. Auch Wolfgang Schäuble<br />

sieht mit der europäischen Krise eine Leitlinie seiner<br />

politischen Biografie in Gefahr. Und selbst<br />

Angela Merkel, der man auch in europäischen<br />

Fragen am ehesten Nüchternheit zutraut, zeigt sich<br />

im kleinen Kreis von der Vorstellung erschüttert,<br />

der Euro und damit das europäische Einigungsprojekt<br />

könne ausgerechnet unter ihrer Verantwortung<br />

scheitern.<br />

Sie sind das tragische Trio der deutschen Politik.<br />

Sie haben sich gegenseitig bekämpft und verwünscht.<br />

Die Arrangements, die sie gefunden haben,<br />

bleiben prekär. Den Wunsch nach einem<br />

Ausweg aus der europäischen Krise haben sie gemeinsam.<br />

Siehe auch Geschichte, Seite 18


Heinz Buschkowski in<br />

seinem Büro im<br />

Rathaus von Neukölln<br />

Problem Neukölln<br />

Neukölln ist ein Berliner Stadtteil mit<br />

160 000 Einwohnern, er ist ein Teil<br />

des gleichnamigen im Süden der Bundeshauptstadt<br />

gelegenen Verwaltungsbezirks.<br />

Unter den Bewohnern Neuköllns<br />

sind zahlreiche Migranten<br />

überwiegend türkischer Herkunft,<br />

es leben aber auch viele arabischstämmige<br />

Einwanderer hier. Wegen der<br />

hohen Kriminalitätsrate gilt Neukölln<br />

als sozialer Brennpunkt, bundesweit<br />

machte der Stadtteil Schlagzeilen, als<br />

vor sechs Jahren Lehrer der damaligen<br />

Rütli-Schule deren Schließung verlangten,<br />

weil sie mit gewalttätigen<br />

Schülern nicht mehr zurechtkamen.<br />

Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister<br />

von Neukölln, hat jetzt ein<br />

Buch über den Bezirk und seine Arbeit<br />

geschrieben: Es heißt »Neukölln<br />

ist überall« und erscheint morgen. Er<br />

beschreibt die Probleme der Einwanderungsgesellschaft,<br />

wie er sie sieht:<br />

Jugendbanden, die Angst verbreiten,<br />

Kinderarmut, Burkas, Eltern, die ihre<br />

Kinder nicht in die Schule schicken,<br />

Arbeitslosigkeit, eine ignorante und<br />

beschönigende Integrationspolitik<br />

und Überfremdungsängste der deutschen<br />

Bevölkerung.<br />

4 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> POLITIK<br />

»Da helfe ich gerne<br />

beim Kofferpacken«<br />

Heinz Buschkowski, Bürgermeister von Neukölln, über<br />

Integrationsverweigerer, Rassisten zweier Sorten –<br />

und die Frage, warum es im Gefängnis kein Schweinefl eisch gibt<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Herr Buschkowsky, was unterscheidet<br />

Sie von Thilo Sarrazin?<br />

Heinz Buschkowsky: Ich weiß, wovon ich rede. Was<br />

ich beschreibe, ist das wirkliche Leben, was mich<br />

täglich umgibt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sind Sie nicht eigentlich Sarrazin light – dieselben<br />

Thesen, nur ohne kruden Biologismus?<br />

Buschkowsky: Ich setze Menschen im Unterschied<br />

zu ihm nicht herab. Aber wieso dieselben Thesen?<br />

Ich fordere eine Integrationspolitik, die endlich<br />

Ernst macht mit Chancengerechtigkeit auch für<br />

Einwandererkinder, weil wir sie zum Fortbestand<br />

unserer Gesellschaft dringend brauchen. Eine Bildungspolitik,<br />

die endlich begreift, dass bildungsferne<br />

Elternhäuser ihren Kindern nicht helfen. Und<br />

ich fordere eine Gesellschaft, die nicht wegschaut<br />

von dem, was sich in unseren Städten tut.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Gibt es Rassismus in Neukölln?<br />

Buschkowsky: Es gab einige böse Einzelvorfälle.<br />

Trotzdem ist es kein dominantes Bezirksthema. In<br />

einem Ortsteil gibt es acht, neun polizeibekannte<br />

Neonazis, richtige Vollpfosten, die vor Ort ein ausgesprochenes<br />

Ärgernis sind. Aber im Gesamtbezirk<br />

hat die NPD im letzten Jahr bei den Wahlen 3500<br />

Stimmen, noch nicht einmal drei Prozent, erhalten.<br />

Gemessen daran, womit die Bürger in Neukölln<br />

täglich in Form von sozialen Verwerfungen, Arbeitslosigkeit,<br />

Armut, Bildungsferne und sonstigen<br />

Dingen, die die Welt nicht braucht, konfrontiert<br />

werden, ist dieses ver irrte Pro test poten zial doch<br />

recht bescheiden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Gibt es einen umgekehrten Rassismus unter<br />

den Migranten gegen die Deutschen?<br />

Buschkowsky: Warum sollten sich Einwanderer<br />

anders verhalten als Eingeborene? Der Rassismus<br />

hält sich die Waage und liefert immer wieder das<br />

Alibi für die andere Seite. »Isst du Schwein, bist du<br />

Schwein«, das sind so die netten Sachen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sind Sie schon einmal bedroht worden?<br />

Buschkowsky: Von Einwanderern? Nein, noch nie.<br />

Von Linksradikalen öfter.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Nie von Migranten?<br />

Buschkowsky: Null! Im Gegenteil. Sogar die Intensivtäter,<br />

die ich persönlich kenne, rufen über die<br />

Straße: Hallo, Bürgermeister, geht es dir gut? Was<br />

sie wollen, ist ein Foto machen. Die größte Zuneigung<br />

aus ihrer Sicht war die Ansprache: »Bürgermeister,<br />

hast du Feinde? Sag uns Bescheid, wir<br />

kämpfen für dich.«<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was wollen Sie mit Ihrem Buch erreichen?<br />

Buschkowsky: Ich möchte denen, die sich im Alltag<br />

mit der In te gra tion aus ein an der-<br />

set zen, Mut machen. Erzieherinnen<br />

und Lehrerinnen sagen mir,<br />

wie alleingelassen sie sich fühlen.<br />

Was sie entmutigt, sind nicht die<br />

Probleme im Job. Sondern die klugen<br />

Sprüche von der Metaebene:<br />

»Was du erlebst, ist nur ein Einzelfall,<br />

vielleicht bist du es falsch angegangen,<br />

hast provoziert; du bist<br />

nicht kultursensibel; es ist alles nur<br />

gefühlt, oder du bist islamophob<br />

und denkst rassistisch.« Ich zumindest weiß, welchem<br />

täglichen Kampf eine Schulleiterin standhalten<br />

muss, wenn sie nur sagt, an meiner Grundstufe<br />

gibt es keine Kopftücher, und nach dem Sport wird<br />

geduscht. Jede Woche einem brüllenden, wild gewordenen<br />

arabischen Vater Paroli zu bieten, das<br />

schaffen auf Dauer nur wenige.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Bild-Zeitung druckt Textcollagen aus<br />

Ihrem Buch, in denen Migranten nur als aggressive<br />

Schläger vorkommen, die unsere Ordnung bedrohen<br />

und die Gesetze missachten.<br />

» Warum sollten sich<br />

Einwanderer anders<br />

verhalten als Eingeborene?<br />

Der Rassismus<br />

hält sich die Waage –<br />

›Isst du Schwein, bist<br />

du Schwein‹ «<br />

Buschkowsky: Ich kann Ihre Zusammenfassung aus<br />

dem Vorabdruck und meinem Buch nicht nachvollziehen.<br />

Das vollständige Manuskript liegt auch<br />

Ihnen seit Wochen vor. Ich äußere mich darin an<br />

vielen Stellen über gelungene Integrationen und<br />

Erfolge bei der Integrationspolitik.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie fokussieren sich auf die Probleme.<br />

Buschkowsky: Das sehe ich anders. Aber wenn mir<br />

die Verkehrssicherheit an einer Kreuzung Sorgen<br />

macht, dann zähle ich ja auch nicht die Autos, die<br />

unfallfrei rübergefahren sind, ich zähle die Unfälle.<br />

Bei der Bildung haben wir Unfälle. 60 Prozent der<br />

migrantischen Schulabgänger haben hier keinen<br />

Schulabschluss oder nur den Hauptschulabschluss.<br />

Die interessieren mich!<br />

<strong>ZEIT</strong>: Dass heute doppelt so viele Migranten Abitur<br />

machen wie noch vor zehn Jahren, das wischen<br />

Sie einfach weg.<br />

Buschkowsky: Das ist doch das Totschlagargument<br />

in jeder Dis kus sion. Ergänzt noch um den Hinweis,<br />

wir sollten uns an den positiven Beispielen orientieren.<br />

Das ist leider eine Minderheit. Wir müssen uns<br />

um die kümmern und uns auf diejenigen konzentrieren,<br />

die sonst Opfer des Milieus werden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Erfolge der Integration in Neukölln sind<br />

Ihnen nicht der Rede wert?<br />

Buschkowsky: Doch, an einigen bin ich sogar nicht<br />

ganz unschuldig. Trotzdem muss ich beschreiben, wie<br />

die soziale Schieflage in bestimmten Stadtvierteln<br />

immer schlimmer wird. Der Anteil der Kinder, die in<br />

der Unterschicht aufwachsen, wird immer größer. In<br />

dem Gebiet, in dem wir gerade sitzen, leben 75 Prozent<br />

aller Kinder unter 14 Jahren von Hartz IV – 75<br />

Prozent! Alle diese Kinder werden sozialisiert, ohne<br />

dass sie je miterleben, dass Papa oder Mama morgens<br />

aufstehen und zur Arbeit gehen. Ich freue mich über<br />

die gut 300 Einwanderer-Abiturienten, die wir hier<br />

jedes Jahr hervorbringen, aber ihnen stehen auch über<br />

700 Schulabgänger ohne Abschluss oder mit Hauptschulabschluss<br />

gegenüber. Die mit den schlechten<br />

Noten bleiben, die Abiturienten ziehen fort.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie wollen Sie die halten?<br />

Buschkowsky: Wenn ich dafür ein Patentrezept<br />

hätte, müsste ich mein Geld nicht als Bezirksbürgermeister<br />

verdienen. Ich weiß aber, Neukölln-<br />

Nord wird sich zu einer Einwandererstadt entwickeln,<br />

und zwar nicht, weil ich Hellseher bin, sondern<br />

weil die Bürger von morgen heute schon da<br />

sind. In 10 bis 15 Jahren wird Neukölln-Nord mit<br />

seinen 160 000 Einwohnern einen Einwandereranteil<br />

von etwa 80 Prozent haben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie fordern Toleranz.<br />

Buschkowsky: Ich fordere Toleranz<br />

und Akzeptanz. Toleranz<br />

der Gesellschaft für neue kulturelle<br />

Einflüsse. Aber auch Akzeptanz<br />

der Einwanderer gegenüber<br />

der Kultur, in die sie sich freiwillig<br />

begeben haben. Wer darauf<br />

besteht, dass seine Frau in der<br />

Burka herumläuft, der kann das<br />

gerne tun. Zum Beispiel in Afghanistan<br />

oder Pakistan.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Aber nicht hier?<br />

Buschkowsky: Aber nicht hier!<br />

<strong>ZEIT</strong>: Warum tolerieren wir es nicht, wenn eine<br />

Frau ganz selbstbestimmt die Burka tragen will?<br />

Buschkowsky: Ich toleriere das schon, aber es muss<br />

erlaubt sein, zu sagen, dass ich es weder schön finde<br />

noch in Mitteleuropa für angemessen halte. Ist es<br />

denn in Ordnung, dass jemand in einen anderen<br />

Kulturkreis kommt und sagt, die Lebensregeln dieser<br />

Gesellschaft sind mir völlig egal?<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was ist Ihre Antwort?<br />

Buschkowsky: Wir müssen versuchen, dieses Aufwachsen<br />

von archaischen Lebensweisen und tradierten<br />

Strukturen zu verhindern. Das geht nur,<br />

wenn die Kinder von heute und Eltern von morgen<br />

das Gefühl entwickeln: Meine Kinder sollen einen<br />

besseren Start ins Leben finden. Sie sollen nicht das<br />

durchmachen, was ich durchgemacht habe. Mit<br />

dieser Botschaft bin auch ich groß geworden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sind in einer Kellerwohnung hier in Neukölln<br />

aufgewachsen ...<br />

Buschkowsky: In den fünfziger Jahren haben viele<br />

Menschen in Kellern gewohnt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sind ein richtiger Aufsteiger?<br />

Buschkowsky: Ja, und ich schäme mich dessen nicht.<br />

Ich liebe dieses Land. Ich sehe an mir selbst, dass es<br />

jedem Menschen die Möglichkeit bietet, den gesellschaftlichen<br />

Aufstieg zu schaffen, wenn er es denn<br />

will. Meine Eltern haben dafür gesorgt. Bei den Einwanderern<br />

ist es teilweise schon deswegen komplizierter,<br />

weil sie die Ankunft und das Leben in Deutschland<br />

selbst im Sozialsystem bereits als Aufstieg und<br />

das Erreichen des erträumten Wohl-<br />

stands empfinden. Sie beten dann:<br />

»Gott oder Allah, gib, dass sich<br />

nichts ändert.«<br />

<strong>ZEIT</strong>: Der Islam ist Ihnen nicht so<br />

richtig ans Herz gewachsen?<br />

Buschkowsky: Der Katholizismus<br />

auch nicht.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Für Sie sind alle Religionen<br />

...<br />

Buschkowsky: ... gleich fern. Ich<br />

führe ein re li gions frei es Leben. Ob<br />

jemand fünfmal gen Mekka oder zweimal zur Jungfrau<br />

Maria betet, ist mir völlig egal. Mir gehen nur<br />

die Aggressivität von Heilsbringern und die Selbsterhöhung<br />

zu besseren Menschen auf den Zünder.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ist der Islam eine aggressive Religion?<br />

Buschkowsky: Zumindest hat er im Moment die<br />

aggressivsten Anhänger.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Nerven Sie die ständigen Forderungen, hier<br />

eine Moschee, da eine Moschee?<br />

Buschkowsky: Die Muslime können so viele Moscheen<br />

bauen, wie sie für ihre Religionsausübung<br />

benötigen. Mein Anspruch ist nur, dass man meine<br />

Distanz respektiert. Auch die Gesellschaft muss zur<br />

Wahrung des sozialen Friedens Wert darauf legen,<br />

dass sie nicht durch Minderheiten tyrannisiert<br />

wird. Wenn bei uns 70 Prozent der Insassen im Jugendarrest<br />

Muslime sind, gibt es eben für die anderen<br />

30 Prozent kein Schweinefleisch mehr.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Warum nicht? Im Arrest haben doch nicht<br />

die Muslime zu bestimmen, was gegessen wird.<br />

Buschkowsky: Da kommt die Verwaltung und sagt,<br />

es lohnt sich nicht, zwei Essen zu machen. Ich stelle<br />

mir einfach mal vor, wir haben umgedreht 70 Prozent<br />

Christen und 30 Prozent Muslime. Müssen<br />

dann alle Schweinekoteletts essen? Wohl kaum.<br />

Wäre auch nicht richtig.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Dann also mehr Christen in den Knast?<br />

Buschkowsky: Der Islam als Religion ist nicht mein<br />

Thema. Aber Überfrömmigkeit kann den Blick verstellen.<br />

Was mich stört, ist dieses ständige »Wir sind<br />

die reineren Menschen, wir führen ein gottesfürchtiges<br />

Leben, haben eine höhere Moral, befolgen den<br />

Koran und verachten Ungläubige«. Haben Sie solche<br />

Auftritte schon mal von Hindus erlebt? Von Juden?<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das geht doch auch Muslimen auf die Nerven.<br />

Buschkowsky: Na klar. So wie es viele Katholiken<br />

gibt, denen die Familienpolitik des Vatikans auf die<br />

Nerven geht. Warum ziehen denn hier die integrierten<br />

und etwas besser situierten Einwanderer<br />

weg? Denen ist der Fundamentalismus und der<br />

Rücksturz um 200 Jahre zuwider. Wie formulierte<br />

» Auf Regelverletzungen<br />

müssen wir schnell<br />

und effektiv reagieren.<br />

Kommt das Kind<br />

nicht in die Schule,<br />

kommt das Kindergeld<br />

nicht aufs Konto «<br />

es eine türkische Sozialarbeiterin? Herr Buschkowsky,<br />

tun Sie etwas, damit diese Menschen nicht<br />

unser Land ruinieren! O-Ton!<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und, wie schaffen Sie das?<br />

Buschkowsky: Wir müssen dort, wo alle Regeln für<br />

einen unverbindlichen Ulk gehalten werden, um<br />

den man sich nicht zu kümmern braucht, hin und<br />

wieder die Ohren lang ziehen. Auch Integrationspolitik<br />

kommt ohne Sanktionen nicht aus. Falschparken<br />

wiegt bei uns schwerer als Schulschwänzen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie wollen Sie das ändern?<br />

Buschkowsky: Wir brauchen ein gesellschaftliches<br />

System, das schnell und effektiv auf Regelverletzungen<br />

reagiert. Wie in den Niederlanden. Dort<br />

stehen staatliche Unterstützung und Hilfe zum regelkonformen<br />

Verhalten in einem direkten Verhältnis.<br />

Die Ansage ist klar: Wenn du nicht mitspielst,<br />

ist die Sozialhilfe perdu. Das kennen wir bei<br />

uns so nicht. Klaus Wowereit geht sogar so weit, zu<br />

sagen: »Wenn Bußgelder aus der So zial hil fe bezahlt<br />

werden, kommen wir an den Punkt, wo die Kinder<br />

verhungern.« Wo sind wir denn,<br />

dass ein Länderchef so einen<br />

Stuss schreibt?<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wo fehlen klare Regeln?<br />

Buschkowsky: Ich möchte, dass<br />

die Einwanderer die Kul tur riten<br />

und die Regeln des Zusammenlebens<br />

dieses Landes respektieren.<br />

Dazu gehört, dass jeder die<br />

gleiche Chance erhält, ein selbstbestimmtes<br />

Leben zu führen.<br />

Darauf haben als Allererstes die<br />

Eltern hinzuwirken. Wenn sie selbst nicht über die<br />

Kompetenzen verfügen, erwarte ich, dass sie ihre<br />

Kinder so früh wie möglich in den Kindergarten<br />

bringen und dafür sorgen, dass sie regelmäßig zur<br />

Schule gehen und die Sprache des Landes lernen, in<br />

dem sie leben. Ich bin für Kindergartenpflicht und<br />

Ganztagsschulen als Regelangebot. Wo Staat dransteht,<br />

muss auch Staat drin sein. Kommt das Kind<br />

nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf<br />

das Konto. Klarer Fall. Die Gesellschaft muss dafür<br />

die Infrastruktur bereitstellen. Aber auch die Einwanderer<br />

müssen sich bewegen. In der Stadtbücherei<br />

bekommen die Kinder die Bücher umsonst. Man<br />

braucht kein Geld, um zu lernen. Wer nicht vormachen<br />

kann, muss wenigstens motivieren. Ich habe da<br />

eine klare Linie. Familien, die Jahrzehnte hier leben<br />

und ihren Kindern den Weg in die Gesellschaft versperren,<br />

würde ich gern beim Kofferpacken helfen,<br />

ehrlich, weil, so wird das nichts.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte<br />

Barbara John hat mal gesagt, das Haupt inte grations<br />

hin der nis in Deutschland sei der deutsche Sozial<br />

staat. Stimmt das?<br />

Buschkowsky: Wir verfolgen ein Prinzip des gesellschaftlichen<br />

Ablasshandels: Auf jedes Problem einen<br />

Geldschein, und gut ist. Wir sagen, hier hast<br />

du deinen Scheck, hol dir ein Sixpack, geh nach<br />

Hause, und halt den Mund. Wir erkaufen uns sozialen<br />

Frieden, wir fordern die Menschen aber nicht<br />

auf, zu zeigen, was sie können.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sind in Neukölln geboren und aufgewachsen,<br />

Sie haben Ihr ganzes Leben hier verbracht.<br />

Werden Sie Neukölln je verlassen?<br />

Buschkowsky: Ob ich als stark vorgealterter Mann<br />

einmal Lust verspüre, beim Frühstück auf die Ostsee<br />

zu schauen, weiß ich noch nicht. Im Moment<br />

habe ich hier noch genug zu tun. Den Kili mandscharo<br />

zu besteigen oder gegrillte Heuschrecken in<br />

Asien zu essen, darauf habe ich keinen Bock.<br />

Die Fragen stellten ÖZLEM TOPÇU und HEINRICH WEFING<br />

Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky in seinem Amtszimmer in Neukölln/Berlin (24.08.<strong>2012</strong>); gesehen von Anatol Kotte für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>


POLITIK<br />

NSU – warum<br />

mauern<br />

die Behörden?<br />

Wird Ilse Aigner<br />

Regierungschefin<br />

in Bayern?<br />

ANALYSEN<br />

Nach fast einem Jahr NSU-Untersuchungsausschuss<br />

hat die Republik bereits einen<br />

guten Eindruck davon, warum es den Sicherheitsbehörden<br />

beinahe 14 Jahre lang nicht gelungen<br />

ist, das Trio der zehnfachen Mörder aus<br />

Zwickau auch nur zu erkennen, geschweige denn zu<br />

fassen. Im Zentrum des Versagens steht eine Kultur<br />

des Misstrauens: Landesämter gegen Bund, Polizei<br />

gegen Verfassungsschutz, bei Letzterem die Kölner<br />

Abteilung für Rechtsextremismus und -terrorismus<br />

gegen die Zentrale in Berlin.<br />

Die jüngsten Nachrichten gehen über diesen<br />

Befund hinaus. Die Verbindung zwischen Verfassungsschutz<br />

und Tätermilieu ist eben doch enger als<br />

bislang bekannt. Das Berliner Landeskriminalamt<br />

hat jahrelang einen V-Mann beschäftigt, der dem<br />

Zwickauer Trio Sprengstoff besorgt hatte und noch<br />

2005 wegen Volksverhetzung verurteilt worden<br />

war. Und die Hinweise, die dieser V-Mann aufgrund<br />

seiner ideologischen Nähe zu den Tätern lieferte,<br />

sind nicht einmal verwendet worden. So unglaublich<br />

es scheint: Womöglich ging der Quellenschutz<br />

in diesem Fall so weit, dass selbst die Verfolgung<br />

von Mordtaten dahinter zurückstehen sollte.<br />

Der Fall des Mordes an dem hessischen Internetcafé-Betreiber<br />

Halit Yozgat deutet in dieselbe Rich-<br />

Ilse Aigners Entscheidung, für den bayerischen<br />

Landtag zu kandidieren, ist eine Vorentscheidung<br />

und die wichtigste Personalie der CSU in<br />

jüngster Zeit: Wenn die Bundeslandwirtschaftsministerin<br />

gesund bleibt und sie kein Lebensmittel-<br />

oder sonstiger Skandal ereilt, dann hat die 47-Jährige<br />

beste Aussichten, die Nachfolge des Parteivorsitzenden<br />

und Ministerpräsidenten Horst Seehofer<br />

anzutreten. Der bayerische Finanzminister Markus<br />

Söder und seine Kollegin Sozialministerin Christine<br />

Haderthauer, denen ebenfalls Ambitionen nachgesagt<br />

werden, rücken damit auf die hinteren Plätze<br />

der bayerischen Erbfolge. Söder freute sich denn<br />

auch über die »Verstärkung«, Haderthauer erkannte<br />

eine interessante Ergänzung: Sie selbst sei eine Frau<br />

mit Familie, Aigner dagegen kinderlos und alleinstehend.<br />

So klingt es, wenn man eine Spitze in ein<br />

vermeintliches Lob verpacken will.<br />

In der Partei ist die gelernte Radio- und Fernsehtechnikerin<br />

Aigner beliebt, als Vorsitzende des mitgliederstarken<br />

Bezirks Oberbayern ist sie mächtig<br />

und wichtig. Dort, in München und Umgebung,<br />

hat die CSU ihre meisten Wähler, hier fuhr sie bei<br />

der letzten Landtagswahl auch die größten Verluste<br />

ein, rund 20 Prozent, so viel, wie keine Volkspartei<br />

tung. Hier hatte der Verfassungsschutz eine Anfrage<br />

der Mordkommission auf Vernehmung zweier<br />

V-Leute ganz offiziell mit dem Hinweis angelehnt,<br />

das »Wohl des Landes Hessen« stehe über der Verfolgung<br />

einer Mordtat. Der damalige Innenminister<br />

und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier<br />

(CDU) verteidigte diese Sicht der Dinge.<br />

In beiden Vorgängen deutet sich ein brisanter<br />

politischer Befund an: Weil man nicht an organisierten<br />

rechten Terror glaubte, hat man nicht gesehen,<br />

mit wem man sich da einließ, vor allem bei den<br />

V-Leuten aus der Nazi-Szene um die Organisation<br />

von »Blood and Honour«. Der Berliner Innensenator<br />

Frank Henkel (CDU) hielt es nicht für nötig,<br />

dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss<br />

Akten über einen Informanten der Polizei zukommen<br />

zu lassen, was im günstigsten Fall ein neuerlicher<br />

Beleg für die miserable Zusammenarbeit der<br />

Sicherheitsbehörden sein könnte, aber auch ein<br />

Hinweis, dass es da etwas zu verbergen gab.<br />

Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy<br />

(SPD) ist sicher, dass die Behörden im Kampf gegen<br />

den rechten Terror versagt haben, weil sie nicht<br />

gewinnen wollten. Weil die Opfer Migranten waren.<br />

Weil man nach dem 11. September 2001 alle<br />

Kraft auf die Verfolgung des islamistischen Terrors<br />

in den vergangenen Jahren irgendwo in Europa.<br />

Die Folge war der Verlust der absoluten Mehrheit<br />

und die Koalition mit der FDP, ein Trauma für die<br />

selbstbewussten Christsozialen. Bei der nächsten<br />

Landtagswahl, der »Mutter aller Schlachten«, wie<br />

Parteichef Seehofer gerne sagt, kommt es deshalb<br />

besonders auf die Oberbayern an.<br />

Die Beliebtheit der 47-Jährigen rührt daher, dass<br />

sie sich aus innerparteilichen Konflikten meist heraushält<br />

und eher hinter den Kulissen vermittelt, als<br />

sich über Interviews zu positionieren. Beim letzten<br />

Parteitag der CSU etwa kandidierte der Parteirebell<br />

Peter Gauweiler überraschend für einen der Vizepos<br />

ten, Verkehrsminister Peter Ramsauer drohte,<br />

düpiert zu werden. Aigner sei es gewesen, die Ramsauer<br />

gerettet habe, hieß es, nachdem der sich<br />

durchgesetzt hatte.<br />

Nun hat sie zum zweiten Mal in eigener Sache<br />

eine Machtentscheidung getroffen. Die erste traf<br />

sie, als sie vor gut einem Jahr für den Vorsitz des<br />

Bezirks Oberbayern kandidierte. Damals riskierte<br />

sie die Freundschaft zum damaligen Finanzminister<br />

Georg Fahrenschon, der neben Karl-Theodor zu<br />

Guttenberg lange als Kronprinz galt. Als sie den<br />

Bezirk Oberbayern übernahm, wurde Aigner qua<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 5<br />

konzentrierte und so für die braunen Netzwerke<br />

keine Kapazitäten mehr hatte.<br />

In Wahrheit ist es wohl etwas komplizierter. Der<br />

Verfassungsschutz entstand nach dem Krieg auf<br />

Anregung der Alliierten, die der deutschen Demokratiefestigkeit<br />

noch nicht recht über den Weg trauten.<br />

Auch die Fragmentierung des Dienstes ist historisch<br />

begründet: Aus Angst vor einer Geheimen<br />

Staatspolizei, die sowohl überwachen als auch strafen<br />

darf, operieren die Behörden dezentral, teilweise<br />

in Parallelwelten, die eifersüchtig zuallererst an ihrer<br />

Selbstlegitimation arbeiten. So ergänzt sich eine<br />

untaugliche Organisationsform mit einer Kultur<br />

der Nicht-Zusammenarbeit und einem politischen<br />

Fehlurteil zu einer fatalen Mischung. Zehn Einwanderer<br />

sind deshalb gestorben.<br />

In dieser Lage hat der Bundesinnenminister ein<br />

paar richtungsweisende Reformen in Gang gesetzt.<br />

Die Dienste sollen sich auf reale Gefahren konzen-<br />

trieren, nicht auf Ideen. Sie sollen zur Zusammenarbeit<br />

gezwungen werden, in den Abwehrzentren gegen<br />

Terror und Rechtsextremismus, die Bund-Länder-<br />

Kommissionen sind, obwohl sie niemand so nennen<br />

darf. Und schließlich soll das Parlament mehr Einblick<br />

bekommen. Wo, wenn nicht dort, sollte eine Erfolgskontrolle<br />

stattfinden? MARIAM LAU<br />

Amt die designierte Nachfolgerin Seehofers. Ihr<br />

Schritt jetzt ist die logische Konsequenz daraus.<br />

Aigner wird nachgesagt, sie habe ein gutes Gespür<br />

für die Stimmung in der Partei und »ein unglaublich<br />

dickes Telefonbuch«. In 14 Jahren Bundestag<br />

hat sie sich ein dichtes Netzwerk geschaffen.<br />

Aus öffentlichen ideologischen und machtpolitischen<br />

Debatten hält Aigner sich heraus. Beim Betreuungsgeld<br />

etwa vertritt sie nach außen die offizielle<br />

Parteilinie; was sie wirklich darüber denkt,<br />

wissen selbst Parteifreunde nicht. Gerda Hasselfeldt,<br />

die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im<br />

Bundestag, und Innenminister Hans-Peter Friedrich,<br />

die beide ebenfalls eher nüchtern und pragmatisch<br />

daherkommen, gehören zu ihren engsten<br />

Vertrauten in Berlin. Als Landwirtschaftsministerin<br />

gilt Aigner als schwache Besetzung. Sollte es<br />

2013 in Berlin zu einer Großen Koalition kommen,<br />

hätte sie als Nichtjuristin kaum Chancen auf<br />

ein Verfassungs- oder anderes starkes Ressort. Auch<br />

das dürfte bei ihrer Entscheidung für Bayern eine<br />

Rolle gespielt haben: In Berlin sind ihre Karriereaussichten<br />

begrenzt, in München kann Ilse Aigner<br />

als erste Frau an der Spitze des Freistaats noch Geschichte<br />

schreiben. TINA HILDEBRANDT<br />

Fotos [M]: Frank Doebert/Ostthueringer Zeitung/dapd (o.); Uwe Lein/dapd


6 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> POLITIK<br />

Eine Frage der Perspektive: Blick auf den Volkszorn gegen den Mohammed-Film in Sanaa, Jemen<br />

Die Legende vom Flächenbrand<br />

Gewalttätige Proteste gegen einen verrückten Film – das ist nicht das Ergebnis des Arabischen Frühlings. Hier randalieren die Verlierer der Revolution<br />

Das hat der Westen, denken jetzt viele,<br />

von der Befreiung der Muslime: Ein<br />

lächerlicher Film über ihren Propheten<br />

genügt, um sie Botschaften<br />

in Brand stecken und Unschuldige<br />

lynchen zu lassen. Ausgerechnet in Libyen, in Bengasi,<br />

der Wiege der Anti-Gaddafi-Revolution, kam<br />

der amerikanische Botschafter bei einem Angriff<br />

von Islamisten ums Leben. Sichtlich geschockt,<br />

fragte Hillary Clinton: »Wie konnte<br />

das in einem Land passieren, das wir<br />

geholfen haben zu befreien, in einer<br />

Stadt, die wir von der Zerstörung bewahrt<br />

haben?« Warum sind sie so undankbar?<br />

Sind die arabischen Revolutionen<br />

gescheitert, die Hoffnungen<br />

auf sie widerlegt?<br />

Auch im Sudan brannte eine Botschaft,<br />

die deutsche. Das allerdings konnte mit<br />

dem Arabischen Frühling nichts zu tun haben – im<br />

Sudan gab es gar keine Freiheitsbewegung. Die Ursache<br />

für die Attacke war auch nicht das Mohammed-Video.<br />

Hinter dem Aufruhr, das lässt sich<br />

mittlerweile rekonstruieren, standen hier ganz andere,<br />

viel politischere Motive. Man muss also genau<br />

hinsehen. Und daran fehlt es oft. Der westliche<br />

Blick auf die arabische Welt ist offenbar noch im-<br />

VON<br />

MOHAMED AMJAHID,<br />

JOCHEN BITTNER,<br />

ANDREA BÖHM,<br />

JULIA GERLACH,<br />

GERO VON RANDOW<br />

UND MICHAEL THUMANN<br />

mer getrübt von einer altklugen Überheblichkeit<br />

– und vom Interesse vieler Medien an einer eingängigen<br />

Story.<br />

Je sorgfältiger man die einzelnen Schauplätze der<br />

Ausschreitungen untersucht, desto falscher erweist<br />

sich die Vorstellung von einer weiten Wüstenfläche<br />

voller zorniger Menschen, die nur darauf warten, dass<br />

jemand ihre Religion beleidigt. »Sie«, die gewalttätigen<br />

Akteure dieser Tage, sind viel eher die Verlierer<br />

der Emanzipationswelle. Viel spricht<br />

dafür, dass die Botschaftserstürmungen<br />

und Brandstiftungen von Bengasi bis<br />

Jakarta kein Ausdruck der neuer Freiheit<br />

sind, sondern im Gegenteil Ansichtskarten<br />

aus einer Vergangenheit<br />

der Diktatur und der Entmündigung.<br />

Beginnen wir in Libyen. Das<br />

Land ist nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes<br />

keineswegs in die Hände von islamistischen<br />

Eiferern gefallen. Bei den Parlamentswahlen<br />

im Juli gewannen die Muslimbrüder nur 17<br />

von 80 Sitzen. Die islamistische Partei von Abdel<br />

Hakim Belhadsch, den westliche Diplomaten zuvor<br />

als echte Gefahr beschrieben hatten, errang<br />

nicht ein einziges Mandat. Der neue Premierminister<br />

des Landes ist ein säkular denkender Ingenieur,<br />

der als Akademiker in den Vereinigten Staaten<br />

Karriere gemacht hat und nach seiner Wahl zuerst<br />

versprach, zupackender als bisher die Zigtausenden<br />

Waffen einsammeln zu lassen, die seit dem Bürgerkrieg<br />

im Land verteilt sind.<br />

Es gibt noch immer mächtige Milizen und verfeindete<br />

Clans im Land – doch ob es überhaupt Libyer<br />

waren, die den Anschlag auf das US-Konsulat in<br />

Bengasi verübten, ist keineswegs sicher. Die Amerikaner<br />

gehen davon aus, dass es Mitglieder des Al-Kaida-<br />

Zweigs Omar-Abdul-Rahman-Brigade waren, die am<br />

Jahrestag des 11. September mit Schnellfeuergewehren<br />

und Granaten die US-Vertretung sturmreif schossen.<br />

Nur einen Tag zuvor hatte der Al-Kaida-Chef Aiman<br />

al-Sawahiri in einer Videobotschaft regelrecht den<br />

Befehl dazu erteilt. Im Juni war sein libyscher Stellvertreter<br />

im Jemen von einer amerikanischen Drohne<br />

getötet worden; Sawahiri rief dazu auf, ihn zu rächen,<br />

und zwar am besten durch Angriffe auf Amerikaner<br />

in Libyen. Nach dem Tod des Botschafters versammelten<br />

sich viele Bürger spontan zu einer Sympathiekundgebung<br />

in Bengasi. »Nein zu Al-Kaida, Nein zum<br />

Terrorismus«, stand auf dem Plakat, das ein kleiner<br />

Junge trug. Und: »Sorry, Amerika. Das ist nicht das<br />

Verhalten des Islam und des Propheten!«<br />

Natürlich ist die Wut über das Schundvideo<br />

eines amerikanischen Islamhassers echt und weitverbreitet.<br />

Aber es gibt einen Unterschied zu ähn-<br />

Vielleicht tobt doch nicht die ganze Stadt? Einzelkämpfer in Sanaa<br />

lichen Krisen, etwa zu der um die dänischen<br />

Mohammed-Karikaturen 2006. Gerade jene<br />

Muslime, die sich in den vergangenen Jahren<br />

Emanzipation und Bürgerrechte erkämpft haben,<br />

wollen nicht wieder in die Falle tappen, die<br />

ihnen, so glauben sie, bestimmte Akteure stellen.<br />

Vor allem in Ägypten wurde noch nie so viel<br />

diskutiert, kritisiert und die Frage gestellt, warum<br />

gerade jetzt eine solche Empörung aufbrandet.<br />

Der bekannte Journalist Hani Shukrallah schrieb<br />

in einem Kommentar für die Zeitung Al-Ahram<br />

Weekly: »Was die Salafisten, Dschihadisten und<br />

Co. angeht, war der Film wohl die Antwort auf<br />

viele Gebete: Nicht nur geben ihnen die Proteste<br />

die Möglichkeit, gegen die Werte der Revolutionäre<br />

zu agitieren, die aus ihrer Sicht atheistisch und<br />

aus dem Westen importiert sind. Mit den Protesten<br />

bahnen sie sich auch den Weg zurück auf die<br />

politische Bühne.«<br />

Tatsächlich haben die Fundamentalisten in<br />

Ägypten in den vergangenen Monaten stark an<br />

Ansehen verloren. Dabei hatte alles gut für sie<br />

begonnen: Nach anfänglichem Zögern schlossen<br />

sie sich der Revolution 2011 an und mobilisierten<br />

viele neue Anhänger. Unter dem alten Regime<br />

als staatsfeindlich verfolgt, profitierten sie<br />

nun von der neuen Freiheit: Männer durften sich<br />

endlich die Bärte fransig wachsen lassen, Frauen<br />

das Gesicht verschleiern, und niemand hinderte<br />

Prediger daran, ihren Hass auf Andersgläubige zu<br />

verbreiten. Die Al-Gamaa al-Islamija, (Islamische<br />

Gruppe), die in den neunziger Jahren mit dem<br />

Ziel eines islamischen Staates gegen die Regierung<br />

Mubarak kämpfte, gründete eine Partei.<br />

»Ägypten wird islamisch!«, unter dieser Parole<br />

versammelten sich im Sommer 2011 Zigtausende<br />

auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Bei den Parlamentswahlen<br />

gewannen die Islamisten ein Drittel<br />

der Sitze.<br />

»Die Welt muss die Wut in euren<br />

Fäusten sehen!«, sagt der Hisbollah-Chef<br />

Mit dem Eintritt in die Realpolitik begann jedoch<br />

ihr Stern zu sinken. Die wirtschaftlichen<br />

Sorgen vieler verschlimmerten sich, während die<br />

salafistischen Parlamentarier von einem Skandal<br />

in den nächsten schlitterten. Das größte Problem<br />

haben die Salafisten allerdings mit ihrem Präsidenten:<br />

Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft<br />

ist ihnen nicht islamisch genug. Außer<br />

einigen symbolischen Veränderungen – etwa,<br />

dass die Wetterfee im Staatsfernsehen nun Kopftuch<br />

tragen darf – ist wenig Islamisierung zu sehen.<br />

Den Radikalen gefällt auch nicht, dass Mursi<br />

sich bei den Amerikanern anbiederte. Die Al-<br />

Gamaa al-Islamija fordert, dass der Präsident seine<br />

für Sonntag geplante Reise in die USA absagt:<br />

aus Protest gegen den Anti-Islam-Film.<br />

Das beleidigende Video bietet den Salafisten also<br />

einen willkommenen Anlass, sich wichtig zu machen.<br />

Die Demonstranten sind zwar nicht viele – in<br />

Ägypten sollen laut verschiedenen Quellen etwa<br />

2500 Zornige zusammengekommen sein – ,kulturell<br />

aber scheinen die Radikalen einige Erfolge zu<br />

verbuchen. Die gezielte Beleidigung durch den<br />

Anti-Islam-Film weckt die religiösen Gefühle der<br />

Mehrheit der Muslime. Facebook-Einträge mit Aufforderungen<br />

zu einem frommeren Leben sind bis<br />

weit hinein ins liberale Lager plötzlich höchst beliebt.<br />

Zwischen Muslimbruderschaft und Salafisten<br />

ist ein Konkurrenzkampf entbrannt, wer den Propheten<br />

besser schützen kann. Neu und hoffnungsvoll<br />

ist allerdings, dass die Motive beider Lager offen<br />

diskutiert werden. Die Revolution hat eine streitfreudige<br />

Zivilgesellschaft in Ägypten zum Leben<br />

erweckt – und die lässt sich nicht mehr so einfach<br />

mundtot machen.<br />

Ganz ähnlichen Anwürfen wie Mursi in<br />

Ägypten sieht sich der Präsident des Jemen ausgesetzt.<br />

Nicht nur Salafisten, sondern auch Revolutionäre<br />

werfen ihm vor, die Bedrohung<br />

durch militante Islamisten zu nutzen, um sich<br />

die Unterstützung der USA zu sichern. Die versuchte<br />

Erstürmung der amerikanischen Botschaft<br />

in Sanaa ist deshalb auch als Protest gegen<br />

eine als schwach empfundene Regierung zu werten.<br />

Radikale Prediger, von denen einige Al-Kaida<br />

nahestehen, hatten zum Sturm auf die Vertretung<br />

aufgerufen. Ihnen folgten allerdings<br />

nicht etwa die religiösen Massen, sondern jene<br />

Verlierer, die der harte jemenitische Alltag ohnehin<br />

an den Rand gedrängt hat: Arbeitslose, Gelegenheitsjobber,<br />

Krakeelend auf den Außenmauern<br />

der US-Botschaft sitzend, dürften viele von<br />

ihnen zum ersten Mal das Gefühl gehabt haben,<br />

aufgestiegen zu sein.<br />

Kein Verlierer, sondern ein großer Gewinner<br />

der religiösen Wut scheint auf den ersten Blick<br />

die radikalschiitische Hisbollah im Libanon zu<br />

sein. Mindestens zehntausend ihrer Anhänger<br />

versammelten sich am Montag zu einem der seltenen<br />

Auftritte des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah<br />

in Beirut. Kaum war der Papst aus dem Libanon<br />

abgeflogen, erklärte Nasrallah, der Mohammed-Film<br />

sei der »schlimmste jemals unternommene<br />

Angriff auf den Islam (…) Die ganze Welt<br />

muss die Wut in euren Gesichtern, euren Fäusten<br />

und euren Schreien sehen!« Aber warum schließt<br />

sich die Hisbollah dem Anti-Video-Geschrei an?<br />

Weil es in Wahrheit schlecht um sie steht. Ihr<br />

wichtigster Verbündeter neben Iran, Baschar al-<br />

Assad in Syrien, ist bedrängt. Fällt er, brechen die<br />

Nachschublinien für die Hisbollah zusammen.<br />

Zugleich ist ihr Ansehen erschüttert, seit bekannt<br />

wurde, dass vier ihrer Mitglieder für den Mord an<br />

dem Ex-Premier Rafik Hariri verantwortlich gewesen<br />

sein sollen. Der Lärm soll über diese<br />

Schande und den drohenden Bedeutungsschwund<br />

hinwegtäuschen.<br />

So viel zu den Wut-Motiven entlang des Revolutionsbogens<br />

am Mittelmeer. Welche Geschichte<br />

steckt nun hinter dem Angriff auf die deutsche<br />

Botschaft im Sudan? Der Zorn, der sich hier Bahn<br />

brach, war gesteuert von politischen Interessen.<br />

Ihm ging eine lang anhaltende antideutsche Kampagne<br />

voraus. Hauptverantwortlich für sie ist ein<br />

Mann namens Mustafa al-Tayyib, Herausgeber<br />

der einflussreichen Tageszeitung Al-Intibaha. Das<br />

Blatt verortet bereits seit gut einem Jahr Deutschland<br />

neben den USA und Israel auf einer Achse<br />

des Bösen. Tayyib ist ein Onkel des sudanesischen<br />

Präsidenten Omar al-Baschir.<br />

»Der wahre Feind ist nicht der Teufel«, schrieb<br />

Al-Intibaha schon im September 2011, »sondern<br />

Israel, die USA (…) und Deutschland.« Danach<br />

erschienen immer wieder Artikel in diesem Sinne.<br />

Tayyib und andere Autoren empören sich nicht nur<br />

über die vermeintliche Unterdrückung von Muslimen<br />

in Deutschland, sondern auch über die deutsche<br />

Unterstützung für den abtrünnigen Südsudan.<br />

Dessen Sezession ist für Tayyib nichts als eine internationale<br />

Verschwörung gegen das arabische<br />

Khartoum.<br />

Deutschland geriet offenbar in sein Visier, weil<br />

die Bundesrepublik mehrere Projekte zur Förderung<br />

der Zivilgesellschaft unterstützte – aus Tayyibs Sicht<br />

eine Unterwanderung des Sudan. In den vergangenen


POLITIK<br />

Monaten beschuldigte er wiederholt deutsche kirchliche<br />

NGOs, sich zu einer Verschwörung gegen<br />

Khartoum zusammengeschlossen zu haben. Die<br />

CDU nennt Tayyib »böse«, weil sie die christliche<br />

politische Kaste gegen den Islam aufwiegele.<br />

In den Tagen und Wochen vor dem Sturm der<br />

deutschen Botschaft steigerte sich die antideutsche<br />

Berichterstattung dann zu einem Stakkato.<br />

Am vergangenen Freitag erschien Al-Intibaha mit<br />

einem Aufruf zur Demonstration vor der deutschen<br />

und amerikanischen Botschaft, »weil das<br />

christliche Deutschland (…) schon öfter diffamierende<br />

Bilder, Filme und Texte über unseren<br />

Propheten verbreitet hat«. Der Deutschland-Hass<br />

gilt zwar in Khartoumer Regierungskreisen vor<br />

allem als Tayyibs persönlicher Feldzug. Doch<br />

kommt er auch dem Präsidenten gelegen, drängt<br />

er doch die sozialen Proteste der vergangenen<br />

Monate gegen Armut und Preissteigerungen ins<br />

Abseits.<br />

In Tunesien sind die Fanatiker<br />

ein Risiko erster Ordnung<br />

Heißt all das nun, dass die Zornesausbrüche der<br />

vergangenen Tage wenig relevant und die Errungenschaften<br />

des Arabischen Frühlings stabil und<br />

unumkehrbar sind? Das heißt es nicht. Es mögen<br />

nur weniger Eiferer sein, die versuchen, alte<br />

Konfliktmuster wiederzubeleben. Doch auch<br />

kleine Gruppen können große Wirkungen entfalten.<br />

Die letzte weltpolitische Zäsur haben am<br />

11. September 2001 gerade einmal zwei Dutzend<br />

Fanatiker ausgelöst. Und noch ist keineswegs<br />

entschieden, welches Gesellschaftsmodell<br />

sich in den islamischen Revolutionsländern<br />

durchsetzen wird.<br />

In Tunesien, dem Land, in dem im Dezember<br />

2010 alles anfing, ist der Salafismus mittlerweile kein<br />

Randphänomen mehr, sondern ein Risiko erster<br />

Ordnung. Es gibt Kleinstädte, in denen Fundamentalisten<br />

seit Monaten diktieren, was erlaubt ist und<br />

was nicht. Seit Monaten attackieren sie vielerorts<br />

Kulturzentren, Kinos, Galerien, Hotelbars, Universitäten.<br />

Eine im Land verbreitete Stimmung sieht in<br />

den Salafisten die Verteidiger des Heiligen. In der<br />

europäisch beeinflussten Mittelschicht der Küstenregionen<br />

hingegen geht die Furcht vor Gegenaufklärung<br />

und Dunkelmännertum um. In einem<br />

Monat läuft die Frist ab, in der die verfassunggebende<br />

Versammlung ein Grundgesetz beschließen sollte.<br />

Man wird sie nicht einhalten. Der Streit um die<br />

Artikel, die aus dem Land einen Gottesstaat ohne<br />

echte Gewaltenteilung machen würden, erweist sich<br />

als unlösbar.<br />

Diese Entwicklung zeigt, was auf dem Spiel steht.<br />

Schaffen die muslimischen Länder den Übergang<br />

in die Demokratie – oder nimmt die Abwehrhaltung<br />

zu säkularen Modellen gefährliche Züge an? Die<br />

Chancen für die aufgeklärte Variante stehen trotz<br />

vieler Hindernisse günstig wie nie. Dieselben arabischen<br />

Medien, die vor sechs Jahren mit dem Karikaturenstreit<br />

noch reißerisch Quote machten,<br />

berichten jetzt über die Unfähigkeit der Polizei, einen<br />

»kleinen Mob« zu kontrollieren und Botschaften<br />

zu schützen. Sie erklären die amerikanische Sicht<br />

auf die Meinungsfreiheit und thematisieren die<br />

schwierige Lage der islamistischen Regierungen<br />

zwischen Pragmatismus und Ideologie. Höchste Zeit<br />

für den Westen, seine Sicht auf die Region genauso<br />

zu schärfen.<br />

Siehe auch Feuilleton, Seiten 43 und 45;<br />

Glauben & Zweifeln, Seite 58<br />

»Gläubige<br />

müssen den Film<br />

boykottieren«<br />

Halb so wild, alles im Griff: Ordnungskräfte im Rücken der Demonstration<br />

Der ägyptische<br />

Islam-Minister<br />

Scheich Afi fi verteidigt<br />

die Meinungsfreiheit –<br />

bis zu einem<br />

gewissen Punkt<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Scheich Afifi, haben Sie den Schmähfilm<br />

gegen den Propheten Mohammed gesehen?<br />

Scheich Talaat Afifi: Nein, ich habe ihn nicht gesehen<br />

und rate niemandem dazu, sich so etwas anzutun.<br />

Das bloße Ansehen ist eine Sünde.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das müssen Sie erklären.<br />

Afifi: Es ist verboten, dass ein Muslim etwas sieht<br />

oder hört, das seinem Glauben widerspricht.<br />

Wenn man weiß, dass der Inhalt eines Videos oder<br />

einer Karikatur sich gegen Gott und seinen Propheten<br />

richtet, darf man sich nicht damit befassen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Auch wenn Sie das Video nicht gesehen haben,<br />

haben Sie wahrscheinlich eine Meinung dazu.<br />

Afifi: Das ist ein Anti-Islam-Film. Er beleidigt alle<br />

Muslime – und deswegen rufe ich alle Gläubigen<br />

auf, ihn zu boykottieren. Mehr kann ich dazu<br />

nicht sagen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ein Boykott ist aber schwierig in den Zeiten<br />

von Internet und Satellitenfernsehen.<br />

Afifi: Gott sagt im Koran: »Böse Menschen sind in<br />

der Gesellschaft von bösen Menschen gut aufgehoben.«<br />

Die Macher dieses Films wollen Hass und<br />

Gewalt verbreiten. Doch sie haben das Gegenteil<br />

erreicht: Wir lieben unseren Propheten, wir verehren<br />

ihn jeden Tag ein bisschen mehr. Er lebt in<br />

unseren Herzen, und wir werden ihn mit jeder<br />

Faser davon verteidigen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Manche Radikale verstehen unter Verteidigung<br />

Gewalt gegen westliche Botschaften.<br />

Afifi: Kein Mensch sollte solch eine Beleidigung<br />

seines Propheten hören und dazu schweigen. Wir<br />

sollten unsere Religion verteidigen, aber ohne<br />

Mord, ohne Gewalt. Ich frage mich, was es bringt,<br />

einen Botschafter zu töten? Ein<br />

Gebäude in Brand zu setzen? Eine<br />

Fahne zu verbrennen?<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wer ruft da zur Gewalt auf?<br />

Afifi: Diejenigen, die schon festgenommen<br />

wurden und ihre gerechte<br />

Strafe bekommen werden,<br />

das sind alles Leute mit eigenen<br />

Interessen. Sie wollen Kapital aus<br />

der ganzen Geschichte schlagen.<br />

Es sind immer wieder die Gleichen,<br />

die Probleme machen. Das<br />

sind keine Repräsentanten des Islams.<br />

Es sind Extremisten mit einer<br />

eindeutigen Agenda, die das<br />

Land destabilisieren wollen, sodass<br />

wir nie zu einem guten Leben kommen können.<br />

Das ärgert mich.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wen meinen Sie damit?<br />

Afifi: Die Kader des alten Regimes haben ein<br />

großes Interesse daran, uns Probleme zu berei-<br />

Scheich Talaat Afifi ist<br />

Minister für islamische<br />

Angelegenheiten in der<br />

Regierung des<br />

Präsidenten Mursi<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 7<br />

ten. Und dann sind auch noch die selbst ernannten<br />

Dschihadisten am Werk, die im Namen<br />

des Islams willkürlich Menschen töten.<br />

Im letzten Jahr starben dadurch vor allem viele<br />

unschuldige Muslime in Ägypten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Einige dieser Extremisten fühlen sich<br />

den Salafisten zugehörig. Die<br />

salafistische Al-Nur-Partei hat<br />

vor sechs Wochen durchgesetzt,<br />

dass Sie Minister wurden.<br />

Afifi: Ich gehöre keiner Partei<br />

an. Der salafistische Islam ruft<br />

nicht zu Krawallen auf; das sind<br />

Leute, mit denen wir nichts zu<br />

tun haben und nichts zu tun<br />

haben wollen. Nirgendwo in<br />

der Scharia steht, dass wir Botschafter<br />

töten, Fahnen verbrennen<br />

oder Gebäude stürmen<br />

sollen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Schützt der ägyptische<br />

Staat westliche Botschaften ausreichend?<br />

Afifi: Der Schutz von Botschaften und Botschaftspersonal<br />

ist eine Verantwortung, die<br />

wir übernommen haben. Wenn wir Botschaften<br />

auf unserem Boden nicht schützen, werden<br />

morgen unsere Botschaften im Ausland<br />

angegriffen. Wir geben uns also Mühe, dieser<br />

Verpflichtung nachzukommen. Ich habe<br />

heute bei meiner Fahrt durch die Stadt gesehen,<br />

dass Polizei und Militär eine Mauer<br />

rund um die US-Botschaft errichtet haben;<br />

das ist ein Anfang. Dennoch muss ich sagen:<br />

Ich verstehe nicht, warum Menschen in den<br />

Vereinigten Staaten einen solchen Film drehen.<br />

Wir Muslime beleidigen ja auch keinen<br />

Propheten. Mose, Jesus, Noah – das sind alles<br />

Heilige für uns. Das kann man unserer Religion<br />

nicht nehmen: Wir respektieren andere<br />

Religionen, auch wenn wir denken, dass sie<br />

falsch sind.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das koptische Christentum ist eine dieser<br />

anderen Religionen. Hat Ägypten nicht ein<br />

Problem mit der Diskriminierung von Kopten?<br />

Afifi: Wir haben mit den Christen kein Problem.<br />

Sie leben hier friedlich und harmonisch<br />

seit 1400 Jahren, seit es den Islam gibt. Wir<br />

sind Brüder und Schwestern, und in Ägypten<br />

gibt es genügend Platz für alle. Wir verstehen<br />

uns gut.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sind Sie sicher? Der Macher des Films<br />

führt diese Diskriminierung als seine Hauptmotivation<br />

an.<br />

Afifi: Ich bin sehr sicher. Dieser Typ will unsere<br />

Gesellschaft nur spalten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie waren mehrmals in den Vereinigten<br />

Staaten. Wie sehen Sie die Idee der Rede- und<br />

Meinungsfreiheit, die dort herrscht?<br />

Afifi: Die Wahrheit ist, dass ich dort die meiste<br />

Zeit in Moscheen verbracht habe, vor allem<br />

weil ich immer zum Ramadan in die Staaten<br />

geflogen bin. Dennoch kann ich dieses amerikanische<br />

Prinzip der absoluten Redefreiheit<br />

verstehen. Der Respekt für Ansichten, die einem<br />

nicht passen, ist ein zutiefst islamisches<br />

Prinzip.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Tatsächlich?<br />

Afifi: Gott sagt: »Beleidigt nie diejenigen, die<br />

Gott beleidigen, denn am Ende wird sie Gott<br />

bestrafen.« Das bedeutet für mich nichts anderes<br />

als absolute Redefreiheit. Aber ohne Grenzen<br />

geht das auch wieder nicht: Ich darf dabei<br />

nicht die Rechte anderer verletzen, vor allem<br />

darf ich nicht ihre Propheten und ihre heiligen<br />

Schriften in den Dreck ziehen. Ich rufe deswegen<br />

zu einer islamisch disziplinierten Redefreiheit<br />

auf.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Also doch keine absolute Meinungsfreiheit?<br />

Afifi: Solch ein Verständnis grenzenloser Freiheiten<br />

führt zu Problemen, wie wir sie jetzt<br />

wieder haben. Gott, sein Prophet und der Islam<br />

bleiben für mich unantastbar.<br />

Die Fragen stellte MOHAMED AMJAHID<br />

Fotos (S.6 - 7): Mohammed Huwais/AFP/Getty Images (l.); Yahya Arhar/EPA/dpa (m.); Mohammed Huwais/AFP/Getty Images (r.); Middle East News Agency (kl., u.)


Fotos (v.o.n.u.): Aurora/laif (2); Nina Berman/Noor/laif; Aurora/laif<br />

8 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> POLITIK<br />

Schau mir in die Wumme, Kleines: Selbstverteidigungsübung in Texas<br />

»Billiger als Dreck«: Waffenladen in einem Vorort von Dallas<br />

Muskeln und Stahl: Treffen der Waffenlobby NRA<br />

Mein Haus, mein Baum, meine Kalaschnikow: Amerikanisches Idyll<br />

Amerika<br />

und seine<br />

Waffen<br />

4,3 Mio<br />

Mitglieder<br />

hat die<br />

National<br />

Rifle Association<br />

120 Schuss für 210 Dollar<br />

Trotz aller Amokläufe wollen die Amerikaner nicht von ihren Waff en lassen. Was ist bloß dran<br />

an der Lust am Schießen? Ein Selbstversuch mit Schnellfeuergewehr VON ANDREA BÖHM<br />

Cortlandt Manor, New York<br />

Meinen Waffentrainer hatte<br />

ich mir anders vorgestellt:<br />

kurz geschorene Haare,<br />

Stiefel, Cargohosen, zackiger<br />

Ton, Geländewagen.<br />

Stattdessen kommt Joe: Ein<br />

bisschen verschlurft, mit<br />

ausgebeulten Jeans, zotteligem Bart, Cloggs an den<br />

Füßen und zwei Kindersitzen auf der Rückbank<br />

seines Autos. Es ist Sonntag Morgen im Blue Mountain<br />

Naturpark, Gemeinde Westchester, Bundesstaat<br />

New York, eine Idylle mit Hügeln, Seen, Vogelgezwitscher.<br />

Und einem gun range, einem Schießstand.<br />

Der öffnet in einer Stunde. »Schön hier«, sagt<br />

Joe und holt drei Gewehre aus dem Kofferraum.<br />

Auf Joes T-Shirt ist ein Fadenkreuz gedruckt, darüber<br />

steht: »NRA certified instructor«, »NRA-geprüfter<br />

Ausbilder«. Amerikas National Rifle Association<br />

hat einen legendären Ruf als Waffenlobby, mit der sich<br />

kein Politiker anzulegen wagt. Weniger bekannt ist<br />

ihre Rolle als Schießlehrer der Nation. Der Mensch,<br />

so sieht es die NRA, ist ein freies Wesen, ausgestattet<br />

mit der Fähigkeit zu verantwortungsbewusstem Handeln<br />

und unveräußerlichen Rechten, darunter dem<br />

Recht auf uneingeschränkten Besitz von Schusswaffen.<br />

Die NRA sieht sich nicht nur für den Schutz der Verfassung,<br />

sondern auch für die Erziehung zum verantwortungsvollen<br />

Umgang mit der Waffe zuständig. Der<br />

macht nach ihrer Überzeugung Gesetze zur Waffenkontrolle<br />

überflüssig. Woche für Woche bietet sie im<br />

ganzen Land Hunderte von Kursen an. Anmeldung<br />

im Internet genügt. Ich habe bei Joe den »Basic Rifle<br />

Course« belegt, »Gewehr für Anfänger«. 210 Dollar<br />

für fünf Stunden – inklusive 120 Schuss Munition,<br />

Multiple-Choice-Test und Urkunde. Joe weiß, mit<br />

wem er es zu tun hat: mit einer deutschen Reporterin,<br />

die Amerikas Waffenkult für aberwitzig hält – und jetzt<br />

wissen möchte, was denn so toll sein soll am Schießen.<br />

Mein Tischnachbar beim Theorieteil im Blockhaus<br />

der Parkverwaltung ist ein ausgestopftes Gürteltier.<br />

Sonst ist keiner da. Langes Wochenende, erklärt Joe,<br />

»und schönes Wetter. Da gehen die Leute lieber raus<br />

in die Natur.« Er packt seine Gewehre und mehrere<br />

Schachteln Patronen auf den Tisch.<br />

»Erklär mir, was du da siehst«, sagt er.<br />

»Ziemlich gefährliche Dinger, vor allem das da«,<br />

sage ich und deute auf das halb automatische Gewehr<br />

mit Magazinstutzen.<br />

Joe schüttelt den Kopf. Typisch Europäerin, die<br />

nicht zu würdigen weiß, was da vor ihr liegt: drei<br />

wunderbare Exemplare des menschlichen Erfindungsgeistes.<br />

Eine Stunde dauert sein Crashkurs über die<br />

Geschichte der Schusswaffe, über Musketen, Repetierbüchsen<br />

und das »voll ergonomische« halb automatische<br />

AR-15, mit dem auch die amerikanische<br />

Armee ausgestattet wird. Joe referiert über Abzug,<br />

Schlagbolzen und immer bessere Visieroptik, über<br />

Patronenhülsen, Zündhütchen, Projektile und über<br />

die Sicherheitsgebote der NRA: Erstens, den Lauf der<br />

Waffe immer in eine sichere Richtung halten – »also<br />

dahin, wo keiner steht«. Es sei denn, man muss auf<br />

ihn schießen. Zweitens: Finger weg vom Abzug. Es sei<br />

denn, man will schießen. Drittens: Waffe immer ungeladen<br />

aufbewahren. Es sei denn, man will schießen.<br />

Freie Waffen für freie Bürger – für viele<br />

Amerikaner klingt das plausibel<br />

Joe hadert mit Regel Nummer drei, obwohl er das als<br />

NRA-Ausbilder eigentlich nicht darf. »Es gibt da noch<br />

eine andere Denkschule«, sagt er. Wenn der Angreifer<br />

erst einmal im Haus sei, könne man ja nicht erst mit<br />

der Munition herumfummeln. Da sei es von Vorteil,<br />

eine geladene Waffe zur Hand zu haben.<br />

Bleiben noch optionale Vorsichtsmaßnahmen wie<br />

kindersichere Waffenschränke, feuergeschützte Patronenschachteln<br />

oder die Partyregel: »Wenn gefeiert<br />

wird«, sagt Joe, »immer einen Gast bestimmen, der<br />

keinen Alkohol trinkt und auf die Waffen aufpasst.«<br />

»Ganz schön aufwendig«, sage ich. Und nervenaufreibend.<br />

Als würde man eine Pythonschlange als<br />

Haustier halten. Joe sieht mich missbilligend an. »Wir<br />

gehen jetzt schießen«, sagt er.<br />

Joe ist 38, Vater von vier Kindern und heißt mit<br />

Nachnamen so ähnlich wie das Land, aus dem er<br />

stammt: Izrael. Von dort ist er 2001 in die USA ausgewandert.<br />

Nicht aus Angst vor Terroranschlägen<br />

militanter Palästinenser, sondern weil ihm Israels<br />

Waffengesetze zu strikt waren. Okay, sagt er, ein Mädchen<br />

habe auch eine Rolle gespielt. »Die habe ich dann<br />

geheiratet. Aber die amerikanische Waffenkultur war<br />

definitiv eine Verlockung.«<br />

Die Waffenkultur in Westchester County ist vergleichsweise<br />

moderat. Der gun range gehört der Ge-<br />

In den USA sterben jedes<br />

Jahr durchschnittlich<br />

Menschen durch den Einsatz<br />

von Schusswaffen<br />

meinde, also werden hier keine Bilder von vermummten<br />

Al-Kaida-Kämpfern als Zielscheiben aufgehängt.<br />

Es werden auch keine mahnenden Flugblätter mit dem<br />

Bild von Adolf Hitler und der Parole »Wer für Waffenkontrolle<br />

ist, hebe den rechten Arm« verteilt. Was auf<br />

Schießplätzen der NRA durchaus vorkommt.<br />

Joe kennt den Slogan natürlich – und versteht<br />

nicht, was ich daran empörend finde. Ich lebe in einer<br />

Welt, in der das staatliche Gewaltmonopol als Errungenschaft<br />

gilt. Er lebt in einer Welt, in der bewaffnete<br />

Bürger die einzige Garantie gegen Machtmissbrauch<br />

des Staates sind. Und gegen Tyrannei, Versklavung<br />

und Völkermord.<br />

»Wie hat man früher die Schwarzen in Amerika<br />

unterdrückt?«, fragt Joe. »Wie haben die Türken den<br />

Genozid an den Armeniern eingeleitet? Wie haben<br />

die Nazis den Holocaust vorbereitet? Indem man den<br />

Opfern per Gesetz den Waffenbesitz verboten hat.«<br />

Bevor wir jetzt ernsthaft in Streit geraten, ziehen<br />

wir unsere faustgroßen Ohrenschützer über. Keine<br />

zehn Meter von einem Ehepaar entfernt, das abwechselnd<br />

einen Vorderlader abfeuert. »Vorderlader sind<br />

verdammt laut«, hatte Joe gewarnt, der jetzt mit drei<br />

Gewehren im Arm Georgie begrüßt.<br />

Georgie ist zuständig für Sicherheit und Disziplin<br />

auf dem Schießstand. Georgie trägt keinen Hörschutz,<br />

er hört ohnehin schlecht. Er spricht auch nicht mehr<br />

allzu deutlich. Sein wichtigstes Kommando – Feuer<br />

einstellen! – ist oft nur schwer zu verstehen, aber unbedingt<br />

zu befolgen. Sonst kann keiner nach vorne<br />

laufen und neue Zielscheiben aufhängen.<br />

Joe reicht mir als Erstes ein Jagdgewehr vom Typ<br />

Marlin 56, das offenbar Sammlerwert hat. Ich verschieße<br />

etwas zögerlich ein erstes Magazin. Joe, dem<br />

gebürtigen Israeli, geht die amerikanische Kultur des<br />

positiven Feedbacks völlig ab. Statt nach jedem Schuss<br />

Hey, great shot! zu rufen, grummelt er: »Was ist los? Du<br />

bist zu verkrampft.« Ich schieße, verdammt noch mal.<br />

Wie soll ich da nicht verkrampft sein?<br />

Neben mir stehen zwei College-Kids mit ihrer<br />

Pumpgun. Zwei Tische weiter sitzt ein missmutig<br />

wirkender Mittfünfziger, der sein Gewehr mit Kissen<br />

und Kästchen so abgestützt hat, dass er mit der einen<br />

Hand abdrücken, mit der anderen rauchen kann.<br />

Dann das Ehepaar mit dem Vorderlader. Es herrscht<br />

ein reges Kommen und Gehen, manche schleppen<br />

ihre Gewehre wie Holzscheite im Bündel an, andere<br />

heben ein teures Einzelstück aus dem Hartschalenkoffer<br />

wie ein Solist seine Geige.<br />

Wenn Georgie zwischendurch dann »cease fire!«<br />

ruft, trabt man, den Hörschutz um den Nacken gelegt,<br />

mitten in der Schusslinie nach vorn, legt neue Zielscheiben<br />

auf, fachsimpelt über die neuesten Smith-&<br />

-Wesson-Modelle oder über die Football-Saison.<br />

Meine Papierzielscheibe ist unversehrt, ich habe nicht<br />

getroffen. »Das kommt noch«, tröstet Joe.<br />

Die Schützen sind überwiegend weiß, männlich<br />

und englischsprachig, aber an einigen Tischen hört<br />

man Spanisch, Koreanisch oder Russisch. Frauen sind<br />

längst als stabile Minderheit präsent. Amerikas Waffenbesitzer<br />

haben sich ebenso ausdifferenziert wie ihre<br />

Gesellschaft: Es gibt die »Juden für den Erhalt des<br />

Waffenbesitzes«, die Frauen haben die Second<br />

Amendment Sisters, die Schwulen und Lesben die<br />

Pink Pistols. So gut wie alle tragen den NRA-Mitgliedsausweis<br />

in der Tasche. Wen man nicht sieht,<br />

sind Afroamerikaner.<br />

Dabei ist ja durchaus etwas dran an Joes These von<br />

der emanzipierenden Wirkung des Waffenbesitzes.<br />

Die NRA ist ein Produkt des amerikanischen Bürgerkriegs,<br />

gegründet 1871 von zwei Armeeoffizieren, die<br />

über die erbärmlichen Schießkünste der Unionssoldaten<br />

erschrocken waren. Die Amerikaner waren eben<br />

kein Volk von Revolverhelden, die meisten konnten,<br />

so klagte damals ein General, »nicht mal eine Scheune<br />

treffen«. Das sollte sich nach Kriegsende durch<br />

Schützenkurse ändern. Nicht nur für Weiße, sondern<br />

auch für ehemalige Sklaven – eine Horrorvorstellung<br />

vor allem für weiße Südstaatler.<br />

Womöglich würden die frühen NRA-Mitglieder<br />

ihrem eigenen Verein heute nicht mehr beitreten. Ein<br />

knappes Jahrhundert blieb die NRA ein patriotischer<br />

Interessenverband für Sportschützen und Jäger, der<br />

dem Staat durchaus zugestand, den Waffenbesitz<br />

seiner Bürger zu kontrollieren. »Staat« war damals, bei<br />

aller amerikanischen Skepsis gegenüber jeder Form<br />

von Zentralismus, noch kein Schimpfwort.<br />

Dann kamen die sechziger Jahre: Die Morde an<br />

den Kennedy-Brüdern, an Martin Luther King und<br />

Malcolm X, Massendemonstrationen gegen Rassentrennung<br />

und Vietnamkrieg, Aufruhr in den Städten,<br />

Fernsehbilder von bewaffneten Black Panthers. Dem<br />

Sturm auf soziale und politische Barrieren folgte in<br />

den siebziger Jahren der Sturm der weißen Mittelschicht<br />

auf die Waffengeschäfte. In der NRA gab eine<br />

30000<br />

neue Führung die Parole aus: Jeder Versuch der Waffenkontrolle<br />

ist ein Angriff auf die Freiheit rechtschaffener<br />

Bürger. Die Mitgliederzahl stieg auf drei<br />

Millionen an, heute sind es nach Angaben der NRA<br />

über vier Millionen, viele organisiert in einer der über<br />

10 000 lokalen Gruppen, dazu ein schlagkräftiges<br />

Lobbyinstitut in Washington ,das nicht nur erfolgreich<br />

den amerikanischen Kongress bearbeitet, sondern<br />

als registrierte NGO bei den Vereinten Nationen<br />

gegen internationale Verträge zur Kontrolle von<br />

Kleinwaffen arbeitet.<br />

»Die UN? Wer braucht die denn«, sagt Joe und<br />

reicht mir das zweite Gewehr, Modell »Savage Mark<br />

2«, mit dem ich plötzlich treffe. Fünfmal hintereinander.<br />

Ich hätte einen ruhigen Finger am Abzug, lobt<br />

Joe. Noch ein Treffer. Die Nachbarn nicken anerkennend.<br />

Ich muss leider zugeben, dass Schießen Spaß<br />

machen kann. Auch wenn mir umgehend ein kapitaler<br />

Anfängerfehler unterläuft. Ich bücke mich nach<br />

heruntergefallenen Patronen, das Gewehr in der<br />

Hand, dessen Lauf plötzlich eher in Richtung Georgie<br />

zeigt. »Hey«, ruft Joe, »Regel Nummer eins! Schon<br />

vergessen?«<br />

Joe hat da noch ein besonderes Angebot:<br />

Bau Dir Dein eigenes Sturmgewehr!<br />

Wir kommen zum Höhepunkt des Kurses: dem<br />

halb automatischen AR-15, der »voll ergonomischen<br />

Waffe«, wie Joe nicht müde wird zu betonen.<br />

Das »Ergonomische« an solchen Gewehren besteht<br />

darin, dass man nach dem Schuss keinen Unterhebel<br />

oder Kammerstängel (den Unterschied kenne<br />

ich jetzt!) betätigen muss, um die leere Patrone aus<br />

der Kammer zu befördern. Man drückt einfach<br />

immer wieder ab, bis das Magazin leer ist.<br />

Als der offensichtlich geistesgestörte Student James<br />

Elgon Holmes am 20. Juli diesen Jahres in ein Kino<br />

in Aurora im Bundesstaat Colorado eindrang, eröffnete<br />

er das Feuer auf die Zuschauer mit einem AR-<br />

15-Modell der Firma Smith & Wesson. Geladen<br />

hatte er ein Magazin mit 100 Patronen. Beides ist in<br />

den USA legal zu erwerben. Irgendwann klemmte<br />

Holmes Magazin. Es starben »nur« zwölf Menschen.<br />

»Der Faktor Tödlichkeit ist das Nikotin der Waffenindustrie«,<br />

hat der amerikanische Journalist Tom<br />

Diaz in einem Buch über die Branche und ihre Lobby,<br />

die NRA, geschrieben. Es trägt den bösen Titel Making<br />

a Killing – The Business of Guns in America. Angesichts<br />

von rund 300 Millionen Schusswaffen in<br />

privatem Besitz könnte man meinen, der Waffenmarkt<br />

in den USA sei gesättigt. Aber die Devise »Immer mehr<br />

Feuerkraft« garantiert weiteres Wachstum.<br />

Wenn Feuerkraft das Nikotin der Waffenindustrie<br />

ist, dann benehme ich mich jetzt wie ein Nichtraucher.<br />

Mir wird leicht schlecht. Nach dem ersten Schuss mit<br />

dem AR-15 kommt mir nur ein Wort in den Sinn:<br />

zerfetzen. Irgendetwas muss ich gerade zerfetzt haben.<br />

Die Zielscheibe steht aber noch. »Du hast nicht getroffen«,<br />

sagt Joe. Will ich auch nicht mehr. Ich finde<br />

diese Waffe abscheulich, Joe findet mich jetzt europäisch-wehleidig<br />

und gibt mir, wie zur Beruhigung, noch<br />

einmal das Savage-Gewehr.<br />

Hey Joe, wäre ein wenig mehr Waffenkontrolle<br />

nicht doch sinnvoll? Nach dem Massaker in Aurora?<br />

Nach dem Anschlag eines Armeeveteranen zwei Wochen<br />

später in Wisconsin, der in einem Sikh-Tempel<br />

sechs Menschen erschoss? Nach den zwei Toten im<br />

New Yorker Empire State Building, wo am 25. August<br />

ein entlassener Modedesigner mit einer Schusswaffe<br />

durchdrehte? Nach dem Amoklauf drei Tage später<br />

eines Ex-Marines mit einer legal erworbenen Kalaschnikow,<br />

der in einem Supermarkt in New Jersey zwei<br />

Kollegen und dann sich selbst mit einer legal erworbenen<br />

Kalaschnikow tötete? »Du verstehst es einfach<br />

nicht«, sagt Joe. »Die Irren mit Waffen sind nicht das<br />

Problem der Waffenbesitzer.« Sondern? »Sie sind das<br />

Problem der Polizei.«<br />

Dann holt Joe noch ein AR-15-Modell aus dem<br />

Kofferraum. »Verbessertes Modell«, sagt er, »eigene<br />

Konstruktion.« Er hat das Gewehr mit einem Pump-<br />

Action-Mechanismus ausgestattet und möchte seine<br />

Erfindung jetzt in einem Videofilm auf YouTube vorstellen.<br />

Ob ich vielleicht die Kamera halten könnte?<br />

Das hat gerade noch gefehlt: <strong>ZEIT</strong>-Reporterin dreht<br />

Werbefilm für Sturmgewehr. Zum Glück klemmt das<br />

Ding, die Aufnahmen müssen verschoben werden.<br />

Schade, findet Joe. aber er hätte da noch was für<br />

mich, vorausgesetzt, ich könnte mich an das AR-15<br />

gewöhnen: ein zweitägiger Workshop, in dem man<br />

seine eigene AR-15 zusammenbauen kann. 300<br />

Dollar Gebühr plus Materialkosten, »mit 700 bis<br />

1000 Dollar musst du rechnen«. Aber dafür, sagt Joe,<br />

habe man dann sein persönliches Sturmgewehr. Etwas<br />

ganz Eigenes.<br />

Schusswaffen im<br />

Privatbesitz:<br />

300 Mio<br />

Quelle: NRI/Violence Policy Center


POLITIK<br />

Peking<br />

Es ist, als habe man dem Volkszorn einen<br />

Zoo gebaut, mit Zäunen und mit<br />

vielen Wärtern. Die Wutbürger marschieren<br />

in abgesteckten Bahnen vor<br />

der japanischen Botschaft auf und ab,<br />

beobachtet von Polizisten und Sondereinsatztruppen,<br />

am Himmel kreist ein Helikopter. Tausende<br />

protestieren hier, das Spektrum reicht vom<br />

Wanderarbeiter mit gelbem Bauhelm bis zur wie<br />

für einen Auftritt geschminkten Studentin.<br />

Es ist Dienstag, der 18. September, Jahrestag<br />

der japanischen Invasion Chinas 1931. Immer<br />

schon ein bitteres Datum, aber heute geht es<br />

um die Gegenwart, um einige winzige Inseln im<br />

Ostchinesischen Meer, wegen derer sich China<br />

und Japan gerade am Rand eines militärischen<br />

Konfliktes bewegen.<br />

»Die Diaoyu-Inseln sind unser«, rufen die<br />

Demonstranten. »Erklärt Japan den Krieg!« –<br />

»Nur mit den Gedanken des Großen Vorsitzenden<br />

werden wir Japan schlagen können«, steht<br />

auf einem Mao-Poster. »Massakriert Tokio!«,<br />

heißt es auf einem anderen Plakat. »Boykottiert<br />

japanische Waren!« Andere appellieren weniger<br />

martialisch an den »rationalen Patriotismus«.<br />

So heißt die offizielle Protesthaltung, ausgegeben<br />

von der chinesischen Regierung, nachdem<br />

es am Wochenende bei Demonstrationen in 85<br />

Städten zu Ausschreitungen gekommen war.<br />

Japaner wurden verprügelt, japanische Autos<br />

und Geschäfte demoliert, eine Toyota-Niederlassung<br />

in Tsingtao ging in Flammen auf. Die<br />

neue Praxis der staatlichen Zornkontrolle beobachtete<br />

die Hongkonger Zeitung Ming Pao<br />

am Wochenende, als Zivilpolizisten dem Demonstrationsvolk<br />

die Regeln erklärten: »Wir<br />

wissen, dass ihr sehr wütend seid, doch da draußen<br />

warten eine Menge ausländischer Journalisten.<br />

Zeigt die Qualität chinesischer Bürger.<br />

Singt die Nationalhymne. Lacht nicht, wenn<br />

ihr nicht lachen solltet. Und spielt nicht mit<br />

euren Handys.«<br />

Es sind die heftigsten antijapanischen Proteste,<br />

seit beide Länder im Jahr 1972 ihre Beziehungen<br />

normalisierten. Selbst die USA, die<br />

Chinas Streitigkeiten mit Nachbarn gern für<br />

ihre Zwecke nutzen, rufen zur Mäßigung<br />

auf. All das wegen einiger unbewohnter<br />

Inseln im Ostchinesischen Meer, die noch<br />

nicht einmal dem japanischen Staat, sondern<br />

einer Familie gehören?<br />

Senkaku nennen die Japaner die Inseln,<br />

Diaoyu heißen sie in China. Kontrolliert werden<br />

sie von Japan, was weder Peking noch Taiwan<br />

anerkennen. Die Chinesen bemühen Dokumente<br />

aus der Ming-Zeit, um ihre Ansprüche<br />

zu untermauern. Japan behauptet, sie 1884 entdeckt<br />

und keinerlei Spuren chinesischer Präsenz<br />

vorgefunden zu haben. Doch erst 1895, während<br />

des Ersten Japanisch-Chinesischen Krieges,<br />

verleibte sich Japan die Inseln ein. Nach der<br />

japanischen Kapitulation 1945 wurden sie von<br />

den USA kontrolliert, die sie 1972 an Japan zurückgaben<br />

– ohne dass die Souveränitätsfrage<br />

endgültig geklärt gewesen wäre. Ein heikler<br />

Schritt, zumal Öl- und Gasvorkommen in der<br />

Region vermutet werden.<br />

Doch Tokio und Peking verständigten sich<br />

prompt, dass der ungelöste Inselkonflikt die<br />

Beziehungen nicht belasten dürfte. Beide Seiten<br />

hielten sich daran – bis im Jahr 2010 ein chinesischer<br />

Fischer nahe der Inseln zwei japanische<br />

Patrouillenboote rammte. Wie betrunken der<br />

Mann war, ist bis heute umstritten. Jedenfalls<br />

löste seine Karambolage eine diplomatische Eskalation<br />

sondergleichen aus. Japan verhaftete<br />

den Seemann und weigerte sich, ihn auf Gesuch<br />

Chinas zu entlassen. Peking brach daraufhin<br />

die politischen Kontakte ab und stoppte<br />

den Export seltener Erden, welche der japanische<br />

Hightech-Sektor dringend benötigt. Eine<br />

Provokation gab die andere. Vergangene Woche<br />

schließlich kaufte die japanische Regierung der<br />

Familie die Inseln für 26 Millionen US-Dollar<br />

ab. Eigentlich eine Maßnahme der De es ka lation,<br />

denn die Regierung kam damit dem ultrarechten<br />

Gouverneur von Tokio als Käufer zuvor.<br />

Doch Peking und die chinesische Presse<br />

waren nicht mehr zu besänftigen.<br />

Sie wollen sich derzeit auch gar nicht besänftigen<br />

lassen. Die nationalistische Aufwallung<br />

kommt einer von Skandalen und Krisen geplagten<br />

Parteiführung durchaus gelegen, die zudem<br />

Winken von der Brücke<br />

Silvio Berlsuconi droht Italien mit einem Comeback. Vorher will er noch<br />

rasch den letzten unabhängigen Fernsehsender kaufen VON BIRGIT SCHÖNAU<br />

Rom<br />

Während seines Jurastudiums hatte Silvio<br />

Berlusconi auf Kreuzfahrtschiffen als<br />

Sänger gearbeitet, ein halbes Jahrhundert<br />

ist das her. Dass er jetzt nach Monaten in der<br />

politischen Versenkung auf der schneeweißen<br />

Divina (»die Göttliche«) sein Comeback verkünden<br />

wollte, erschien fast wie eine nostalgische<br />

Anwandlung: Mit 76 Jahren noch einmal dahin,<br />

wo alles begann, zu einem neuen Anfang. Daraus<br />

wurde nichts, was nicht nur daran lag, dass das<br />

Kreuzen auf dem Mittelmeer seit dem unrühmlichen<br />

Ende der Costa Concordia seinen Nimbus<br />

verloren hat. Auf der Divina reisten Leser des<br />

Berlusconi-Kampfblatts Il Giornale, die Kabine<br />

gab’s ab 980 Euro die Woche, den Ex-Premier als<br />

Stargast gratis dazu. Berlusconi schiffte sich in<br />

Venedig als Verheißung ein und ging in Bari als<br />

unerfülltes Versprechen von Bord. Denn selbst<br />

vor kleinem Publikum im Schiffstheater hatte er<br />

sich nicht durchringen können, seine Kandidatur<br />

für die Wahl im April 2013 anzukündigen.<br />

Halbherzig klang das Bekenntnis: »Ich fühle<br />

die Pflicht, zu verhindern, dass Italien der Linken<br />

anheimfällt.« Schal tönten die üblichen Wahlversprechen:<br />

Steuern senken, die neue Immobiliensteuer<br />

ganz abschaffen, »denn das Eigenheim ist<br />

das Fundament der italienischen Familie«. Montis<br />

Sparpolitik aber verhindere Wachstum und<br />

treibe Italien in die Rezession. Schuld daran seien<br />

jene Deutschen, die verhindern, dass die EZB<br />

»endlich Geld drucken kann«. Die deutsche<br />

Sparsucht laste auf Italien »wie ein Stein«.<br />

Während der Patriarch des »Freiheitsvolkes«<br />

gegen den Fiskalpakt wettert, haben seine Parlamentarier<br />

noch jedes Spargesetz der Regierung<br />

verabschiedet. Seit Berlusconis Rücktritt vor<br />

zehn Monaten unterstützt Parteisekretär Angelino<br />

Alfano den parteilosen Mario Monti im Verein<br />

mit dem Demokraten-Chef Pierluigi Bersani,<br />

einem Ex-Kommunisten.<br />

Alfano sei »der beste Politiker Italiens«, lobte<br />

Berlusconi vom Kreuzfahrtschiff. »Ich liebe ihn wie<br />

ein Vater seinen Sohn, und er bringt mir die Liebe<br />

eines Sohnes entgegen.« Demütig verharrt der<br />

41-Jährige Sizilianer in Wartestellung, bis sein Chef<br />

über die Kandidatur entscheidet. Wenn die Umfragewerte<br />

weiter im Keller bleiben, ist der getreue<br />

Vasall Alfano dran. Oder wenn das Mitte-Links-<br />

Bündnis tatsächlich Matteo Renzi, den jungen<br />

populären Bürgermeister von Florenz, als Kandidaten<br />

aufstellen würde: Gegen einen 37-jährigen<br />

würde Berlusconi wohl kaum antreten.<br />

Renzi tourt derzeit im Vorwahlkampf mit einem<br />

Wohnmobil durchs Land, Berlusconi<br />

kommt gerade aus dem gemeinsamen Urlaub in<br />

Kenia mit seinem Freund Flavio Briatore, einem<br />

Sportmanager, der zwischen Glamour und Halbwelt<br />

zu Hause ist und nach einer Sperre durch<br />

den Formel-1-Dachverband FIA ebenfalls an<br />

seinem Comeback feilt.<br />

Berlusconi und Briatore, das war das Italien<br />

der unaufhaltsamen Aufstiege, der zwielichtigen<br />

Geschäfte und schillernden Partys. Ein Italien,<br />

das jetzt hinter den grauen Kulissen der Rezession<br />

verblasst. Briatore hat seinen Klub Billionaire an<br />

der Costa Smeralda auf Sardinien geschlossen,<br />

gerade noch rechtzeitig, bevor die sardischen<br />

Kohle- und Metallarbeiter aus Angst um ihre Arbeitsplätze<br />

vergangene Woche in Rom Krawall<br />

schlugen. Berlusconi wurde am vergangenen Freitag<br />

ebenfalls in der Hauptstadt zum Fest der<br />

rechtskonservativen Jugendorganisation Giovane<br />

Italia erwartet. Im letzten Moment sagte er ab,<br />

vielleicht um lästigen Fragen auszuweichen. In<br />

Latium, der Region um Rom, versinkt das dort<br />

mit Rechtsextremen regierende »Freiheitsvolk« in<br />

einem Skandal um veruntreute Millionen aus der<br />

Parteikasse. Berlusconi schweigt dazu. Er konzentriert<br />

sich im Moment auf eigene Geschäfte.<br />

Sein Fernsehunternehmen Mediaset will von<br />

Telecom Italia den Sender La 7 übernehmen, das<br />

letzte landesweite unabhängige Fernsehen in Italien.<br />

Zu La 7 sind viele kritische Journalisten abgewandert,<br />

die sich nun entsetzt sind angescihts einer<br />

möglichen Übernahme durch Berlusconi. Selbst der<br />

erzkonservative Austroamerikaner Rupert Murdoch<br />

wäre der Belegschaft von La 7 als neuer Besitzer<br />

lieber. Die Schlacht um den Sender wird zeigen, wie<br />

weit Silvio Berlusconis Macht in Italien noch reicht.<br />

Felsen der<br />

Schande<br />

Droht ein Krieg? China und Japan streiten sich um<br />

fünf unbewohnte Inseln. Der<br />

Führung in Peking kommt das sehr gelegen<br />

CHINA<br />

VON ANGELA KÖCKRITZ<br />

JAPAN<br />

noch den internen Machtwechsel vorbereiten<br />

muss. Bloß lassen sich solche Aufwallungen<br />

nicht einfach wieder abstellen –<br />

schon gar nicht, wenn es gegen Japan geht.<br />

Japan ist der Hauptaggressor im chinesischen<br />

Narrativ von den hundert Jahren nationaler<br />

Erniedrigung. Die Kriege, die es beschreibt,<br />

sind nicht erfunden, das Trauma, das diese auslösten,<br />

ebenso wenig. Da waren zunächst die verlorenen<br />

Opiumkriege gegen die Briten, die das<br />

Kaiserreich Mitte des 19. Jahrhunderts bezwangen<br />

und Chinas jahrtausendealtes Selbstbild, die<br />

einzige wirkliche Großmacht auf Erden zu sein,<br />

zerstörten. Dann besiegte Japan, ehemals Tributstaat,<br />

das Kaiserreich im Ersten Japanisch-chinesischen<br />

Krieg von 1894 bis 1895 – und marschierte<br />

einige Jahrzehnte später auch noch in<br />

China ein. Der antijapanische Widerstandskampf<br />

während des Zweiten Weltkriegs war in<br />

gewisser Weise die Geburtsstunde der Volksrepublik.<br />

Erst durch den Widerstand konnten die<br />

Kommunisten die Sympathie der Massen gewinnen,<br />

die sie später zum Sieg gegen die Kuomintang<br />

tragen sollte. »Die Japaner besiegen und die<br />

Nation retten« wurde zum Gründungsmythos<br />

des jungen kommunistischen Staates. Mao befreite<br />

die Na tion aus den Ketten fremder Unterdrücker,<br />

er beendete das »Jahrhundert nationaler<br />

Erniedrigung« – auch wenn später Millionen im<br />

Zuge ihrer »Befreiung« ihr Leben lassen sollten.<br />

Den Nationalismus anzufächeln, hat sich für<br />

die Partei immer wieder als nützliche Strategie<br />

erwiesen. Nach dem Massaker 1989 auf dem<br />

Tiananmen-Platz bekämpfte die KP den öffentlichen<br />

Schock erfolgreich mit einem Trauerverbot<br />

für die erschossenen Demonstranten – und<br />

mit verordnetem Gedenken an die Opfer der<br />

Opiumkriege und der japanischen Invasion.<br />

Nun also der Kampf um Diaoyu mit den Mitteln<br />

des »rationalen Patriotismus«. Zu denen zählen<br />

offenbar auch sechs chinesische Patrouillenboote,<br />

die mit 1000 Fischkuttern im Schlepptau<br />

auf dem Weg zu den umstrittenen Inseln sind.<br />

Das zieht Aufmerksamkeit ab von dem immer<br />

noch nicht ausgestandenen Politskandal um den<br />

ehrgeizigen Provinzfürsten Bo Xilai, dessen Frau<br />

gerade wegen Mordes an einem britischen Ge-<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 9<br />

schäftsmann verurteilt wurde. Und vom Sohn<br />

eines Spitzenpolitikers, der kürzlich unbekleidet<br />

im Sportwagen und in Begleitung zweier halbnackter<br />

Frauen in den Tod raste. Schließlich verschwand<br />

auch noch der designierte Präsident Xi<br />

Jinping zwei Wochen lang von der Bildfläche.<br />

Das patriotische Theater lenkt nicht nur das Volk<br />

ab, es soll auch die Armee beschäftigt halten. Einige<br />

hochrangige Militärs gelten als Verbündete<br />

des gefallenen Provinzfürsten Bo, da kann es<br />

nicht schaden, etwaige unzufriedene Gemüter<br />

mit ein wenig Säbelrasseln zu beruhigen.<br />

Und doch hat der Nationalismus längst eine<br />

eigene Dynamik entwickelt, in der die Partei<br />

nicht mehr nur Antreiber, sondern manchmal<br />

auch Getriebener ist. Inzwischen hat sich ein patriotischer<br />

Diskurs gebildet sowie eine nationalistische<br />

Gemeinde, die Websites betreibt, politischen<br />

Druck ausübt und bisweilen der Regierung<br />

ihren Willen aufzwingt.<br />

Genau das macht das nationale Motiv der<br />

kollektiven Erniedrigung so gefährlich. Japan<br />

gibt den Chinesen dabei reichlich Anlass, sich zu<br />

empören. Die japanische Regierung entschuldigte<br />

sich nur zögerlich für die Gräueltaten während<br />

der Besatzung, die japanische Rechte bohrt bis<br />

heute gern in den chinesischen Wunden. Aber<br />

die ewige chinesische Propaganda von der historischen<br />

»Erniedrigung« provoziert gefährliche<br />

Rachebedürfnisse. »Sollte es einen neuen Krieg<br />

zwischen China und Japan geben«, schrieb unlängst<br />

die parteinahe Global Times, »muss es ein<br />

Krieg sein, durch den das chinesische Volk die<br />

Schande des vergangenen Jahrhunderts psychologisch<br />

reinwaschen kann.« Territoriale Kompromisse<br />

zugunsten Japans, so die Zeitung, würden<br />

China »doppelte Schande bringen«.<br />

Weder Peking noch Tokio wollen Krieg. Aber<br />

beide Seiten haben den Konflikt so weit eskalieren<br />

lassen, dass ein ungeplanter Zwischenfall –<br />

und sei es nur wieder ein betrunkener Fischer –<br />

unkontrollierbare Folgen haben könnte. Eine<br />

Demonstration kann man einzäunen. Den geballten<br />

Volkszorn eines ganzen Landes womöglich<br />

nicht.<br />

A www.zeit.de/audio


Foto: Vera Tammen für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong><br />

10 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

<strong>ZEIT</strong>GEIST<br />

Botschaftsterror<br />

JOSEF JOFFE: Wenn es doch nur um<br />

verletzte religiöse Ehre ginge<br />

Früher entsandten Großmächte die Flotte, um<br />

ihre Botschaften zu schützen – etwa während des<br />

Boxeraufstandes anno 1900. Heute twittern die<br />

belagerten Diplomaten Entschuldigungen an ihre<br />

Peiniger – so geschehen in Kairo, wo der Mob die<br />

US-Vertretung wegen eines boshaften Mohammed-Films<br />

attackierte. In Bengasi trugen die Filmkritiker<br />

den Tod ins US-Konsulat.<br />

Die Abbitten zeigten, dass die Berufsaußenpolitiker<br />

den Kern der Sache nicht verstanden<br />

hatten. Es geht nicht um verletzte Gefühle, sondern<br />

um die kalte Macht, und zwar sowohl im<br />

Zivilisationskrieg gegen den Westen als auch im<br />

Binnenkrieg gegen eine stockende demokratische<br />

Revolution. In ihrer Panik waren die Twitter-<br />

Diplo ma ten in eine vertraute Falle gelaufen, die<br />

zuerst von Ajatollah Chomeini 1989 aufgestellt<br />

worden war. Der hatte die Todesfatwa gegen Salman<br />

Rushdie ein Jahr (!) nach Erscheinen der<br />

Sata ni schen Verse verhängt. Der »spontane« Wutausbruch<br />

war zynisch kalkulierte Machtpolitik.<br />

Der sterbende Chomeini wollte eine ermüdete islamische<br />

Revolution nach einem blutigen, aber<br />

unentschiedenen Acht-Jahre-Krieg gegen den Irak<br />

wiederbeleben.<br />

Auch die nächsten Etappen im Kampf der Kulturen<br />

waren organisiert. Der mörderische Aufruhr<br />

von 2005 gegen die Mohammed-Karikaturen in<br />

der dänischen Jyllands-Posten brach Monate nach<br />

deren Veröffentlichung aus. »Unschuld der Muslime«<br />

wurde zu Jahresbeginn in Hollywood gezeigt;<br />

schon im Juli erschien der Trailer im Netz. Allein<br />

das Datum der Wutkampagne – der Jahrestag von<br />

9/11 – ließ erkennen, dass die verletzte Religionsehre<br />

bloß ein Mittel zum Zweck war. Die deutsche<br />

Botschaft im Sudan? Die Attacke wurde als »spontane«<br />

Bestrafung der Kanzlerin verbrämt, die vor<br />

zwei Jahren die Zivilcourage des dänischen Karikaturisten<br />

Westergaard gelobt hatte.<br />

Ein jedes Mal bricht hernach der Gewissenskampf<br />

im Westen aus: Wiegt nicht der Respekt<br />

vor religiösen Empfindlichkeiten schwerer als die<br />

Josef Joffe ist<br />

Herausgeber der <strong>ZEIT</strong><br />

Meinungsfreiheit? Vielleicht, wenn es doch nur<br />

um Rücksicht ginge. Bedenkt man allerdings, wie<br />

viel Hass und Gemeinheit im Netz stehen, und<br />

zwar nicht nur gegen den Islam, wäre ein weltweiter<br />

Kontrollmechanismus vonnöten, der die<br />

Totalitären des 20. Jahrhunderts vor Neid erblassen<br />

ließe. Die Flotte zu entsenden geht auch nicht,<br />

weil der Kulturkampf just jene demokratischen<br />

Kräfte bedroht, die unser Wohlwollen verdienen.<br />

Die Schwäche dieser Regime ist die Stärke des<br />

Terrorismus. Und dennoch können wir die Mursis<br />

dieser Welt nicht aus ihrer Pflicht entlassen: Die<br />

Sicherheit von Botschaften ist heilig, sonst ist es<br />

vorbei mit dem zivilen Umgang der Staaten. Der<br />

ägyptische Präsident hat schändlich lange gezögert,<br />

bevor er die Polizei mobilisierte. Dito die libysche<br />

Staatsmacht. Human Rights Watch hat die richtige<br />

Frage gestellt: Diese Regierungen »müssen sich<br />

entscheiden. Wollen sie mit der Außenwelt verbunden<br />

bleiben oder einer Minderheit im eigenen<br />

Land erlauben, das zu vereiteln?«<br />

Wenn die Wut Programm ist, helfen Entschuldigungen<br />

nicht. Mursi und Kollegen haben eine<br />

Bringschuld, die so schwer nicht zu begleichen ist,<br />

weil die dem eigenen Interesse dient.<br />

DURCHSCHAUEN SIE JEDEN TAG.<br />

Foto: Youssef Boudlal/Reuters<br />

BÜRGERKRIEG<br />

Syriens schwieriges Erbe<br />

Syrien-Schwerpunkt auf <strong>ZEIT</strong> ONLINE:<br />

Wie das Assad-Regime Syriens zersplitterte<br />

Gesellschaft kontrolliert. Außerdem: Ein<br />

Gastbeitrag der Ex-Star-Moderatorin Honey<br />

Al-Sayed, die fürchtet, dass der Krieg ihr<br />

Land spaltet<br />

www.zeit.de/ausland<br />

MEINUNG<br />

Foto: Vincent Kessler/Reuters<br />

Foto: Scott Houston/Polaris/StudioX (der episkupale Bischof George Packard nimmt am Jahrestag der »Occupy Wall Street« teil; NYC; 17.09.<strong>2012</strong>)<br />

Sieht links aus, ist aber nur gerecht<br />

In der Koalition wehren sich viele gegen den Rentenzuschuss. Zu Unrecht VON ELISABETH NIEJAHR<br />

Diese Rechnung schaffen schon Grundschulkinder:<br />

Wer monatlich 2000 Euro brutto verdient<br />

und fest angestellt ist, muss knapp 200<br />

Euro in die Rentenversicherung einbezahlen.<br />

Wer 1500 bekommt, gibt etwa 150 Euro ab.<br />

Früher einmal mussten Bürger den sprichwörtlichen<br />

»Zehnten« ihres Einkommens an<br />

Fürsten oder Lehensherren abgeben. Heute<br />

bekommt die Rentenversicherung in etwa so<br />

viel. Jedenfalls, solange der Beitragssatz bei<br />

19,6 Prozent liegt und die Hälfte der Kosten<br />

der Arbeitgeber trägt.<br />

200 Euro pro Monat – das lässt sich leicht<br />

in Urlaubsreisen, in neue Autos oder Möbel<br />

umrechnen, und viele Beschäftigte haben<br />

Grund, solche Rechnungen mit Wut, manchmal<br />

sogar mit Verzweiflung anzustellen. Für<br />

ganze Bevölkerungsgruppen ist der größte<br />

und wichtigste Zweig des Sozialstaats eine Zumutung.<br />

Wer heute eine sozialversicherungspflichtige<br />

2000-Euro-Stelle hat, bekommt<br />

nach vierzig Berufsjahren weniger Rente, als<br />

ein Sozialhilfeempfänger vom Staat erhält.<br />

Die alte Arbeiterversicherung versagt ausgerechnet<br />

beim Schutz der kleinen Leute, bei<br />

der Klientel also, für die sie einst erfunden<br />

wurde. Für Millionen von Geringverdienern,<br />

für Friseurinnen oder Supermarkt-Kassiererinnen,<br />

für Wachdienstler oder Floristen ist<br />

die gesetzliche Rentenversicherung ein extrem<br />

schlechtes Geschäft.<br />

Trotzdem gibt es in den Regierungsparteien<br />

große Vorbehalte gegen alle Vorschläge,<br />

wonach die Rente von Geringverdienern vom<br />

Staat aufgestockt werden könnte. Leistung soll<br />

sich lohnen – das ist das wichtigste Argument<br />

MICHAEL HANEKE<br />

Wie weit kann Liebe gehen?<br />

Der Partner wird zum Pflegefall. Man<br />

sieht ihn leiden und leidet mit. Diesem<br />

Thema widmet sich Regisseur Michael<br />

Haneke in seinem neuen Film »Liebe«. Im<br />

Interview erzählt er, wie er sich einmal in<br />

einer ähnlichen Situation entschieden hat<br />

www.zeit.de/film<br />

Foto: Revolver Promotion<br />

der Skeptiker. Wer viel einzahlt, soll im Alter<br />

mehr bekommen als jemand, der nur wenig<br />

Geld überweisen kann.<br />

Nur: Was eigentlich ist mit der Leistung<br />

derer, die für wenig Geld hart arbeiten und<br />

trotzdem nichts zu erwarten haben? Sie erleben<br />

den Sozialstaat als unfaire Umverteilungsmaschine,<br />

die unten nimmt und oben gibt.<br />

Der Staat zwingt sie in ein unattraktives System.<br />

Eigentlich müssten sich gerade die liberalen<br />

Kritiker, die das Prinzip von Leistung und<br />

Gegenleistung hochhalten, darüber aufregen.<br />

Mit staatlichen Rentenzuschüssen für Geringverdiener,<br />

egal, ob man sie Zuschussrente<br />

(CDU) oder Solidarrente (SPD) nennt, verhält<br />

es sich ähnlich wie mit gesetzlichen Mindestlöhnen:<br />

klingt links, passt aber bei genauerem<br />

Hinsehen hervorragend zum Gedankengut<br />

klassischer Ordnungspolitiker. Beide Instrumente,<br />

Mindestlöhne und Zuschussrenten,<br />

sollen dafür sorgen, dass Anstrengung<br />

honoriert wird, wer sie einführt, ist ein Freund<br />

der Fleißigen. Nur wenn man es übertreibt,<br />

wenn Mindestlöhne und Rentenzuschüsse zu<br />

hoch sind, ist der eigentliche Zweck in Gefahr.<br />

Die Prinzipien der Rentenversicherung,<br />

wonach die Rentenhöhe exakt dem Beitrag<br />

folgt, dürften nicht erschüttert werden, warnen<br />

Kritiker. Als hätten diese Regeln jemals in<br />

Reinform gegolten! Im deutschen Rentensystem<br />

wurde immer kräftig ergänzt und aufgestockt,<br />

zugunsten von Kriegsopfern, Müttern<br />

oder eben, zwanzig Jahre lang, von Geringverdienern.<br />

»Rente nach Mindesteinkommen«<br />

nannte man das früher. 1992 wurde diese Regelung<br />

für Einkommensschwache abgeschafft.<br />

Die Sozialpolitiker von CDU und SPD wollen<br />

sie seit Jahren wiederbeleben, weil sie sehen,<br />

wie stark die Zahl der Niedriglöhner<br />

neuerdings steigt. Für sie müsse der Staat am<br />

Ende vermutlich ohnehin zahlen, heißt es,<br />

weil die Rente nicht zum Leben reiche.<br />

Lange galt das Problem der Altersarmut in<br />

Deutschland als gelöst. Vor allem die Wohlhabenden<br />

und die Jungen protestierten gegen<br />

das gesetzliche Rentensystem. Die einen wollten<br />

höhere Renditen für ihre Ersparnisse, die<br />

anderen sahen sich als Verlierer einer alternden<br />

Gesellschaft, die viel zahlen mussten und wenig<br />

zu erwarten hatten.<br />

Darauf reagierten die Rentenreformer der<br />

Regierung Schröder, sie führten die private<br />

Riester-Rente ein und senkten die Beiträge –<br />

aber auch die Leistungen. Im Jahr 2030 wird<br />

das Rentenniveau in Deutschland niedriger<br />

sein als in den meisten anderen Industrieländern,<br />

Deutschland gehört dann zum unteren<br />

Drittel. Die Geringverdiener von heute sind<br />

die neuen Verlierer des Rentensystems.<br />

Natürlich kann sich noch einiges zum Besseren<br />

ändern. Weil die Konjunktur zuletzt so<br />

gut lief, sind die Renten im vergangenen Jahr<br />

sogar stärker gestiegen als die Löhne. Es wird<br />

bald mehr Erben und mehr Rentnerhaushalte<br />

mit zwei Einkommen geben. All das wird in<br />

vielen Fällen gegen Notlagen helfen – es ändert<br />

aber nichts an der Ungerechtigkeit des<br />

größten staatlichen Versicherungssystems.<br />

Ganz unabhängig davon, wie schlimm die Altersarmut<br />

am Ende ausfällt: Der Sozialstaat<br />

muss faire Bedingungen bieten für alle, die er<br />

zum Mitmachen zwingt.<br />

HEUTE: 17.9.<strong>2012</strong><br />

Gottes Macht<br />

BERLINER BÜHNE<br />

POLITIK<br />

George Packard sieht aus, als sei er<br />

gerade vom Himmel in die Niederungen<br />

der Menschheit, des Kapitalismus<br />

und des New Yorker<br />

Bankenviertels herabgestiegen.<br />

Sein Gesicht leuchtet, die Hochhäuser<br />

Manhattans verschwinden<br />

grau und klein im Hintergrund.<br />

Packard ist Bischof im Ruhestand<br />

und Occupy-Anhänger, der seinen<br />

eigenen Blog betreibt.<br />

Als junger Mann kämpfte<br />

Packard in Vietnam, später war er<br />

Militärpfarrer im Irak. Demonstrationen<br />

mit viel Polizei können<br />

ihn nicht schrecken. Zweimal<br />

schon wurde er bei Occupy-Protesten<br />

festgenommen. Am Abend<br />

dieses ersten Jahrestags der Bewegung<br />

wird es einmal mehr sein.<br />

Occupy-Button und Kreuz gehören<br />

für Packard zusammen.<br />

Sein Blick schweift sorgenvoll in<br />

die Ferne, sorgenvoll, als habe er<br />

am Horizont einen Banker erspäht,<br />

den er zur Umkehr aufrufen<br />

muss. MEI<br />

Shitstopp ohne SPD<br />

Piraten wollen sich besser benehmen,<br />

Sozialdemokraten schleichen weiter<br />

Johannes Ponader, der Pirat, der stets mit gezücktem<br />

Smartphone und in abgewetzten Jesuslatschen<br />

die TV-Plauderstunden der Republik heimsucht,<br />

möchte eine Shitstopp-Kultur im Internet etablieren.<br />

Wir begrüßen das sehr, wenngleich wir uns<br />

auch eine Ponader-Stopp-Kultur im TV gut vorstellen<br />

könnten. Oder gar eine Plauderstunden-<br />

Stopp-Kultur in der TV-Republik, ein sogenanntes<br />

Jauch-out.<br />

Mit seinem Shitstopp will Ponada die unablässig<br />

tobenden Shitstorms beenden, mit denen Piraten<br />

und andere, die nicht wissen, wo man sich<br />

verbal die Nase pudert, die virtuellen Räume des<br />

Anstands sprachlich verunreinigen. Wir haben bereits<br />

einen ersten Stopp-Tipp: Sobald der gemeine<br />

User seinen Computer einschaltet, taucht umgehend<br />

ein Warnhinweis auf: »Verlassen Sie das Internet<br />

bitte so, wie Sie es vorgefunden haben.«<br />

Die Sozialdemokraten, um zu einem Shitstopp<br />

der anderen Art zu kommen, verlassen im Herbst<br />

2013 den Wahlkampf wohl auch so, wie sie ihn im<br />

Sommer vorfinden werden: SPD-Kanzler-frei. Im<br />

Kandidatenrennen, so hieß es zu Wochenbeginn<br />

in Berlin, sei Sigmar Gabriel ausgestiegen, Frank-<br />

Walter Steinmeier und Peer Steinbrück würden bis<br />

zu einem Parteitag im Dezember freundschaftlich<br />

entscheiden, wer gegen Angela Merkel antritt.<br />

Hier sind gleich vier Fehler versteckt: Es gibt keinen<br />

Parteitag im Dezember, es gibt keine Freundschaft,<br />

Gabriel bleibt dabei. Und die Kandidaten<br />

rennen nicht: Sie schleichen. Shitstopp? Im Gegenteil.<br />

The shit must go on. PETER DAUSEND<br />

POLITIK WIRTSCHAFT MEINUNG GESELLSCHAFT KULTUR WISSEN DIGITAL STUDIUM KARRIERE LEBENSART REISEN AUTO SPORT<br />

VIDEO<br />

Musique pop acoustique<br />

Lippen so rot und Sommerwind unterm<br />

Rock: Das Pariser Popduo Brigitte hat aus<br />

den schönsten Frankreichklischees ein<br />

tolles Debütalbum gemacht. Wir luden<br />

die Damen ein zur Akustiksession vor<br />

dem Rekorder. La vie est belle!<br />

www.zeit.de/musik<br />

Foto: dpa<br />

PRIVATUNIS<br />

EBS unter Beschuss<br />

Das Land Hessen fördert die European<br />

Business School mit Millionensummen.<br />

Trotzdem muss sich die Privatuni gegen<br />

Gerüchte wehren, sie stehe vor der Pleite.<br />

Nun wird der Ruf nach einem parlamentarischen<br />

Untersuchungsausschuss laut<br />

www.zeit.de/studium<br />

www.zeit.de<br />

Wohndesign-Blog<br />

»Freunde von Freunden« gewährt Einblick in<br />

die Wohnzimmer von Kreativen. Wir zeigen<br />

jede Woche eine exklusive Auswahl<br />

www.zeit.de/freunde-von-freunden<br />

<strong>ZEIT</strong> ONLINE auf Facebook<br />

Werden Sie einer von über 106.000 Fans von<br />

<strong>ZEIT</strong> ONLINE auf Facebook und diskutieren<br />

Sie aktuelle Themen mit uns<br />

www.facebook.com/zeitonline<br />

<strong>ZEIT</strong> ONLINE twittert<br />

Folgen Sie <strong>ZEIT</strong> ONLINE auf twitter.com,<br />

so wie schon mehr als 182.000 Follower. Sie<br />

erhalten ausgewählte Hinweise aus dem Netz<br />

www.twitter.com/zeitonline<br />

Briefkasten-Zertifikat<br />

SHA1-Fingerprint: 8F A6 19 69 0E 7E D5<br />

3B 9F 75 4B 09 6A 4E 35 4A 8C 54 CE 2F<br />

Wie Sie diesen Fingerprint nutzen, lesen Sie<br />

hier www.zeit.de/briefkasten


POLITIK<br />

DAMALS: 18.11.2011<br />

Staatsmacht<br />

Die Occupy-Bewegung ist gerade<br />

zwei Monate alt, als die Staatsmacht<br />

ausholt. An der Universität<br />

von Davis, Kalifornien, demonstrieren<br />

Studenten mit einer Sitzblockade<br />

gegen höhere Studiengebühren.<br />

Da kommt ein Polizist<br />

mit einer Dose Pfefferspray. Er<br />

schreitet die Reihe ab und sprüht<br />

in die Gesichter – so lässig, als<br />

gieße er den Rasen oder das Gemüsebeet.<br />

Der Polizist trägt Schutzhelm<br />

und Pistole, er schaut runter auf<br />

ein Häuflein Jeanshosen, eilig<br />

über den Kopf gezogener Kapuzen<br />

und nackte Fußknöchel. Einen<br />

Brillenträger trifft er mitten<br />

ins Gesicht. Die Studenten am<br />

Rand filmen ihn. Und so geht<br />

das Bild des brutalen Polizisten<br />

um die Welt, schließlich verliert<br />

er seinen Job. Im Internet tauchen<br />

Tausende Karikaturen auf,<br />

die den »Pfefferspray-Cop« verhöhnen.<br />

Von da an gehen die<br />

Proteste erst richtig los. MEI<br />

Sparen ruiniert uns alle<br />

Die deutsche Politik führt Europa in die Katastrophe VON LAURENT JOFFRIN<br />

Die öffentliche Meinung in Deutschland fordert<br />

von allen europäischen Ländern harte<br />

Budgetdisziplin. Das ist vollkommen verständlich.<br />

Die Bundesrepublik hat zehn Jahre lang<br />

schmerzhafte Reformen umgesetzt, die soziale<br />

Errungenschaften infrage stellten und für einen<br />

bedeutenden Teil der Bevölkerung Einkommensverluste<br />

mit sich brachten. Und tatsächlich,<br />

nach dieser spektakulären Anstrengung<br />

fasste die deutsche Wirtschaft wieder<br />

Tritt. Die Finanzen gesundeten, die Arbeitslosenrate<br />

sank.<br />

Angesichts dieses Erfolgs, für den sie hart<br />

gearbeitet haben, verstehen die Deutschen<br />

nicht, wieso sie jetzt Länder subventionieren<br />

sollten, die vergleichbare Anstrengungen verweigert<br />

hatten und stattdessen den leichteren<br />

Weg gingen: den in die Verschuldung. Mit<br />

größtem Misstrauen blicken die Deutschen<br />

jetzt auf Europas Süden und seine Forderungen,<br />

von denen sie fürchten, dass sie die Geldstabilität<br />

der Union gefährden könnten. Sie erinnern<br />

sich auch gut an die feierlich auf EU-<br />

Gipfeln gegebenen Versprechen einiger europäischer<br />

Spitzenpolitiker: Kaum<br />

waren die Regierungsvertreter<br />

wieder in ihre Länder zurückgekehrt,<br />

war alles vergessen.<br />

Und doch: Diese logische,<br />

rationale, gerechtfertigte Haltung<br />

führt geradewegs in die<br />

Katastrophe.<br />

Die in Europa praktizierte<br />

Sparpolitik wirkt zerstörerisch.<br />

Simultan – und oft brutal – umgesetzt,<br />

drosselt sie auf dem gesamten<br />

Kontinent die Nachfrage.<br />

Die wirtschaftliche Aktivität<br />

erliegt, die Zahl der Pleiten<br />

nimmt zu, die Gewinne<br />

schrumpfen, und währenddessen<br />

wächst die Arbeitslosigkeit:<br />

Es gibt Länder, in denen sie<br />

mehr als 20 Prozent der Bevölkerung<br />

erfasst hat. In einigen Südländern ist die<br />

Hälfte der Jugendlichen im arbeitsfähigen Alter<br />

beschäftigungslos. Die wirtschaftliche Paralyse<br />

reduziert wiederum die Einnahmen aus Steuern<br />

und Sozialabgaben. Und das in einem Maße,<br />

dass die Sparpolitik just die gegenteilige Wirkung<br />

erzielt als die angestrebte: Anstatt die Defizite<br />

zu verringern, vergrößert sie diese.<br />

Das deutlichste Beispiel für den perversen<br />

Effekt der Austeritätspolitik bietet Portugal.<br />

Nachdem das Land mit Eifer die europäischen<br />

Empfehlungen umgesetzt und alle geforderten<br />

Strukturreformen verwirklicht hatte, auch die<br />

schmerzlichsten, musste die Regierung in Lissabon<br />

feststellen, dass ihr Budgetdefizit sogar noch<br />

gewachsen war und ihre Verschuldung eine atemberaubende<br />

Höhe erreicht hatte.<br />

Mit anderen Worten: Austeritätspolitik<br />

bringt die Gefahr mit sich, dass die europäischen<br />

Patienten geheilt sterben.<br />

Die Rezession, die sich auf dem Kontinent<br />

auszubreiten beginnt, wird überdies politische<br />

Auswirkungen haben. Schon jetzt wenden sich<br />

die Völker mehr und mehr von einer Politik ab,<br />

von der sie meinen, dass sie ihnen von Brüssel<br />

oder Berlin aufgezwungen wird. Jeder weiß,<br />

dass der derzeit diskutierte Fiskalpakt, der von<br />

den Unterzeichnern eine Schuldenbremse verlangt<br />

und europäische Kontrollmechanismen<br />

LAURENT JOFFRIN,<br />

geboren 1952, ist<br />

Chefredakteur der<br />

führenden französischen<br />

Wochenzeitschrift »Le<br />

Nouvel Observateur«<br />

und Verfasser mehrerer<br />

Romane und Sachbücher<br />

für die Budgetdisziplin vorsieht, in etlichen<br />

Ländern abgelehnt werden würde, legte man<br />

ihn zur Ratifizierung den Bürgern und nicht<br />

den Parlamenten vor. Wahrscheinlich geben die<br />

Antieuropäer bereits die Mehrheitsstimmung in<br />

diesen Zeiten der Krise wieder. Extreme Parteien<br />

sehen sich ermutigt. In Frankreich streifte<br />

der nationalistische Front National in den<br />

jüngsten Präsidentschaftswahlen die 20 Prozent,<br />

während die extreme Linke auf mehr als<br />

zehn Prozent kam; der Anteil der Franzosen, die<br />

das europäische System in seiner jetzigen Form<br />

radikal ablehnen, beträgt mithin ein Drittel der<br />

Bevölkerung. Vergleichbare Phänomene werden<br />

in zahlreichen Ländern der Europäischen<br />

Union beobachtet.<br />

Deshalb stehen die Deutschen vor einer<br />

doppelten Bedrohung. Erstens wird ihre Wirtschaft,<br />

die vom Export in den europäischen<br />

Raum abhängt, direkt von der europaweiten<br />

Rezession bedroht. Indem sie von sparunwilligen<br />

Ländern Austeritätspolitik verlangt, bestraft<br />

sich die Bundesrepublik also selbst. Ein<br />

erfolgreiches Deutschland inmitten eines ruinierten<br />

Europas? Das wäre<br />

nicht möglich. Zweitens aber<br />

droht auch politische Gefahr.<br />

Die Existenz des Euro wäre infrage<br />

gestellt, würde er für die<br />

Bevölkerung der Südländer<br />

zum Symbol der sozialen Opfer<br />

und Leiden; der Auftrieb nationalistischer<br />

Parteien würde<br />

dann jene politische Union gefährden,<br />

die mehrere europäische<br />

Generationen, namentlich<br />

Deutsche und Franzosen, mit<br />

so viel Mühe aufgebaut hatten.<br />

Doch es gibt einen Ausgang<br />

aus diesem vertrackten Labyrinth.<br />

Europa kann und muss<br />

auf die Rezession reagieren:<br />

Wachstumspolitik ist jetzt das<br />

dringendste Gebot, mehr als<br />

Sparpolitik. Nicht dass auf seriöse Budgetpolitik<br />

verzichtet werden soll, nein, das Vertrauen<br />

der Märkte in die europäischen Regierungen<br />

muss wiederhergestellt werden. Eine machtvolle<br />

Konjunkturpolitik ist notwendig, und es<br />

liegt an Brüssel, sie zu beschließen. Nur sofortiges,<br />

gemeinsames Handeln auf kontinentaler<br />

Ebene kann eine dramatische Rezession verhindern,<br />

die Europa in den Ruin treibt.<br />

Wie das bezahlt werden soll? Durch Kredite<br />

der Zentralbank für die EU und nicht bloß<br />

für die Banken. In einer schrumpfenden Wirtschaft<br />

gibt es schließlich kein Inflationsrisiko.<br />

Es ist an der Zeit, dass die Europäische Zentralbank<br />

ihre Verantwortung für das Wachstum<br />

so wahrnimmt, wie es alle Zentralbanken<br />

der Welt tun – und wie es ja auch Mario Draghi<br />

zu tun beginnt, indem er Staatsanleihen<br />

gefährdeter Länder auf dem Sekundärmarkt<br />

kauft. Eine solche Politik der monetären Expansion,<br />

gewiss gesteuert und kontrolliert, ist<br />

der einzige Rettungsanker für einen Kontinent,<br />

der von einer Krise wie im Jahr 1929 bedroht<br />

wird. Muss man dafür Dogmen opfern?<br />

Unbedingt. Außergewöhnliche Probleme lassen<br />

sich nun einmal nie mit gewöhnlichen<br />

Mitteln lösen.<br />

Aus dem Französischen von GERO VON RANDOW<br />

15, die Kanzler werden wollen<br />

Revolte bei den Grünen: Die Männer wollen wieder wer sein<br />

Dass das Verdrängte unerledigt wiederkehrt, ist<br />

ein aus der Psychoanalyse bekannter Phänomen,<br />

das nun auch bei den Grünen auftritt. Die Grünen<br />

halten sich viel zugute auf ihre Kultur der<br />

Frauenförderung: KandidatInnen-, ja selbst RednerInnenlisten<br />

sind quotiert, wichtige Parteiämter<br />

werden traditionell doppelt besetzt, nur Joschka<br />

Fischer war sozusagen eine übergeschlechtliche<br />

Notwendigkeit.<br />

Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen.<br />

Nun kehrt das Verdrängte zurück – in Gestalt von<br />

Thomas Austermann, Patrick Held, Nico Hybbeneth,<br />

Roger Jörg Kuchenreuther, Alfred Mayer,<br />

Markus Meister, Friedrich Wilhelm Merck, Hans-<br />

Jörg Schaller, Franz Spitzenberger, Werner Wink-<br />

MEINUNG<br />

ler und Peter Zimmer. Elf grüne Männer, die alle<br />

Spitzenkandidaten der Grünen werden, also die<br />

Rolle einnehmen wollen, die darin besteht, nach<br />

der Bundestagswahl 2013 nicht Kanzler zu werden,<br />

es vorher aber rein theoretisch werden zu<br />

können.<br />

Gäbe es nicht Claudia Roth, Renate Künast<br />

und Katrin Göring-Eckardt, dann könnte man<br />

sagen: Keine Frau ist dumm genug, einen solchen<br />

Job zu wollen. Da es die drei aber gibt, und da<br />

Jürgen Trittin keine übergeschlechtliche Notwendigkeit<br />

ist, und da es sich hier um die Partei<br />

der Grünen handelt, kann man davon ausgehen,<br />

dass es am Ende eine von ihnen werden wird.<br />

Oder auch zwei. FRANK DRIESCHNER<br />

Fotos: Wayne Ticock/AP/ddp (Pfefferspray gegen Demonstranten d. Occupy Bewegung; University of California; 18.11.2011); Olivier Roller/StudioX (u.)<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 11<br />

Stimmvieh, grasend<br />

Mitt Romney beleidigt die<br />

amerikanischen Wähler<br />

Mitt Romney ist Herausforderer von Barack<br />

Obama, außerdem ist er Mormone,<br />

mithin eine Art Christ. Trotzdem hat er,<br />

wie nun mittels versteckter Kamera bekannt<br />

wurde, ein radikal materialistisches<br />

Menschenbild. Romney hat nämlich im<br />

Kreise reicher Freunde erklärt, dass 47 Prozent<br />

der Amerikaner sowieso Obama wählten,<br />

weil 47 Prozent keine Steuern zahlten,<br />

folglich vom Staat abhängig seien und<br />

Obama als dem Mann des Staates ihre<br />

Stimme geben müssten. Es lohne sich für<br />

ihn, Romney, also nicht, sich um dieses sozialstaatsblöde<br />

Stimmvieh zu kümmern.<br />

Nun wollen wir hier gar nicht auf der<br />

Frage herumreiten, ob nach dieser Logik<br />

Romneys reiche Freunde, die vermutlich<br />

auch keine Steuern zahlen, nicht gerade deshalb<br />

Romney wählen, damit sie auch in Zukunft<br />

keine Steuern zahlen müssen. Nein, es<br />

geht um etwas anderes: um die ebenso obszöne<br />

wie verbreitete wie falsche Auffassung,<br />

dass der Mensch strikt nach seinen ökonomischen<br />

Interessen handelt und auch wählt.<br />

Man kennt all die Weisheiten: Erst<br />

kommt das Fressen, dann die Moral, das<br />

Sein bestimmt das Bewusstsein, mit Speck<br />

fängt man Mäuse. Tatsächlich stürzt der<br />

Mensch sich ins Unglück für die Liebe, oder<br />

er gibt sein Leben für die Freiheit, oder er<br />

verlässt Haus und Hof für den Glauben,<br />

oder er setzt seinen Familienfrieden aufs<br />

Spiel für die Fußballbundesliga.<br />

So ist der Mensch.<br />

Auch der amerikanische natürlich, auch<br />

der, der zu arm ist, um Steuern zu zahlen.<br />

Beispielsweise hat dieser arme Amerikaner<br />

zweimal hintereinander millionenfach<br />

George W. Bush und die Republikaner gewählt,<br />

obwohl er wusste, dass die eine Politik<br />

für die Reichen machen. Warum? Aus<br />

religiösen und patriotischen Gründen, jedenfalls<br />

hat er das fest geglaubt.<br />

Mitt Romney hat nun das Rätsel gelöst,<br />

warum ein Mann, der behauptet, so sehr<br />

christlich zu sein, so kalt rüberkommt. Weil<br />

er als Politiker offenbar kalt denkt, weil<br />

Christentum bei ihm eine Lebensform<br />

meint, das Vater-Mutter-Ehe-Kirchgang-<br />

Christentum, nicht jenes, das niemanden<br />

zurücklässt, das den Menschen frei machen<br />

kann vom schnöden Mammon, fähig, zu<br />

lieben und den anderen mit Liebe zu sehen.<br />

Nun sagen in den USA viele professionelle<br />

Beobachter des Wahlkampfes, dass<br />

Romney sich mit seinem Auftritt selbst versenkt<br />

habe. Wenn das stimmt, dann deshalb,<br />

weil sich zu viele Wähler in ihrer Ehre<br />

gekränkt fühlen, sie wollen kein grasendes<br />

Stimmvieh sein. Ehre ist eben auch wichtiger<br />

als keine Steuern. BERND ULRICH


Foto: Wolfgang Wilde für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong><br />

Montagen DZ: AFP/Getty; Unger; laif (o.); ullstein; Getty (u.)<br />

Ein Kieferbruch für die Ewigkeit<br />

Foto: Christian Grund Foto: Db Alfred-Wegener-Institut/picture-alliance/dpa<br />

IN DER <strong>ZEIT</strong><br />

nah<br />

Die Doris-Show<br />

Tanja Stelzer, Redakteurin im Dossier, hat Doris<br />

Schröder-Köpf (rechts) begleitet, die in den Niedersächsischen<br />

Landtag einziehen will. Ihr Mann,<br />

Ex-Kanzler Gerhard Schröder, soll öfter die Kinder<br />

hüten. Die Recherche über die neue Rollenverteilung<br />

führte unsere Autorin mit der Kandidatin auf den<br />

höchsten Gipfel von Hannover und mit dem Vortragsreisenden<br />

nach Peking. Wenn deren Handy klingelte,<br />

und er war dran, bat sie die Autorin: »Könnten Sie mal<br />

kurz auf den Jungen aufpassen?« DOSSIER SEITE 13–15<br />

Ein tragisches Trio<br />

VON MATTHIAS GEIS<br />

Nächste Woche feiert die<br />

CDU Helmut Kohl, der<br />

vor 30 Jahren Kanzler<br />

wurde. Das Zusammentreffen<br />

der drei prägenden<br />

Figuren der jüngeren<br />

CDU-Geschichte, Kohl,<br />

Merkel und Schäuble,<br />

erinnert an das Drama,<br />

in das sich Politik verwandeln<br />

kann POLITIK S. 3<br />

Ein Kieferbruch für die Ewigkeit<br />

Der deutsche Fußball bekommt ein Museum. Wie sieht<br />

das d aus, was gehört hö hinein? hi i ? Moritz M i Müller-Wirth Müll Wi h und d<br />

Christof Siemes ließen sich von legendären Bällen, dem<br />

letzten Wort zum Wembley-Tor und ausstellungswürdigen<br />

Verletzungen berichten WOCHENSCHAU SEITE 16<br />

NÄCHSTE WOCHE IN DER <strong>ZEIT</strong><br />

Vier Wochen auf der »Polarstern«<br />

Auf Deutschlands größtem Forschungsschiff wird der Arktis<br />

der Puls gefühlt. Wie verlaufen die Meeresströmungen am<br />

Polarkreis? Wie wirkt sich der Klimawandel aus? Neben<br />

45 Wissenschaftlern war unsere Autorin Stefanie Schramm<br />

an Bord. Bericht von einer Reise durchs Eismeer WISSEN<br />

Wetten, dass ...<br />

... es gutes Fernsehen gibt?<br />

Wir haben uns auf die Suche<br />

gemacht und festgestellt: Das<br />

deutsche Fernsehen ist besser<br />

als sein Ruf MAGAZIN<br />

POLITIK<br />

2 FDP Philipp Rösler in<br />

Vietnam – ein Volksheld wider<br />

Willen VON KHUÊ PHAM<br />

3 CDU Ein tragisches Trio:<br />

Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble<br />

und Angela Merkel<br />

4 Integration Ein Gespräch mit<br />

Heinz Buschkowsky, Bürgermeister<br />

von Berlin-Neukölln<br />

5 Analysen<br />

6 Mohammed-Film<br />

Was steckt hinter den Protesten<br />

in muslimischen Ländern?/Ein<br />

Gespräch mit dem ägyptischen<br />

Islamminister über Religion und<br />

Provokation<br />

8 USA Zum Schießkurs<br />

bei der National Rifle Association<br />

VON ANDREA BÖHM<br />

9 Asien Der Streit zwischen China<br />

und Japan um eine Inselgruppe<br />

eskaliert VON ANGELA KÖCKRITZ<br />

Italien Wie Silvio Berlusconi sich<br />

an seinem Comeback abmüht<br />

VON BIRGIT SCHÖNAU<br />

10 Zeitgeist VON JOSEF JOFFE<br />

Altersarmut Die Renten für<br />

Gering verdiener müssen erhöht<br />

werden VON ELISABETH NIEJAHR<br />

Berliner Bühne VON P. DAUSEND<br />

11 Europa Deutschlands Sparpolitik<br />

ruiniert uns alle<br />

VON LAURENT JOFFRIN<br />

12 Wahlen Der Bürger ist kein<br />

Stimmvieh VON BERND ULRICH<br />

DOSSIER<br />

13 Die Doris-Show Die Geschichte<br />

einer Emanzipation<br />

16 WOCHENSCHAU<br />

Dortmund Der DFB baut ein<br />

Fußballmuseum.<br />

Ein Gespräch mit dem Spieler<br />

Sven Bender und den Betreibern<br />

GESCHICHTE<br />

17 Ein Grab in Thüringen<br />

Das Geheimnis der Dunkelgräfin<br />

VON CAROLIN PHILIPPS<br />

18 Ein Tag in Bonn Am 1. Oktober<br />

1982 wählte der Bundestag<br />

Helmut Kohl zum Bundeskanzler<br />

VON GUNTER HOFMANN<br />

WIRTSCHAFT<br />

19 Bankenregulierung<br />

Berlin kommt in Fahrt<br />

VON PETER DAUSEND UND<br />

MARK SCHIERITZ<br />

Verteilung Dumm sein macht<br />

arm VON PETRA PINZLER<br />

20 Smartphones Daten gehen<br />

schnell verloren. Ein Interview<br />

21 Konjunktur Überraschung:<br />

Der Aufschwung kann weitergehen<br />

VON KOLJA RUDZIO<br />

22 Autos Die Koreaner lehren die<br />

Konkurrenz das Fürchten<br />

VON <strong>DIE</strong>TMAR H. LAMPARTER<br />

23 Weltbank Der neue Präsident<br />

Jim Yong Kim im Gespräch<br />

24 Telekommunikation Lobbykampf<br />

gegen Google und andere<br />

VON NIKLAS WIRMINGHAUS<br />

25 Rüstung Die Fusion von<br />

EADS und BAE ist ein Politikum<br />

VON JOHN F. JUNGCLAUSSEN<br />

26 Mongolei Die Tücken des Rohstoffbooms<br />

VON ANGELA KÖCKRITZ<br />

28 Börse Sind die Kurssprünge<br />

nachhaltig? VON ARNE STORN<br />

Geld und Leben<br />

29 Verlage Ein Pro und Contra zum<br />

Leistungsschutz im Internet<br />

Arbeiten im Netz Zu viel Druck<br />

auf Arbeitnehmer?<br />

VON MARCUS ROHWETTER<br />

Euro Darf die Politik die<br />

Bundesbank kritisieren?<br />

30 Was bewegt ... den britischen<br />

Milliardär Richard Branson?<br />

VON UWE JEAN HEUSER<br />

WISSEN<br />

31 Aufklärung Wie eine Gesundheitskampagne<br />

nach hinten losging<br />

VON LAURA HENNEMANN<br />

Medizin Der Kampf zwischen<br />

Profit und Patientenwohl<br />

VON HEIKE FALLER<br />

UND CHRISTIANE GREFE<br />

32 Ein Gespräch über den<br />

Medizinbetrieb<br />

33 Manifest für eine menschliche<br />

Medizin<br />

34 Archäologie Wie sich deutsche<br />

Wissenschaftler in Palermo zu<br />

Mumien forschern machten<br />

VON URS WILLMANN<br />

35 Grafikseite Tee<br />

38 Umwelt Ist das Jakobskreuzkraut<br />

für Menschen gefährlich?<br />

VON <strong>DIE</strong>TRICH VON RICHTHOFEN<br />

41 KINDER<strong>ZEIT</strong><br />

Seifenkisten Zu Besuch bei zwei<br />

Piloten VON HAUKE FRIEDERICHS<br />

42 Zum (Vor-)Lesen (10) »Vorsicht,<br />

die Herdmanns schon wieder«<br />

VON BARBARA ROBINSON<br />

FEUILLETON<br />

43 Internet Die Piratin Julia<br />

Schramm verfängt sich im Netz<br />

VON JENS JESSEN<br />

Mohammed-Film Ein Verbot<br />

nützt nichts VON KATJA NICODEMUS<br />

44 USA Ry Cooder über die<br />

Abgründe der amerikanischen<br />

Politik – ein Gespräch<br />

Bettina Wulff Eine hysterische<br />

Debatte VON URSULA MÄRZ<br />

45 Literatur Eine Begegnung<br />

mit Salman Rushdie<br />

VON SUSANNE MAYER<br />

46 Kino Michael Hanekes Film<br />

»Liebe« VON IRIS RADISCH<br />

47 Roman Ulf Erdmann Ziegler<br />

»Nichts Weißes« VON H. WINKELS<br />

48 Sachbuch Kai Vogelsang<br />

»Geschichte Chinas«<br />

VON MATTHIAS NASS<br />

Roman Stefan aus dem Siepen<br />

»Das Seil« VON GABRIELE VON ARNIM<br />

49 Philosophie Daniel Heller-<br />

Roazen »Der innere Sinn«<br />

VON GISELA VON WYSOCKI<br />

50 Porträt Karl Heinz Bohrer<br />

zum 80. Geburtstag<br />

VON IJOMA MANGOLD<br />

TITEL<br />

Medizin: »Patienten sind<br />

wichtiger als Profit«<br />

51 Theater »Faust I und II« in<br />

Frankfurt VON THOMAS E. SCHMIDT<br />

52 Fernsehen Ein Film über den Fall<br />

Jakob von Metzler<br />

VON HEINRICH WEFING<br />

53 Klassik Berlin – alle drei<br />

Monteverdi-Opern an einem Tag<br />

VON VOLKER HAGEDORN<br />

54 Kunstmarkt Die Pariser Biennale<br />

des Antiquaires VON TOBIAS TIMM<br />

55 Neuer Traumjob: Galerist VON<br />

DOMINIKUS MÜLLER UND KITO NEDO<br />

57 Erfahrungsbericht Wie steht’s<br />

um um die Kunst der Gegenwart?<br />

VON HANNO RAUTERBERG<br />

58 GLAUBEN & ZWEIFELN<br />

Blasphemie Ein Gespräch<br />

mit der muslimischen Juristin<br />

Seyran Ateş/Und was sagen die<br />

christlichen Kirchen zum Thema<br />

Gottes lästerung? VON E. FINGER<br />

REISEN<br />

59 Tempelhof Auf dem<br />

stillgelegten Flughafen leben die<br />

Berliner ein bisschen Anarchie<br />

VON HANS W. KORFMANN<br />

60 Luftfahrt Cliff Muskiet sammelt<br />

Stewardessenuniformen. Ein<br />

Gespräch über Rocklängen und<br />

den Traum vom Fliegen<br />

61 Arosa Zu Besuch im letzten<br />

koscheren Hotel der Schweizer<br />

Alpen VON PAULA SCHEIDT<br />

63 Italien Auf den Spuren der<br />

Inquisition durch die umbrische<br />

Stadt Narni VON JULIA REICHARDT<br />

64 Camping Bücher über das Leben<br />

im Freien VON BJØRN ERIK SASS<br />

CHANCEN<br />

69 Bildung Paul Schwarz filmt,<br />

was in Klassenzimmern passiert<br />

VON FRIEDERIKE LÜBKE<br />

70 Lobbyismus Wirtschaftsverbände<br />

versorgen Lehrer mit Unterrichtsmaterial<br />

VON SEBASTIAN KRETZ<br />

71 Medizin alternativ In Traunstein<br />

soll die erste Hochschule für<br />

Homöopathie eröffnen<br />

VON BERND KRAMER<br />

73 Spezial Ingenieure<br />

Wie der Open-Source-Gedanke<br />

die Welt der Erfinder<br />

revolutioniert VON MALTE BUHSE<br />

74 Ingenieure wie Gunnar Schönherr<br />

wissen genau, wie lange eine Brücke<br />

noch hält VON C. BÖHRINGER<br />

75 Offshore-Plattformen: Arbeit für<br />

Werften VON ALEXANDRA WERDES<br />

76 Besuch im DIN-Institut<br />

88 <strong>ZEIT</strong> DER LESER<br />

RUBRIKEN<br />

2 Worte der Woche<br />

20 Macher und Märkte<br />

34 Stimmt’s?/Erforscht & erfunden<br />

47 Wir raten zu und ab/Gedicht<br />

48 Impressum/Hörbuch<br />

54 Neues vom Markt<br />

55 Mein Traumstück<br />

57 Finis/Berliner Canapés<br />

87 LESERBRIEFE<br />

12<br />

AUSGABE:<br />

<strong>39</strong><br />

20. SEPTEMBER <strong>2012</strong><br />

Ein Porträt des Basketballers<br />

Dirk Nowitzki, der in den USA<br />

mehr ist als ein Superstar<br />

Für die Entwicklungspsychologin<br />

Alison Gopnik sind Kinder<br />

Genies und Vorbilder<br />

Im »Wochenmarkt« gibt’s Kürbis<br />

Fashion Week<br />

Die Frühjahrskollektionen<br />

sind auf den ersten Blick<br />

ein Wiedersehen mit bekannten<br />

Trends. Aber sie wurden<br />

von Designern in London<br />

und New York kräftig<br />

durchgemischt<br />

www.zeit.de/mode<br />

Die so gekennzeichneten<br />

Artikel finden Sie als Audiodatei<br />

im »Premiumbereich«<br />

unter www.zeit.de/audio<br />

Anzeigen in dieser Ausgabe<br />

Link-Tipps (Seite 24), Museen<br />

und Galerien (Seite 38), Spielpläne<br />

(Seite 53), Bildungsangebote<br />

und Stellenmarkt (ab Seite 72)<br />

Früher informiert!<br />

Die aktuellen Themen der <strong>ZEIT</strong><br />

schon am Mittwoch im <strong>ZEIT</strong>-Brief,<br />

dem kostenlosen Newsletter<br />

www.zeit.de/brief<br />

»Patienten sind<br />

wichtiger als Profit«<br />

Der Der Eid Eid der der Mediziner Mediziner wird wird in in Deutschlands<br />

Deutschlands<br />

Krankenhäusern Krankenhäusern jeden jeden Tag Tag tausendfach tausendfach gebrochen. gebrochen.<br />

Ärzte Ärzte und und Pfl Pfl eger eger fordern fordern deshalb deshalb eine eine neue neue<br />

Standesethik. Standesethik. Ein Ein Manifest Manifest<br />

WISSEN WISSEN SEITE SEITE 31-33 31-33<br />

Die <strong>ZEIT</strong>-App<br />

Interview mit dem Schriftsteller<br />

Régis Jauffret, der aus dem Fall<br />

Fritzl einen Roman gemacht hat.<br />

Außerdem: »Sense of Place« – eine<br />

Bildergalerie mit Höhepunkten der<br />

europäischen Landschaftsfotografie<br />

: Pari Dukovic<br />

[M]: Lucas Jackson/Reuters


DOSSIER<br />

WOCHENSCHAU<br />

Dortmund: Ein Gespräch über das<br />

DFB-Fußballmuseum S. 16<br />

Die Doris-Show<br />

Gerd ist immer da. Und<br />

Gerd ist nie da. Beides<br />

ist ein Problem für<br />

Doris Schröder-Köpf.<br />

Aber welches Problem<br />

ist schwieriger zu lösen?<br />

Heute ist es das Gerd-ist-da-Problem.<br />

Am Morgen hatte die Politikerin Doris<br />

Schröder-Köpf ihren ersten Parteitag. Sie ist<br />

mit dem VW-Bulli, der seit Kurzem mit ihrem<br />

gigantischen Porträt beklebt ist, beim<br />

Freizeitheim Ricklingen vorgefahren, einer<br />

Halle in Hannover. Dort haben sie den SPD-<br />

Oberbürgermeisterkandidaten für Han no ver<br />

gekürt und eine Re so lu tion verabschiedet, zu<br />

der Doris Schröder-Köpf vier Zeilen über<br />

Frauenförderung beigetragen hat.<br />

Jetzt sitzt sie bei einer Kugel Eis im Mövenpick-Café:<br />

die SPD-Kandidatin für den Niedersächsischen<br />

Landtag im Wahlkreis 24. Sie<br />

erzählt, wie es sich anlässt in der Politik. Sie<br />

sagt gerade, dass es ihr unangenehm sei, wie<br />

alle ihren Bus anstarren, in dem man weit oben<br />

sitzt und auf die Leute runterguckt, als auf<br />

einmal ihr Mann zwischen den Bistrotischen<br />

auftaucht: Gerhard Schröder, Bundeskanzler<br />

a. D., jetzt Vater i. D. Dunkelblaue Barbourjacke,<br />

in der rechten Außentasche steckt eine<br />

Zigarrenkiste. Er war mit Gregor im Zoo.<br />

Gregor ist sechs und hat eine neue Base cap auf,<br />

»wir ham die Mütze vergessen, und weil ich<br />

nicht ohne was ankommen wollte ...«, sagt<br />

Schröder und hebt entschuldigend die Schultern.<br />

In der Hand hält er eine Plastiktüte, ein<br />

neues Playmobil-Spielzeug.<br />

»Wie war der Parteitach?«, fragt er.<br />

Sie strahlt. »Super! 96 Prozent!«<br />

»96 Prozent?«<br />

»Na, für Stefan! Den haben wir doch<br />

nominiert!«<br />

»Stefan?«<br />

»Na, Stefan Schostok! Als Oberbürgermeisterkandidat!«<br />

In Hannovers Politik ist Gerhard Schröder<br />

schon lange nicht mehr drin. Er ist am<br />

Morgen aus dem slowakischen Bratislava zurückgekommen,<br />

da haben sie einen neuen<br />

Ministerpräsidenten. In der nächsten Zeit<br />

stehen in seinem Kalender: Istanbul, Seoul,<br />

Peking. Das ist die Welt, die ihn interessiert.<br />

Doris Schröder-Köpf zieht Gregor erst<br />

mal eine Jacke über.<br />

»Will er nicht«, sagt Schröder.<br />

»Egal«, sagt sie.<br />

Er setzt sich dazu, und irgendwie schafft<br />

er es innerhalb von zwei Minuten, das Gespräch<br />

zur Agenda 2010 zu lenken, zum<br />

Umbau der Sozialsysteme, den er als Kanzler<br />

startete – ein großer Schritt in die Moderne,<br />

findet er. »Wir mussten den Reform-<br />

stau überwinden. Wir haben das früher<br />

gemacht als andere europäische Parteien«,<br />

sagt er und hört gar nicht mehr auf vor Begeisterung<br />

über seine eigenen Leistungen.<br />

»Meinen Mann können Sie mitten in der<br />

Nacht wecken, und er hält Ihnen einen Vortrag<br />

über die Agenda!«, sagt Schröder-Köpf. Das<br />

Gespräch geht nicht in die Richtung, die sie<br />

sich vorgestellt hat. In ihrem Gesicht stehen<br />

alle Signale auf verdrehte Augen, doch wenn<br />

man genau hinguckt, sieht man: Die Augen<br />

schauen geradeaus. Volle Kontrolle.<br />

Gerhard Schröder doziert weiter. Zwischendrin<br />

kommt Gregor an und zupft an<br />

der Barbourjacke. Aber der Vater hat jetzt<br />

Wichtigeres zu tun. »Was willst du, Junge?<br />

Frag Mama.«<br />

Er fährt fort: Woher sollen die zukünftigen<br />

Facharbeiter kommen? Schaffen wir es,<br />

Kinder aus Migrantenfamilien zu qualifizieren?<br />

Wie gehen wir mit der Alterung der<br />

Gesellschaft um?<br />

Doris Schröder-Köpf wird es langsam zu<br />

viel, und Gregor auch. Er will ein Eis.<br />

Ihre Strategie: Sich kleinmachen.<br />

Wer unten ist, fällt nicht tief<br />

Es ist klar, dass ihr Mann ihr Zugpferd ist. Sie<br />

wäre nicht da, wo sie jetzt ist, ohne ihn. Niemals<br />

hätte man eine Frau Ende vierzig und mit<br />

null Polit erfah rung einfach so aufgestellt,<br />

schon gar nicht in einem Wahlkreis, in dem<br />

man erst noch eine altgediente Kandidatin<br />

loswerden musste. Gerhard Schröder ist aber<br />

auch ein Risiko für seine Frau. Dieses Themas<br />

wegen hat sie sich viele Jahre nicht in ihrem<br />

Ortsverein blicken lassen. Alle wollten von ihr<br />

eine Rechtfertigung für seine Politik hören.<br />

Viele in der Partei hassten die Agenda, heute<br />

noch ist das Reformpapier, das Hartz IV installierte<br />

und für das sich Doris Schröder-Köpf<br />

einst die Überschrift ausgedacht hat, in der<br />

SPD eine Demarkationslinie. Auf der einen<br />

Seite stehen die Linken in der SPD, Schröders<br />

Kritiker, auf der anderen die Rechten.<br />

Gregor will jetzt doch kein Eis, sondern<br />

lieber an der Theke ein Stück Kuchen aussuchen.<br />

Mama sagt: »Ehemann, jetzt bist du<br />

dran.« Schröder schlurft mürrisch zum Kuchentresen.<br />

Doris Schröder-Köpf war Journalistin,<br />

alleinerziehende Mutter, Kanzlergattin,<br />

Hausfrau und Adoptivmutter. Sie hat alle<br />

Lebensmodelle durch. Nach all den Jahren,<br />

in denen sie zurückgesteckt hat, will sie mit<br />

49 Jahren etwas Neues anfangen. Politikerin.<br />

Am 20. Januar will sie sich in den Niedersächsischen<br />

Landtag wählen lassen. Sie wagt<br />

sich auf das Terrain, das schon durch einen<br />

Star aus der Familie besetzt ist. Es ist ein gefährliches<br />

Experiment. Für sie, für ihre Ehe.<br />

In einer Kampfkandidatur ist sie Anfang<br />

des Jahres gegen die bisherige Landtagskandidatin<br />

Sigrid Leusch ner angetreten. Gegen<br />

eine Gewerkschaftsfrau links der Schröder-<br />

Linie und kurz vor der Rente. Es gab harte<br />

Aus ein an der set zun gen um diesen Karrierestart,<br />

der Ton war schnell gereizt. »Gott sei<br />

Dank gibt es in der Partei immer noch genug<br />

Leute, für die es nicht ausreicht, die Frau von<br />

jemandem zu sein. Doris Schröder-Köpf hat<br />

nicht den Stallgeruch der Partei«, verkündete<br />

der alte Ver.di-Mann Wolfgang Denia in der<br />

Bild am Sonntag. Da war es wieder, das Vorurteil:<br />

bloß eine »Frau von« zu sein. Es hat<br />

dann trotzdem geklappt, aber knapp.<br />

Jetzt muss sie zeigen: Wenn sie nicht<br />

bloß eine »Frau von« ist, wer ist sie dann?<br />

Der erste öffentliche Termin der frisch<br />

gekürten Landtagskandidatin war eine Müllsammelaktion,<br />

zu der mehr Journalisten als<br />

Müllsammler kamen. Früher verkehrte sie<br />

mit Bill Clinton und Wladimir Putin, zuletzt<br />

war sie Aufsichtsrätin bei Karstadt, auf Vorschlag<br />

des Investors Nicolas Berggruen, mit<br />

dem sie und ihr Mann befreundet sind. Jetzt<br />

tingelt sie durch Altersheime und Kindergärten,<br />

um ihren Wahlkreis kennenzulernen.<br />

Man könnte erwarten, dass es anbiedernd<br />

wirkt, wenn sie im Business-Hosenanzug mit<br />

Rentnern redet, die Unterhemd tragen, aber<br />

kurioserweise passt es sehr gut, man hat nicht<br />

das Gefühl, sie sei nicht mehr sie selbst. Sie<br />

gibt den Bürgern das Gefühl, ihre Anliegen<br />

ernst zu nehmen. Sie interessiert sich für den<br />

TÜV Nord. Sie kurvt mit Mitarbeitern vom<br />

Abfallverband im Geländewagen<br />

über den »Monte Müllo«, der gerade<br />

mal 122 Meter hoch ist. Höher geht<br />

es nicht in Hannover. Aber je flacher,<br />

desto besser. Weil alles, was unten ist,<br />

ihr, die nach oben will, eine Art<br />

Gütesiegel verleiht. Der Besuch auf<br />

der Mülldeponie bedeutet: Ich erarbeite<br />

mir alles selbst. Ich werde<br />

nicht protegiert.<br />

Die Strategie, sich kleinzumachen,<br />

ist auch ein Schutz. Wer unten ist,<br />

kann nicht tief fallen. Deshalb auch Landes-,<br />

nicht Bundespolitik.<br />

Doris Schröder-Köpf ist, wie natürlich<br />

auch die SPD weiß, weitaus bekannter als<br />

der Spitzenkandidat Stephan Weil. In Hannover<br />

hat sie richtig Glamour. In ihrer Partei<br />

fällt sie auf, bei SPD-Veranstaltungen ist sie<br />

die mit Abstand bestangezogene Person. Die<br />

blonden Haare: immer perfekt. Die Blazer:<br />

tailliert. Der Schmuck: dezent. Bei ihr fällt<br />

einem nicht das Wort Schminke ein, son-<br />

Doris Schröder-<br />

Köpf kandidiert<br />

für den<br />

Niedersächsischen<br />

Landtag. Gerhard<br />

Schröder hilft ihr im<br />

Wahlkampf. Der<br />

Familienbus ist jetzt<br />

Werbefläche<br />

GESCHICHTE<br />

Ein Grab im Wald: Das Geheimnis<br />

der »Dunkelgräfin« S. 17<br />

teikollegen sind sehr aufgeregt, wenn sie ihr<br />

begegnen. Die Doris ist da! Danach verkünden<br />

sie beseelt: »Sie ist ja ganz normal!«<br />

Ein so hoher Bekanntheitsgrad ist ein vergiftetes<br />

Geschenk. Sie darf sich keine Fehler<br />

erlauben. Sie steht unter Beobachtung. »Mal<br />

sehen, ob ich es bis zur Wahl unfallfrei schaffe«,<br />

schreibt sie in einer ihrer E-Mails, die sie<br />

oft morgens um fünf verschickt oder nachts<br />

um halb eins.<br />

Für jeden ihrer Termine legt Doris Schröder-<br />

Köpf einen weißen Schnellhefter mit Fact-<br />

Sheets an, tagelang bereitet sie sich auf ihre<br />

Besuche im Wahlkreis vor. Sie weiß immer<br />

schon alles. Als die Chefin des Abfallverbands<br />

sagt, man habe im letzten Jahr 43, äh 34 Auszubildende<br />

gehabt, kann Doris Schröder-Köpf<br />

es sich nicht verkneifen, zu korrigieren: 35! In<br />

der Schule hätte man sie eine Streberin genannt.<br />

Für eine Rede, die sie vor einem Jahr in ihrem<br />

bayerischen Heimatdorf hielt, weil der Pfarrhof<br />

renoviert worden war – da war sie noch nicht<br />

mal Kandidatin –, engagierte sie einen Medienberater:<br />

Thomas Steg, ehemals stellvertretender<br />

Regierungssprecher ihres Mannes.<br />

»Die Doris ist ganz anders als ich. Die hat<br />

ein Detailwissen!«, sagt ihr Mann im Café.<br />

»Ich hab ja anders Politik gemacht.«<br />

Doris Schröder-Köpf: »Ich mach das<br />

Klein-Klein.«<br />

Kanzlerlachen.<br />

Er lacht, sie nicht. Es ist ernst.<br />

Doris Schröder-Köpf will sich von Gerhard<br />

Schröder emanzipieren, und dafür<br />

wählt sie dieselbe Strategie wie die meisten<br />

Frauen, die es in einer Männerwelt zu etwas<br />

bringen wollen: die Fleiß-Methode. Die<br />

Fleiß-Methode kann einen weit<br />

bringen, aber Nummer eins wird<br />

man damit nicht. Das hier ist Emanzi<br />

pa tion unter erschwerten Bedingungen:<br />

Zwischen diesen beiden<br />

Partnern gibt es ein Bedeutungsgefälle<br />

wie nur in wenigen Ehen. Und<br />

der Mensch, von dem Doris Schröder-Köpf<br />

sich emanzipieren will, ist<br />

so ziemlich der härteste und selbstgefälligste<br />

Testosteron-Brocken, den<br />

man sich vorstellen kann. Im Grunde muss<br />

sich Doris Schröder-Köpf sogar gleich von<br />

zwei Männern emanzipieren: von ihrem Ehemann<br />

und von dem Agenda-Politiker.<br />

Es ist ein gigantischer Schatten, aus dem<br />

sie heraustreten will, aber sie hat sich diesen<br />

dunklen Platz einst selbst ausgesucht. Als die<br />

beiden sich kennenlernten, war er Ministerpräsident<br />

in Niedersachsen. Sie wusste, sie<br />

würde ein Leben in der Öffentlichkeit führen,<br />

und sie wusste, dass er den Platz im Licht<br />

beanspruchen würde. Dass er den Platz nie<br />

mehr räumen würde, konnte sie sich denken.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 13<br />

Doris Schröder-Köpf kämpft um ein Abgeordnetenmandat. Ziemlich schwierig, sich vom Ehemann, Ex-Kanzler und Agendapolitiker zu emanzipieren VON TANJA STELZER<br />

Man kann das, was sie vorhat, für ein besonders<br />

mutiges Experiment halten. Oder für<br />

ein besonders naives.<br />

Wie ein zweiter Film laufen die Bilder<br />

seiner Auftritte mit, ganz gleich, wo sie sich<br />

öffentlich bewegt. Meist haben die Leute mal<br />

ein Bier mit ihm getrunken, oft mehr als<br />

eins. Sie haben das dringende Bedürfnis, ihr<br />

davon zu erzählen, als könnte sie sich gar<br />

nicht vorstellen, wie das ist, mit ihrem Mann<br />

ein Bier zu trinken. Gern fragen die Leute<br />

auch: »Wo ist Ihr Mann, wechselt der jetzt<br />

die Windeln?« Obwohl schon lange keine<br />

Windeln mehr zu wechseln sind im Haus<br />

Schröder, antwortet sie fröhlich-spitz: »Dazu<br />

müsste er da sein, oder?«<br />

Sie tritt in Hannover-Bemerode<br />

auf, er gibt in China den Popstar<br />

Doris Schröder-Köpf macht eine für Frauen<br />

ihrer Altersklasse sehr typische Erfahrung: Sie<br />

hat lange zurückgesteckt für ihren Mann, für<br />

dessen Karriere, und für ihre Kinder. Jetzt<br />

aber will sie selbst wer sein, und ihr Mann<br />

verspricht, sie zu unterstützen. Er tut das<br />

auch. Wenn es in den Kalender passt.<br />

Andere Frauen in Schröder-Köpfs Alter<br />

eröffnen eine Boutique, und wenn die Boutique<br />

schlecht läuft, dann gleicht der Mann<br />

das Minus aus. Doris Schröder-Köpf hat sich<br />

eine anspruchsvollere Aufgabe ausgesucht.<br />

Ob ihr Mann darin mehr als ein Hobby<br />

sieht, ist noch nicht klar.<br />

Im Juni dieses Jahres, nach drei Monaten<br />

Politikerinnenleben, steht sie auf einem Marktplatz<br />

in Hannover-Bemerode, wo ihr Team in<br />

glühender Hitze einen Infostand aufgebaut hat.<br />

Autogrammkarten, noch aus Kanzlergattinnenzeiten,<br />

liegen bereit, Buntstiftboxen, Kugelschreiber,<br />

die sie beim SPD-Imageshop bestellt<br />

hat. Doris Schröder-Köpf hat ihren Gregor mitgebracht,<br />

weil sie auf die Schnelle niemanden<br />

gefunden hat, der auf ihn aufpasst. Ihr Mann ist<br />

mal wieder irgendwo zwischen Seoul, Berlin und<br />

Wien unterwegs. Am Morgen musste sie deshalb<br />

auch eine SPD-Veranstaltung absagen, bei der<br />

das Wirtschaftsprogramm für Niedersachsen<br />

vorgestellt wurde. Ein Briefing für die Kandidaten.<br />

Sollte Doris Schröder-Köpf jetzt nicht<br />

wissen, was sie wirtschaftspolitisch denken soll,<br />

ist also ihr Mann schuld. Nichts hasst sie mehr,<br />

als etwas nicht zu wissen. Etwas erschöpft sagt<br />

sie: »Ich frag ihn jetzt nicht mehr, wann er weg<br />

ist, sondern wann er da ist.« Dann dreht sie sich<br />

um, und da ist die Imbissbude, die »Deutsche<br />

Kanzlerplatte nach Schröder-Art« und »Curry-<br />

Bratwurst Doris-Art« anbietet. »Doris-Art« ist<br />

die kleinere Portion und kostet 1,30 Euro we-<br />

dern das Wort Make-up. Sogar manche Par-<br />

Dieses Foto aus<br />

dem Jahr 1996<br />

machte die<br />

Beziehung von<br />

Gerhard Schröder<br />

und Doris Köpf<br />

öffentlich. Sie war<br />

Journalistin beim<br />

»Focus« und<br />

begleitete ihn, den<br />

Ministerpräsidenten<br />

von Niedersachsen,<br />

auf eine Bohrinsel<br />

Fortsetzung auf S. 14<br />

Foto: Wolfgang Wilde für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.wolfgangwilde.de; kl. Foto: Db Haz/picture-alliance/dpa


14 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> DOSSIER<br />

Die Doris-Show<br />

Fortsetzung von S. 13<br />

niger. Sie zögert einen Moment, als müsse sie<br />

erst überlegen, ob sie solche unaufgeforderten<br />

Liebesbeweise zurückweisen soll. Sagen sie doch<br />

nichts anderes, als dass ihre Popularität bloß<br />

geliehen ist. Dann aber setzt sie ihr Doris-Lächeln<br />

auf und gibt den Männern, die bei der<br />

Bude ein Bier trinken, Autogramme. »Endlich<br />

ist es mal nützlich, einen bekannten Namen zu<br />

haben«, sagt sie.<br />

Die Wahrheit ist: Das Etikett »Kanzlergattin«<br />

klebt an ihr wie ein Preisschild an einem<br />

neuen Glas, auch mit viel Spülmittel<br />

und heißem Wasser lässt es sich nicht abwaschen.<br />

Also lässt sie das Etikett eben dran,<br />

sieht immer noch besser aus. So schnell wird<br />

sie Gerd nicht los.<br />

Peking liegt unter einer Dunstglocke. Es<br />

ist halb neun an einem Julimorgen <strong>2012</strong>,<br />

gerade ist der Airbus der Lufthansa gelandet,<br />

auf dem Rollfeld wartet im VIP-Bus schon<br />

der ehemalige chinesische Botschafter in<br />

Deutschland auf Gerhard Schröder. Der Ex-<br />

Botschafter begleitet den Ex-Kanzler zur<br />

Wagenkolonne. Auf dem Weg in die Stadt:<br />

Blaulicht, gesperrte Autobahnen, strammstehen<br />

de Polizisten. So war das früher auch<br />

bei Schröders Staatsbesuchen.<br />

Schröder forcierte in seiner Amtszeit die<br />

deutsche Chinapolitik und förderte Wirtschaftskontakte<br />

zwischen den beiden Ländern.<br />

Dafür liebt ihn die chinesische Regierung.<br />

Und auch dafür, dass er nicht in jedem<br />

dritten Satz mit den Menschenrechten daherkommt,<br />

jedenfalls nicht so, dass es gleich<br />

in der Zeitung steht.<br />

Drei-, viermal im Jahr fliegt er nach China.<br />

Diesmal hat ihn der Softwarehersteller SAP für<br />

eine Rede bei seiner Asien-Hausmesse engagiert.<br />

Für die Hausmesse in Madrid hat SAP<br />

Supertramp gebucht. In Deutschland ist Gerhard<br />

Schröder Verräter, Absahner, Lobbyist.<br />

Seine Bodyguards sagen: Würde er auf Personenschutz<br />

verzichten, ginge das keine zwei Tage<br />

gut. In China ist er immer noch ein Popstar.<br />

Ihn erwarten: 4500 Zuhörer, ein Kamerakran,<br />

eine Lightshow, der größte LED-Bildschirm<br />

Asiens. Er hat ein Redemanuskript im<br />

Koffer mit großen Sätzen über globale Herausforderungen<br />

und ein erfolgreiches China.<br />

Es wird um den Klimawandel gehen und<br />

um die Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen.<br />

Schröder wird den<br />

deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialog loben,<br />

der in seiner Amtszeit begonnen wurde,<br />

und sich für die Einführung von Eurobonds<br />

starkmachen. Die Rede hätte er auch als<br />

Kanzler halten können. Nur dass er dafür<br />

weit weniger gut bezahlt worden wäre.<br />

Sie gab ihm Ratschläge,<br />

sie war seine Gefühlsministerin<br />

Gerhard Schröder gehört, neben Bill Clinton,<br />

Arnold Schwarzenegger und Steve Forbes, zu<br />

den Top-Acts der internationalen Redneragentur<br />

Harry Walker. Es ist viel geschrieben<br />

worden über die Höhe der Honorare, die<br />

Harry Walker bezahlt. 250 000 Dollar für einen<br />

Vortrag, diese Größenordnung. Ach was,<br />

sagt Schröder, und »von Clinton sind wir weit<br />

entfernt«. »Wir« bedeutet: ich und Doris. Die<br />

Maschine Schröder.<br />

Gibt es ein niedersächsisches Bill-und-<br />

Hillary-Projekt? Arbeiten sie nach dem Aufstieg<br />

des Charismatikers am Aufstieg der<br />

Frau im Hintergrund? Oder ist das »wir« eher<br />

ein Pluralis Majestatis?<br />

Wenn man Doris Schröder-Köpf fragt,<br />

wie man ihre Beziehung zu ihrem Ehemann<br />

am besten beschreiben könnte, antwortet sie:<br />

»Wir sind eine Kampfgemeinschaft.« Sie haben<br />

einiges miteinander durchgestanden,<br />

Wahlkämpfe, Niederlagen, Anfeindungen,<br />

Gerüchte über angebliche Risse in der Ehe,<br />

seinen erzwungenen Abschied aus der Poli-<br />

tik. Jetzt könnte sich die Kampfgemeinschaft<br />

neu formieren. Zu ihren Gunsten diesmal.<br />

Nur dass sich die Zahnräder der Schröder-<br />

Maschinerie nicht einfach in die andere<br />

Richtung drehen lassen. »Ich kann bei einer<br />

Veranstaltung des Spitzenkandidaten auftreten,<br />

aber nicht bei ihr«, sagt Gerhard Schröder,<br />

und dann: »Obwohl da ja vielleicht auch<br />

ein paar Leute kommen würden.«<br />

Gerhard Schröder sitzt in der Lobby des<br />

Interconti-Hotels im Pekinger Olympiaviertel.<br />

Eine klimatisierte Kunstwelt, die er in den folgenden<br />

zweieinhalb Tagen zweimal verlassen<br />

wird, einmal für ein Dinner mit dem deutschen<br />

Botschafter und einmal, weil der FC Bayern<br />

auch gerade in Peking ist und Schröder sehen<br />

will, wie elf Bayern elf Chinesen 6 : 0 vom Platz<br />

fegen. Danach ist Bar abend mit Uli Hoeneß,<br />

Karl-Heinz Rummenigge und Matthias Sammer.<br />

Doris Schröder-Köpf ist nicht dabei in<br />

Peking. Sie hat ihn schon zu Kanzlerzeiten selten<br />

begleitet, sie mochte rote Teppiche nie. Sie war<br />

schon damals lieber die Frau hinter ihm als die<br />

an seiner Seite. Auch diesmal zieht sie es<br />

vor, in Hannover »Akten zu studieren«.<br />

Er denkt in Kontinenten, sie in<br />

Stadtteilen – aber was in Peking passiert,<br />

ist von Hannover aus betrachtet<br />

genauso unwichtig wie umgekehrt.<br />

So sieht es Doris.<br />

Für den Kanzler Gerhard Schröder<br />

war Doris Schröder-Köpf neben der<br />

Büroleiterin Sigrid Krampitz die eine<br />

Person, der er vertrauen konnte. Sie<br />

war sein Gradmesser, seine Rückkopplung zum<br />

Volk. (»Das Verbraucherschutzministerium war<br />

ihre Idee! In der BSE-Krise hat sie gesagt: Die<br />

Mütter wollen gesunde Lebensmittel für ihre<br />

Kinder. Ihr müsst unbedingt ein Verbraucherschutzministerium<br />

machen!«) Sie las seine<br />

Reden gegen, vor allem wenn es um Emotionales<br />

ging, Trauerreden, solche Sachen. Sie<br />

sorgte dafür, dass er den Ton traf. Sie war Gerds<br />

Gefühlsministerin.<br />

Jetzt gibt es kein Volk mehr, zu dem er einen<br />

Draht haben müsste, es gibt bloß brave Zuhörer,<br />

auf Einladung von SAP. Doris muss nicht<br />

dabei sein, wenn er hier um seine eigene Vergangenheit<br />

kreist, wenn ein nicht abreißender<br />

Strom von Chinesen ihn um Erinnerungsfotos<br />

bittet und er mit gespielter Verlegenheit sagt:<br />

»Das grenzt ja an Ver ehrung hier!«<br />

Damals eilte sie sofort von Hannover nach<br />

Berlin, wenn es um etwas Wichtiges ging. Die<br />

Vertrauensfrage oder so. Ständig war alles existenziell.<br />

Heute hat er Druck nur noch bei der<br />

Frage, ob es bei seinen Reden mit dem Englisch<br />

klappt. Technological, for de cades, internationalization<br />

– manchmal revoltieren die Worte in<br />

seinem Mund. Er stellt sich trotzdem vor 4500<br />

Zuhörer. Er ist das Gegenteil von ihr. Sie spielt<br />

nicht auf Risiko. Sie tut nur, was sie kann. Und<br />

vielleicht tut sie nicht mal das.<br />

Er rüttelte an den Gitterstäben des Kanzleramts.<br />

Um den Landtag in Hannover gibt<br />

es nicht mal ein Gitter.<br />

Sie sagt, sie wolle den Wahlkreis erobern,<br />

mehr nicht. Ein Ministeramt,<br />

böte man es ihr an, würde sie zurückweisen.<br />

»Die ist so wahnsinnig und<br />

macht das wirklich«, sagt Schröder 7500<br />

Kilometer von ihr entfernt. Unverhohlen<br />

gibt er zu, dass er jetzt, in dieser<br />

Krisenzeit, wieder gern regieren würde.<br />

Es kann ihm nicht schwierig genug sein,<br />

er hätte so richtig Lust drauf.<br />

Sie vergibt bei Face book ein<br />

»Like« für einen Spiegel-Artikel über Aufstiegsverweigerer,<br />

Titel: Karriere? Ohne mich!<br />

Warum nur? Doris Schröder-Köpf wollte<br />

doch immer nach oben. Ihr Ziel, als Jugendliche<br />

schon, war: raus aus Tagmersheim, ihrem bayerischen<br />

Dorf. Ein Kaff im Altmühltal, weitgehend<br />

abgeschnitten von der Umwelt, der Vater<br />

Arbeiter bei einem Containerhersteller, die<br />

Mutter Hausfrau. Die Tochter wollte unbedingt<br />

aufs Gymnasium. Sie wurde Journalistin und<br />

heuerte bei Bild an, obwohl sie gar nicht zum<br />

Boulevard wollte. Aber Bild hatte eine Re dak-<br />

Landtagskandidatin<br />

Schröder-Köpf<br />

beim Bürgerfrühstück.<br />

Auf das<br />

Klein-Klein der<br />

Wahlkreisarbeit<br />

bereitet sie sich vor<br />

wie auf einen<br />

Staatsbesuch<br />

Einst war sie auf<br />

internationalem<br />

Parkett unterwegs<br />

– wie hier im Jahr<br />

2002 beim Besuch<br />

des US-Präsidenten<br />

Bill Clinton in Berlin<br />

Doris Schröder-<br />

Köpf 2005 im<br />

Gespräch mit<br />

Russlands Präsident<br />

Wladimir Putin.<br />

Der Kontakt der<br />

Schröders zu Putin<br />

blieb auch nach<br />

dem Ende der rotgrünen<br />

Regierung<br />

herzlich<br />

tion in der Hauptstadt, damals noch Bonn.<br />

Doris Köpf zog es zu den Wichtigen, sie wollte<br />

im Zentrum sein. Und sie fühlte sich angezogen<br />

von Männern, die sich wichtig nahmen,<br />

Männern, die im Zentrum standen, Männern<br />

mit einer Agenda.<br />

Sven Kuntze ist der Vater von Doris Schröder-Köpfs<br />

Tochter Klara, die heute erwachsen<br />

ist. Kuntze war früher Fernsehkorrespondent<br />

der ARD in New York, er hat das ARD-Morgenmagazin<br />

geleitet und als Rentner ein Buch<br />

übers Altwerden geschrieben: Altern wie ein<br />

Gentleman. Jetzt ist er 70, Gerhard Schröders<br />

Altersklasse, und der Star der Seniorenresidenzen.<br />

Auch er ein Kerl, der die große Geste<br />

draufhat, wie der Ex-Kanzler. Schnoddrig,<br />

breitbeinig, selbstbewusst. Doris Schröder-<br />

Köpf wird er im Wahlkampf unterstützen mit<br />

gemeinsamen Auftritten – in Altersheimen.<br />

Der Gentleman, als den er sich im Buchtitel<br />

bezeichnet, war er ihr gegenüber nicht. Sie<br />

lebten zusammen in New York und hatten ein<br />

Baby, als er sie sitzen ließ. Dass sie nicht zerstritten<br />

sind, liege an ihr, sagt er in<br />

seiner Penthousewohnung über den<br />

Dächern von Berlin. Sie, Pragmatikerin,<br />

fand, dass es wichtig fürs Kind sei,<br />

seinen leiblichen Vater zu sehen. »Ich<br />

bin ihr dankbar«, sagt Sven Kuntze.<br />

»Sie hält lange Strecken durch.«<br />

Für ihn ist sie »einer der politischsten<br />

Köpfe«, die er kennt. Viele sagen<br />

das von ihr: dass sie ein politisch denkender<br />

Mensch sei, nicht mit der<br />

großen Idee, wohl aber mit dem Talent, Entwicklungen<br />

vorauszusehen. Sven Kuntze und<br />

sie lernten sich in Bonn kennen. »Doris war<br />

die Einzige, die er ahnt hat, dass Scharping<br />

Spitzenkandidat wird! Ihre Prognosen haben<br />

immer gestimmt, auch wenn sie nicht so gut<br />

reden konnte wie ich.«<br />

Doris Köpf war damals 23, die jüngste<br />

Parla ments kor res pon den tin in Bonn. »Schneeflocken<br />

haft« nennt sie Sven Kuntze. Klein,<br />

schmal, kapriziös, es herrschte eine große Aufregung<br />

unter den wenigen Journalistinnen, die<br />

es in Bonn gab. Sie machten es ihr nicht leicht.<br />

Der Frauen-Hintergrundkreis »Lila Karte«<br />

verweigerte ihr, der Quoten-Anhängerin,<br />

die Aufnahme. Es hieß, sie arbeite mit Körpereinsatz.<br />

Zahllose Affären wurden ihr angedichtet.<br />

Sie war zu klein, zu blond, und sie<br />

trug zu hohe Absätze. Noch dazu war sie bei<br />

der falschen Zeitung. Das, wogegen sie noch<br />

heute kämpft, schlug ihr schon damals entgegen:<br />

Nicht-ernst-genommen-Werden. So<br />

wie sie heute zur SPD Hannover dazugehören<br />

will, wollte sie damals dazugehören. So<br />

wie heute manche glauben, sie tue nur, als<br />

ob, unterstellte man es ihr damals.<br />

In Sven Kuntzes Kielwasser kam sie endlich<br />

an den Ort, der die maximale Distanz zu Tagmersheim<br />

hatte: New York. Sie liebte die Stadt.<br />

Aber sie war bloß mitgegangen. Sie hatte ein<br />

Baby und keinen Job, und dann wollte der<br />

Mann sie nicht mehr. Sie kehrte zurück nach<br />

Deutschland. Ihr amerikanischer<br />

Traum war geplatzt.<br />

Fünf Jahre später lernte sie Gerhard<br />

Schröder kennen. Auf den<br />

ersten Blick würde man sagen:<br />

Schon wieder derselbe Typ, dieselbe<br />

Rollenverteilung. Hat sie nicht gelernt?<br />

Ist sie die klassische Trophäe<br />

für den Jäger? Brauchte sie einen<br />

Versorger für ihr Kind?<br />

Es ist einfach, fast billig, eine<br />

Frau wie sie so zu sehen.<br />

Ein Mann an ihrer Seite hat einiges auszuhalten.<br />

»Sie ist eine dominante Person,<br />

sie hat eine autoritäre Seite«, sagt Sven<br />

Kuntze. Eine Perfektionistin auch im Privaten,<br />

»die hat mir ja nicht mal zugetraut,<br />

einen Kinderwagen zu schieben«. Und Gerhard<br />

Schröder sagt: Wer seine Frau und ihn<br />

privat kenne, wisse, dass eher sie die Dominante<br />

in der Beziehung sei. Er stöhnt über<br />

ihre Prinzipientreue: »Was sie echt nicht<br />

kann, ist: auch mal Fünfe gerade sein zu<br />

lassen. Das habe ich in meiner Ehe oft zu<br />

spüren bekommen. Aber was soll ich machen,<br />

ich hab sie mir ausgesucht.« Sie selbst<br />

sagt: »Mein Selbstbewusstsein grenzt<br />

manchmal an Rechthaberei.«<br />

Warum löst Doris Schröder-Köpf bei so<br />

vielen Menschen Abwehrreflexe aus? Sie musste<br />

sich dafür rechtfertigen, dass sie einen Doppelnamen<br />

trägt. Dafür, dass sie ihren Beruf<br />

aufgab (also zu unemanzipiert war), und dafür,<br />

dass sie ein Büro im Kanzleramt hatte (also zu<br />

emanzipiert war). Dafür, dass sie Gerd die<br />

Hemden bügelte. Letzteres lag daran, dass sie<br />

zwar einen mächtigen, aber keinen reichen<br />

Mann geheiratet hatte. Er war mehrfach geschieden,<br />

und das ist teuer. Schon allein deshalb<br />

kann der Versorger-Vorwurf nicht so<br />

richtig stimmen. Es gab böse Kommentare<br />

darüber, wie dünn sie sei. Kleidergröße 32, eine<br />

Pro vo ka tion! Die taz schrieb 2002: Barbie<br />

wohnt im Kanzleramt. Man sah in ihr eine<br />

Kindfrau – klein und unterlegen. Ein Kind,<br />

das entweder zu lieb oder zu frech war. Das<br />

entweder zu viel sagte oder zu wenig. Und<br />

dann, als sie daheim blieb bei den Kindern, die<br />

die Schröders adoptiert haben, war sie auch<br />

noch das Hausmütterchen. Dass diese Kinder<br />

sie ungleich mehr brauchten als unbeschwerte<br />

leibliche Kinder, wollte niemand sehen. Und<br />

sie erzählt es keinem – zum Schutz der Kinder.<br />

Immer wieder geriet Doris Schröder-Köpf<br />

in eine Rolle, die gerade nicht ihrem Le bensalter<br />

und ebenso wenig dem Zeitgeist entsprach.<br />

Sie war al lein erzie hend, als das noch<br />

ein Problem war. Sie trat hinter ihrem Mann<br />

zurück, als das ein Problem war. Immer passte<br />

alles nicht zu ein an der. Vielleicht liegt es<br />

daran, dass sie die Menschen oft irritiert hat.<br />

In ihr konnte sich niemand wiederfinden.<br />

Jetzt aber ist etwas neu in ihrem Leben:<br />

Zum ersten Mal könnte sie ein role model<br />

sein. Das ist das Kalkül ihrer Partei. Mit der<br />

Emanzipationsfrage, ihrem Lebensthema,<br />

soll Doris Schröder-Köpf Wähler gewinnen.<br />

»Sehr viele Frauen in meiner Ge ne ra tion<br />

waren der Ansicht, dass man die Quote nicht<br />

braucht, dass man es mit Willenskraft und<br />

einer guten Ausbildung alleine schafft«, sagt<br />

Doris Schröder-Köpf. »Diese Frauen haben<br />

ihre Töchter auf die besten Schulen geschickt,<br />

für viel Geld an Spitzenuniversitäten im Ausland<br />

studieren lassen. Dann bekommen die<br />

Töchter Kinder, und alles ist wie vor dreißig<br />

Jahren.« Die Gegend, in der sie wohnt, ist von<br />

diesen ungelebten Leben erfüllt. Da könnte<br />

sie was rausholen für ihre Partei. Aber erst<br />

einmal musste sie Kandidatin werden, und<br />

das war ein Problem: Es gab schon eine.<br />

Sigrid Leusch ner, 61, ist seit 43 Jahren<br />

in der Partei, Sprecherin ihrer Frak tion für<br />

das Thema Verwaltungsreform, seit 18 Jahren<br />

im Niedersächsischen Landtag. Eine<br />

Gewerkschafterin, jener Typ Politikerin, die<br />

Freunde »verdient« nennen und Feinde eine<br />

»Hinterbänklerin«. Doris Schröder-Köpfs<br />

Einstieg in die Politik bedeutet Sigrid<br />

Leusch ners Ausstieg. Man hat sie abgesägt.<br />

Für die letzten Jahre ihres Berufslebens werden<br />

sie bei ver.di irgendeinen Versorgungsposten<br />

für sie finden müssen.<br />

Das Kandidatinnen-Duell war eine Miniaturversion<br />

der amerikanischen Vorwahlen. In<br />

jedem Ortsverein warben die Alte und die<br />

Neue um Zustimmung. Die bekannte Front,<br />

Schröder-Kritiker gegen Schröder-Ehefrau.<br />

Am Ende stimmten die Ortsvereine ab und<br />

gaben ihren Delegierten ein Votum mit auf<br />

den Weg. Hätten sich die Delegierten daran<br />

gehalten, wäre die Karriere von Doris Schröder-Köpf<br />

be endet gewesen, aber einige hielten<br />

sich nicht dran.<br />

Dieser par tei inter ne Wahlkampf war für<br />

die Neu-Politikerin Doris Schröder-Köpf eine<br />

Art Initiationsritus. Nicht angenehm, auch<br />

demütigend. Aber sie konnte zeigen, dass sie<br />

taktieren kann. Dass sie Kritik aushält. Dass<br />

sie mehr ist als dem Gerd seine Doris. Es war<br />

für sie ein Glücksfall, dass sie zu Beginn ihrer<br />

politischen Karriere diesen kleinen Mord<br />

unter Freunden begehen musste. In der Partei<br />

müssen sie sie jetzt ernst nehmen.<br />

An einem Augustabend sitzt Doris Schröder-Köpf<br />

auf der Terrasse ihres Stammgriechen.<br />

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite,<br />

liegt ihr Wahlkreisbüro. Randalierer<br />

haben die Scheibe eingeworfen, das wird ihr<br />

in den nächsten Wochen noch zweimal passieren.<br />

Die Partei wird darüber nachdenken,<br />

das Büro schützen zu lassen. Den Stein hat<br />

Schröder-Köpf vor dem Fenster gefunden, sie<br />

hat ihn in eine Plastiktüte gesteckt und ins<br />

Auto gelegt. Beweismaterial. Die Steinewerfer<br />

könnten irgendwelche militanten Agenda-<br />

Hasser sein, denen sie zu bürgerlich ist, oder<br />

vielleicht eine Neonazigruppe, die sich in<br />

Hannover herumtreibt. Der Glaser ist gerade<br />

dabei, die Scheibe provisorisch zusammenzukleben.<br />

Doris Schröder-Köpf sagt, dass ihr<br />

das nicht viel ausmacht, aber sie sieht dabei<br />

aus, als ob es ihr sehr viel ausmacht.<br />

Streit bei den Schröders: Er findet,<br />

sie ist viel zu zurückhaltend<br />

Sie ist an diesem Tag aus dem Urlaub zurück<br />

und hat Hunderte von Mails zu lesen. Sie<br />

bekommt Interviewanfragen zu Sigmar Gabriels<br />

Bankenpapier und wird gebeten, eine<br />

Petition zur Begnadigung der Pussy-Riot-<br />

Frauen zu unterzeichnen. Es sind Themen,<br />

in denen sie sich nicht auskennt, an denen<br />

sie sich verbrennen kann. Sie würde lieber<br />

darüber reden, dass man keine jungen Ärztinnen<br />

für das Leben in einer niedersächsischen<br />

Kleinstadt begeistern wird, wenn es<br />

dort keine Kinderbetreuung gibt. Darüber,<br />

dass das Land Niedersachsen Aufträge nur<br />

an Unternehmen vergeben sollte, die eine<br />

akzeptable Frauenquote vorzuweisen haben.<br />

Meist reagiert sie gar nicht auf die Anfragen,<br />

in denen es sich um Russland dreht und die<br />

sich in Wirklichkeit an ihn richten, weil er<br />

mal gesagt hat, Putin sei ein lupenreiner<br />

Demokrat. Sollen sie doch ihn selbst fragen.<br />

Aber wenn sie nichts sagt, ist das auch<br />

schlecht. Das bedeutet: Ich habe keine Meinung.<br />

Oder: Ich bin seiner Meinung. Ist sie<br />

aber nicht immer. Ihr Mann ist der Geostratege,<br />

Anwalt der Stabilität. Sie: Verfechterin<br />

der Bürgerrechte, ihre Positionen seien<br />

»Mainstream«, aber »etwas links von ihm«.<br />

Einmal gibt sie Pussy Riot auf ihrer Facebook-Seite<br />

ein »Like«. Sie muss nicht befürchten,<br />

dass sie da Ärger mit ihm bekommt.<br />

Er hat keinen Face book- Account.<br />

Trotzdem gibt es jetzt manchmal Streit<br />

bei den Schröders. Er findet nämlich, dass<br />

sie langsam mal in den Vordergrund treten<br />

müsste, dass sie unter ihren Möglichkeiten<br />

bleibt. Von wem sie alles In ter view anfra gen<br />

hatte, als sie um ihre Kandidatur kämpfte!<br />

Sie hätte mit allen reden können. Sie hätte<br />

in der Gala sein können und in Talkshows<br />

von Markus Lanz bis Günther Jauch. Er an<br />

ihrer Stelle hätte alles abgeräumt. Er findet<br />

auch die Fleiß-Methode falsch. Fleiß ist was<br />

für die unteren Chargen.<br />

Sie sagt: »Ich finde es manchmal ungerecht,<br />

dass ihm Sachen, die für mich jetzt<br />

wichtig sind, nicht so wichtig sind.« Gerhard<br />

Schröder hatte schon größere Sorgen als ein<br />

paar Feinde im Ortsverein, er sagte Nein zum<br />

Irakkrieg und hatte Weltmächte gegen sich.<br />

»Ab und zu hat es was Beruhigendes, wenn er<br />

sagt: Das ist doch alles nicht so schlimm.<br />

Dann wieder denke ich, jetzt könnte er aber<br />

etwas sensibler sein.«<br />

Hat Gerds Sensibilität sie beeindruckt, als<br />

sie ihm begegnete? Wohl eher das Gegenteil:<br />

dass es ihn nicht scherte, was die anderen<br />

dachten. Vierte Ehe? Egal. Auch in der Politik<br />

war das Mitfühlen nicht sein Spe zial ge biet.<br />

Medienkanzler. Genosse der Bosse. Basta-<br />

Kanzler. All diese Namen hatte er, weil er vor<br />

Kraft nur so strotzte. Es ist eine Art, Politik zu<br />

machen, die in Deutschland heute nicht mehr<br />

funktioniert. Sie wurde beerdigt in der Elefantenrunde<br />

am Wahl abend 2005, als ihm<br />

Foto: Wolfgang Wilde für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.wolfgangwilde.de; kl. Fotos: Michael Kappeler/ddp (o.); David Hecker/ddp


DOSSIER<br />

nicht in den Kopf ging, dass er abgewählt war.<br />

Ausgerechnet Angela Merkel sollte ihn ersetzen!<br />

Jemand, der keine Sprüche klopfen kann. Noch<br />

dazu: eine Frau.<br />

»Ich bin ja Instinktpolitiker, die werden nicht<br />

mehr gebraucht«, sagt er betont gleichgültig. Heute<br />

gewinnen Typen wie Olaf Scholz die Wahl.<br />

Olaf Scholz, der unter Schröder Generalsekretär<br />

war. Braver Mann, findet der Ex-Kanzler. Er könnte<br />

auch sagen: was für ein Langweiler. Stephan<br />

Weil, der Spitzenkandidat der niedersächsischen<br />

SPD, ist auch so einer. Es ist eine Ge ne ration<br />

von Politikern, die still die Arbeit erledigt,<br />

die zu tun ist. Doris Schröder-Köpf<br />

gehört auch dazu.<br />

Wäre sie Bundestagsabgeordnete und<br />

hätte über den Griechenland-Hilfsfonds zu<br />

entscheiden, sie wäre keine von denen, die<br />

die 726-seitige Vorlage vor der Abstimmung<br />

nicht gelesen haben. Wäre sie nicht<br />

seine Frau, würde Gerhard Schröder sagen:<br />

eine Langweilerin.<br />

Jetzt geht der Wahlkampf los. Doris<br />

Schröder-Köpfs Zwischenbilanz: In der<br />

Partei hat sie Freunde, und die Feinde respektieren<br />

sie. Sie hat einen guten Listenplatz,<br />

und für ihr Wahlkreisbüro hat sie<br />

eine »durchwurfhemmende Verglasung« in<br />

Auftrag gegeben. Gerd hat versprochen,<br />

dass jetzt mal ihre Termine vorgehen. Er<br />

gibt ihr Ratschläge, und sie schlägt sie aus.<br />

Für den Anfang läuft es nicht schlecht.<br />

Auf die Frage, wofür sie ihren Mann<br />

braucht, antwortet sie: »Für das konkrete<br />

praktische Leben.« Geburtstagsgeschenke für<br />

die Kinder kaufen, zum Elternabend gehen.<br />

»Er arbeitet sich da ein, es klappt schon ganz<br />

gut.« Sie redet ihren Mann auf Hannover-<br />

Format runter. Das ist der kleine Sieg in<br />

ihrem persönlichen Emanzipationskampf,<br />

ihrer »Befreiung aus dem Gattinnenkerker«,<br />

wie sie es nennt. Vielleicht kann man mehr<br />

in diesem Kampf zwischen so ungleichen<br />

Gegnern auch gar nicht erwarten.<br />

In China hat Gerhard Schröder, nachdem<br />

er ausgiebig ihre Geradlinigkeit gelobt<br />

hatte, gesagt: »Es gibt keine Konkurrenz<br />

zwischen uns, auch wenn sie das vielleicht<br />

anders sieht.« Danach hat er von der Kamera<br />

scheu seiner Frau erzählt. Er glaubt,<br />

dass sie nicht gern im Fernsehen ist, weil<br />

man im Fernsehen spontan reagieren muss.<br />

Er er innert sich an eine Livesendung, bei<br />

Erster Auftritt<br />

der Kandidatin<br />

Doris Schröder-<br />

Köpf in ihrem<br />

Wahlkreis: Sie<br />

sammelte Müll –<br />

eine wenig<br />

glamouröse<br />

Aufgabe<br />

der sie vor längerer Zeit zu Gast war. »Da<br />

hat sie sich vorbereitet bis zum Gehtnichtmehr,<br />

tagelang, und dann ...«, Kunstpause,<br />

»... dann kamen die erwarteten Fragen<br />

nicht!« Sie war fixiert auf das, was sie sich<br />

zurechtgelegt hatte. Sie war nicht locker.<br />

Eine Katastrophe. »Die Leute müssen doch<br />

unterhalten werden«, sagt Schröder, »selbst<br />

in ernsten politischen Sendungen. Wir<br />

müssen da mal ein Späßchen machen und<br />

dann wieder ernst werden.« Späßchen – so<br />

was kann sie nicht, noch weniger als Merkel.<br />

Und sie will es auch nicht.<br />

Diesmal sollen es bloß 90 Sekunden<br />

werden. Ein Videodreh. In der Kleinstadt<br />

Springe hält die SPD ihren Kandidatenkonvent<br />

ab. Ein Treffen der 87 Landtagsanwärter,<br />

bei dem auch Fotos für die Wahlplakate<br />

und You Tube-Clips gemacht werden.<br />

»Mein Name ist Doris Schröder-Köpf«,<br />

sagt sie im Studio, »ich bin 49 Jahre alt, ver-<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 15<br />

heiratet, habe drei Kinder mit 21, elf und<br />

sieben Jahren.« Bei »Ich lebe in Hannover-<br />

Waldhausen« verhaspelt sie sich zum ersten<br />

Mal. Die helle Stimme wird dünn, die Farbe<br />

weicht aus dem Gesicht. Noch mal. Und<br />

dann noch mal. Anderthalb Minuten.<br />

Name, Alter, Beruf, politische Schwerpunkte.<br />

Fünf Anläufe braucht sie. Es ist so<br />

einfach. Es ist so schwer. Aber irgendwann<br />

ist es gut. Ihr Mann kommt nicht vor, außer<br />

in dem Wort »verheiratet«.<br />

Irgendwo in Hannover kümmert sich<br />

zur selben Zeit Gerhard Schröder um die<br />

Kinder. Er weiß, wie man in Peking Vertreter<br />

der chinesischen Nomenklatura umgarnt<br />

und wie man es mit einer Weltmacht<br />

aufnimmt, aber er weiß nicht, wie er zu<br />

Hause reinkommen soll. Er hat den Hausschlüssel<br />

vergessen. Und so wartet Gerhard<br />

Schröder auf seine Frau, damit sie ihm eine<br />

Tür öffnet.<br />

Foto: Frank Wilde


Fotos: ullstein (Rahmen); PR (u.); bildstelle (o.); David Price/Arsenal FC/Getty Images; Montage: DZ<br />

WOCHENSCHAU<br />

Ökologische<br />

Bürgerwehr<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Herr Bender, Sie sind zwar noch jung,<br />

aber sammeln Sie schon Karriere-Erinnerungsstücke,<br />

die ins neue Fußballmuseum passen könnten?<br />

Sven Bender: Ich habe ein paar Trikots zu Hause.<br />

Die von vor sechs, sieben Jahren sehen schon richtig<br />

alt aus; gerade in der Trikotbranche tut sich ja viel.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Hängen die bei Ihnen an der Wand?<br />

Bender: Dann wären da jetzt schon drei Schichten!<br />

Ich habe sie alle nebeneinander auf einem Kleiderständer<br />

aufgehängt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Gewaschen?<br />

Bender: Ja, die werden einmal gewaschen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was ist Ihr wertvollstes Sammlerstück?<br />

Bender: Das weiß ich gar nicht ... Vom DFB gibt<br />

es bei der Meisterschaft und beim Pokalsieg für<br />

jeden Spieler eine Medaille. Manche lassen sich<br />

sogar von der Meisterschale oder vom Pokal ihr<br />

eigenes Exemplar nachmachen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: In klein?<br />

Bender: Auch im Originalformat. Ich hab das gemacht.<br />

Das sind doch Er inne run gen! Ich eröffne<br />

dann mein eigenes Museum.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Herr Neukirchner, Herr Engelke, da haben<br />

Sie einen harten Konkurrenten zu Ihrem Projekt!<br />

Lutz Engelke: Wir planen ja keine klassische Vitrinenausstellung.<br />

Es wird keine In fla tion von Wimpeln<br />

und Trikots geben, sondern eine szenische,<br />

fast theaterhafte Inszenierung zum Thema Fußball.<br />

Eine der Kernfragen ist: Wie schafft man es, die<br />

Bewegung, die Sta dion atmo sphä re, die ganzen<br />

Emo tio nen lebendig zu machen? Ein Museum<br />

scheint ja immer rückwärtsgewandt, stillgestellt zu<br />

sein. Aber wir wollen die Leute mit der Euphorie<br />

des Fußballs anstecken und emotionalisieren.<br />

Manuel Neukirchner: Ein Haus, das eine Art kollektives<br />

Gedächtnis des Fußballs ist, gibt es bislang<br />

nicht. Genau das wollen wir schaffen. Man soll die<br />

WM 1954 oder die WM 2006 richtig erleben<br />

können. Wir wollen zwar die historische Entwicklung<br />

des deutschen Fußballs zeigen, aber auch die<br />

Gegenwart des Fußballs ins Haus holen. Wir werden<br />

immer wieder aktuelle Ereignisse einbinden.<br />

Das müssen natürlich die Highlights sein, die sich<br />

auch in der Rückschau noch bewähren.<br />

Engelke: Diese magischen Momente wollen wir so<br />

inszenieren, dass die Besucher sie von überall sehen<br />

können. Das Haus wird ein Verwandlungshaus, in<br />

dem man sich für Momente fühlt wie im Sta dion<br />

– der Sound ändert sich, das Licht. Wir wollen Geschichte<br />

nicht linear erzählen, wir deuten sie.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Gibt es Vorbilder für solch ein Haus? Borussia<br />

Dortmund hat ja auch ein Museum.<br />

Bender: Das kann ich sehr empfehlen! Aufgrund<br />

unserer Erfolge in den letzten Jahren muss das<br />

auch immer wieder aktualisiert werden.<br />

Engelke: Vorbilder sind alle modernen Mu seen, die<br />

nicht einfach eine lineare Geschichte erzählen, sondern<br />

in der Lage sind, über crossmediale Inszenierungen<br />

Besucher ganz anders zu faszinieren. Im<br />

Bereich Fußball gibt es das bisher nicht. Wir haben<br />

uns alles angesehen, von Barcelona bis Madrid und<br />

München. Die haben respektable eigenständige<br />

Konzepte, aber wir gehen einen Schritt weiter. Wir<br />

nähern uns dem Fußball von zwei Seiten: einmal<br />

über die Nationalmannschaft, zum anderen über<br />

die Entwicklung des Vereinssports seit 112 Jahren.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Der DFB wurde im Jahr 1900 gegründet.<br />

Warum entsteht das Museum erst jetzt? Weil sich<br />

der Verband mit seiner Vergangenheit schwertut?<br />

Neukirchner: Weil sich erst nach einer gewissen<br />

Zeit ein historisches Bewusstsein entwickelt hat.<br />

Zuerst kam dieser Gedanke im Jahr 2000 zum<br />

100-jährigen Bestehen auf. Da gab es in Oberhausen<br />

die große Ausstellung Der Ball ist rund<br />

und die Idee, daraus etwas Dauerhaftes zu machen.<br />

Aber dafür braucht man auch Mittel. Aufgabe<br />

des DFB ist die Förderung des Fußballs und<br />

nicht, ein Mu seum zu errichten. Dann kam die<br />

tolle WM 2006, die dem DFB auch einen wirtschaftlichen<br />

Gewinn beschert hat, und der Verband<br />

beschloss: Wir wollen den Menschen im<br />

Land, die mit ihrer Begeisterung zum »Sommermärchen«<br />

beigetragen haben, etwas Nachhaltiges<br />

zurückgeben. Das ist das Fußballmuseum.<br />

Süßlich fies riecht es, und der meterweite Auswurf<br />

seiner platzenden Samenkapseln lässt gestandene<br />

Männer erschrecken: Impatiens glandulifera, das<br />

aus dem Himalaya als Indisches Springkraut zu uns<br />

gelangte und seither Uferstreifen zu Keimstätten<br />

<strong>ZEIT</strong>: Hat der DFB denn eine eigene Sammlung?<br />

Neukirchner: Ein Archiv. Das Sammelbewusstsein<br />

jedes Präsidenten war anders ausgeprägt. Für manche<br />

Epochen hat man mehr, für manche weniger.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was werden Ihre »Meisterwerke« sein?<br />

Neukirchner: Für mich ist das Highlight der Endspielball<br />

von 1954. Es gab Gerüchte, wir besäßen<br />

nicht das Original. Lassen Sie sich davon nicht irritieren:<br />

Wir besitzen ihn! Sepp Herberger hat ihn<br />

nach dem Spiel mitgenommen. Wenn man sich<br />

den Ball anguckt, bekommt man eine Gänsehaut.<br />

Engelke: Ein Freund von mir hat ein Interview mit<br />

jemandem geführt, der beim Spiel hinter Toni<br />

Tureks Tor stand, kurz vor Schluss den Ball fing<br />

und ihn zehn Sekunden festhielt, sodass Puskás<br />

mit der Ecke warten musste – der Mann behauptet,<br />

eigentlich habe er damit verhindert, dass Ungarn<br />

doch noch Weltmeister wurde.<br />

Neukirchner: Ein weiteres Highlight ist das Endspieltrikot<br />

von Gerd Müller von 1974. Wir haben<br />

es über Wim Rijsbergen bekommen, Müllers damaligen<br />

Gegenspieler, der jetzt Entwicklungshelfer<br />

in Somalia ist. Aber viele denkbare Exponate<br />

sind schon weg. Deshalb gehen wir an die Spieler<br />

selber heran, die Fußballgeschichte geschrieben<br />

haben. Raúl zum Beispiel hat uns sein 400. Profitor<br />

mit seinem Matchtrikot und seinem Matchball<br />

gewidmet. Das ist auch etwas Besonderes.<br />

Engelke: Wir bauen ja kein Museum um Objekte<br />

herum – es ist genau umgekehrt! Wir entwickeln<br />

ein Konzept um Geschichten herum. Wenn authentische<br />

Objekte gut dazu passen, ist es wunderbar.<br />

Aber wenn wir keine haben, brauchen wir sie<br />

zum Teil gar nicht, weil wir ganz anders erzählen.<br />

Wir sind keine Devotionaliensammlung.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Bei aller Bedeutung der Inszenierung werden<br />

Sie dennoch Objekte mit Aura brauchen.<br />

Neukirchner: Die haben wir! Wir werden 500 bis<br />

600 Exponate haben, symbolträchtige Dinge, ein<br />

Trikot von Charly Mai aus dem 54er Endspiel, einen<br />

Trenchcoat von Herberger oder die Schreib-<br />

seiner völlig hemmungslosen Vermehrung macht.<br />

Besorgte Gärtner erheben mutig die Stimme<br />

gegen die »undurchdringlichen Massenbestände«,<br />

sie sehen »die einheimische Flora und Fauna<br />

bedroht«. Vielerorts bilden sich ökologische<br />

Bürgerwehren, die den Eindringling in<br />

Sondereinsätzen einen Kopf kürzer machen oder<br />

ihn rauschhaft niedertrampeln. In Murnau, hat<br />

der Münchner Merkur kürzlich auf seiner<br />

Internet-Seite berichtet, seien 30 Freiwillige vom<br />

Ein Kieferbruch für die Ewigkeit<br />

Der deutsche Fußball<br />

bekommt ein Museum.<br />

Wie sieht das aus, was<br />

gehört hinein? Ein Gespräch<br />

über legendäre Bälle, das<br />

letzte Wort zum Wembley-<br />

Tor und ausstellungswürdige<br />

Verletzungen<br />

Museumsreif? Im Spiel gegen Arsenal<br />

London erleidet Sven Bender von<br />

Borussia Dortmund einen doppelten<br />

Kieferbruch, November 2011<br />

Das Ballhaus<br />

An diesem Donnerstag wird vor<br />

dem Dortmunder Hauptbahnhof der<br />

Grundstein gelegt für das Fußballmuseum<br />

des DFB. Eröffnet werden<br />

soll es im Herbst 2014. Zum Gespräch<br />

über den zukünftigen Gedächtnisort<br />

des deutschen Fußballs<br />

trafen sich auf dem Trainingsgelände<br />

von Borussia Dortmund zwei der<br />

Verantwortlichen und ein Profi: Manuel<br />

Neukirchner, Geschäftsführer<br />

der Stiftung DFB Fußballmuseum,<br />

Ausstellungsmacher Lutz Engelke,<br />

mit seiner Firma Triad zuständig für<br />

die Inszenierung der Museumsinhalte,<br />

sowie Sven Bender, Spieler bei<br />

Dortmund und in der Nationalelf.<br />

maschine, auf der er seine Notizen geschrieben hat.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was hätten Sie gerne, was schon weg ist?<br />

Engelke: Den Ball vom WM-Finale 1966 mit dem<br />

legendären Wembley-Tor! Aber der ist natürlich in<br />

England. Helmut Haller hat ihn nach dem Spiel<br />

mit nach Italien genommen, doch der englische<br />

Fußballverband hat ihn wieder eingefordert und<br />

einige Jahre später auch bekommen. Von dort<br />

kriegen wir ihn natürlich nicht zurück, denn am<br />

Ende verrät ein Abdruck der Torlinie auf dem Leder<br />

noch, was wir in Deutschland alle wissen: Der<br />

Ball war nicht drin! Aber wir haben dazu eine spezielle<br />

Inszenierung im Museum: Das Ganze wird<br />

aussehen wie eine Szene aus dem Tatort. Und natürlich<br />

wird es auch eine Hall of Fame geben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie kommt man da hinein? Steht Sven<br />

Bender schon auf der Warteliste?<br />

Neukirchner: Ein junger Spieler wie er braucht<br />

dafür sicherlich noch ein paar Jahre. Den Modus<br />

müssen wir noch festlegen: Bezieht man in eine<br />

solche Wahl die Besucher mit ein? Macht man das<br />

mit einer Fachjury?<br />

<strong>ZEIT</strong>: Herr Bender, wäre es für Sie ein Ziel, da hineinzukommen?<br />

Bender: Ja, mit Sicherheit. Ich glaube, dass jeder<br />

Spieler das Ziel hat, nach seiner aktiven Zeit nicht<br />

vergessen zu werden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Welche Spieler fallen Ihnen sofort ein, die<br />

dort hineinmüssten?<br />

Bender: Gerd Müller, Sepp Maier, Beckenbauer ...<br />

<strong>ZEIT</strong>: Lauter Bayern! Und das aus dem Munde<br />

eines Dortmunders ...<br />

Bender: Was soll ich denn machen? Die waren nun<br />

mal historische Figuren. Man kann da sehr viele<br />

Spieler aufzählen, ganze Mannschaften, die Weltmeister<br />

von 1990, von 1974 ... Ich bin gespannt,<br />

wie ihr das hinkriegt.<br />

Neukirchner: Das ist wirklich kompliziert. Außerdem<br />

stellen sich Fragen wie: Nimmt man die Trainer<br />

mit dazu? Und Frauen?<br />

<strong>ZEIT</strong>: Herr Bender: Frauen – ja oder nein?<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 16<br />

Krieger- und Soldatenverein, von Murnau<br />

Miteinander sowie vom Verschönerungsverein<br />

gemeinsam in »steiles Gelände« ausgerückt,<br />

um »den Vormarsch« zu stoppen. Ungebetene<br />

Gastpflanzen – raus aus deutschen Auen!<br />

Bender: Fangfrage! Aber nach all den Erfolgen gehören<br />

sie wohl hinein, alles andere wäre Quatsch.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Herr Engelke, wie werden Sie es mit den<br />

weniger rühmlichen Momenten des deutschen<br />

Fußballs halten? Wird ein Satz wie der von Berti<br />

Vogts, dass er in Argentinien bei der WM 1978<br />

von der Diktatur nichts mitbekommen haben will,<br />

auch seinen Platz finden?<br />

Engelke: Ja, sicher, wir blenden nichts aus. Die gesamte<br />

Geschichte des DFB wird entlang von 114<br />

Objekten erzählt, für jedes Jahr eins. Es wird auch<br />

eine eigene Inszenierung zum Nationalsozialismus<br />

geben. Da werden wir zum Beispiel über Fußball<br />

in Konzentrationslagern berichten.<br />

Neukirchner: Es gibt einen Pokal, der von Inhaftierten<br />

des Konzentrationslagers Dachau aus Holz<br />

geschnitzt worden ist. Dort wurde ja auch Fußball<br />

gespielt, zur Belustigung des Wachpersonals. Die<br />

Gefangenen aus dem Küchentrakt traten an gegen<br />

Gefangene aus einem anderen Trakt. Es existiert<br />

sogar eine Urkunde: »Sieger Küchentrakt«. Um<br />

den Pokal haben wir uns bemüht, aber den möchte<br />

die Stiftung in Dachau selber ausstellen. Auch<br />

eine Figur wie Tull Harder, der in den zwanziger<br />

Jahren Nationalspieler war und später KZ-Aufseher<br />

wurde, muss bei uns ein Thema sein.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie werden Sie die Inszenierung der magischen<br />

Momente mit dem Er innern an die dunklen<br />

Seiten des Fußballs zusammenbringen?<br />

Neukirchner: Wir haben viel darüber diskutiert.<br />

Wie geht man damit um, dass sich ein Besucher<br />

gerade mit Harder beschäftigt und auf der großen<br />

Medienfläche plötzlich Gerd Müller das Siegtor<br />

von 1974 schießt? Ich habe gesagt: Das kann man<br />

nicht machen, wir müssen einen geschlosseneren<br />

Raum schaffen, was ein bisschen gegen die Grunddramaturgie<br />

des Hauses geht. Claudia Roth von<br />

den Grünen, mit der wir unser Ausstellungskonzept<br />

diskutiert haben, meinte dagegen: Ein Pokal<br />

aus dem KZ gehört zwischen alle anderen Pokale!<br />

Das sind Dinge, die uns sehr beschäftigen. Aber<br />

wir haben ja noch Zeit bis 2014.<br />

Engelke: Eine Sache, die ich zum Beispiel gerne<br />

verifizieren würde, ist eine Aussage des russischen<br />

Linienrichters Tofik Bachramow, der beim Wembley-Tor<br />

der Engländer gegen die Deutschen im<br />

WM-Finale 1966 der entscheidende Mann war.<br />

Als er auf dem Sterbebett lag, 1993, hat ihn sein<br />

Sohn gefragt: »Warum hast du das Tor eigentlich<br />

gegeben?« Da soll er angeblich nur ein Wort gesagt<br />

haben: »Stalingrad.«<br />

<strong>ZEIT</strong>: Zurück in die Gegenwart. Herr Bender, gab<br />

es in Ihrer Karriere auch schon Momente, von denen<br />

Sie sagen würden: Das ist museumsreif?<br />

Bender: Ich hatte in den letzten Jahren mit zwei<br />

Meisterschaften und dem Pokalsieg einige sehr,<br />

sehr große Momente. Aber einer der schönsten<br />

war der EM-Titel mit der U 19. Wir hatten damals<br />

enormen Druck, weil es schon lange keinen<br />

Jugendtitel mehr für den DFB gegeben hatte. Als<br />

dann mein Zwillingsbruder Lars das 1 : 0 gemacht<br />

hat – das war wirklich ein genialer Moment.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Bleiben auch die unschönen Momente in<br />

Er inne rung? Wir zitieren mal aus Ihrer Krankenakte:<br />

Rippenprellung; Sprunggelenk, Hüfte, Schulter<br />

verletzt; Innenbanddehnung; Kieferbruch.<br />

Bender: Ja, mein Gott, das gehört halt dazu.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Vielleicht sollten Sie dem Museum Ihre<br />

Krankenakte zur Verfügung stellen!<br />

Bender: Oder vielleicht die Platten, mit denen<br />

mein Kiefer geflickt wurde ... Wie ich das hinbekommen<br />

habe, ist natürlich auch ein historisches<br />

Highlight: Da fällt einer über mein Knie und verpasst<br />

mir mit dem Hacken von seinem Schuh einen<br />

doppelten Kieferbruch. So was hat es bislang<br />

nur beim Boxen gegeben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Würde eine Röntgenaufnahme vom Kieferbruch<br />

ins Museumskonzept passen?<br />

Neukirchner: Klar!<br />

Bender: Oder ich stelle mich live hin! Das gibt so<br />

ein Gänsehaut-Feeling – Geschichte zum Anfassen.<br />

Das Gespräch führten MORITZ MÜLLER-WIRTH und<br />

CHRISTOF SIEMES


Abb.(Ausschnitt): Roger Viollet/StudioX; Fotos: M. Reichel/picture-alliace/dpa (l.); K. Kollwitz Museum, Köln (r.)<br />

17 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> No Drama im Bundestag:<br />

GESCHICHTE<br />

Am 1. Oktober 1982 wurde<br />

Helmut Kohl Kanzler S. 18<br />

<strong>39</strong><br />

Das Grab soll ausgehoben<br />

werden. So<br />

hat es der Stadtrat<br />

zu Hildburghausen<br />

im Thüringer<br />

Wald am 27. Juni dieses<br />

Jahres beschlossen, um endlich<br />

Gewissheit zu haben,<br />

um wen genau es sich bei<br />

der »Dunkelgräfin« handelt,<br />

die seit 1837 auf<br />

dem Stadtberg begraben<br />

liegt. Doch während<br />

die einen schon<br />

die Touristenbusse anrollen<br />

sehen und die<br />

Kassen klingeln hören,<br />

formieren sich andere<br />

zum Widerstand und<br />

fordern: Lasst sie ruhen!<br />

Wer nur war die geheimnisvolle<br />

Frau, die<br />

wegen ihrer grünen Brille<br />

und des Schleiers, der stets<br />

ihr Gesicht bedeckte, als<br />

»Dunkelgräfin« in die Geschichte<br />

eingegangen ist?<br />

Die Spur führt ins Paris der<br />

Revolution, ins Jahr 1795: Seit<br />

vier Jahren wird Marie Thérèse<br />

Charlotte de Bourbon, die 16-jährige<br />

Tochter des französischen Königs<br />

Ludwig XVI. und seiner Frau Marie<br />

Antoinette, im Temple gefangen gehalten.<br />

Sie hat hier die Hinrichtung ihrer Eltern und<br />

den Tod ihres Bruders miterleben müssen. Sie<br />

hat ein Jahr Einzelhaft hinter sich, umgeben<br />

von Soldaten, die, wie sie in ihrem Tagebuch<br />

schreibt, meist betrunken waren. Ob sie<br />

tatsächlich vergewaltigt wurde, lässt<br />

sich nicht sicher sagen. Aber es besteht<br />

kein Zweifel, dass die Haft<br />

dem jungen Mädchen schwere<br />

psychische Schäden zugefügt hat.<br />

Da die Prinzessin mehr und<br />

mehr zu einer Kultfigur der erstarkenden<br />

royalistischen Opposition<br />

wird, will die Revolutionsregierung<br />

sie so schnell<br />

wie möglich nach Österreich,<br />

in das Heimatland ihrer Mutter,<br />

abschieben. Andererseits<br />

befürchtet man, dass die Österreicher,<br />

mit denen sich die Franzosen<br />

damals noch im Krieg befinden,<br />

Marie Thérèse mit Erzherzog<br />

Karl, einem jüngeren Bruder<br />

des Kaisers, verheiraten könnten, um<br />

sich den Anspruch auf das Erbe der Prinzessin<br />

und auf den französischen Thron zu<br />

sichern. Ein Dilemma, aus dem es zunächst<br />

keinen Ausweg zu geben scheint.<br />

Offiziell wird die Prinzessin am 26. Dezember<br />

1795 in Basel an die österreichischen Behörden<br />

übergeben. Aber wie sagte Victor Hugo? »Es gibt<br />

zwei Arten von Geschichte: die offizielle, lügenhafte<br />

Geschichte und dann die geheime, wo die<br />

wahren Ursachen der Ereignisse liegen.« Die Geschichte<br />

der Tochter Marie Antoinettes ist dafür<br />

ein vollendetes Beispiel.<br />

Nach der offiziellen Geschichtsschreibung trifft<br />

sie Anfang Januar 1796 am Wiener Hof ein, wird<br />

freundlich aufgenommen und wie eine Tochter<br />

des Kaisers behandelt. 1799 heiratet sie ihren<br />

Cousin und lebt als Herzogin von Angou lême in<br />

Litauen und England – am Hof ihres Onkels,<br />

eines Bruders Ludwigs XVI. Nach der Vertreibung<br />

Napoleons kehrt dieser 1815 – als Ludwig XVIII.<br />

– mithilfe der Alliierten auf den wiedererrichteten<br />

französischen Königsthron zurück. Im Juli 1830<br />

aber kommt es zu einer erneuten Revolution in<br />

Paris und zur endgültigen Vertreibung der Bourbonen.<br />

Die Herzogin stirbt 1851 einsam und verbittert<br />

in Frohsdorf bei Wien.<br />

Die inoffizielle Version ist spektakulärer, nach<br />

neuesten Erkenntnissen aber die plausiblere.<br />

Das Grab<br />

im Wald<br />

Wer war die geheimnisvolle<br />

»Dunkelgräfi n« von<br />

Hildburghausen? Jetzt soll ihr<br />

Leichnam exhumiert werden<br />

VON CAROLIN PHILIPPS<br />

Schon im Januar 1796 schreibt Maria Karolina,<br />

Königin von Neapel und Schwester Marie Antoinettes:<br />

»Ich bin krank vor Angst, dass diese Bestien<br />

sich erlauben, ein anderes Mädchen anstelle meiner<br />

Nichte nach Wien zu schicken.« Und auch der englische<br />

Geheimagent Lord Wickham erhält von<br />

seinen Informanten beunruhigende Berichte von<br />

einer geplanten Flucht oder Entführung der Königstochter<br />

während ihres Aufenthalts in Basel. In<br />

den Archives nationales in Paris liegen zudem die<br />

Erpresserbriefe, die – Jahrzehnte später – eine ehemalige<br />

Untergouvernante an die Herzogin von<br />

Angoulême schreibt. In diesen Briefen droht sie<br />

damit, das Geheimnis der Vertauschung zu lüften.<br />

Bis zu ihrem Tod zahlt die Herzogin ein Vermögen<br />

an Schweigegeld.<br />

Die Korrespondenz belegt eindeutig, dass nicht<br />

die Tochter Marie Antoinettes in Wien angekommen<br />

ist, sondern ihre Halbschwester Marie<br />

Philippine, genannt Ernestine, eine uneheliche<br />

Tochter Ludwigs XVI. (Die Mutter ist eine seiner<br />

Kammerfrauen). Zusammen mit Marie Thérèse<br />

Marie Thérèse mit<br />

Bruder Louis<br />

Joseph, gemalt von<br />

Élisabeth Vigée-<br />

Lebrun 1787.<br />

Unten: Das Grab bei<br />

Hildburghausen<br />

wurde<br />

sie am Hof zu<br />

Versailles erzogen.<br />

Die Briefe, die Maria<br />

Karolina von Neapel zwischen 1796<br />

und 1799 an ihre Tochter, die österreichische<br />

Kaiserin, schickt, zeigen,<br />

dass man den Betrug in Wien<br />

schon sehr bald bemerkte. Das aber<br />

mochte niemand zugeben. Schließlich<br />

hatte der österreichische Unterhändler<br />

Dengelmann die Auslieferung<br />

der »richtigen« Königstochter<br />

offiziell quittiert – allerdings<br />

ohne sie jemals vorher gesehen zu<br />

haben. Es galt, das Gesicht zu wahren,<br />

wie Maria Karolina schrieb.<br />

Auch auf französischer Seite bemühte<br />

man sich um Geheimhaltung: An der Vertauschung<br />

beteiligt waren unter anderem Paul<br />

de Barras, der als Mitglied des Direktoriums für<br />

das Polizeiwesen zuständig war, und der Innenminister<br />

Pierre Bénézech. Sie gingen damit ein<br />

hohes Risiko ein. Wenn die Sache zum falschen<br />

Zeitpunkt aufflog, konnte dies nicht nur die<br />

Karriere der Beteiligten ruinieren, sondern auch<br />

die Beziehungen der französischen Regierung<br />

zum Hause Habsburg und zu anderen Herrscherhäusern.<br />

Immerhin war der Austausch ein<br />

offizieller Akt zwischen zwei Regierungen; das<br />

noch zweifelhafte Ansehen der Französischen<br />

Republik als Verhandlungspartner wäre auf lange<br />

Sicht zerstört worden.<br />

Als eines der größten Probleme erwies sich<br />

dabei die Unterbringung der echten Prinzessin.<br />

Niemand wusste, wie lange sie untertauchen musste.<br />

Und wann und ob man sich ihrer dereinst als<br />

Trumpfkarte bedienen würde – in dem Fall etwa,<br />

dass die Habsburger tatsächlich versuchen sollten,<br />

über eine Heirat Ansprüche auf den französischen<br />

Thron geltend zu machen.<br />

In diesen Zeiten der nachrevolutionären Kriege,<br />

die ganz Europa überzogen, gab es nur eine<br />

Institution, die überregional, politisch unabhängig<br />

und frei von gesellschaftlichen und religiösen<br />

Schranken agierte: die der Freimaurer. Es geht hier<br />

nicht um irgendeine der vielen Verschwörungstheorien,<br />

die den Freimaurern gerade in Zusammenhang<br />

mit der Französischen Revolution<br />

fälschlicherweise angehängt wurden<br />

und werden. Es geht hier allein um ihr<br />

Netzwerk, das einzigartig war – um 1790<br />

existierte beiderseits des Rheins in fast<br />

jeder größeren Stadt mindestens eine<br />

Freimaurerloge. Zudem waren alle an<br />

der Vertauschung Beteiligten Freimaurer,<br />

von den Regierungsmitgliedern<br />

Barras und Bénézech bis<br />

zu den französischen Gesandten<br />

in Basel.<br />

In den Jahren nach 1796 wird die<br />

echte Marie Thérèse immer wieder<br />

an verschiedenen Orten gesehen,<br />

mal in Straßburg, mal im<br />

schwäbischen Ingelfingen. Wegen<br />

der großen Ähnlichkeit zwischen<br />

ihr und ihrer Halbschwester<br />

glauben die Menschen, sie hätten<br />

die Herzogin von Angoulême vor<br />

sich. Die aber lebt zu dieser Zeit<br />

längst viele Tausend Kilometer entfernt<br />

in Litauen.<br />

Von 1799 an sorgt Leonardus Corne<br />

lius van der Valck, vormals<br />

holländischer Gesandter in<br />

Paris, für den Schutz der<br />

Prinzessin – vermutlich im<br />

Auftrag des französischen<br />

Innenministers Talleyrand<br />

(der ebenfalls den<br />

Freimaurern angehört).<br />

1807 erscheinen van der<br />

Valck und Marie Thérèse<br />

schließlich im thüringischenHildburghausen,<br />

wo Herzog Karl von<br />

Mecklen burg-Strelitz Meister<br />

vom Stuhl der Freimaurerloge<br />

»Karl zum Rautenkranze« ist<br />

und seine Tochter Charlotte amtierende<br />

Herzogin. Zwischen der Herzogsfamilie und Marie<br />

Antoinette hat zu deren Lebzeiten eine intensive<br />

Freundschaft bestanden.<br />

Hier findet Marie Thérèse endlich ihren Frieden,<br />

so wie sie es sich gewünscht hat, als sie noch<br />

im Gefängnis saß: »Ich schließe manchmal meine<br />

Augen und denke mir, dass ich in einem einsamen<br />

Schlosse wohne, umgeben nur von einigen treuen<br />

Menschen, die mich ebenso lieben wie ich sie [...],<br />

und dass die Menschen, denen ich begegne, gar<br />

nicht ahnen, wer ich bin.« Die Gerüchteküche<br />

allerdings brodelt schon damals, aber van der Valck<br />

besitzt genügend Geld, um die Anonymität seiner<br />

Begleiterin zu wahren. 1837 stirbt die »Dunkelgräfin«<br />

und wird auf dem Stadtberg oberhalb von<br />

Hildburghausen begraben.<br />

Da alle, die von der Vertauschung wussten, es<br />

tunlichst vermieden, schriftliche Spuren zu hinterlassen,<br />

bleiben für Skeptiker bis heute Fragen<br />

offen. Deshalb soll jetzt, 175 Jahre später, eine<br />

DNA-Analyse klären, ob die »Dunkelgräfin« tatsächlich<br />

die Tochter Ludwigs XVI. war. Eine Bürgerinitiative<br />

hat erreicht, dass die Hildburghausener<br />

zuvor abstimmen dürfen, ob die Leiche der Gräfin<br />

ans Licht gezerrt werden soll. Doch abgesehen von<br />

der ethischen Frage, ob neue Erkenntnisse um den<br />

Preis der Totenruhe gewonnen werden sollten, ist<br />

es auch zweifelhaft, ob dies überhaupt Klarheit<br />

bringen würde. Der Stadtberg war zwischen 1967<br />

und 1991 Sperrgebiet der sowjetischen Armee.<br />

Ältere Hildburghausener berichten, dass das Grab<br />

in dieser Zeit geöffnet worden sei – womöglich<br />

suchte man nach wertvollen Beigaben. Die Untersu<br />

chung eines bereits unkontrolliert geöffneten<br />

Gra bes kann aber kaum den Ansprüchen der Wissenschaft<br />

genügen. So wird, wie immer die Bürger<br />

entscheiden, der Schatten eines Zweifels bleiben,<br />

wer die geheimnisvolle »Dunkelgräfin« wirklich war.<br />

Die Autorin ist Historikerin und lebt in Hamburg.<br />

Mehr zum Thema in ihrem Buch »Die Dunkelgräfin.<br />

Das Geheimnis um die Tochter Marie Antoinettes«,<br />

das im April erschienen ist (Piper Verlag; <strong>39</strong>3 S., 10,99 €)<br />

Porträt der Epoche<br />

In Köln sind die faszinierenden Fotos<br />

der Lotte Jacobi zu sehen<br />

Was für eine gloriose Reihe: Marianne Breslauer, Ilse<br />

Bing, Yva, Gisèle Freund, Ger maine Krull, Aenne<br />

Biermann, Ruth Hallensleben, Frieda Riess, Suse<br />

Byk, Lucia Moholy ... und so viele Fotografinnen<br />

mehr, die als junge Frauen in der Weimarer Republik<br />

Furore und Fotogeschichte machten. Zu dieser Generation<br />

gehört auch Lotte Jacobi, Tochter einer<br />

Fotografenfamilie, 1896 in Thorn an der Weichsel<br />

geboren. Eigentlich wollte sie weg vom Gewerbe der<br />

Alten, wollte Imkerin werden und alles Mögliche<br />

andere. Aber dann erlag sie doch dem angeborenen<br />

Talent, stieg in das väterliche Unternehmen ein, das<br />

nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin umgezogen<br />

war – und wurde eine der Großen ihrer Zunft.<br />

Das Käthe Kollwitz Museum in Köln zeigt jetzt<br />

mehr als 100 Bilder Jacobis, in denen sich die Geschichte<br />

des 20. Jahrhunderts spiegelt. Im Mittelpunkt<br />

die Porträts aus dem Deutschland der Zwanzi<br />

ger, sowohl Auftragswerke als auch Pressefotos.<br />

Ikonen der Fotokunst sind darunter wie ihre Bildnisse<br />

von Lotte Lenya, Karl Valentin, Käthe Kollwitz,<br />

Klaus und Erika Mann oder der Tänzerin<br />

Niura Nor skaya von 1929 (unser Bild oben). Daneben<br />

stehen ihre Reportagen aus der Sow jet union<br />

der frühen drei ßiger Jahre, ihre Arbeiten aus dem<br />

amerikanischen Exil (Thomas Mann und Albert<br />

Einstein in Prince ton, 1938) und aus ihren späteren<br />

Jahren in den USA, wo sie 1990 auch gestorben ist.<br />

»Mein Stil ist der Stil der Menschen, die ich photographiere«,<br />

hieß eine ihrer Maximen – ein Bekenntnis<br />

zum Individualismus in einer brutalen Epoche,<br />

die auf den Einzelnen keine Rücksicht nahm.<br />

Käthe Kollwitz Museum, bis zum 25. November;<br />

Köln, Neumarkt 18–24; Tel. 0221/227 28 99<br />

<strong>ZEIT</strong>LÄUFTE<br />

SCHAUPLATZ: KÖLN<br />

onfession macht kitzelig. Ein böser Zank<br />

K<br />

um archaische Riten, ein zotiges Filmchen<br />

im Internet, die hämische Erinnerung an<br />

die Niederlage auf irgendeinem irischen<br />

Schlachtfeld vor 300 oder 500 oder 10 000 Jahren<br />

– schon ist der Fromme entflammt, schon rast der<br />

beleidigte Glaube, das religiöse Gefühl.<br />

Ganz anders hingegen das demokratische Staatsbürgertum!<br />

Da werden unsere Par lamen ta rier in<br />

den Untersuchungsausschüssen zum Naziterror des<br />

NSU, da wird die ganze Republik seit einem Jahr<br />

von sogenannten Verfassungsschützern, von Innenministerien,<br />

von Bundeswehrstellen und Polizeibehörden<br />

nach Strich und Faden verhöhnt und zum<br />

Narren gehalten – aber alles bleibt gleichmütig und<br />

sanft, und selbst in unseren unbestechlichen Medien<br />

flötet es nur fröhlich von »Pannen«. Da wurde<br />

»vergessen« und »verlegt«, da werden, so scheint es,<br />

mutmaßliche Mordkumpane aus den Amtsstuben<br />

heraus gedeckt, doch niemand fühlt sich beleidigt,<br />

niemand demonstriert.<br />

Wie gut, dass Demokratie nur irgendeine Staatsform<br />

ist, dass sie keine religiösen Gefühle weckt.<br />

Und dass niemand an sie glaubt. B.E.


Es wurde ein<br />

langer Weg<br />

zur Macht für<br />

Helmut Kohl.<br />

Doch am<br />

1. Oktober 1982<br />

war es so weit:<br />

Der Bundestag<br />

wählte ihn<br />

zum Kanzler<br />

VON<br />

GUNTER HOFMANN<br />

GESCHICHTE<br />

»Total unfähig«,<br />

aber<br />

am Ziel<br />

Am 1. Oktober 1982 um<br />

15.12 Uhr geht im Plenarsaal<br />

des Deutschen<br />

Bundestags in Bonn am<br />

Rhein ein Traum in Erfüllung:<br />

»Herr Präsident,<br />

ich nehme die Wahl an.«<br />

Der Abgeordnete Helmut Kohl, ehemals Ministerpräsident<br />

in Mainz, Vorsitzender der<br />

CDU seit 1973, seit 1976 auch Op po si tionsfüh<br />

rer in Bonn, ist mit 52 Jahren zum sechsten<br />

Kanzler der Bundesrepublik Deutschland<br />

gewählt, der Jüngste in diesem Amt.<br />

256 Abgeordnete von CDU/CSU und FDP<br />

votierten für Kohl, die absolute Mehrheit –<br />

aber es waren nur sieben Stimmen ȟber den<br />

Durst«. Rasch rechneten Journalisten nach,<br />

dass insgesamt 19 Freidemokraten sich geweigert<br />

haben mussten, der Frak tions spit ze so wie<br />

Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf<br />

Lambsdorff zu folgen. Diese 19 Getreuen, von<br />

denen viele später die FDP verließen, hatten<br />

Per Misstrauensvotum<br />

wird SPD-Kanzler Helmut Schmidt gestürzt.<br />

Da die FDP bereits zuvor an die<br />

Seite der CDU gewechselt ist, steht Helmut<br />

Kohl der Weg ins Kanzleramt offen<br />

keinen Grund gesehen, den hochrespektierten<br />

und populären SPD-Regierungschef Helmut<br />

Schmidt mittels eines konstruktiven Misstrauensvotums<br />

aus dem Amt zu katapultieren.<br />

Ein Regierungswechsel in dieser Form war<br />

ein Novum. Zehn Jahre zuvor, 1972, hatte es<br />

schon einmal ein konstruktives Misstrauensvotum<br />

gegeben. Damals war CDU-Chef Rainer<br />

Barzel bei dem Versuch gescheitert, den SPD-<br />

Kanzler Willy Brandt auf dem Höhepunkt seines<br />

An sehens zu stürzen und sich an seiner Stelle<br />

in das Amt wählen zu lassen. Entsprechend<br />

lange hatte Kohl gezögert, den Machtwechsel<br />

auf diese Weise zu wagen, nie ging ihm das Deba<br />

kel von 1972 aus dem Sinn. Aber im entscheidenden<br />

Moment hatte er mehr Glück als Barzel.<br />

In der Parlamentsdebatte an jenem 1. Oktober<br />

1982 spiegelte sich wider, wie fragmentiert<br />

die Bundesrepublik war, wie in sich zerrissen die<br />

Volksparteien dastanden, vor allem die So zialdemo<br />

kra ten. Viele Genossen zogen die Rückkehr<br />

in die Op po si tion vor. Im Land brodelte<br />

es. Die Friedensbewegung mobilisierte Hunderttausende<br />

im Widerstand gegen Schmidts<br />

»Nachrüstungs«-Pläne; es waren die größten<br />

De mons tra tio nen, die Bonn je erlebt hatte.<br />

Schmidt hatte Not, den Deckel daraufzuhalten.<br />

Das Land sollte berechenbar bleiben und<br />

die Politik reserviert für die demokratischen<br />

In sti tu tio nen. Für einen Aufbruch in Neues,<br />

für die Öffnung nach unten und die Integration<br />

der Jungen, Bürgerbewegten und Grünen<br />

stand der So zial demo krat aus Hamburg nicht.<br />

Trotz der zunehmend erodierenden SPD<br />

hat te Kohl unendlich lange, zuletzt geradezu<br />

verbissen auf seine Stunde hinarbeiten müssen.<br />

Alles musste er sich erkämpfen, zum Schluss sah<br />

er sich von versteckten Gegnern umstellt, die<br />

ihn demontieren oder vorzeitig be erben wollten.<br />

Vor allem »die Medien« hielt er für verschworene<br />

Widersacher. Ihre oft polemische Häme über<br />

den tumben Hünen aus der pfälzischen Provinz<br />

traf ihn tief. Und tatsächlich klebte das Bild an<br />

ihm fest, verbreitete sich über die Landes grenzen<br />

hinaus. »Exit a great man, enter a large one«,<br />

titel te der Guar dian am Tag nach der Wahl.<br />

Ende 1969, beim ersten großen Machtwechsel<br />

der Republik, hatte sich die allgemeine<br />

Seelenlage noch ganz anders ausgenommen.<br />

Bonn vibrierte geradezu vor Neuanfangslust.<br />

Zum ersten Mal eine Regierung ohne CDU –<br />

noch in der Wahlnacht hatte Willy Brandt der<br />

bisher regierenden Großen Koa li tion unter<br />

CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger eine Absage<br />

erteilt. Brandts Parteigenossen Herbert<br />

Wehner und Helmut Schmidt waren düpiert,<br />

während FDP-Chef Walter Scheel sich mit ihm<br />

verbündete, um trotz knapper Mehrheit das<br />

sozialliberale Koa li tions-Experiment zu wagen.<br />

Um die Ostpolitik ging es, und irgendwie auch<br />

um den Aufbruch in die »Moderne«.<br />

Wie anders jetzt! Das bisschen sollte ein<br />

Anfang sein? Okay, Kohl hatte es geschafft,<br />

hatte seinen alten CSU-Rivalen aus Bayern,<br />

Franz Josef Strauß, ausgesessen und abgeschüttelt,<br />

hatte Schmidt bezwungen. Die alte<br />

Koa li tion war verschlissen, die FDP ging von<br />

der Fahne. Aber was wies nach vorne? Eine<br />

»konservative Revolution« war kaum in Sicht,<br />

Strauß’ brachial autokratische Politik war außerhalb<br />

Bayerns nicht mehrheitsfähig, auch<br />

wenn er selber es immer noch<br />

nicht glauben wollte. Hans-<br />

Dietrich Genscher hatte den<br />

Wechsel betrieben – und stand<br />

dennoch eher für Kontinuität.<br />

Kohl, CDU-Parteimensch seit<br />

Jugendtagen, präsentierte sich<br />

gern als Volkes Stimme und<br />

Anwalt der kleinen Leute, als<br />

Mann der »Mitte« und »Antityp<br />

des Zeitgeistes«. Einen Wechsel bedeutete<br />

all das kaum. Denn für »Mitte« hatte<br />

schon Helmut Schmidt gestanden.<br />

Dessen Entscheidung für die nukleare<br />

»Nachrüstung« hielt das Gros der eigenen Anhänger<br />

(samt Willy Brandt, der es nicht offen<br />

aussprechen wollte) für einen versteckten Abschied<br />

von der Entspannungspolitik. Auch<br />

Schmidts Überzeugung, dass der Staat angesichts<br />

knapper Kassenlage und bei wachsender<br />

Arbeitslosigkeit nicht länger als Garant für alle<br />

Lebenseventualitäten auftreten könne, fand<br />

in der CDU gewiss mehr Zuspruch als unter<br />

den eigenen Genossen. Am So zial staat wollte<br />

Schmidt sparen, um ihn überlebensfähig zu<br />

halten, verabschieden wollte er ihn nicht. Aber<br />

das galt ganz ähnlich auch für die Christdemokraten;<br />

Kohls Leute Heiner Geißler und Norbert<br />

Blüm wachten darüber. Die Grünen hingegen,<br />

die sich allmählich als Partei formierten,<br />

wie das ganze gigantische Thema der Ökologie<br />

blieben dem Ökonomen Schmidt ebenso<br />

fremd wie seinem Nachfolger Kohl.<br />

Was diesen Abschied und Anfang vom<br />

1. Oktober 1982 dennoch mit starken Emotionen<br />

auflud, war etwas anderes: Die so zial libe rale<br />

Koa li tion galt vielen ihrer Verteidiger – nicht<br />

Schmidt – als ein politisch-kulturelles Projekt,<br />

die historischen Wurzeln verfolgten manche<br />

zurück bis zum Hambacher Fest. Diese Koa lition,<br />

von Brandt und Scheel begründet, hatte<br />

wirklich einen Neu anfang versucht, um »mehr<br />

Demokratie zu wagen«. Das Wort des Potsdamer<br />

Historikers Manfred Görtemaker von der<br />

»Umgründung« der Republik trifft es recht gut.<br />

Und das sollte nun vorbei sein und die Republik<br />

wieder in die Hände der Christdemokraten<br />

über gehen, die sich nach wie vor als die einzig<br />

wahre Staatspartei verstanden? Nicht einmal<br />

eine ostpolitische Wende hatte die CDU bisher<br />

gewagt, entsprechend der Wende hin zur Westpolitik,<br />

welche die SPD 1960 vollzogen hatte ...<br />

So war es nicht nur die geradlinige Liberale<br />

Hildegard Hamm-Brücher, die während der<br />

Parlamentsdebatte die »moralisch-sittliche Qualität<br />

des Machtwechsels« bezweifelte. Vielen<br />

erging es ähnlich – aber die Mehrheit war weg.<br />

Erbost verbat sich Kohl-Freund und CDU-General<br />

Geißler jeden Gedanken, mit dem Kanz-<br />

lersturz liege Verfassungswidriges in der Luft.<br />

»Verrat« nannte Klaus Bölling, Schmidts eloquenter<br />

Sprecher, wenig später im Spiegel das<br />

Verhalten der FDP. Schmidt selbst hatte es so<br />

scharf nicht formuliert. Altersmilde blickt er<br />

heute auf das Ende seiner Kanzlerschaft zurück:<br />

Zwar habe die FDP noch im Wahlkampf mit<br />

seinem Porträt geworben, aber schließlich sei es<br />

ja, so fügt er gern hinzu, die Leistung der Regierung<br />

Kohl ge wesen, seine Politik ohne großen<br />

Bruch fortgesetzt zu haben. Außerdem, nicht<br />

zu vergessen: Nach über acht Jahren im Kanzleramt<br />

sei man ohnehin am Ende der Kräfte.<br />

Kohl sah seinen Triumph über die »Sozen«<br />

naturgemäß ein bisschen anders. Gleich nach<br />

dem 1. Oktober blähte er ihn zur »geistig-moralischen<br />

Herausforderung« auf, eine Hyperwende<br />

versprach er, darunter tat er es nicht. Beeindrucken<br />

und ver einen sollte das vor allem die<br />

eigene Gefolgschaft, die an ihm zweifelte oder<br />

Strauß’ Linie nach wie vor überzeugender fand.<br />

Es blieb der Makel, vorerst, nicht vom Volk<br />

gewählt worden zu sein. 1976 hatte der Kandidat<br />

Kohl die Wahl verloren, trotz der 48,6<br />

Prozent, die er für die Unions par tei en geholt<br />

hatte. CDU/CSU waren daraufhin in die größte<br />

Krise ihrer Geschichte geraten. Damals hatte<br />

Kohl zunächst noch geschwankt, ob er zusätzlich<br />

zum Parteivorsitz die Frak tion übernehmen<br />

und als Op po si tions füh rer nach Bonn gehen<br />

solle. Franz Josef Strauß aber begnügte sich<br />

nicht mit solchen Quisquilien. Er dröhnte, die<br />

CDU habe im Norden mit ihrem Wischiwaschi-Kurs<br />

gegen Schmidt und vor allem gegen<br />

die »Sozialisten« die Wahlen verloren. Im<br />

No vember drohte er, die CSU werde eine eigene<br />

Frak tion bilden – obwohl Strauß wusste, dass<br />

Kohl dann mit der CDU in Bayern einmarschieren<br />

wollte. Er habe, so wütete Strauß, Kohl um<br />

des lieben Friedens willen unterstützt, aber der<br />

werde »nie Kanzler« werden: »Er ist total unfähig,<br />

ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen<br />

und die politischen Voraussetzungen – der wird<br />

mit neunzig Jahren die Memoiren schreiben:<br />

›Ich war vierzig Jahre Kanzlerkandidat. Lehren<br />

und Erfahrungen aus einer bitteren Epoche‹.«<br />

Schmidt wie Strauß würden<br />

die FDP gern unter Wasser drücken<br />

Trotz dieser krachenden Kanonenschüsse verließ<br />

Kohl Mainz und ging nach Bonn. »Fast<br />

selbstmörderisch«, urteilt der Historiker Hans-<br />

Peter Schwarz in seiner gerade erschienenen<br />

Kohl-Biografie, sei dieser Entschluss gewesen,<br />

sich ohne große Absicherung aufs glatte Bonner<br />

Parkett zu begeben. Tatsächlich seien sechs<br />

kritische Jahre gefolgt, auch wenn die spätere<br />

Erfolgsstory das überstrahle. Wenig habe Kohl<br />

bewegen können, oft habe er vor dem »politischen<br />

Aus« gestanden. Dem ist nicht zu widersprechen.<br />

Die Leidens- und Schüttelstrecke war<br />

noch nicht zu Ende: Bei der folgenden Wahl,<br />

1980, musste der Pfälzer tatsächlich Strauß den<br />

Vortritt als Kanzlerkandidat lassen.<br />

Zur stillen Freude von Schmidt und Brandt.<br />

Denn beide wussten: Wenn Kohl wieder angetreten<br />

wäre, dann hätte er es geschafft. Dem<br />

völlig unberechenbaren Strauß aber zogen<br />

selbst viele Unions wäh ler Schmidt vor. Dabei<br />

hatten Schmidt und Strauß durchaus einiges<br />

gemein. So hätten sie zum Beispiel lie ber mitein<br />

an der als mit den Liberalen regiert.<br />

Kohl hingegen hatte immer auf die FDP<br />

als Partner geschworen. Entsprechend hielt er<br />

auch nichts von einer Wahl rechts ände rung,<br />

um die FDP unter Wasser zu drücken. Strauß<br />

wie Schmidt plädierten dafür, sie waren für<br />

klare Mehrheiten.<br />

Nach Strauß’ Niederlage begann Teil zwei<br />

der Geduldsprobe. In der FDP hatte Kohl gute<br />

Karten. In den Unions par tei en hingegen flackerte<br />

erneut die Dis kus sion auf. Jetzt unterstützte<br />

zwar Strauß die Kandidatur des »total<br />

Unfähigen«, dafür aber hegten nun Schleswig-<br />

Holsteins Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg<br />

und sein niedersächsischer Kollege Ernst<br />

Albrecht Zweifel an Kohls Eignung. Der Pfälzer<br />

argwöhnte, was er stets argwöhnte: Sie wollten<br />

ihm die Kandidatur streitig machen und da mit<br />

das Amt, das er seit jungen Jahren anstrebte.<br />

Im Herbst 1981 verfasste Außenminister<br />

Genscher seinen berühmten »Wende-Brief«,<br />

der klarmachen sollte, dass von den Gemeinsamkeiten<br />

zwischen SPD und FDP nichts geblieben<br />

war. Eine heiße Debatte folgte – zunächst<br />

weiter nichts. Vieldeutig prophezeite<br />

Genscher dann im Frühjahr 1982, das Schicksal<br />

der Koa li tion hänge davon ab, ob sie sich auf<br />

die notwendigen Einsparungen im Etat 1983<br />

verständige und ob die CDU im Herbst die<br />

Landtagswahl in Hessen gewinne, denn damit<br />

winkte ihr eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat.<br />

Zugleich beteuerte er gegenüber dem<br />

<strong>ZEIT</strong>-Korrespondenten Rolf Zundel: »Glauben<br />

Sie mir, wir wollen den Erfolg dieser Koa li tion.«<br />

Das Ende war in Sicht. Dass Schmidt der<br />

Verlierer sein würde, zeichnete sich ab. Aber wie<br />

er dennoch das Heft in der Hand behielt, das<br />

machte ihm so leicht keiner nach. Auf 120<br />

Seiten formulierte er eine Gardinenpredigt an<br />

seine Partei, die glaube, zwei Jahrzehnte der Oppo<br />

si tion täten ihr gut, tatsächlich aber nur den<br />

»Kutschbock« für die Herren Strauß oder Kohl<br />

oder Albrecht oder Dregger frei mache. Zugleich<br />

entschloss er sich, der FDP, die ihre Karten<br />

partout nicht aufdecken wollte, den Kampf anzusagen.<br />

Seit Mai 1982 trafen sich die SPD-<br />

Minister vor den Kabinettssitzungen gesondert,<br />

so wie das die FDP schon immer pflegte. Solange<br />

er an der Regierung beteiligt sei, »so lange<br />

wird das Prinzip des sozialen Netzes, das Prinzip<br />

des Sozialstaats nicht gefährdet werden«, blaffte<br />

Schmidt Wirtschaftsminister Lambsdorff entgegen.<br />

»Über die Richtlinien bestimme ich!«<br />

Der Aussprache mit Genscher, zu der sich<br />

die beiden im Sommer in Hamburg trafen, gab<br />

ein verärgerter Schmidt hinterher schlicht die<br />

Note »Fototermin«. Sogar das 34-seitige Lambsdorff-Papier,<br />

das bald als »Scheidepapier« bezeichnet<br />

wurde, ging auf seine Initiative zurück:<br />

Ausdrücklich sollte der Minister seine Vorstellungen<br />

schriftlich fixieren, damit man sich<br />

damit rational auseinandersetzen könne.<br />

In der Union wurde inzwischen ein konstruktives<br />

Misstrauen erwogen – wäre da nicht<br />

das Drama von 1972 gewesen, Barzel versus<br />

Brandt. Zudem ging selbst Strauß die Lambsdorffsche<br />

Sparattacke auf den So zial staat entschieden<br />

zu weit, das sei »brutale Medizin«.<br />

Schmidt machte den nächsten Schachzug,<br />

nicht Kohl: Am 8. September sprach er von 21<br />

bis 22 Uhr in seinem Büro mit Genscher. Der<br />

Kanzler erklärte seinem Vize, er werde Kohl auffordern,<br />

ein konstruktives Misstrauensvotum<br />

zu wagen. Er selber werde dann Neuwahlen verlangen.<br />

Am Morgen darauf rief er der FDP im<br />

Plenum zu, Reisende solle man nicht aufhalten.<br />

In dieser Kampfeslogik entschloss er sich eine<br />

gute Woche später, die FDP-Minister zu entlassen.<br />

Als sie davon Wind bekamen, kündigten<br />

sie von sich aus den Auszug aus der Regierung<br />

an. Kohl: Man dürfe Genscher nicht hängen<br />

lassen. Wenn die Freidemokraten ihn, Kohl,<br />

jetzt zum Kanzler wählen wollten, solle es so<br />

sein. Eine Bedingung jedoch seien Neuwahlen<br />

– allerdings nicht sofort, erst im Frühjahr.<br />

Zu Schmidt war Genscher nicht offen. Aber<br />

auch zwischen Genscher und Kohl gab es offiziell<br />

kein klärendes Gespräch. Die Duzfreunde<br />

aus den Zeiten des ZDF-Verwaltungsrates tuschelten<br />

trotz aller Vertrautheit nicht konspira-<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 18<br />

Nach seiner Wahl nimmt Helmut Kohl auf der Regierungsbank im Bonner Plenarsaal Platz<br />

tiv mit ein an der – weniger aus Rücksicht auf<br />

Schmidt denn in Sorge vor dem Zorn des<br />

Herrn, vor Strauß. Wenn er Beweise frei Haus<br />

erhalten hätte, Kohl wolle ihn ausbooten, sichere<br />

Genscher das Au ßen ministerium zu,<br />

Stoltenberg die Finanzen und dem CSU-Kämpen<br />

Friedrich Zimmermann das Innenressort<br />

– wer weiß, welchen Torpedo der Mann aus<br />

München dann auf Kohl abgefeuert hätte.<br />

»Ich traue es mir zu«, gestand der frisch<br />

Gewählte am 1. Oktober 1982 in aller Bescheidenheit<br />

dem Reporter der Süddeutschen Zeitung,<br />

Hans Ulrich Kempski. Optimistisch sei er, mit<br />

»Freude« sehe er der Arbeit entgegen. Was Kohl<br />

nicht sagte, aber in diesem Moment schon wusste:<br />

Strauß blieb nichts anderes übrig, als sich<br />

endgültig mit seinem Bayern zu bescheiden.<br />

Als Schmidt Ende Oktober erklärte, in den<br />

für März 1983 anvisierten Wahlen nicht mehr<br />

antreten zu wollen, dürfte Kohl und Genscher<br />

eine Zentnerlast von den Schultern gefallen<br />

sein. Ohne Schmidt hatten die So zial demokra<br />

ten keinerlei Chance mehr, den Machtwechsel<br />

noch einmal rückgängig zu machen.<br />

Als Kohl bei der Nachrüstung zögert,<br />

intervenieren die Amerikaner<br />

Auch die »Hamburger Medien«, die Kohl für<br />

blind und voreingenommen hielt, waren gar<br />

so realitätsfern nicht und begriffen bald, dass<br />

der Wechsel keinen grundlegenden Wandel<br />

befürchten ließ. Kohl achte durchaus auf Kontinuität,<br />

erkannte <strong>ZEIT</strong>-Chefredakteur Theo<br />

Sommer an, und seinem Leit arti kel in der<br />

Silvesterausgabe 1983 gab er, in Anspielung<br />

auf den gerade erschienenen Bestseller-Roman<br />

von Sten Nadolny, die Überschrift Die Entdeckung<br />

der Langsamkeit. Motto: Es werde<br />

lange brauchen bis zur nächsten Zäsur, und<br />

auch Kohl werde die Republik schon nicht auf<br />

den Kopf stellen.<br />

Wohl wahr. So wäre es dem neuen Kanzler<br />

zum Beispiel am liebsten gewesen, die Atomrake<br />

ten würden nicht stationiert. Insgeheim<br />

suchte er Auswege. Eine halbe Million Protestierende<br />

auf der Bonner Hofgartenwiese hatten<br />

auch ihn beeindruckt. In Washington reagierte<br />

die Regierung Reagan alarmiert und schickte<br />

Kohl-Berater Horst Teltschik das Großkaliber<br />

Arthur Burns auf den Hals, um den Neuen in<br />

Bonn die Meinung zu geigen. Und die kuschten.<br />

Dass der Machtwechsel vom 1. Oktober<br />

1982 16 Jahre Kohl bedeuten würde – damit<br />

rechnete damals niemand, am wenigsten die<br />

CDU selbst. Am Vor abend fehlten beim »Zählappell«<br />

in der Frak tion 27 Abgeordnete, sogar<br />

am Morgen noch trat sie nicht vollständig an.<br />

Man empfand es irgendwie nicht als historisches<br />

Datum, was da auf der Tagesordnung stand.<br />

Wirklich, nichts war normal.<br />

Für Helmut Schmidt stand der Ausgang der<br />

Abstimmung fest, Kohl war sich da nicht so<br />

sicher. Die Ȁra Kohl begann als Zitterpartie,<br />

und als Zitterpartie geht sie weiter«, konstatiert<br />

Hans-Peter Schwarz lakonisch.<br />

Bloß: Die Schlappe einst, bei der Abstimmung<br />

1972, hatte für Barzel das Aus bedeutet<br />

– »komm, Puppe, wir gehen über die Steine«,<br />

soll er nach der Trauersitzung des Parteipräsidiums<br />

seiner Frau zugeraunt haben. Ob Stehauf<br />

riese Kohl die gleiche Nie der lage am 1. Oktober<br />

verwunden hätte? Vermutlich schon.<br />

Keiner hatte mehr Nehmerqualitäten bewiesen<br />

als er, keiner war zäher, war so bereit, sich immer<br />

in eine neue Mitte zu bewegen. Nur war<br />

ihm auf dem Weg an die Spitze der rote Faden,<br />

die ursprüngliche konservative Agenda abhandengekommen.<br />

Man wusste, dass er es irgendwann<br />

schaffen würde, aber schon an jenem<br />

1. Oktober wusste man nicht mehr, wozu.<br />

Fotos: Peter Strack/bpk (o.); J.H. Darchinger/darchinger.com (Ausschnitt)


WIRTSCHAFT Autos:<br />

Illustration: Frederik Jurk/sepia-online.com für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong><br />

Die Peer-Steinbrück-Festspiele<br />

beginnen am kommenden<br />

Dienstagnachmittag um 15<br />

Uhr an einem geschichtsträchtigen<br />

Ort: im Sitzungssaal der<br />

SPD-Bundestagsfraktion. Hier kämpfte Gerhard<br />

Schröder für seine Sozialreformen, setzte<br />

er den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr<br />

durch. Mit einem knapp 20-seitigen Papier in<br />

der Hand wird Steinbrück vor die 146 Abgeordneten<br />

treten und erläutern, wie die deutsche<br />

Sozialdemokratie die internationalen Finanzmärkte<br />

regulieren will. Am Tag danach präsentiert<br />

der Ex-Finanzminister sein Konzept dann<br />

der Öffentlichkeit. Allein. So steht es im Drehbuch.<br />

Ohne den Fraktionsvorsitzenden Frank-<br />

Walter Steinmeier. Ohne Parteichef Sigmar<br />

Gabriel. Ohne die Last der Troika.<br />

Die Banken an die Kette legen – das ist jetzt<br />

Steinbrücks Thema. Es soll die Genossen mobilisieren<br />

und die Partei, die einfach kein Rezept<br />

gegen die populäre Kanzlerin findet, auf<br />

Augenhöhe mit der CDU heben. Denn im<br />

fünften Jahr der Krise ist unter den Deutschen<br />

das Gefühl verbreitet, dass die Banken ungestört<br />

weiterzocken und die Steuerzahler die<br />

Rechnung präsentiert bekommen. Dass die<br />

Banker bestimmen – und die Politik kuscht.<br />

Dass sich nichts geändert hat.<br />

Die kommende Woche wird darüber entscheiden,<br />

wie die Sozialdemokraten ins Wahljahr<br />

2013 marschieren: mit neuer Zuversicht<br />

oder dem Schicksal ergeben. Sie könnte den<br />

Ausschlag geben, wer gegen Angela Merkel antritt.<br />

Und sie markiert den Startpunkt für einen<br />

Angriff auf die Deutsche Bank.<br />

In diesen Tagen ist das Schicksal des größten<br />

deutschen Kreditinstituts mit dem der ältesten<br />

deutschen Partei aufs Engste verwoben. Die So-<br />

zialdemokraten wollen mit ihrer Attacke auf die<br />

internationalen Finanzmärkte die Sehnsucht nach<br />

Gerechtigkeit stillen. Die Deutsche Bank ist das<br />

einzig verbliebene deutsche Kreditinstitut von<br />

Weltrang. Damit ist jeder Angriff auf die Finanz-<br />

märkte ist ein Angriff auf den letzten Global<br />

Player unter Deutschlands Banken.<br />

Das Unbehagen reicht bis in die<br />

Spitzen der deutschen Wirtschaft<br />

Will man die Geschichte dieses Angriffs erzählen,<br />

kann man beim Zusammenbruch der Investmentbank<br />

Lehman Brothers im Jahr 2008<br />

beginnen. Oder bei der großen Deregulierung<br />

der achtziger Jahre, als die Regierungen, beseelt<br />

vom Glauben an die segensreiche Wirkung der<br />

internationalen Finanzmärkte, eine Bankenvorschrift<br />

nach der anderen lockerten.<br />

Man kann aber auch die Akademie der Küns-<br />

te am Brandenburger Tor besuchen.<br />

Sein Name steht auf einem Buchcover zwischen<br />

Christa Wolfs Stadt der Engel und Cees<br />

Notebooms Schiffstagebuch in dem kleinen Li-<br />

teraturladen gleich am Eingang. Er selbst sitzt im<br />

Restaurant. Strubbelige Locken, Nickelbrille, aus-<br />

gebleichtes Poloshirt, Jeans, Sandalen. Ingo<br />

Schulze, der Schriftsteller (Adam und Evelyn), ist<br />

der Mann, der die Wut der Bürger in ein Buch<br />

gegossen hat: Unsere schönen neuen Kleider –<br />

Gegen die marktkonforme ktkonforme Demokratie. Demokratie.<br />

Es basiert auf auf 13 »Thesen »Thesen gegen gegen<br />

die Ausplünderung erung der der GesellGesellschaft«, die Schulze hulze zu zu JahresbeJahresbe- ginn in der Süddeutschen ddeutschen Zeitung Zeitung<br />

veröffentlicht hat. hat. »Auf »Auf nichts, nichts,<br />

was ich je geschrieben hrieben habe, habe, bebe- kam ich so viele le Reaktionen Reaktionen wie wie<br />

auf diesen Artikel«, Artikel«, erzählt erzählt<br />

Schulze. Der Schriftsteller Schriftsteller ist ein ein<br />

Seismograf des es Unmuts. Unmuts. »Wenn »Wenn die die<br />

Volksvertreter meinen, meinen, das das Vertrauen Vertrauen der der<br />

Märkte wiedergewinnen rgewinnen zu müssen, müssen, dann dann stellen stellen<br />

sie die demokratische ratische Welt Welt auf auf den den Kopf, Kopf, dann dann<br />

unterwerfen sie ie das das Gemeinwesen Gemeinwesen nicht nicht nur nur gegenau jenen, die e es es um um Milliarden Milliarden geprellt geprellt haben, haben,<br />

sondern geben auch das Primat der d Politik l k preis.«<br />

Es ist etwas durcheinandergeraten in der<br />

Gesellschaft, so sieht es Schulze, und so sehen es<br />

die Deutschen mehrheitlich. Das Unbehagen<br />

reicht bis in die Spitzen der Wirtschaft. Die Ban-<br />

ken »zerstören all unsere materiellen Grund-<br />

lagen«, sagt Klaus Engel, Vorstandschef des Che-<br />

mieriesen Evonik. Und Nikolaus von Bomhard,<br />

Chef der Münchener Rück, fordert »fundamen-<br />

tale Änderungen am Finanzmarkt«.<br />

Dabei ist einiges passiert, seit die Staats- und<br />

Regierungschefs der G 20 vor drei Jahren auf<br />

ihrem Gipfeltreffen in Pittsburgh beschlossen<br />

haben, die Finanzmärkte in die Schranken zu<br />

weisen. Die Banken müssen heute mehr eigene<br />

Geldmittel vorhalten, um bei Verlusten nicht<br />

gleich auf Unterstützung der Steuerzahler angewiesen<br />

zu sein. Die Aufsichtsbehörden kontrollieren<br />

strenger als früher. Die Bonuszahlungen<br />

sind gesunken. In Deutschland wurden die gesetzlichen<br />

Voraussetzungen geschaffen, um ma-<br />

rode Institute abzuwickeln. Sogar aus dem linken<br />

Lager gibt es dafür Applaus: Nach einer Studie<br />

Angriff auf die<br />

Deutsche Bank<br />

Die SPD marschiert vorweg, und die Kanzlerin<br />

folgt – dem Branchenprimus droht die Aufspaltung<br />

VON PETER DAUSEND UND MARK SCHIERITZ<br />

Hyundai und Kia –<br />

die Herausforderer aus<br />

Korea trumpfen auf S. 22<br />

der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung<br />

wurde »sowohl in den USA wie auch in der EU<br />

ein Großteil der 2009 im Rahmen der G 20 ge-<br />

machten Versprechungen tatsächlich umgesetzt«.<br />

Doch noch immer beläuft sich der Gesamtwert<br />

der im Umlauf befindlichen Derivate auf<br />

mehr als das Zehnfache der weltweiten Wirtschaftsleistung<br />

– vor gut zehn Jahren war es nur<br />

das Dreifache. Noch immer verdienen Spitzenkräfte<br />

im Finanzgewerbe erheblich mehr als in<br />

anderen Branchen – mit dem Ergebnis, dass es<br />

die klügsten Köpfe an die Wall Street zieht, wo<br />

sie über Finanzalgorithmen brüten, die wenige<br />

reich und viele arm machen.<br />

Und noch immer sind viele Banken so groß,<br />

dass niemand eine Pleite riskieren will, weil dies<br />

die gesamte Volkswirtschaft mit in den Abgrund<br />

reißen könnte. Das Financial Stability Board, die<br />

oberste globale Regulierungsstelle, hat weltweit<br />

29 systemrelevante Häuser identifiziert, darunter<br />

die Deutsche Bank. Ein Platz auf der Liste ist<br />

bares Geld wert. Denn weil klar ist, dass der Staat<br />

im Zweifel einspringt, kommen die Großbanken<br />

günstig an Kredite. Der Internationale Wäh-<br />

rungsfonds beziffert den Finanzierungsvorteil auf<br />

0,8 Prozentpunkte – die Deutsche Bank erspart<br />

sich so Schätzungen zufolge eine bis zwei Milliarden<br />

Euro pro Jahr. Das Ziel, »nie wieder in<br />

Geiselhaft durch den Finanzsektor genommen<br />

zu werden«, sei nicht erreicht worden, schreibt<br />

der Sachverständigenrat zur Begutachtung der<br />

gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.<br />

Sigmar Gabriel hat als einer der Ersten die<br />

politische Brisanz dieser Entwicklung erkannt.<br />

Im Juli dieses Jahres berichteten die Zeitungen,<br />

dass bis zu 14 internationale Großbanken, darun-<br />

ter die Deutsche Bank, den Zinssatz Libor mani-<br />

puliert hätten. Zur selben Zeit empörten sich<br />

Bankkunden über die Rekordzinsen auf Dispokredite,<br />

während die Kreditinstitute sich bei der<br />

Zentralbank fast umsonst Geld leihen konnten.<br />

Und dann beschloss der Bundestag auch noch,<br />

dass mit deutschen Steuergeldern spanische Ban-<br />

ken gerettet werden sollen.<br />

Manipulation, Abzocke und Steuersubventio-<br />

nen verdichten sich zur Dreifaltigkeit des Ban-<br />

ken unwe sens. Die Zeit war gekommen, die Wut<br />

herauszuschreien. Das war schon immer Gabriels<br />

Stärke. Der SPD-Chef veröffentlicht am 21. Juli<br />

ein Thesenpapier zur Regulierung der Finanz-<br />

märkte. Die Banken, so schreibt er, »erpressen die<br />

Staaten«, »diktieren die Politik«, »zahlen unan-<br />

ständige Gehälter« und »zocken ihre Kunden ab«.<br />

Die SPD setzt auf die<br />

Fachkenntnisse der Bundesbank<br />

Steinbrück liefert nun die Details nach. Intensiv<br />

wurde an seinem Konzept gearbeitet. Gleich zwei<br />

Gremien Gremien waren waren damit da befasst. Eine der Arbeits-<br />

gruppen, grup rund 25 Mann stark,<br />

wwurde<br />

vom SPD-Vorstand<br />

eeingesetzt,<br />

tagt in Frankfurt<br />

und wird vom hessischen<br />

Parteichef Thorsten Schäfer-<br />

Gümbel geleitet. Ihr gehören<br />

hochrangige Banker und<br />

Wissenschaftler W<br />

an – darunter<br />

der de ehemalige Bundesbankvor-<br />

stand sta Hans-Helmut Kotz und<br />

sein sein Nac Nachfolger Joachim Nagel.<br />

Die Die zweite, zweite, entscheidende Runde ist bei<br />

Steinbrück Steinbrück ang angesiedelt, der ebenfalls auf die<br />

Kompetenz K<br />

eines Bundesbankers vertraut:<br />

Sein engster Berater ist Rainer Stollhoff, der als<br />

Bankenaufseher für die Währungsbehörde gearbeitet<br />

hat. Steinbrück selbst hat sich mit in-<br />

ternationalen Finanzgrößen wie dem ehemaligen<br />

amerikanischen Notenbankchef Paul Volcker und<br />

Mitgliedern der britischen Vickers-Kommission<br />

getroffen, die die Pläne zur Reform der Banken<br />

im Vereinigten Königreich ausgearbeitet hat.<br />

Steinbrücks Vorschläge sollen die Lücken in<br />

der Finanzregulierung schließen – und den Mega-<br />

banken ihr Drohpotenzial nehmen. Er fordert<br />

einen von den Kredithäusern finanzierten europäischen<br />

Abwicklungsfonds, der es ermöglicht,<br />

auch große Banken kontrolliert zu schließen,<br />

wenn sie in Schieflage geraten. Vor allem aber<br />

sollen die Banken gezwungen werden, Kreditgeschäft<br />

und Handelsaktivitäten zu trennen.<br />

Wenn sich die Händler verzocken, so die Hoff-<br />

nung, muss der Staat nicht eingreifen, weil Spar-<br />

einlagen und Kreditversorgung abgeschirmt sind.<br />

Steinbrück schwebt dabei keine Zerschlagung<br />

vor, sondern eine organisatorische Spaltung:<br />

Die Banken müssten unterschiedliche<br />

Tochtergesellschaften unter einem gemeinsamen<br />

Dach gründen. Das hat den Vorteil, dass<br />

sie ihren Kunden trotzdem noch alle Dienstleistungen<br />

aus einer Hand anbieten können.<br />

Gerade große Unternehmen wollen nicht nur<br />

Kredite, sondern auch komplexe Finanzprodukte<br />

wie Währungsabsicherungen, die in den<br />

Fortsetzung auf S. 20<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 19<br />

GERECHTIGKEIT<br />

Dumm macht arm<br />

Wer das soziale Gefälle verkleinern<br />

will, muss in Bildung investieren<br />

Deutschland wird ungerechter. An diesem<br />

Urteil führt nach den neuesten Zahlen des<br />

Armutsberichtes der Bundesregierung kein<br />

Weg vorbei. Denn der Bericht dokumentiert:<br />

Die Reichen werden auch in der Krise<br />

reicher, die Armen ärmer. Bei den einen<br />

wächst das private Vermögen. Die anderen<br />

können mitunter sogar durch einen Vollzeitjob<br />

ihre Familie nicht mehr ohne staatliche<br />

Hilfe ernähren. Kurz: Deutschland verteilt<br />

um, und zwar von unten nach oben.<br />

Das ist politischer Sprengstoff. Zumal in<br />

diesem Land ja sowieso das Gefühl zunimmt,<br />

für die Finanzkrise bluteten immer<br />

die Falschen.<br />

Trotzdem würde man es sich mit der<br />

puren Wiederbelebung klassischer Umverteilungspolitik<br />

zu leicht machen. Höhere<br />

Einkommens- und Erbschaftsteuern für<br />

die Wohlhabenden, endlich eine Transaktionssteuer<br />

gegen die Spekulation oder<br />

Mindestlöhne zur Unterstützung von Geringverdienern<br />

wären ja nicht falsch. Aber<br />

sie änderten nichts an einer entscheidenden<br />

Ursache des Problems: der mangelnden<br />

Bildung der Armen.<br />

Der Bericht der Bundesregierung wie<br />

auch eine Reihe anderer Studien belegen:<br />

Ob jemand arm bleibt oder reich wird,<br />

liegt ganz entscheidend an seiner Ausbildung.<br />

Wer sich bildet, dem geht es in diesem<br />

Land ganz gut. Wer aber als Kind<br />

nichts gelernt hat, der holt das später nur<br />

schwer auf und bleibt arm bis ins Rentenalter.<br />

Die Ungelernten mit den einfachen<br />

Jobs leiden unter der globalen Konkurrenz,<br />

ihre Löhne stagnieren. Dieses Schicksal<br />

trifft überproportional oft Migranten<br />

und Schulabbrecher, aber auch Mütter, die<br />

lange nicht gearbeitet haben.<br />

Wer das ändern will, wer Chancen gerechter<br />

verteilen und mehr Menschen in<br />

diesem Land ein gutes Leben ermöglichen<br />

will, der muss in Ausbildung investieren,<br />

und zwar großzügig. Er muss Geld in die<br />

Kitas stecken, die Sprachausbildung für<br />

Migrantenkinder ausbauen, die Weiterbildung<br />

im Job erleichtern, den Wiedereinstieg<br />

der Mütter fördern.<br />

Ein bisschen von alledem geschieht schon.<br />

Und man kann sogar die ersten, zarten Erfolge<br />

dokumentieren: Die Zahl der Schulabbrecher<br />

sinkt, Migranten mittleren Alters sind<br />

gebildeter als ihre Eltern, und die Beschäftigung<br />

liegt auf einem Höchststand. Das alles<br />

reicht bei Weitem nicht, zumal das augenblickliche<br />

Jobwunder auch viel mit der deutschen<br />

Sonderkonjunktur zu tun hat. Doch noch<br />

etwas anderes stimmt vorsichtig optimistisch:<br />

Die Kanzlerin redet heute oft und gern über<br />

Bildungsfragen, die Sozialdemokraten haben<br />

das Thema für ihren Wahlkampf entdeckt.<br />

Auf einem Kongress ließen sie am vergangenen<br />

Wochenende über Gerechtigkeit zunächst<br />

Bildungsexperten reden. Und das ist gut: Einen<br />

interessanten politischen Streit über den<br />

besten Weg in die Bildungsrepublik, den<br />

brauchen wir jetzt. PETRA PINZLER<br />

60 SEKUNDEN FÜR<br />

Komasaufen<br />

Da hat die Bundeszentrale für gesundheitliche<br />

Aufklärung aber ein fettes Ding gedreht: Die<br />

Anzahl der Jugendlichen, die sich ins Koma<br />

saufen, ist um rund fünf Prozent gesunken.<br />

Verantwortlich dafür soll die fetzige Kampagne<br />

»Alkohol? Kenn dein Limit« sein, die<br />

zum dreijährigen Jubiläum mit neuen Motiven<br />

aufwartet, jetzt in noch anbiedernderer Pseudojugendsprache<br />

(»anflirten oder abstürzen«<br />

– Echt jetzt?). Allerdings, so zeigt die Studie,<br />

trinken bloß Mädchen und ganz Junge weniger,<br />

männliche Teenager saufen weiter.<br />

Tatsächlich weiß jeder, der ab und zu das<br />

Haus respektive Amt verlässt, dass die wirklich<br />

coolen und schönen Mädchen keinen Tropfen<br />

anrühren, immer cooler, immer schöner werden<br />

und mit zunehmender Verachtung auf<br />

den gemeinen Komasäufer blicken.<br />

Und hier zeigt sich das viel größere Problem:<br />

das Auseinanderdriften der Geschlechter.<br />

Wer soll denn noch Kinder kriegen in<br />

diesem Land, wenn nicht mal mehr die Jungen<br />

zueinanderfinden?<br />

Die Ämter, wenn sie uns schon ins Leben<br />

regieren, wären gut beraten, Jungen zu anderen<br />

Hobbys zu zwingen. Risikosportarten ziehen<br />

gut bei Mädels. Auf Partys könnten die Jungs<br />

von ihren wilden Erlebnissen erzählen, den<br />

Kriegen des modernen Menschen. Und den<br />

dann überflüssig gewordenen Alkohol über die<br />

aufgeschürften Knie schütten. ANNE KUNZE


20 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> WIRTSCHAFT<br />

MACHER UND MÄRKTE<br />

Kik: Erklärungsnot<br />

Es war nur eine Frage der Zeit, schließlich<br />

kam es heraus: Das Unternehmen Ali Enterprises<br />

in Pakistan, bei dessen Brand vergangene<br />

Woche fast 260 Menschen starben,<br />

hat Jeans für den deutschen Textildiscounter<br />

KiK produziert. Das enthüllte am<br />

Dienstag dieser Woche die Kampagne für<br />

Saubere Kleidung, eine Organisation, die<br />

sich um Arbeitsbedingungen bei den Zulieferbetrieben<br />

deutscher Unternehmen kümmert.<br />

Während das Feuer wütete, sollen<br />

Notausgänge verschlossen und Fenster vergittert<br />

gewesen sein. Die Eigentümer der<br />

Fabrik, so heißt es, seien<br />

inzwischen des Mordes<br />

angeklagt.<br />

Das alles wirft kein<br />

gutes Licht auf den deutschen<br />

Billiganbieter, der<br />

zur Tengelmann-Gruppe<br />

gehört und sich seit<br />

geraumer Zeit bemüht,<br />

Tengelmann-Chef sein Image zu verbessern.<br />

Karl-Erivan W. »Wir sind zutiefst betrof-<br />

Haub<br />

fen über dieses schreckliche<br />

Unglück«, lässt eine<br />

Unternehmenssprecherin auf Anfrage wissen.<br />

Im August hatte sich KiK noch mit Vertretern<br />

der Kampagne für Saubere Kleidung zu einem<br />

Erfahrungsaustausch getroffen. Dabei ging es<br />

um Zulieferer in Bangladesch. Der Fall Pakistan<br />

ist noch ungeklärt. Laut KiK gab es Prüfungen<br />

des Lieferanten durch externe Kontrolleure.<br />

Umso mehr stellt sich die Frage, wie<br />

es zu der Katastrophe kommen konnte. Jetzt<br />

wartet KiK auf einen Untersuchungsbericht<br />

der pakistanischen Regierung. LÜT<br />

Sparsame Laster<br />

Lastkraftwagen gehen schon heute – im<br />

Vergleich zu Pkw – relativ effizient mit<br />

Treibstoff um. Und es könnte noch deutlich<br />

15<br />

besser werden, sagt<br />

Bernd Bohr, Chef<br />

der Kfz-Technik bei<br />

Bosch: Um weitere<br />

15 Prozent wolle<br />

man den Kraftstoffverbrauch<br />

bei Lastwagen<br />

bis 2020<br />

senken. Unter an-<br />

Prozent weniger Sprit derem ist beim<br />

sollen Lkw künftig weltgrößten Auto-<br />

verbrauchen<br />

mobilzuliefererbereits ein Hybridantrieb,<br />

die Kombination aus Diesel- und<br />

Elektromotor, in der Entwicklung. Mitte<br />

des Jahrzehnts soll er verfügbar sein. DHL<br />

Fotos: action press (l.); Thomas Schmidtke/WAZ FotoPool<br />

»Es gibt immer Schwachstellen«<br />

Der Computer-Sicherheitsexperte Norbert Pohlmann warnt: Der naive Einsatz von Smartphones gefährdet deutsche Unternehmen<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Das Bundeskriminalamt meldet in<br />

dieser Woche, dass Daten auf Smartphones immer<br />

mehr ins Visier von Hackern und Kriminellen<br />

geraten – wie groß ist diese Gefahr für deutsche<br />

Unternehmen?<br />

Norbert Pohlmann: Sehr groß. Mehr als 90 Prozent<br />

der Mitarbeiter bringen heute ihr privates<br />

Mobiltelefon oder ihren Tablet-Computer mit<br />

ins Unternehmen und setzen sie auch für ihre Arbeit<br />

ein. Das ist problematisch, denn dadurch gelangen<br />

vertrauliche oder datenschutzrelevante<br />

E-Mails und Unterlagen auf Geräte, die in der<br />

Regel schlecht gesichert sind.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Firmen könnten das verbieten.<br />

Pohlmann: Das ist kaum bei den Mitarbeitern<br />

durchsetzbar. Die Vorteile sind ja enorm. Denken<br />

Sie allein an die einfache Art und Weise,<br />

überall E-Mails zu lesen, im Internet zu surfen<br />

und Musik zu hören.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Welche Erkenntnisse gibt es, dass wirklich<br />

Daten abhanden kommen?<br />

Pohlmann: Das ist ein sehr großes und vor allem<br />

ein rasch wachsendes Problem. Handys werden<br />

von Taschendieben gestohlen, am Flughafen liegen<br />

gelassen, im Sportstudio vergessen und so<br />

weiter. Es gibt eine Statistik, derzufolge allein in<br />

Londoner Taxis jährlich mehr als 60 000 Smartphones<br />

liegen blieben. Dieben gelingt es in aller<br />

Regel, auf die Daten gestohlener Smartphones<br />

zuzugreifen, wenn sie es wollen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Aber so genau weiß man es nicht ...<br />

Pohlmann: Unternehmen und Mitarbeiter zeigen<br />

Fälle von Daten- beziehungsweise Smartphone-Diebstahl<br />

ja meistens nicht an. Wenn mir<br />

jemand ein privates Handy klaut, dann werde ich<br />

sicher nicht zu meinem Chef gehen und sagen:<br />

Tut mir leid, da waren berufliche, vertrauliche<br />

E-Mails drauf, es gibt ein Datenschutzproblem!<br />

<strong>ZEIT</strong>: Warum werden die Geräte nicht von vorneherein<br />

sicherer ausgeliefert – zum Beispiel mit<br />

einer Passwort-Sperre, die Daten verlässlich<br />

schützt, wenn ein Smartphone geklaut wird?<br />

Pohlmann: Weil die Geräte zuallererst für private<br />

Konsumenten entwickelt werden. Da geht man<br />

immer vom dümmsten anzunehmenden Benutzer<br />

aus. Alles ist so eingerichtet, dass es erst mal<br />

funktioniert – und wenn Sie mehr Sicherheit<br />

haben wollen, müssen Sie die Einstellungen entsprechend<br />

ändern. Das ist leider so, als würde<br />

mir jemand ein Auto verkaufen und sagen: Pohlmann,<br />

du kannst sofort losfahren, aber wenn du<br />

mal Zeit hast, schraub dir den Airbag rein und<br />

einen Sicherheitsgurt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Warum geben Unternehmen nicht einfach<br />

Smartphones an ihre Mitarbeiter aus, die entsprechend<br />

gesichert sind?<br />

Pohlmann: Oft ist das gar nicht so leicht. Manche<br />

Smartphone-Anbieter wollen gar nicht den<br />

Norbert Pohlmann ist<br />

Informatikprofessor und<br />

leitet das Institut für In-<br />

ternet-Sicherheit an der<br />

Westfälischen Hoch- Hoch-<br />

schule in Gelsenkirchen<br />

relativ kleinen Markt für Geschäftskunden bedienen,<br />

entsprechende Sicherheitsdienstleistungen<br />

anbieten und eine Haftung übernehmen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Der Anbieter Blackberry tut es aber ...<br />

Pohlmann: Schon, aber kürzlich saß zum Beispiel<br />

der Geschäftsführer eines wichtigen Telekommunikationsanbieters<br />

vor mir und sagte:<br />

»Ich habe alle anderen Geräte und sogar mein<br />

Notebook abgeschafft, ich trage nur noch mein<br />

iPhone von Apple mit mir herum. Da habe ich<br />

alle meine Finanzdaten und E-Mails drauf, und<br />

wenn mal was Wichtiges fehlt, kann ich ja immer<br />

noch meine Sekretärin anrufen.« Wenn alle Geschäftsführer<br />

in Deutschland sagen würden: Wir<br />

kaufen keine Apple-Geräte, wir brauchen sicherere<br />

Geräte, würde sich vielleicht etwas ändern.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das tut aber keiner.<br />

Pohlmann: Nein, und solange bei jedem neuen<br />

iPhone Schlangen begeisterter Käufer vor den<br />

Läden stehen, hat Apple auch die Macht, zu sagen:<br />

Diese Funktionen sind drin, jene nicht, also<br />

kauft es bitte.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und Sicherheitsfunktionen kommen dabei<br />

zu kurz.<br />

» Das ist leider so, als<br />

Das ist leider so, als<br />

würde mir jemand ein<br />

Auto verkaufen und<br />

sagen: Pohlmann, du<br />

kannst sofort losfah-<br />

ren, aber wenn du mal<br />

Zeit hast, schraub dir<br />

den Airbag rein «<br />

Pohlmann: Insbesondere bei den Herstellern aus<br />

den USA, die nicht die Verantwortung für diese<br />

Sicherheitsprobleme übernehmen wollen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Weil sie es nicht wollen, oder weil sie es<br />

nicht können?<br />

Pohlmann: Vor etwa einer Woche, kurz bevor das<br />

neue iPhone auf den Markt kam, war in Sicherheitskreisen<br />

ein neuer Hackerangriff bekannt<br />

und sogar in der WDR-Fernsehsendung Markt<br />

veröffentlicht worden: Wenn man sich mit einem<br />

iPhone bei einem WLAN-Hotspot anmeldet,<br />

der heimlich von einem Hacker kontrolliert<br />

wird, kann dieser Angreifer das iPhone knacken,<br />

aus der Ferne ein eigenes Schadprogramm aufspielen<br />

und fortan das Handy manipulieren. Der<br />

Einbrecher konnte kostenpflichtige SMS verschicken,<br />

Daten auslesen und ständig feststellen,<br />

wo sich der Benutzer aufhält.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Apple-Geräte gelten doch als sehr sicher.<br />

Pohlmann: Das stimmt, aber wir haben bei uns<br />

im Institut überprüft, dass dieser Hackertrick<br />

wirklich funktioniert. Die Reaktion von Apple<br />

war interessanterweise nicht: Wir weisen auf ein<br />

neues Problem hin und schließen diese Lücke.<br />

Wichtiger war dort offenbar, sich abzusichern.<br />

Die haben eher bezweifelt, dass der Angriff echt<br />

war, und haben auf Zeit gespielt. Apple hat gerade<br />

das neue iPhone 5 vorgestellt, und wenn es negative<br />

Schlagzeilen gibt, verkauft es sich schlechter.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Im August hat in den USA der Fall des<br />

Technikjournalisten Mat Honan Schlagzeilen<br />

gemacht, der Hackern zum Opfer gefallen war –<br />

und dem sämtliche Daten auf seinen Apple-<br />

Rechnern gelöscht wurden, dessen Google-E-<br />

Mail und dessen Nutzerkonto beim Kurznachrichtendienst<br />

Twitter gekapert wurden. War das<br />

mehr als eine Ausnahme?<br />

Pohlmann: Man hört von solchen Dingen selten,<br />

weil der, dem es passiert, als Depp dasteht.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Lange hieß es, die Smartphones und Tablets<br />

seien sicherer als jeder PC, weil alle Program-<br />

Angriff auf die ...<br />

Fortsetzung von S. 19<br />

Handelsabteilungen konzipiert werden. Von<br />

Leuten wie Anshu Jain.<br />

Jain war lange Jahre der oberste Investmentbanker<br />

der Deutschen Bank. Man nannte ihn in<br />

der Londoner City wegen seines Gespürs für die<br />

Finanzmärkte einen »Halbgott«. Seit Neuestem ist<br />

Jain Chef der Bank. An einem Donnerstagnachmittag<br />

im August sitzt er mit Außenminister Guido<br />

Westerwelle auf einer Holzbühne im Weltsaal des<br />

Auswärtigen Amts in Berlin. Sie sprechen über die<br />

Konjunktur, den Euro – und die Finanzbranche.<br />

Jain sagt, dass der »Vertrag« zwischen Bürgern und<br />

Banken gebrochen worden sei. Dass die Deutsche<br />

Bank Vertrauen zurückge-<br />

winnen wolle. Und einen<br />

»Kulturwandel« brauche.<br />

In diesen Tagen klingt<br />

Anshu Jain nicht wie ein<br />

Halbgott, sondern wie ein<br />

Büßer. Die Deutsche Bank<br />

lernt aus der Krise, das ist<br />

seine Botschaft. Josef Ackermanns<br />

ambitionierte Rendite<br />

zie le wurden einkassiert,<br />

im Investmentbanking werden<br />

Stellen gestrichen, Bonuszahlungen<br />

gestreckt. Die<br />

neue Bescheidenheit hat<br />

nicht nur mit einer neuen<br />

Kultur zu tun – viele Trans-<br />

Weit vorn<br />

Bilanzsumme deutscher Banken<br />

in Milliarden Euro<br />

Deutsche Bank<br />

Commerzbank<br />

DZ-Bank<br />

HypoVereinsbank<br />

Landesbank<br />

Baden-Württemberg<br />

aktionen im Investmentbanking sind wegen der<br />

Vielzahl neuer Regeln schlicht nicht mehr rentabel.<br />

Spezialisten in den Frankfurter Doppeltürmen<br />

haben auch schon ausgerechnet, was eine Trennung<br />

der Geschäftsbereiche für die Bank bedeuten würde.<br />

Ergebnis: nichts Gutes. Zu gewichtig sind aus<br />

Sicht der Deutschbanker die Vorteile einer Vollbank.<br />

Schwächephasen in einzelnen Geschäftsfeldern<br />

können ausgeglichen werden. Die Einlagen<br />

der Kunden sorgen für eine stabile Finanzierung,<br />

weil Kleinsparer ihrer Bank in der Regel auch in<br />

schlechten Zeiten die Treue halten. Und die Kosten<br />

sinken, weil einheitliche Computersysteme verwendet<br />

werden können. In Zukunft wollen Anshu<br />

Jain und sein Co-Chef Jürgen Fitschen die Zentralisierung<br />

deshalb sogar vorantreiben.<br />

Ein Trennbankensystem würde ihre Pläne<br />

durchkreuzen – und vielen Sozialdemokraten geht<br />

es genau darum. »Wir brauchen eine Redimensionierung<br />

der Deutschen Bank. Sie muss wieder zurückkehren<br />

zu ihrer eigentlichen Aufgabe: Dienst-<br />

me über einen App Store erworben werden müssen.<br />

Was dort verkauft werden darf, wird von<br />

Firmen wie Apple erst überprüft.<br />

Pohlmann: Es gibt nun mal keine fehlerfreie<br />

Software, und es gibt immer Schwachstellen –<br />

egal, um welches Betriebssystem oder Anwendungsprogramm<br />

es sich handelt. Es stimmt, dass<br />

vor allem Apple viele Kontrollen macht. Aber so<br />

richtig tief gehen die leider nicht. Da wird beispielsweise<br />

geprüft, auf welche Daten im Telefon<br />

ein Programm zugreift und ob es sofort abstürzt.<br />

Alles andere wäre bei diesen Hunderttausenden<br />

von Apps zu aufwendig, zu teuer.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Also können darunter durchaus Spionageprogramme<br />

sein.<br />

Pohlmann: Auf jeden Fall. Ich könnte mir allerdings<br />

vorstellen, dass eine Firma ihren Mitarbeitern<br />

vorschreibt oder empfiehlt, welche Apps sie<br />

auf ihre Smartphones laden dürfen und welche<br />

besser nicht. Eine Firma wie Siemens könnte beispielsweise<br />

die Bahn-App oder eine Taxi-App für<br />

seine Mitarbeiter auswählen und diese Programme<br />

selbst noch mal überprüfen und freigeben.<br />

Oder Branchenverbände könnten das tun.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und dann ist es sicher?<br />

Pohlmann: Es wäre sicherer, aber niemals ganz<br />

sicher. Es bleiben stets Möglichkeiten, ein solches<br />

Gerät als Hacker von außen »zu erobern«.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Verraten Sie uns eine?<br />

Pohlmann: Ja, aber das ist dann ein wenig technisch.<br />

Die wenigsten Leute wissen, dass Smartphones<br />

ständig ein Signal aussenden: Es sucht<br />

beispielsweise nach einem WLAN mit dem Namen<br />

»Ponyhof« oder »Firma1445«! Das sind die<br />

Netzwerke, in die sich jemand üblicherweise<br />

einloggt. Diese Signale kann man abfangen,<br />

und dann können Sie als Hacker ein WLAN-<br />

Netzwerk erstellen, das genauso heißt. Und siehe<br />

da: Das Smartphone wird sich mit dem<br />

Netzwerk des Hackers verbinden. Ohne dass<br />

der Benutzer irgendetwas tut oder merkt, kann<br />

ich dann E-Mails und Daten mitlesen und noch<br />

viel mehr.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Also sind wir bis auf Weiteres der Entwicklung<br />

ausgeliefert?<br />

Pohlmann: Technisch kann ich mir eine Sicherheitslösung<br />

für das Problem vorstellen, die im<br />

Augenblick zumindest schon entworfen wird –<br />

die sich aber erst am Markt durchsetzen muss,<br />

das sogenannte Trusted Computing. Dann gäbe<br />

es auf den Geräten beispielsweise einen beruflichen<br />

und einen privaten Bereich, streng voneinander<br />

getrennt. Damit könnte man zumindest<br />

das Problem lösen, dass viele Leute nicht mit<br />

zwei Geräten herumlaufen wollen.<br />

Die Fragen stellte THOMAS FISCHERMANN<br />

leister zu sein für die Realwirtschaft«, sagt Schäfer-<br />

Gümbel, der Beauftragte Gabriels. »Die Risiken<br />

großer Banken können den Wohlstand gefährden.«<br />

Es gibt in Deutschland aber nur noch eine international<br />

tätige private Großbank. Die Dresdner<br />

Bank – wurde aufgekauft. Die WestLB – ist vom<br />

Markt verschwunden. Die Commerzbank – gehört<br />

dem Staat. So dreht sich bei der Regulierung alles<br />

um die Deutsche Bank. Und die stemmt sich gegen<br />

die Spaltungspläne. In der vergangenen Woche<br />

stellten Jain und Fitschen auf einer Investorenkonferenz<br />

die Vorteile ihres Modells einer »global<br />

führenden Universalbank« heraus. Ein breit aufgestelltes<br />

Haus sei stabiler als ein Spezialinstitut. Als<br />

Kronzeugen kamen Unternehmensgrößen wie<br />

Wolfgang Reitzle, Vorstandsvorsitzender des Gaskonzerns<br />

Linde, oder Hans Dieter Pötsch, Finanzchef<br />

von Volkswagen, zu<br />

Wort, die den integrierten<br />

Ansatz lobten.<br />

661<br />

405<br />

<strong>39</strong>5<br />

373<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK/Quelle: Ernst & Young, Daten für 2011<br />

2164<br />

Die Zahl der Verbündeten<br />

schrumpft indes. Eine<br />

Abschirmung des Kundengeschäfts<br />

könne »Teil einer<br />

Strategie sein, die Finanzmärkte<br />

sicherer zu machen«,<br />

sagt Markus Kerber, Hauptgeschäftsführer<br />

beim Bundesverband<br />

der Deutschen<br />

Industrie. Auch Angela Merkel<br />

hat die Popularität des<br />

Bankenthemas erkannt –<br />

und hat nicht vor, das Feld<br />

der SPD zu überlassen.<br />

Finanzminister Wolfgang Schäuble will die<br />

Bonuszahlungen deckeln und den Hochfrequenzhandel<br />

regulieren. Konkrete Vorschläge zum Thema<br />

Trennbanken sind geplant, wenn im Herbst die<br />

Ergebnisse einer vom finnischen Zentralbankchef<br />

Erkki Liikanen geleiteten EU-Expertengruppe vorliegen,<br />

weil Schäuble einen nationalen Alleingang<br />

vermeiden möchte. Doch auch in Brüssel hat die<br />

Idee Anhänger – und in einem Positionspapier von<br />

Finanzstaatssekretär Hartmut Koschyk heißt es<br />

bereits, man stehe »der Diskussion um eine Abschirmung<br />

des klassischen Bankgeschäfts vom Investmentbankgeschäft<br />

offen gegenüber«.<br />

Steinbrück mag in der kommenden Woche die<br />

Schlagzeilen dominieren, die Kanzlerin aber hält<br />

schon dagegen. Wie so oft in den vergangenen vier<br />

Jahren hebt sie bei populären sozialdemokratischen<br />

Themen, von der Energiewende bis zum Mindestlohn,<br />

den Finger und sagt: Das mach ich jetzt auch.<br />

Selbst wenn die SPD am Ende verliert, könnte<br />

das Land also gewinnen.


Foto: Thomas Ernsting/laif<br />

WIRTSCHAFT<br />

Boom voraus!<br />

Die Krise erreicht Deutschland? Kann sein – viele Experten sehen trotzdem einen Aufschwung kommen VON KOLJA RUDZIO<br />

Die Krise, heißt es, frisst sich in die<br />

deutsche Wirtschaft. Sie ist jetzt<br />

angekommen. Wir können ihr<br />

nicht entgehen. Das hört man im<br />

Augenblick allenthalben.<br />

Doch stimmt es wirklich? Joachim Möller redet<br />

nicht so. Er spricht vom Aufschwung.<br />

Es ist Anfang September, der Direktor des<br />

Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit<br />

in Nürnberg hält einen Vortrag zur aktuellen<br />

Lage. Seine Zuhörer erwarten Düsteres. Aber der<br />

Professor erklärt, die deutsche Wirtschaft sei im<br />

Grunde kerngesund. Alle Voraussetzungen für<br />

eine »sehr positive Dynamik« seien da. Nur gebe<br />

es diese große Angst: die lähmende Sorge um den<br />

Euro. Gelänge es, diese Angst zu bändigen, sagt<br />

Möller, würden »starke Auftriebskräfte« frei. Eine<br />

Blockade löse sich – und der nächste Aufschwung<br />

könnte beginnen.<br />

Genau das geschieht womöglich gerade.<br />

Ausgerechnet in diesen Tagen könnte der<br />

Wendepunkt auf dem Weg zu einem neuen<br />

Boom erreicht sein. Die Euro-Krise ist zwar nicht<br />

vorüber, aber die akuten Sorgen um die Währung<br />

sind deutlich kleiner geworden.<br />

Erst beschloss die Europäische Zentralbank<br />

(EZB), sie werde alles tun, um die Zinslast notleidender,<br />

reformbereiter Euro-Staaten zu senken.<br />

Wenn nötig, werde sie mit allen Mitteln<br />

Anleihen dieser Staaten kaufen – und die Mittel<br />

der EZB sind bekanntlich unbegrenzt, es handelt<br />

sich um das von ihr selbst geschaffene Geld.<br />

Dann gab das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe<br />

den Weg für ein gigantisches Rettungsinstrument<br />

frei, den Europäischen Stabilitätsmechanismus<br />

(ESM). Er verspricht krisengeschüttelten<br />

Staaten weitere Milliardenhilfen.<br />

Damit erreichen die Rettungsmaßnahmen<br />

eine neue Dimension. Etliche Male schon versuchte<br />

die Politik, mit Gipfelbeschlüssen, Hilfsprogrammen<br />

und einem Schuldenschnitt für<br />

Griechenland die Krise einzudämmen. Doch die<br />

Euro-Ängste blieben. Dieses Mal, glauben viele<br />

Experten, könnte es tatsächlich anders laufen.<br />

»Die Sorge, dass die Euro-Zone kurzfristig auseinanderfliegt,<br />

ist erst einmal weg«, urteilt Kai<br />

Carstensen, Konjunkturchef des ifo-Instituts in<br />

München. »Die Rettungspolitik«, bestätigt Jörg<br />

Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, »hat<br />

eine andere Qualität erreicht.« Der September<br />

<strong>2012</strong>, mutmaßen Konjunkturbeobachter der italienischen<br />

Großbank UniCredit, könne zum<br />

»Wendepunkt« werden. Der Beschluss der EZB<br />

sei ein game changer, eine Entscheidung, die die<br />

Lage komplett verändere.<br />

Wenn die Ökonomen einer italienischen Bank<br />

sich über neue Hilfsmilliarden freuen, mag man<br />

das als interessengeleitet abtun. Aber Carstensen<br />

und Krämer sind Volkswirte, die dieser Rettungspolitik<br />

eigentlich sehr kritisch gegenüberstehen. Ihr<br />

Urteil als Konjunkturforscher ist klar: Die Angst<br />

um den Euro sei nicht verschwunden, aber kleiner<br />

geworden, und damit sei der Weg für einen Aufschwung<br />

frei. Das Szenario, das der Arbeitsmarktforscher<br />

Joachim Möller vor zwei Wochen in Nürnberg<br />

präsentierte, entspricht ziemlich präzise ihrem<br />

Bild der Lage.<br />

»Etliche Studien«, sagt Carstensen, »zeigen,<br />

wie stark Unsicherheit die Konjunktur belastet.«<br />

Viele Unternehmer würden bei unklarer Lage Investitionen<br />

aufschieben und erst einmal abwarten.<br />

Dabei sorgt die Euro-Krise für eine beson-<br />

ders extreme Form der Verunsicherung. Es geht<br />

ja immerhin um den möglichen Zerfall eines<br />

ganzen Währungssystems. »Wer von uns hat<br />

das schon mal erlebt?«, fragt Commerzbank-<br />

Ökonom Krämer. »Das ist nicht die normale<br />

Unsicherheit, die man kennt. Das gehört zu<br />

dem wirklich Unbekannten, zu den unknown<br />

unknowns«.<br />

Erste Anzeichen, dass die daraus resultierende<br />

Verunsicherung nun nachlässt, gibt es bereits. Die<br />

Zinsaufschläge der Risikoländer sind gesunken, die<br />

Aktienkurse schnellten zuletzt nach oben (siehe<br />

Seite 28). Finanzexperten zeigen sich weniger pessimistisch:<br />

Das zeigt die jüngste Umfrage des Zentrums<br />

für Europäische Wirtschaftsforschung in<br />

Mannheim, das solche Leute regelmäßig befragt<br />

und seine Ergebnisse Anfang dieser Woche veröffentlichte<br />

(siehe Grafik).<br />

So weit die Stimmungen. Bevor sich eine<br />

Wende in den richtig harten Wirtschaftsdaten<br />

zeigen kann, dauert es allerdings länger. Der entscheidende<br />

Treiber für die Konjunktur sind Investitionen,<br />

sie sorgen für das Auf und Ab im<br />

Wirtschaftszyklus. Seit fast einem Jahr gehen sie<br />

in Deutschland zurück, jetzt müsste sich der entstandene<br />

Investitionsstau lösen, wenn die These<br />

von der Trendwende stimmt. Bis Unternehmen<br />

neue Investitionsentscheidungen fällen oder frühere<br />

Beschlüsse dazu revidieren, braucht es aber<br />

einige Zeit. Aus den Plänen müssen dann konkrete<br />

Aufträge werden und aus denen wiederum<br />

die reale Produktion oder Dienstleistung eines<br />

Bauunternehmers oder Lieferanten. Schließlich<br />

vergeht noch mal eine Weile, bis alle diese Aktivitäten<br />

von Statistikern erfasst, addiert und publiziert<br />

werden.<br />

Bei vielen Wirtschaftsdaten ist es wie bei einem<br />

alten Fotoapparat: Man kann nicht einfach<br />

auf ein Knöpfchen drücken und sofort sehen,<br />

was man gerade geknipst hat. Nein, das Bild<br />

muss erst langwierig entwickelt werden. Es zeigt<br />

erst nach Wochen oder gar Monaten der Verzögerung,<br />

was einmal war.<br />

Es kann also durchaus sein, dass es in den<br />

nächsten Wochen erst einmal weitergeht mit<br />

den schlechten Nachrichten – ein Rückgang im<br />

Einzelhandel hier, ungünstigere Arbeitsmarktdaten<br />

da. Die breite Öffentlichkeit nimmt meist<br />

nur von den Arbeitslosenzahlen wirklich Notiz.<br />

Und das ist ausgerechnet die Größe, die der<br />

Konjunktur am weitesten hinterherläuft, an der<br />

sich zuallerletzt ablesen lässt: Es geht bergauf<br />

oder bergab.<br />

Deshalb tröpfelt auch jetzt erst langsam ins<br />

allgemeine Bewusstsein, dass die Krise in der<br />

deutschen Wirtschaft ankommt, obwohl Aufträge<br />

und Investitionen schon Ende 2011 zu<br />

sinken begannen – und obwohl sich etliche Experten<br />

schon wieder mit der nächsten Trendwende<br />

beschäftigen, nämlich mit der zum nächsten<br />

Aufschwung.<br />

Die meisten Prognosen sehen für die zweite<br />

Hälfte dieses Jahres ein schwaches Wachstum<br />

oder sogar ein kleines Minus voraus, danach soll<br />

die Wirtschaft dann Zug um Zug wieder stärker<br />

expandieren (siehe Grafik). Einen Riesen-Boom<br />

erwartet niemand, im Jahresdurchschnitt soll<br />

sich das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland<br />

nur um rund ein Prozent erhöhen. Doch immerhin,<br />

es wäre Wachstum, nicht Schrumpfung oder<br />

Stagnation. Und die Zahl der Erwerbstätigen<br />

würde ebenfalls wieder leicht steigen.<br />

Es sind ja auch nicht gleich alle Aussichten rosig.<br />

Allen Prognosen zufolge bleiben die Sparprogramme<br />

in Südeuropa eine Belastung. Gustav Horn, Chef des<br />

gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und<br />

Konjunkturforschung, mag die Aufschwungeuphorie<br />

seiner Kollegen aus diesem Grund auch überhaupt<br />

nicht teilen. »Die Krisenländer müssen mehr Zeit bekommen,<br />

sonst findet der Euro-Raum nicht aus der<br />

Rezession«, warnt der Ökonom. Dann bliebe auch die<br />

deutsche Wirtschaft am Boden.<br />

Ob Horn nun recht hat oder seine optimistischeren<br />

Kollegen: In jedem Fall betreffen alle diese Voraussagen<br />

nur die nahe Zukunft, die kommenden Quartale, das<br />

nächste Jahr. Was auf lange Sicht wird, ist schwer ab-<br />

zusehen. Commerzbank-Volkswirt Krämer zum Beispiel<br />

sieht die fernere Zukunft schon wieder eher<br />

skeptisch: Kurzfristig, meint er, werde sich die lockere<br />

Geldpolitik in Deutschland »sehr gut anfühlen« – aber<br />

langfristig berge diese Politik große Gefahren, die irgendwann<br />

alles nach unten ziehen könnten. Aber das<br />

wird man möglicherweise erst in fünf oder zehn Jahren<br />

erkennen können. Erst, so scheint es, kommt jetzt mal<br />

ein Aufschwung.<br />

I<br />

Weitere Informationen im Internet:<br />

www.zeit.de/konjunktur<br />

www.zeit.de/audio<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 21<br />

Produktion von<br />

Getrieben bei der<br />

Firma Bosch Rexroth<br />

in Witten<br />

Die Stimmung ändert sich<br />

Index der Konjunkturerwartungen<br />

von Finanzexperten<br />

25<br />

Deutschland<br />

20<br />

EU<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

–5<br />

–10<br />

–15<br />

–20<br />

–25<br />

–30<br />

–35<br />

<strong>2012</strong><br />

Jan. Febr. März Apr. Mai Juni Juli Aug. Sept.<br />

Quelle: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung<br />

Das Wachstum soll steigen<br />

Wirtschaftswachstum in Deutschland<br />

gegenüber dem Vorquartal in Prozent<br />

(Jahresrate)<br />

Prognose<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

0<br />

<strong>2012</strong> 2013<br />

1. Quartal 2. 3. 4. 1. 2. 3. 4.<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK/Quelle: Institut für Weltwirtschaft


22 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Tristesse herrscht in den Fabriken von<br />

Opel, Fiat und Peugeot. Tausende Mitarbeiter<br />

fürchten um ihre Jobs, weil der<br />

Verkauf von Neuwagen in der Europäischen<br />

Union bis Ende August um<br />

gut sieben Prozent einbrach. Einzelne europäische<br />

Autohersteller mussten sogar weitaus stärkere Rückgänge<br />

melden. Und Besserung ist nicht in Sicht.<br />

Bei der Konkurrenz aus Korea herrscht derweil<br />

beste Stimmung: Hyundai konnte in den ersten<br />

acht Monaten europaweit gut zehn Prozent mehr<br />

Kunden gewinnen als im Vorjahr, Kia sogar 23<br />

Prozent. Vor allem Kunden aus Deutschland<br />

wechselten scharenweise von Opel, Ford, Renault<br />

und Fiat zu den Asiaten.<br />

Dort bleibt der Erfolg in der Familie. Hyundai<br />

und Kia gehören zur Hyundai Motor Group mit Sitz<br />

in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Von dort<br />

aus regiert der 74-jährige Patriarch Chung Mong-Koo<br />

das Imperium, das zuletzt nicht nur in Europa erfolgreich<br />

war. Auch in China, Indien und den Vereinigten<br />

Staaten haben die Koreaner der etablierten Konkurrenz<br />

beträchtliche Marktanteile abgenommen. »Hyundai<br />

hat es in wenigen Jahren weltweit zur Nummer<br />

fünf in der Branche gebracht«, sagt Stefan Bratzel,<br />

Direktor des Center of Automotive Management in<br />

Bergisch Gladbach. »Das ist beeindruckend.«<br />

Das erkennen mittlerweile auch europäische<br />

Branchengrößen an – VW-Konzernchef Martin<br />

Winterkorn zum Beispiel. Der setzte sich im vergangenen<br />

Jahr während der Automobilmesse IAA in<br />

Frankfurt in den neuen Hyundai i30, das Konkurrenzmodell<br />

zum Golf. Kritisch prüfte er, wie sich das<br />

Lenkrad verstellen ließ. »Da scheppert nichts«, befand<br />

der Manager beim Aus- und Einrasten der Verstellung,<br />

zitierte den VW-Designchef herbei und fragte:<br />

»BMW kann’s nicht, wir können’s nicht. Warum<br />

kann’s der?« Winterkorn hat Hyundai/Kia als den<br />

bedeutendsten Rivalen identifiziert. Ausgerechnet die<br />

Koreaner, die vor nicht allzu langer Zeit noch wegen<br />

ihrer billigen Blechkisten belächelt wurden.<br />

Was aber ist das Erfolgsgeheimnis der Aufsteiger<br />

aus Seoul?<br />

Um das herauszufinden, brauchen die europäischen<br />

Wettbewerber gar nicht weit zu reisen. Von<br />

Frankfurt und Rüsselsheim aus, also aus der Mitte<br />

Deutschlands, lehren die Koreaner ihren Konkurrenten<br />

das Fürchten. Nicht zuletzt, weil Hyundai und<br />

Kia dort kluge Köpfe abgeworben haben.<br />

Erfolgsfaktor Design. Peter Schreyer braucht nur<br />

hinauszuschauen, wenn er Anregungen sucht. Von<br />

seinem bis zum Boden verglasten Eckbüro im Kia-<br />

Büropalast neben der Frankfurter Messe kann er den<br />

dichten Verkehr auf sechs Fahrspuren von oben betrachten.<br />

»Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele<br />

Modellvarianten und Marken zu sehen wie in<br />

Deutschland«, sagt der Designer.<br />

Schreyer trägt ein schwarzes Hemd und eine<br />

markante Brille. Beim Sprechen rollt er das R. Er<br />

stammt aus Oberbayern, ist aber längst zum Kosmopoliten<br />

geworden. Erst am Abend zuvor ist der Kia-<br />

Chefdesigner aus Seoul eingeflogen, am selben Tag<br />

noch geht es weiter nach Salzburg, anschließend zur<br />

Automesse nach Moskau, dann vielleicht ins kalifornische<br />

Designstudio, bevor er Ende September wieder<br />

in Europa auf dem Pariser Automobilsalon auftaucht.<br />

Peter Schreyer ist ein klangvoller Name in der<br />

Autoszene. Das berühmte Royal College of Art in<br />

London hat ihm den Ehrendoktor für seinen Beitrag<br />

zum Automobildesign verliehen. Schreyer ist<br />

die Ikone Audi TT zu verdanken, in den Neunzigern<br />

prägte er in Ingolstadt das neue Gesicht der<br />

Marke mit den vier Ringen, anschließend gab er<br />

VW-Modellen Gestalt. Insgesamt 26 Jahre lang<br />

arbeitete er für den VW-Konzern, zuletzt als Chefdesigner<br />

in Wolfsburg, und war »zutiefst mit VW<br />

und Audi verbunden«.<br />

Und warum dann zu den Koreanern? »Mich hat<br />

das Abenteuer gereizt«, sagt Schreyer. Im Jahr 2006<br />

nahm er das Angebot von Kia an, weltweit das Design<br />

der aufstrebenden Marke zu verantworten.<br />

Der Reiz des Unbekannten, des Neuen, eine völlig<br />

andere Kultur habe ihn zum Wechsel bewogen,<br />

Die haben verstanden<br />

Warum Hyundai und Kia der europäischen Absatzkrise trotzen und viele Konkurrenten alt aussehen lassen VON <strong>DIE</strong>TMAR H. LAMPARTER<br />

sagt er. Natürlich sei das ein Risiko gewesen, andererseits<br />

habe er hier »eine sehr freie Hand«. In Seoul, Los<br />

Angeles und Frankfurt leitet er seitdem rund 250<br />

Kreative an, die Karosserien zeichnen, Modelle aus<br />

Ton modellieren und das Interieur gestalten. Seine<br />

drei Studiochefs – ein Koreaner, ein Amerikaner, ein<br />

Franzose – und er treffen sich jeden Monat mit den<br />

Kia-Topmanagern. »Ich habe eine völlig andere Welt<br />

kennengelernt, erfahren, dass es noch anderes außerhalb<br />

von Wolfsburg und Ingolstadt gibt«, sagt Schreyer,<br />

der spürbar stolz ist auf seine Leistung. »Der Erfolg<br />

ist richtig sichtbar, wenn man unsere Autos auf der<br />

Straße sieht«, sagt der Designer. Das sei längst nicht<br />

mehr nur in Korea so, wo die Kia und Hyundai<br />

neunzig Prozent des Straßenbilds beherrschen, sondern<br />

immer mehr auch in den USA, in Deutschland,<br />

in Österreich.<br />

Natürlich gab es auch vor Schreyer schon Kia, und<br />

einige Modelle haben ihn beeindruckt. »Ich wollte<br />

wissen, wer dahintersteckt«, sagt er. Seine Aufgabe<br />

war es, der Marke ein Gesicht zu geben, eine gewisse<br />

Familienähnlichkeit herzustellen, zugleich aber dabei<br />

nicht langweilig zu sein. Es gehe darum, eine weltweite<br />

Identität herzustellen, eine Marke aufzubauen,<br />

erklärt Schreyer. Idealerweise müsse man »einen Kia<br />

erkennen, ohne dass der Markenname draufsteht«.<br />

Seit 2008 sind die ersten Modelle mit seiner<br />

Handschrift auf dem Markt zu sehen, das typische<br />

Markengesicht nennt er »Tiger Nose«, Tigernase. Das<br />

Tier sei in der koreanischen Kultur sehr positiv besetzt.<br />

Als »sportlich straff« charakterisiert Schreyer die<br />

klare Linienführung, die bei Käufern und Kritikern<br />

gleichermaßen ankommt. Kia spielt im Konzern die<br />

Rolle der eher jüngeren, sportlicheren Marke neben<br />

der eher klassisch orientierten Schwester Hyundai.<br />

Mittlerweile wurde praktisch die gesamte Modell-<br />

In den Top Five<br />

Die größten Autohersteller der Welt 2011 nach<br />

verkauften Fahrzeugen in Millionen<br />

General Motors<br />

Volkswagen<br />

Nissan-Renault<br />

Toyota<br />

Hyundai<br />

Tendenz aufwärts<br />

Absatz der Marken Hyundai und Kia in Europa*<br />

und weltweit von 2002 bis 2011 in Tausend<br />

Europa<br />

2002 2004 2006 2008 2010<br />

Kia<br />

Welt<br />

Hyundai<br />

2002 2004 2006 2008 2010<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK/Quelle: Unternehmensangaben, *EU und EFTA<br />

9,03<br />

8,36<br />

8,29<br />

7,95<br />

6,60<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK/Quelle: Unternehmensangaben; jeweils Konzerne, bzw.<br />

Allianz bei Nissan-Renault, Pkw und Nutzfahrzeuge<br />

400<br />

300<br />

200<br />

100<br />

0<br />

4000<br />

3000<br />

2000<br />

1000<br />

0<br />

palette von Kia Motors unter seiner Regie neu eingekleidet<br />

– vom Kleinwagen über die beliebten Geländemobile<br />

bis zur großen Limousine. Die Optik der<br />

gerade aufgelegten zweiten Generation des Golf-<br />

Rivalen Kia Cee’d wurde in Blättern wie Brigitte,<br />

stern oder auto motor und sport unisono mit wahren<br />

Elogen gefeiert.<br />

»Das Design von Peter Schreyer spielt eine entscheidende<br />

Rolle bei den jüngsten Erfolgen der<br />

Marke Kia«, sagt Ralf Kalmbach, Chefberater in<br />

Sachen Automobil bei Roland Berger in München.<br />

Die Führung in Korea lasse Schreyer viel Freiraum,<br />

weil sie das erkannt habe.<br />

Derartiges Lob macht den Kia-Chefdesigner<br />

ein bisschen verlegen. »Design spielt heute bei allen<br />

Marken eine stärkere Rolle«, stellt er fest, »aber<br />

das Design allein kann es nicht machen.«<br />

Europäischer Geschmack. »Wir müssen den Geschmack<br />

der europäischen Kunden treffen«, sagt sein<br />

Kollege Thomas Bürkle im nahen Rüsselsheim. Er<br />

leitet das europäische Designteam der großen Schwester<br />

Hyundai. Auch er ein bekannter Name in der<br />

Szene. Bevor der 51-jährige Hesse 2005 zu Hyundai<br />

stieß, hatte er Erfahrung bei Mercedes, Toyota und<br />

VW gesammelt, zuletzt war er für die Gestaltung<br />

wichtiger BMW-Modelle wie der 3er-Reihe verantwortlich.<br />

Dann kam das Angebot zum Wechsel.<br />

Chung Mong-Koo und seine Strategen in Seoul<br />

hatten beschlossen, den europäischen Markt mit einer<br />

völlig eigenen Modellpalette zu erobern.<br />

Bei Marken wie BMW müsse man Rücksicht auf<br />

die Tradition nehmen, der Charakter sei im Kern<br />

festgelegt, schickt Bürkle voraus, wenn er sein Wechselmotiv<br />

erklärt. Frühere Hyundai-Modelle hätten<br />

alle unterschiedliche Gesichter gehabt. Jetzt bekam<br />

er die einmalige Chance einer jungen Marke ein<br />

Gesicht für Europa zu geben. »Mich hat es einfach<br />

gereizt, das Design einer Marke von Grund auf zu<br />

prägen«, sagt Bürkle.<br />

»Fluidic Sculpture« nennen sich die der Natur<br />

nachempfundenen fließenden Formen der Hyundai-<br />

Karosserien, ein in Form eines Hexagons gestalteter<br />

Frontgrill komplettiert das Erscheinungsbild. Die<br />

Form erinnere an die Form einer Bienenwabe, leicht<br />

und trotzdem äußerst stabil, eine effiziente Konstruktion<br />

der Natur. Und für Effizienz in attraktiver<br />

Gestalt soll auch die Marke stehen. Denn eines war<br />

klar: Nachdem Hyundai in den Jahren zuvor vor allem<br />

mit seinem guten Preis-Leistungs-Verhältnis die<br />

Kunden gelockt hatte, wollte man fortan auch mit<br />

dem Design punkten. Immer noch günstig, aber<br />

nicht mehr billig kommt Hyundai jetzt daher.<br />

Entgegen dem Ruf des zentralistisch geführten<br />

koreanischen Konzerns hätte sein aus einem Dutzend<br />

Nationalitäten rekrutiertes Team »viel Freiraum« bekommen,<br />

betont der europäische Chefdesigner.<br />

Bürkle und seine 30 Kreativen residieren im kreisförmig<br />

angelegten Europäischen Entwicklungszentrum<br />

von Hyundai am Rande von Rüsselsheim. Schon das<br />

erste dort entwickelte Modell, das Kompaktauto i30,<br />

kam beim Publikum sehr gut an. Weitere erfolgreiche<br />

Modelle vom Kleinwagen bis hin zum VW-Passat-/<br />

Opel-Insignia-Konkurrenten Hyundai i40 haben das<br />

Standing der Rüsselsheimer in Seoul gefestigt.<br />

Deutsche Ingenieurskunst. Doch die Hyundai-<br />

Strategen haben ihre Autos nicht nur optisch europäisiert.<br />

Auch technisch galt es die Erwartungen der<br />

verwöhnten Kundschaft zu erfüllen. Dafür steht beispielsweise<br />

das 80-köpfige Team von Motoren- und<br />

Getriebeentwicklern um den Ingenieur Jürgen<br />

Grimm, das ebenfalls im Rüsselsheimer Entwicklungszentrum<br />

seinen Platz hat. Der 43-jährige Franke<br />

ist der Prototyp des deutschen Ingenieurs, der sich<br />

einem Thema verschrieben hat – dem effizienten Einsatz<br />

von Energie. Er hat Maschinenbau mit Schwerpunkt<br />

Energietechnik studiert, bei VW und Zulieferern<br />

an der modernen Dieseltechnik gearbeitet. Im<br />

Jahr 2002 ereilte ihn der Ruf von Hyundai, das damals<br />

seine Dieselmotoren noch von anderen Herstellern<br />

zukaufte. »Die Chance, quasi auf einem weißen<br />

Blatt Papier einen eigenen Dieselmotor zu entwickeln,<br />

war äußerst reizvoll«, erinnert er sich.<br />

Das Beispiel der Motorenkonstrukteure macht<br />

klar, weshalb die Strategen aus Seoul Rüsselsheim<br />

unweit des Frankfurter Großflughafens auswählten.<br />

»Mit dem Standort Deutschland hatte man das ganze<br />

Umfeld der namhaften Zulieferer«, erklärt Jürgen<br />

Grimm. Elektronik von Bosch, Turbolader von Borg<br />

Warner, Entwicklungsdienstleistungen von AVL ...<br />

»Die meisten Patente liegen nicht bei den Autoherstellern,<br />

sondern bei den Zulieferern«,<br />

klärt Grimm auf, »so war es<br />

keine Utopie, den Vorsprung der<br />

deutschen Hersteller wie Mercedes,<br />

VW/Audi oder BMW aufzuholen.«<br />

Knapp zehn Jahre später kann<br />

der zum Chef-Antriebsentwickler in<br />

Rüsselsheim beförderte Grimm bei<br />

einem Test mit einem seiner kleinen<br />

Diesel-Pkw den niedrigsten Wert bei<br />

den CO₂-Emissionen eines konventionell<br />

angetriebenen Pkw vorweisen.<br />

»Bei Dieselmotoren brauchen<br />

wir uns vor den Konkurrenten nicht<br />

zu verstecken, unsere Motoren sind<br />

auf europäischem Niveau«, sagt ein<br />

stolzer Ingenieur in Rüsselsheim.<br />

Grimms Truppe liefert für Hyundai<br />

und für Kia. Nach dem Muster des<br />

großen Vorbilds aus Wolfsburg, das<br />

seine Motoren und Getriebe kostensparend<br />

bei seinen Marken VW,<br />

Audi, Škoda und Seat einsetzt.<br />

Und schon im kommenden Jahr<br />

kommt die neue Generation von<br />

Benzinmotoren in die Autos. Dann<br />

spiele man auch hier vorne mit, verspricht<br />

Grimm. Das Wort eines<br />

deutschen Ingenieurs.<br />

Lange Garantie schafft Vertrauen.<br />

»Der Benzinverbrauch ist das eine,<br />

aber Design ist immer noch Kaufgrund<br />

Nummer eins«, weiß Benny<br />

Oeyen nach 22 Jahren Erfahrung<br />

in Marketing, Produktplanung und<br />

Vertrieb von Autofirmen. Der<br />

50-jährige Belgier hat für Ford,<br />

Mazda und DaimlerChrysler in<br />

Europa gearbeitet, dann für Chrysler<br />

in den USA. Dort erreichte ihn<br />

mitten in der Branchenkrise 2009<br />

der Anruf eines Headhunters. Ob<br />

er sich vorstellen könne, sich in<br />

Frankfurt bei Kia um Marketing<br />

und Produktplanung zu kümmern?<br />

Oeyen konnte.<br />

Vier Manager aus vier Ländern<br />

sollten die Marke aus dem Exotenstatus<br />

in Europa herausholen.<br />

Der europäische Markt sei gesättigt,<br />

beschreibt Oeyen die Ausgangslage.<br />

Also brauchte man – neben dem<br />

Design – ein weiteres Argument, um Kunden anderer<br />

Marken herüberzuziehen. Qualität sollte die zweite<br />

Achse in der Marketingstrategie sein. »Die Leute<br />

glauben erst mal, dass die Qualität bei einem Newcomer<br />

nicht gut ist«, schildert Oeyen die Herausforderung.<br />

»Wie kann man das ändern?«, fragten sich<br />

Oeyen und sein Chef.<br />

Im Herbst 2009 lag das Konzept auf dem Tisch:<br />

Sieben Jahre Garantie sollte es für jeden neuen Kia<br />

geben. Das war mutig. Denn Mercedes, VW, Audi,<br />

BMW und Co. geben nur zwei Jahre Garantie.<br />

Einfach war es nicht, diese revolutionäre Idee in<br />

Seoul durchzusetzen. Doch schon im Januar 2010<br />

wurde die 7-Jahres-Garantie tatsächlich eingeführt.<br />

»So schnell hätte man das bei einem amerikanischen<br />

oder europäischen Hersteller nie durch die Instanzen<br />

bekommen«, ist sich Oeyen sicher. Koreaner bereiten<br />

Entscheidungen bis ins Detail vor. »Wenn<br />

dann die Konzernspitze etwas beschlossen hat, geht<br />

es aber ruckzuck.«<br />

»Palli, palli«, koreanisch für schnell, schnell, sei<br />

oft zu hören. Hyundai könne man in dieser Hinsicht<br />

mit anderen koreanischen Konzernen wie Samsung<br />

Koreaner,<br />

europäisch gestylt<br />

und LG vergleichen, die hätten den Markt für Flachbildfernseher<br />

oder Smartphones aufgemischt und<br />

etablierte Firmen wie Sony oder Nokia abgehängt.<br />

Die jüngsten Verkaufserfolge bei Kia – und auch<br />

bei Hyundai, das mit einer 5-Jahres-Garantie nachzog<br />

– sprechen für die Strategie. Aber die Koreaner wollen<br />

weiter wachsen. »Noch sind unsere Produkte besser<br />

als das Image«, sagt Oeyen. Immerhin hat das Sponsoring<br />

bei der Fußball-WM die<br />

Markenbekanntschaft von Kia/<br />

Hyundai kräftig erhöht.<br />

Natürlich sei die strenge Hierarchie<br />

in einem koreanischen<br />

Konzern für europäische Mitarbeiter<br />

nicht immer einfach, aber andererseits<br />

wisse man in Seoul, dass<br />

man aus Korea heraus nicht alles<br />

Peter Schreyer hat Kia schaffe – »man kauft sich Talent<br />

weltweit ein attraktives ein, und man hört zu«, schildert<br />

Design verpasst<br />

Oeyen seine Erfahrungen.<br />

»Die Koreaner treffen mit ihrem<br />

frischen Design den Zeitgeist«, stellt<br />

Roland-Berger-Berater Kalmbach<br />

fest, »die Produkte haben mit den<br />

alten Billigautos nichts mehr zu<br />

tun. Sie haben verstanden, dass sie<br />

in Europa europäisch sein müssen.«<br />

In dieser Hinsicht hätten sie Toyota<br />

und die anderen Japaner überrundet.<br />

Die langen Garantiefristen<br />

Benny Oeyen setzt beim zeigten den Glauben an die eigene<br />

Kia-Marketing auf die Qualität. Das wird von den Kunden<br />

7-Jahres-Garantie wahrgenommen. Man liegt nicht<br />

mehr daneben, wenn man einen<br />

Koreaner fährt.<br />

Jürgen Grimm hat für<br />

Hyundai sparsame<br />

Motoren entwickelt<br />

Thomas Bürkle gab den<br />

Hyundai-Modellen ihr<br />

europäisches Gesicht<br />

WIRTSCHAFT<br />

Know-how aus allen Regionen.<br />

Die Beispiele aus Frankfurt und<br />

Rüsselsheim zeigen das Prinzip<br />

der erfolgreichen Hyundai/Kia-<br />

Wachstumsstrategie: Man zapft in<br />

der jeweiligen Weltregion das vorhandene<br />

Know-how an, holt sich<br />

einheimische Talente, um die jeweiligen<br />

Platzhirsche mit ihren<br />

eigenen Waffen zu schlagen. Kleine,<br />

preiswerte Autos baut Hyundai<br />

in Indien, die Elektronikentwickler<br />

sitzen in Japan, große<br />

Fahrzeuge werden in Amerika entworfen,<br />

technische Neuerungen<br />

und Modelle speziell für Europa<br />

in Deutschland. In Korea wird alles<br />

perfektioniert.<br />

»Die Kompetenzen sind schlüssig<br />

auf die Weltregionen aufgeteilt«, sagt<br />

Ingenieur Grimm, »wir müssen<br />

nicht immer die Trendsetter sein,<br />

konnten von Amerikanern den Managementansatz,<br />

von den Japanern<br />

das Qualitätsdenken und den Deutschen<br />

Gründlichkeit und Innovationskultur lernen.«<br />

Trotz aller Internationalität herrsche, schon durch<br />

die Dominanz der Familie Chung, die Atmosphäre<br />

eines Familienunternehmens, erzählen die Europäer<br />

in koreanischen Diensten.<br />

In diesem Jahr will Hyundai/Kia schon mehr als<br />

sieben Millionen Autos verkaufen. Volkswagen gilt<br />

als großes Vorbild, noch liegen die Korea-Marken<br />

imagemäßig zurück. »Wir haben mit dem neuen Golf<br />

den Abstand zu den Koreanern wieder vergrößert«,<br />

sagte VW-Chef Martin Winterkorn bei der Präsentation<br />

des Golf VII vor wenigen Tagen in Berlin.<br />

Bislang war Hyundai in der Verfolgerposition,<br />

konnte sich vieles bei den Konkurrenten abschauen.<br />

Wenn sich die Marken aber weiter nach oben entwickeln<br />

wollen, müssten sich die Koreaner von der<br />

Rolle des bloßen Nachahmers emanzipieren, mit<br />

eigenen Neuerungen Zeichen setzen, sagt Branchenexperte<br />

Bratzel. »Das waren jetzt tolle fünf Jahre für<br />

Hyundai und Kia. In Zukunft wird es schwieriger.«<br />

Weitere Informationen im Internet:<br />

www.zeit.de/automobilindustrie<br />

Fotos: PR


WIRTSCHAFT<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Herr Kim, ein Arzt als Chef der Weltbank?<br />

Sie haben selbst mal gesagt, Sie wüssten<br />

nicht, was ein Hedgefonds ist ...<br />

Jim Yong Kim: Das habe ich gesagt, ehe ich die<br />

Leitung der Universität in Dartmouth übernahm.<br />

Aber seit ich mich dort um das Stiftungskapital<br />

von 3,5 Milliarden Dollar kümmern musste, weiß<br />

ich sehr wohl, was ein Fonds ist! Es stimmt, dass<br />

ich der erste Chef der Weltbank bin, der nicht<br />

vorher Banker oder Politiker war. Dafür bin ich<br />

der erste, der praktische Erfahrungen in der Entwicklungshilfe<br />

hat.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Schon mit Bankern aneinandergeraten?<br />

Kim: Ganz und gar nicht. Ich treffe in der Weltbank<br />

viele Leute, die echtes Interesse an der Arbeit<br />

haben. Ein kleiner Teil schreibt vor allem wissenschaftliche<br />

Studien, die große Mehrheit kommt<br />

aus der Praxis und will, dass unsere Investitionen<br />

etwas verändern. Wir reden Klartext miteinander.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und das ist neu?<br />

Kim: Es gab Zeiten in der Bank, da ging es vor<br />

allem um die ganz großen Ideen. Da wurde Strukturanpassung<br />

verordnet, Freihandel und freie<br />

Märkte, und es hieß: »Privatisiert die Gesundheitsversorgung!«<br />

oder »Lasst das Kapital frei fließen!«.<br />

Einige dieser Ideen halten wir auch heute<br />

noch für richtig, aber es gibt nicht die eine Lösung<br />

für alle. Besser, man entwickelt die passende<br />

Strategie für jedes einzelne Land – und dann können<br />

die Länder voneinander lernen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie soll das gehen?<br />

Kim: Es gab in den Achtzigern den Durchbruch<br />

der evidenzbasierten Medizin ...<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das heißt: Kein Eingriff, ohne dass die<br />

Wirkung belegt ist ...<br />

Kim: ... und seitdem erforschen Mediziner systematischer<br />

den Erfolg von Therapien. Ähnlich<br />

muss es in der Entwicklungspolitik sein. Wir<br />

müssen konkret fragen: Was hat funktioniert und<br />

was nicht? Wenn wir dann ein Land beraten, können<br />

wir beispielsweise sagen: Subventionen für<br />

Treibstoff haben meist diese und jene Wirkungen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Machen Sie damit nicht eine tonangebende<br />

Institution zur Service-Einrichtung?<br />

Kim: Es gibt ja nach wie vor eine Menge Leute in<br />

der Bank, die große Ideen haben, und das ist sehr<br />

wichtig. Auch den Freiraum, darüber intensiv zu<br />

diskutieren, muss eine Wissensbank bieten. Es<br />

gab ja beispielsweise mal eine große Debatte darüber,<br />

ob man seine Grenzen für den Handel öffnen<br />

sollte oder nicht – heute verschließt sich kaum<br />

noch ein Land dieser Idee.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Der Grad und das Tempo der Öffnung sind<br />

allerdings nach wie vor strittig.<br />

Kim: Das ist der Punkt. Solche Entscheidungen<br />

kann man treffen, wenn man die Vor- und Nach-<br />

»Ich<br />

setze auf<br />

Beweise«<br />

Der neue Weltbankchef Jim Yong<br />

Kim zweifelt an großen Th eorien<br />

und allgemeingültigen Lösungen<br />

Jim Yong Kim war Arzt und Helfer<br />

teile der unterschiedlichen Modelle kennt. Als<br />

ich in Äthiopien war, interessierte sich die Regierung<br />

intensiv dafür, was sie von den Südkoreanern<br />

lernen könnte. Denen war auch mal vorhergesagt<br />

worden, sie würden sich nie entwickeln,<br />

aber dann schafften sie einen rasanten Aufstieg.<br />

Manche Wissenschaftler sagen: Der Konfuzianismus<br />

war der Schlüssel. Vor Jahrzehnten hieß es<br />

noch: Konfuzius ist das Problem. Solche Deutungsunterschiede<br />

machen mich sehr misstrauisch,<br />

wenn ich von angeblich allgemeingültigen<br />

Lösungen höre.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ökonomen lieben allgemeingültige Ideen.<br />

Kim: Die helfen uns ja auch, anders zu denken.<br />

Aber Äthiopien braucht konkrete Hilfe bei der<br />

ländlichen Entwicklung und keine abstrakten<br />

Großentwürfe. Die gute Nachricht ist: Wir bei<br />

der Bank haben eine Unmenge von Experten, die<br />

haben in allen Ländern der Welt gearbeitet und<br />

kennen 20, 30 oder 40 Beispiele für Landwirtschaftsreformen.<br />

Die wissen genau, wo es funktioniert<br />

hat und wo es danebengegangen ist.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Landwirtschaft gilt als Schüssel zur Entwicklung,<br />

gerade die Nahrungsmittelproduktion<br />

steckt in einer dramatischen Krise. Sie sind in<br />

Iowa aufgewachsen, dort herrscht schlimme<br />

Dürre ...<br />

Kim: Ich habe dort Freunde, mit denen ich auf<br />

Facebook Kontakt halte, und kenne deren Sorgen.<br />

Ja: Dies ist die schlimmste Dürre seit 50 Jahren,<br />

und wir sind extrem beunruhigt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Preise für Getreide sind explodiert, in<br />

manchen Ländern droht Hunger.<br />

Kim: Ich kenne das Problem aus der Perspektive<br />

des Arztes, ich habe in Ländern gearbeitet, in denen<br />

Menschen krank wurden, weil sie extrem unterernährt<br />

waren. Diese Bedrohung steckt mir sozusagen<br />

in den Knochen. Wir sind in der Bank<br />

hellwach, um die Länder, die ihre Menschen nicht<br />

ausreichend ernähren können, mit Wissen, Finanzmitteln<br />

und notfalls Lebensmitteln zu unterstützen.<br />

Wir wollen nicht, dass Eltern ihre Kinder<br />

aus der Schule nehmen müssen, weil sie nicht genug<br />

zu essen haben. Oder dass sie sich den Arzt<br />

nicht mehr leisten können.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Es gab immer wieder Kritik, dass die Weltbank<br />

gerade in der Landwirtschaft die Falschen<br />

unterstützt. Sie hat zum Beispiel in Entwicklungsländern<br />

die Investitionen von Agrarkonzernen finanziert.<br />

Kleinbauern wurden vertrieben und indigene<br />

Völker. Manche nennen das »Landraub«.<br />

Kim: Glauben Sie mir: Dieses Problem nehmen<br />

wir ganz besonders ernst. Eine Bestandsaufnahme<br />

war eine meiner ersten Beschäftigungen. Es ist<br />

ganz gewiss nicht die Absicht der Weltbank,<br />

Kleinbauern zu vertreiben, und es widerspricht<br />

unseren Wertvorstellungen, Menschen ihren Lebensunterhalt<br />

zu rauben. Im Gegenteil: Wir wollen,<br />

dass die Menschen von ihrem Land leben und<br />

es nachhaltig bewirtschaften können.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Müssten Sie sich nicht stärker in politische<br />

Debatten einmischen, um das zu erreichen? Beispielsweise<br />

bei der Biospritproduktion?<br />

Kim: Sie wissen, das ist ein hoch kontroverses<br />

Thema. Die Produktion von Pflanzen, aus denen<br />

dann Biosprit wird, begann ja einst als gute Idee.<br />

Man wollte die Klimagase reduzieren. Aber jetzt<br />

wachsen die Sorgen, dass Biosprit zu den höheren<br />

Lebensmittelpreisen beiträgt. Mein Eindruck ist,<br />

dass sich selbst die Wissenschaftler noch nicht einig<br />

sind. Wir müssen die Auswirkungen auf die<br />

Armen noch besser verstehen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie politisch können Sie sein?<br />

Kim: Beim Klimawandel hat sich die Weltbank ja<br />

durchaus aus dem Fenster gehängt. Noch einmal:<br />

Ich bin der erste Wissenschaftler an ihrer Spitze,<br />

und bei diesem Thema sehe ich klar, dass es unter<br />

den Experten einen Konsens gibt. Die Klimaforscher<br />

haben gerade wieder bestätigt, dass das extreme<br />

Wetter dieses Sommers<br />

» Vielleicht schauen<br />

eine Folge der Treibhausgase ist,<br />

und wir beobachten in den Meeren<br />

Veränderungen, von denen<br />

wir dachten, sie träten erst bei<br />

zwei Grad ein. Ich verspreche Ihnen:<br />

Eines der Themen, über die<br />

ich laut reden werde, ist der Klimawandel.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Auch wenn Amerikaner<br />

und Chinesen manche Konsequenz<br />

daraus nicht gern hören?<br />

Kim: Meine Aufgabe ist, den Politikern die wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse nahezubringen.<br />

Man muss sich mithilfe von Beweisen durchsetzen,<br />

damit Entscheidungen besser getroffen werden<br />

können. Ist das politisch? Vielleicht, aber gerade<br />

deswegen verlasse ich mich auf die Fakten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Auch bei den Umwelt- und Sozialstandards<br />

für Infrastrukturprojekte gibt es unterschiedliche<br />

Vorstellungen, etwa zwischen Europa und den<br />

großen Schwellenländern. Manche der Kriterien<br />

sind von Indien und China verwässert worden.<br />

Werden Sie sich für strenge Regeln einsetzen?<br />

Kim: Ich habe meinen Job als überzeugter Multilateralist<br />

angetreten. Wir müssen die Diskussionen<br />

über Standards intensiv führen. Das betrifft<br />

natürlich besonders die Energieversorgung.<br />

Unterwegs in Afrika habe ich erlebt, wie gigantisch<br />

die Herausforderung ist: Viele Länder<br />

brauchen ein immenses Wachstum, aber die<br />

Energie fehlt. Nigeria muss seine Energieproduktion<br />

in zehn bis fünfzehn Jahre verfünf-<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 23<br />

fachen – auf der anderen Seite müssen wir<br />

Rücksicht auf die Umwelt nehmen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Werden Sie über die Euro-Krise sprechen?<br />

Kim: Ich hoffe sehr, dass Sie die Krise bald überwinden.<br />

Sonst wären die Auswirkungen auf die<br />

Entwicklungsländer enorm! Der Nahe Osten,<br />

Nordafrika, ganz Afrika, viele Regionen leiden<br />

schon jetzt.<br />

europäische Länder<br />

sich etwas von den<br />

Erfahrungen der<br />

koreanischen<br />

Wirtschaftskrise der<br />

90er Jahre ab? «<br />

<strong>ZEIT</strong>: Würde die Weltbank eigentlich auch Län-<br />

dern wie Griechenland und Spanien helfen?<br />

Kim: Die Regierungen müssen uns natürlich fragen.<br />

Und wir sagen ihnen nicht, was sie zu tun<br />

haben. Aber wir bieten ihnen die besten Leute,<br />

die auch anderswo in Krisensituationen gearbeitet<br />

haben und ihnen Optionen vorstellen können.<br />

Wenn das hilft – wir kommen gern. Und wir<br />

bringen dann auch das Wissen des Südens mit.<br />

Denn es gibt inzwischen eine Menge Dinge, die<br />

reiche Länder von den Entwicklungsländern lernen<br />

können.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Zum Beispiel?<br />

Kim: Vielleicht schauen sich ja auch europäische<br />

Länder etwas von den Erfahrungen der koreanischen<br />

Wirtschaftskrise in den<br />

späten neunziger Jahren ab?<br />

Oder nehmen Sie das Gesundheitswesen,<br />

das ist für jedes<br />

Land zentral. In vielen Entwicklungsländern<br />

gibt es schon<br />

lange einfache Gesundheitsdienste<br />

in den Gemeinden,<br />

und jetzt stellen Sie sich vor:<br />

Die Vereinigten Staaten von<br />

Amerika haben festgestellt,<br />

dass solche Basismediziner die<br />

Kosten des Gesundheitswesens verringern und die<br />

Versorgung verbessern können – selbst bei sehr<br />

kranken Patienten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Macht Ihnen der neue Job Freude – oder ist<br />

er vor allem anstrengend?<br />

Kim: Ich staune über die Möglichkeiten. Ich habe<br />

mein Leben lang gegen Armut und Krankheit<br />

gekämpft. Ich habe für Wohn- und Ernährungsprogramme<br />

gearbeitet, in Sibirien ein Gesundheitssystem<br />

aufgebaut und diese Arbeit geliebt.<br />

Und plötzlich kann ich mit den Ministern Niebel<br />

und Schäuble darüber reden, morgen mit Politikern<br />

in Südafrika. Wissen Sie: Ich träume tatsächlich<br />

immer noch von einer Welt ohne Armut.<br />

Und da ist die Weltbank eine von zwei, drei Organisationen,<br />

die dafür wirklich Entscheidendes tun<br />

können. Jeden Morgen gehe ich zur Arbeit, und<br />

denke: Okay, was könnte besser sein?<br />

Das Gespräch führten CHRISTIANE GREFE<br />

und PETRA PINZLER<br />

Fotos: Manfred Klimek für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>


24 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> WIRTSCHAFT<br />

Datei Datei<br />

Künftig sollen die Absender großer Datenmengen Vorfahrt erhalten und dafür extra zahlen<br />

Heute werden beim<br />

Datentransport<br />

alle gleich behandelt,<br />

das aber kann<br />

zu Staus führen<br />

Was der »Internet-Evangelist«<br />

verkündete, hatte wenig von<br />

einer frohen Botschaft. »Das<br />

offene Netz war nie in größerer<br />

Gefahr als jetzt«, erklärte<br />

Vint Cerf, Informatiker und einer der Väter des<br />

Internets, Ende Mai in einer Anhörung des<br />

US-Kongresses. Cerf steht heute in Diensten<br />

des Suchmaschinenbetreibers Google, er ist<br />

dort Vordenker und eben Chief Internet Evangelist.<br />

Die Abgeordneten warnte Cerf mit<br />

scharfen Worten: »Eine internationale Schlacht<br />

bahnt sich an, eine Schlacht, die über die Zukunft<br />

des Internets bestimmen wird.«<br />

In dem düsteren Szenario, das Cerf entwarf,<br />

geht die Bedrohung des Internets von einer wenig<br />

bekannten Sonderorganisation der Vereinten<br />

Nationen aus: der Internationalen Fernmeldeunion<br />

ITU. Russland, China und andere autoritäre<br />

Staaten würden versuchen, über die ITU<br />

weite Teile des Internets unter ihre Kontrolle zu<br />

bringen. Bislang koordiniert ein loses Netzwerk<br />

nichtstaatlicher Organisationen das Netz. Die<br />

Folgen wären laut Cerf Planwirtschaft, Zensur<br />

und technologischer Stillstand. Im Dezember, bei<br />

der nächsten Vertragskonferenz der ITU in Dubai,<br />

stünde die Entscheidungsschlacht an.<br />

Cerf sagt allerdings nur die halbe Wahrheit.<br />

Denn in Dubai wird noch ein zweiter Konflikt<br />

ausgetragen, der für Google nicht minder bedrohlich<br />

ist, bei dem es aber weniger um<br />

Macht als um Geld geht. Es geht darum, wer<br />

für das Netz und seine Infrastruktur bezahlt –<br />

und wer davon profitiert. Hier kämpfen Konzerne<br />

wie die Deutsche Telekom gegen Google<br />

und Apple.<br />

Die ITU, gegründet vor fast 150 Jahren als<br />

Internationaler Telegraphenverein und seitdem<br />

vorrangig mit der Regelung des grenzüberschreitenden<br />

Telefonverkehrs betraut, will in Dubai ihr<br />

Hauptvertragswerk reformieren. Das Abkommen,<br />

zuletzt geändert im Jahr 1988, gilt als hoffnungslos<br />

überholt: Statt im Festnetz wird heute<br />

vor allem mobil kommuniziert; der Unterschied<br />

zwischen Sprach- und Datenverbindung verschwindet,<br />

Anbieter wie Skype erlauben Sprach-<br />

und Videotelefonie über das Internet.<br />

Einige Staaten – darunter auch China, Brasilien<br />

und Indien – würden die Gelegenheit in<br />

Dubai tatsächlich gerne nutzen, um mit dem<br />

gegenwärtigen Modell dezentraler Internetregulierung<br />

aufzuräumen. Der russische Präsident<br />

Wladimir Putin erklärte bei einem Besuch in der<br />

Genfer ITU-Zentrale im Jahr 2011 sogar unverblümt,<br />

er unterstütze das Ziel »internationaler<br />

Kontrolle über das Internet mithilfe der Kontroll-<br />

und Überwachungsmöglichkeiten der ITU«.<br />

Nur: In den bisherigen Vertragsentwürfen<br />

findet sich davon wenig. »Internet-Governance<br />

steht gar nicht auf der Agenda«, bestätigt ITU-<br />

Generalsekretär Hamadoun Touré. Und selbst<br />

wenn es so wäre, Amerikaner und Europäer<br />

könnten jede Schwellenländer-Initiative blockieren,<br />

denn die 193 ITU-Mitgliedsstaaten treffen<br />

Datenverkehr im Internet<br />

Google, Apple – und ein Buhmann<br />

Geht es ums Geld? Oder um die Freiheit des Internet? Eine Konferenz der Vereinten Nationen wird zur Bühne für eine große Lobbyschlacht VON NIKLAS WIRMINGHAUS<br />

ihre Beschlüsse traditionell einstimmig. Es geht<br />

nun mal um technische Standards, die nur Sinn<br />

ergeben, wenn alle mitmachen.<br />

Dessen ungeachtet kommt eine netzpolitische<br />

Bewegung in Gang, die gegen einen neuen ITU-<br />

Vertrag mobil macht. Netzaktivisten und Bürgerrechtler<br />

verfassen offene Briefe; in den USA<br />

verurteilen Republikaner und Demokraten in<br />

seltener Eintracht den vermeintlichen Zugriff der<br />

UN-Sonderorganisation aufs Internet. Immer<br />

wieder zu vernehmen: Google. In der <strong>ZEIT</strong> (Nr.<br />

34/12) beklagte Konzernlobbyist William Echikson,<br />

»dass eine Reihe von Regierungen daran<br />

arbeitet, die Freiheit des Internets einzuschränken,<br />

wenn nicht zu zerstören«.<br />

Die Logik erschließt sich nur, wenn man weiß,<br />

dass neben der Schwellenländer-Debatte ein wirtschaftlicher<br />

Konflikt tobt: Wer investiert in den<br />

Ausbau des Internets und wer trägt die Kosten?<br />

Auf der einen Seite stehen Internetfirmen wie<br />

Google und Facebook, die immer größere Datenmengen<br />

durchs Netz schicken. Auf der anderen<br />

Seite stehen die Betreiber der Netzinfrastruktur,<br />

zumeist traditionelle Telekom-Konzerne. Sie<br />

wollen sich nicht länger damit abfinden, dass<br />

Google und Co. ihnen nur überschaubare Summen<br />

überweisen und zugleich Renditen zwischen<br />

20 und 30 Prozent einfahren, während die Gewinne<br />

etwa der Deutschen Telekom im niedrigen<br />

einstelligen Bereich liegen. Es gehe darum, »diejenigen,<br />

die mit ihren Geschäftsmodellen von den<br />

Netzen profitieren, auch verursachungsgerecht<br />

an den Kosten zu beteiligen«, argumentiert der<br />

deutsche Konzern.<br />

Zusammen mit 40 weiteren Konzernen hat<br />

die Telekom deshalb über die Vereinigung der<br />

europäischen Netzbetreiber namens Etno Änderungsvorschläge<br />

für den ITU-Vertrag unterbreitet.<br />

Es sind Vorschläge. Abstimmen dürfen<br />

nur Staaten, und deshalb findet die Lobbyschlacht<br />

vor und hinter den Kulissen statt.<br />

Vor allem wollen die Telekom-Konzerne ein<br />

Business-Class-Internet einführen.<br />

Bislang funktioniert der Internetverkehr bemerkenswert<br />

egalitär. Für den Versand werden<br />

Daten in viele verschiedene Pakete aufgeteilt und<br />

erst am Bestimmungsort wieder zusammengesetzt.<br />

Das Netz behandelt dabei alle Pakete gleich<br />

– ganz egal, welchen Inhalt sie transportieren und<br />

wie groß sie sind. Ein YouTube-Video hat nicht<br />

mehr Rechte als eine E-Mail.<br />

Der Telekom-Vorschlag würde mit diesem<br />

Prinzip der sogenannten Netzneutralität brechen.<br />

Wer große Datenmengen schnell befördern will,<br />

also im Business-Class-Internet, soll höhere Gebühren<br />

zahlen. Bewegtbilder vom Google-Videoportal<br />

YouTube dürften künftig wohl nur gegen<br />

Aufschlag ruckelfrei übertragen werden. Kritiker<br />

glauben, dass dann nicht nur für Google, sondern<br />

auch für Start-ups die Kosten steigen würden,<br />

durch eine solche Regelung also Innovation erschwert<br />

würde. Die Telekom hingegen preist das<br />

Konzept als »intelligente Steuerung des Internetverkehrs«<br />

und »effizientere Netznutzung«.<br />

Nicht weniger revolutionär ist ein zweiter Vorschlag<br />

der Telekom-Unternehmen. An den Berührungspunkten<br />

der Datenleitungen verschiedener<br />

Firmen fließen die Datenströme bislang<br />

weitgehend kostenfrei hin und her. Das soll sich<br />

ändern. Ruft ein Nutzer ein YouTube-Video auf,<br />

soll künftig auch YouTube dafür zahlen (beziehungsweise<br />

die Muttergesellschaft Google).<br />

Kritiker halten das Modell allerdings für bürokratisch<br />

und unpraktikabel.<br />

Bei der ITU gibt es offensichtlich Sympathien<br />

für die Vorschläge der Telekommunika<br />

tionsunternehmen, Generalsekretär Touré gibt<br />

als Ziel für Dubai aus, »ausreichend Investment<br />

in die Infrastruktur zu sichern, um mit dem<br />

exponentiellen Wachstum der Datenströme mithalten<br />

zu können«.<br />

Doch je mehr die Konferenz in den nächsten<br />

Monaten in den Ruf kommt, dort würden autoritäre<br />

Staaten versuchen, das Internet zu übernehmen,<br />

desto geringer werden die Chancen<br />

auf einen neuen Vertrag. »Es wird viel Lärm<br />

geben und am Schluss wird wenig herauskommen«,<br />

prophezeit Wolfgang Kleinwächter,<br />

Professor für Internetpolitik an der dänischen<br />

Universität Aarhus.<br />

Zumindest Hamadoun Touré glaubt noch<br />

an den Erfolg. Schließlich hätten sich sogar<br />

während des Kalten Krieges die USA und die<br />

Sowjetunion in der ITU auf gemeinsame Standards<br />

geeinigt, sagt er. »Diesmal ist es nicht<br />

schlimmer.«


WIRTSCHAFT<br />

Geschacher<br />

um Jobs<br />

Über eine Fusion der beiden Rüstungskonzerne EADS und BAE<br />

Systems entscheiden nationale Interessen VON JOHN F. JUNGCLAUSSEN<br />

Es begann mit zwei bitteren Niederlagen.<br />

Vergangenes Jahr verlor der EADS-<br />

Konzern das Wettbieten um einen<br />

35-Milliarden-Dollar-Auftrag für<br />

Tankflugzeuge für die amerikanische<br />

Luftwaffe an Boeing. Den Europäern war klar, dass<br />

sie auch in Zukunft keine nennenswerte Rolle auf<br />

dem größten Rüstungsmarkt der Welt spielen wür-<br />

den. Dann, im Januar, wurden die Briten in Indien<br />

geschlagen, als die dortige Regierung entschied,<br />

ihre Luftwaffe nicht mit dem Eurofighter von BAE<br />

Systems auszustatten, sondern mit dem Rafale-Jet<br />

des französischen Konkurrenten Dassault. Zwei<br />

Monate später trafen sich die Besiegten zur Manö-<br />

verkritik in München. BAE-Chef Ian King und der<br />

Vorstandschef von EADS, Thomas Enders, sind<br />

Partner im Eurofighter-Konsortium und diskutierten,<br />

was beim Indien-Deal schiefgelaufen war. Die<br />

beiden Männer könnten gar nicht unterschiedlicher<br />

sein. Der eine, King, ein nüchterner Schotte,<br />

der seine Karriere als Buchhalter begonnen hatte,<br />

und der andere, Enders, ein forscher Deutscher, der<br />

einst Fallschirmspringer bei der Bundeswehr war.<br />

Und dennoch dauerte es nicht lange, bis sie einen<br />

wahrlich ambitionierten Plan entwickelten.<br />

Durch eine Fusion von EADS und BAE Systems<br />

wollen sie den zweitgrößten Rüstungs-, Raum- und<br />

Luftfahrtkonzern der Welt erschaffen. Es wäre »ein<br />

Koloss mit enormer Feuerkraft«, sagt Michael Clarke<br />

vom Londoner Militär-Thinktank Rusi. Der gemeinsame<br />

Jahresumsatz läge bei rund 75 Milliarden Euro,<br />

aber die beiden Konzernteile würden weiterhin unabhängig<br />

von einander an den Börsen von Amsterdam<br />

und London notiert bleiben. Thomas Enders<br />

übernähme die Führung.<br />

»Die indische Niederlage war deswegen so<br />

schlimm für BAE, weil sie klar gezeigt hat, wie verwundbar<br />

das Unternehmen geworden ist«, sagt der<br />

Analyst von der Citibank, Jeremy Bragg. »Die Verteidigungsbudgets<br />

der westlichen Industrienationen<br />

sind in den vergangenen Jahren ausnahmslos verkleinert<br />

worden, und das bedeutet, dass Deals wie der<br />

mit Indien extrem wichtig werden.« Um im Geschäft<br />

zu bleiben, muss BAE Systems also vielseitiger werden.<br />

EADS dagegen würde durch den Zusammenschluss<br />

endlich Zugang zum US-Markt gewinnen.<br />

Nur handelt es sich eben nicht um Supermarktketten,<br />

sondern um zwei Unternehmen, auf die<br />

deutsche, französische und britische Regierungen<br />

direkten Einfluss nehmen.<br />

In London herrscht seit einer Woche Verwirrung.<br />

Aus der Downing Street hörte man, die Regierung<br />

sei von Anfang an eingeweiht gewesen. »Grundsätzlich<br />

verschließt sich der Premierminister nicht der<br />

wirtschaftlichen Logik des Deals«, sagt ein Mitarbeiter<br />

aus dem Stab von David Cameron. Sein Wirtschaftsminister<br />

Vince Cable dagegen warnte: »Nach<br />

geltendem Arbeitsrecht ist es bei uns viel leichter,<br />

Stellen abzubauen, als in Deutschland und in Frankreich.<br />

Dieser Deal kann nur funktionieren, wenn<br />

britische Arbeiter nicht dafür bezahlen müssen.« Zugleich<br />

wies der Industrieverband CBI darauf hin, dass<br />

ein Zusammenschluss die Chance biete, den britischen<br />

Anteil an der Airbus-Produktion auszubauen.<br />

Der war in den vergangenen Jahren von etwas über<br />

20 Prozent auf knapp 15 Prozent gesunken.<br />

Im britischen Militär sind dagegen Stimmen des<br />

Entsetzens zu hören. BAE Systems steht hinter dem<br />

nuklearen Abschreckungsprogramm Trident, das in<br />

den nächsten Jahren erneuert werden soll. »Es muss<br />

absolut sichergestellt werden, dass unsere nationalen<br />

Sicherheitsinteressen hier nicht gefährdet werden«,<br />

sagt ein ranghoher Offizier aus dem Verteidigungsministerium.<br />

»Auch für die Franzosen«, so glaubt er,<br />

werde dies ein echtes Problem, »denn EADS stellt<br />

eine Reihe von Komponenten für das französische<br />

Atomwaffenarsenal her«.<br />

Es gibt noch einen weiteren Einwand. »Einer der<br />

wichtigsten Aspekte der britischen Verteidigungspolitik<br />

der vergangenen sechs Jahrzehnte ist die besondere<br />

Beziehung zu den USA«, erklärt der Soldat.<br />

»Militärisch gesehen, sind wir der wichtigste Ver-<br />

bündete der Amerikaner in Europa, weswegen BAE<br />

Systems auch der größte ausländische Lieferant für<br />

die US-Armee ist. Eine Fusion könnte nicht nur<br />

bedeuten, dass sich der größte Markt auf einmal<br />

schließt, sondern auch, dass die Amerikaner dies als<br />

Signal verstehen, wir Briten würden uns von ihnen<br />

abwenden. Das wäre fatal.«<br />

Tatsächlich müssen sich Enders und King nicht<br />

nur um die Regierungen in Berlin, London und Paris<br />

bemühen, sondern auch um die Administration in<br />

Washington. Zwar sieht der Fusionsplan eine Abschottung<br />

der militärischen Kontrakte mit dem<br />

Pentagon vom Rest des Unternehmens vor. »Wenn<br />

aber das Kongresskomitee für ausländische Investitionen<br />

den Fall in den nächsten Wochen behandelt,<br />

kann es durchaus sein, dass die Politiker eine Gefährdung<br />

der nationalen Sicherheitsinteressen erkennen«,<br />

glaubt Militärexperte Michael Clarke.<br />

Und wie reagieren die Franzosen? Enders und<br />

King haben keine Spitzenposition für einen französischen<br />

EADS-Manager vorgesehen, und in Berlin<br />

scheint man dies nicht weiter kommentieren zu<br />

wollen. Genau wie Enders hält es auch die Bundesregierung<br />

für sinnvoll, den Bundesanteil an EADS<br />

von 22,5 Prozent aufzugeben. »Damit ist Berlin mit<br />

seinen Interessen eher auf Augenhöhe mit London<br />

als mit Paris. Dort wird eine staatliche Beteiligung an<br />

so einem Koloss nicht gerne aufgegeben«, glaubt Jeremy<br />

Bragg von der Citibank. »Der Vorschlag, dass<br />

die drei Regierungen je eine ›goldene Aktie‹ bekommen,<br />

mit der sie mögliche Übernahmen verhindern<br />

können, um nationale Sicherheitsinteressen zu schützen,<br />

ist für Deutsche und Briten akzeptabel, aber zum<br />

französischen Selbstbild passt es nicht.«<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 25<br />

Auch in Berlin sorgt man sich um Arbeitsplätze.<br />

»Wir müssen verhindern, dass sich die Industrieproduktion<br />

innerhalb der neuen Gruppe<br />

nach Frankreich verlagert, wo es ja schon jetzt<br />

eine erheblich größere Militärindustrie gibt als in<br />

Deutschland«, erklärt eine Mitarbeiterin des Wirtschaftsministeriums.<br />

EADS-Chef Enders wird<br />

bald die Gelegenheit haben, die entscheidenden<br />

Personen zu überzeugen. Auf einem Jobgipfel wollen<br />

Angela Merkel, David Cameron und François<br />

Hollande gemeinsam über die Zukunft von BAE<br />

Systems und EADS beraten.<br />

A www.zeit.de/audio<br />

Ein Eurofighter auf der<br />

Pariser Luftfahrtschau<br />

Foto [M]: Remy de la Mauviniere/AP/dapd


26 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> WIRTSCHAFT<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK<br />

250 km<br />

MONGOLEI<br />

Die Nomadenfamilie Zogtgerel<br />

Der Minenmanager B. Batsaikhan<br />

Ulan Bator<br />

Provinz<br />

Südgobi<br />

RUSSLAND<br />

TAVAN TOLGOI<br />

CHINA<br />

Der Schatz von Tavan Tolgoi<br />

An jedem zweiten Tag macht sich<br />

die Nomadin Erdenechimeg<br />

auf den Weg in die Moderne.<br />

Sie erwacht in der Jurte, dem<br />

Ger, in der die Familie eng aneinandergekuschelt<br />

geschlafen<br />

hat, noch schnarcht ihr Mann,<br />

ihr Sohn pfeift und draußen seufzen die Kamele.<br />

Sorgfältig legt sie die Schmetterlingsohrringe<br />

an, cremt sich die Haut, schlüpft in ihr grünes<br />

Shirt, und sieht plötzlich kein bisschen mehr aus<br />

wie eine Nomadin. Sie steigt in den Jeep, rumpelt<br />

über den Wüstensand, nach Tavan Tolgoi, zum<br />

größten Kokskohlevorkommen der Welt. Ihr<br />

Mann bleibt zurück, bei den Tieren. Wenn er, der<br />

Nomade Zogtgerel, für die Vergangenheit der<br />

Mongolei steht, dann repräsentiert Erdenechimeg<br />

ihre Zukunft: den Bergbau.<br />

Wer die Zogtgerels besuchen will, muss kurz, bevor<br />

er das Ende der Welt erreicht, mitten im Nichts<br />

scharf links abbiegen, muss kilometerweit über Wüstensand<br />

brettern, bis er zwei Jurten erblickt, klein wie<br />

Segelschiffe in einem Meer aus Steppe, Sand und endlosem<br />

Himmel. Am Horizont eine Bergkette, leicht<br />

wie ein Pinselstrich. Der Besucher schlängelt sich<br />

vorbei an Schafen, Ziegen und Kamelen und macht<br />

sich den riesigen Hund besser zum Freund. In der<br />

Jurte wartet Zogtgerel, ein Typ, der so gern trinkt wie<br />

er lacht. Seine Nägel sind neonrosa angemalt, das<br />

waren die Kinder, egal, sagt er, »die Tiere wird’s schon<br />

nicht stören«. Neben ihm walkt Erdenechimeg Nudelteig<br />

und bedenkt ihren Mann mit liebevollem<br />

Spott. Zwei ihrer fünf Kinder und drei kleine Verwandte<br />

purzeln unentwegt übereinander und über<br />

alle anderen Anwesenden.<br />

Der Abend wird innerhalb von Minuten zum<br />

Ereignis. Es wird gelacht und erzählt, man schenkt<br />

Kamelmilch aus und Wodka. Der kleine solarzellenbetriebene<br />

Fernseher plärrt die mongolischen<br />

Popsongs in die Wüste hinaus. 20 Kilometer hinter<br />

Tsogtsesi, in der Provinz Südgobi, ist der Nachthimmel<br />

ein See aus Sternen.<br />

Schon immer waren die Zogtgerels Nomaden,<br />

so wie ihre Vorfahren und Vorvorfahren. Zogtgerel<br />

und Erdenechimeg waren Anfang 20, als sie sich<br />

auf einer Weide kennenlernten, schon bald, mit<br />

Mitte 40, werden sie ihre silberne Hochzeit feiern.<br />

Es ist, lacht Zogtgerel wodkabeseelt, »einfach Liebe«.<br />

In all den Jahren hat sich einiges verändert, sie<br />

haben sich Handys besorgt, im Fernsehen laufen<br />

schon lange keine sozialistischen Schauparaden<br />

mehr. Und doch ist das Leben irgendwie gleich geblieben.<br />

Mittags bringen sie die Tiere zum Tränken,<br />

im Winter führen sie sie auf die Winterweide.<br />

Sie melken Kamele und Schafe, buttern und<br />

schlachten, scheren und drehen Seile aus langem<br />

Kamelhaar.<br />

Bis vor ein paar Jahren der Kohlehügel in Tavan<br />

Tolgoi auftauchte und größer und größer wurde. Eine<br />

Straße wurde gebaut, auf der brettern jetzt die Kohlelaster<br />

Richtung chinesische Grenze. Bald hörte<br />

Erdenechimeg in der Stadt, dass das Staatsunternehmen<br />

Erdenet Mitarbeiter suchte. Weil es viel Geld<br />

kostet, fünf Kinder großzuziehen, reihte sich Erdenechimeg<br />

in die Schlange der Arbeitssuchenden ein.<br />

Sie wurde genommen, seit zwei Jahren arbeitet sie<br />

dort als Wäscherin. Das Familienmodell findet sich<br />

jetzt immer öfter in der Gegend: Die Frau ist berufstätig,<br />

der Mann bleibt bei den Tieren.<br />

Banken und Hotels haben eröffnet,<br />

ein Dandy stolziert durch den Staub<br />

Ulan-Bator. Wer aus dem Büro von C. Otgochuluu<br />

blickt, der genießt einen einzigartigen Blick<br />

über die Stadt. Und was für eine Stadt! Zusammengewürfelt<br />

aus Sowjetbauten, New-Economy-<br />

Architektur, Holzhäuschen und Gers, als habe sie<br />

einer aus dem All auf die Steppe fallen lassen.<br />

Hochhäuser kriechen empor, dazwischen ruht ein<br />

Riesenrad, in der Ferne blickt Dschingis Khan<br />

über die Stadt – sie haben sein Konterfei mit weißen<br />

Steinen auf die Hügel gesetzt. Otgochuluu<br />

nickt: »Irrer Ausblick, was?« Er ist Direktor des<br />

Economic Policy and Competitiveness Center,<br />

dem ersten privaten Thinktank des Landes.<br />

»Im vergangenen Jahr hatten wir ein Wirtschaftswachstum<br />

von 17,3 Prozent«, sagt er. In zwei Jahren<br />

»wird die Wirtschaft voraussichtlich um 30 bis 53<br />

Prozent wachsen« – dann, wenn die beiden gewaltigen<br />

Minen in der Südgobi voll entwickelt seien: Tavan<br />

Tolgoi, wo die Teilzeitnomadin Erdenechimeg<br />

arbeitet, sowie Uyo Tolgoi etwas weiter im Süden, wo<br />

das größte unberührte Gold- und Kupfervorkommen<br />

der Welt im Boden schlummert. Wahrscheinlich wird<br />

die Mongolei in der nächsten Dekade schneller wachsen<br />

als jedes andere Land der Erde. Wegen der Rohstoffe.<br />

Die Weltmarktpreise steigen, und die Nachfrage<br />

aus China ist schier unerschöpflich.<br />

Allein die zehn größten Bergbauprojekte des<br />

Landes bergen Reichtümer im Wert von geschätzten<br />

2,2 Billionen US-Dollar. Ein neues Katar, ein<br />

neues Brunei in der Steppe, so haben manche die<br />

Mongolei genannt. Man würde meinen, einer wie<br />

Otgochuluu müsste jetzt jubilieren, sich an der<br />

Goldgräberstimmung berauschen, doch stattdessen<br />

wiegt er vorsichtig den Kopf. »Wir sind auf<br />

den Boom überhaupt nicht vorbereitet.« Er hat<br />

noch ein anderes Szenario vor Augen und das ist<br />

der denkbar größte Gegenpol zu Katar: Nigeria.<br />

Beide Länder sind rohstoffreich. Im einen führte<br />

das zu allgemeinem Wohlstand. Im anderen zu<br />

extremer Ungleichheit und Gewalt. Otgochuluu<br />

bemüht das Schreckgespenst, das jeder Intellektuelle<br />

auf den Lippen hat, der sich um die Zukunft<br />

des Landes sorgt: »Dutch Disease«, die holländische<br />

Krankheit. Man konnte sie in einer ganzen<br />

Reihe von Staaten beobachten. Im Spanien des 16.<br />

Jahrhunderts etwa, im Australien des 19. Jahrhunderts,<br />

in den Niederlanden nach 1960, im Aserbaidschan<br />

nach 2000, und eben auch in Nigeria.<br />

Dutch Disease entsteht in etwa so: Der Boom<br />

in einem rohstoffreichen Land treibt seine Währung<br />

nach oben. Die Produkte des Landes werden<br />

dadurch im Ausland sehr teuer, darunter leidet die<br />

verarbeitende Industrie. Den Rohstofffirmen<br />

macht das wenig aus. Sie können ihre Leute so gut<br />

bezahlen, dass sie die größten Talente des Landes<br />

anziehen. Die wiederum fehlen dann in anderen<br />

Industriezweigen. Firmen müssen schließen, Industriezweige<br />

wanken, es kommt zu hoher Arbeitslosigkeit<br />

und extremer Ungleichheit.<br />

Der Bergbau selbst schafft nur wenige Jobs.<br />

»Der macht 20 Prozent unseres Bruttosozialprodukts<br />

aus und mehr als 90 Prozent unserer Exporte.<br />

Doch nur 1,5 Prozent der Bevölkerung arbeiten<br />

dort.« Otgochuluu runzelt die Stirn. »Wir hatten<br />

noch nie eine nennenswerte Mittelklasse. Zu Sowjetzeiten<br />

gab es sie nicht, und seither hat sie sich<br />

nicht entwickelt.« Und doch liegen gleich unter<br />

Otgochuluus Büro Luxusshops, in denen sich die<br />

Neu- und Superreichen einkleiden. Ein Rohstoffboom,<br />

er kann zum Segen werden oder zum Fluch.<br />

Provinz Südgobi. Erdenechimeg steuert den<br />

Jeep in das Kaff Tsogtsesi, im Hintergrund erhebt<br />

sich der riesige Kohlehügel von Tavan Tolgoi.<br />

Tsogtsesi ist ein Ort, so unwirklich, als habe ihn<br />

sich der Regisseur Wim Wenders ausgedacht. Ein<br />

Wildwestort mitten im Osten, staubig und karg,<br />

würde sich darüber nicht ein Wüstenhimmel wölben,<br />

der mit aller Tristesse auf Erden versöhnt.<br />

Bergarbeiter in orangefarbenen Helmen stiefeln<br />

vorbei, Nomaden brettern auf Motorrädern, in<br />

Baracken wurden Bars und Geschäfte eingerichtet.<br />

Und doch steckt Tsogtsesi mitten in einer Verwandlung.<br />

Banken und Hotels haben eröffnet, ein<br />

mongolischer Dandy stolziert durch den Staub,<br />

Wildlederstiefeletten zu britischer Tolle. In verzweifelter<br />

Entschlossenheit schiebt ein Paar einen<br />

Kinderwagen durch Sanddünen, immer wieder<br />

rutscht er hinunter, doch sie lassen nicht ab. Tsogtsesi<br />

schickt sich an, Stadt zu spielen, da wollen sie<br />

nicht nachstehen.<br />

Seit Erdenechimeg als Wäscherin arbeitet, hat<br />

sich ihr Leben schlagartig verändert. »Ich habe so<br />

viele Leute kennengelernt, Freunde gefunden.<br />

Draußen bei den Tieren lebst du so abgeschottet.«<br />

Erdenechimeg ist innerhalb von zwei Jahren ein<br />

wenig zur Stadtfrau geworden, sie klagt über die<br />

Doppelbelastung und doch spürt man, dass sie<br />

ihre Rolle auch genießt. Die Zogtgerels haben jetzt<br />

ein festes Einkommen, und nicht immer nur dann<br />

Geld, wenn gerade geschlachtet wird und sie das<br />

Fleisch verkaufen. Ihr Leben hat an Sicherheit gewonnen,<br />

sie können ihr Fleisch und ihre Milch<br />

teurer verkaufen, auch hat der Fortschritt neue


WIRTSCHAFT<br />

Unter den Wüsten und Steppen der Mongolei lagern gewaltige Rohstoff vorkommen. Kann<br />

das Land davon profi tieren – oder wird sein Reichtum zum Fluch? VON ANGELA KÖCKRITZ<br />

Möglichkeiten geschaffen: Ihre Tochter macht gerade<br />

ein Praktikum in der Bank in Tsogtsesi.<br />

Und doch, sagen die Zogtgerels, hat die Entwicklung<br />

zwei Seiten. Die andere Seite, das sind<br />

die Zäune und die Mauern, die jetzt überall gebaut<br />

werden. »Früher«, sagt Zogtgerel, »konnten wir die<br />

Tiere hinführen, wo wir wollten. Jetzt können wir<br />

uns nicht mehr so frei bewegen.« Auch die Wasserknappheit<br />

macht Zogtgerel Sorgen. »Ich weiß<br />

nicht, ob es daran liegt, dass unser Brunnen schon<br />

so alt ist oder ob es mit dem Bergbau zu tun hat,<br />

doch in der letzten Zeit ist der Wasserspiegel stark<br />

gesunken.« Umweltschützer teilen seine Bedenken,<br />

sie kritisieren die Bergbauprojekte scharf, entstehen<br />

doch ausgerechnet die beiden größten des<br />

Landes im fragilen Ökosystem der Gobiwüste.<br />

Der Kohlehügel, sagt Zogtgerel, wehe an windigen<br />

Tagen Staub und Schmutz auf die Weiden, »für<br />

die Tiere ist das nicht gut«.<br />

Im Camp des Staatsunternehmens Erdenet<br />

wartet bereits sein Kollege, Campleiter R. Natsagdash.<br />

Er ist ein viel beschäftigter Mann, immer<br />

klingelt eines seiner beiden Handys, dann wieder<br />

kommen Parlamentarier zu Besuch, alle wollen<br />

wissen, wie es vorangeht. Er steht in seinem kleinen<br />

Containerbüro, gleich dahinter liegt die<br />

Waschküche, in der Erdenechimeg arbeitet, und<br />

tippt auf eine Karte, auf der unterschiedlich große<br />

Kringel zu sehen sind: die Vorkommen. 6,4 Milliarden<br />

Tonnen hochwertiger Kokskohle liegen hier.<br />

Noch beschäftigt das Projekt gerade mal 300 Mitarbeiter,<br />

2016 aber wird es das größte staatliche<br />

Bergbauunternehmen des Landes sein.<br />

Der Bauleiter ist kein Typ, der zu Überschwänglichkeit<br />

neigt, und doch malt er fantastische<br />

Visionen in den Gobisand. Die Kohle soll in<br />

einem ersten Verarbeitungsschritt gereinigt werden,<br />

ein Kraftwerk soll entstehen, ein Industriekomplex,<br />

zu viel wolle er da allerdings noch nicht<br />

verraten. Mitten in der Wüste soll eine neue Stadt<br />

gebaut werden, eine Erdenet-Stadt für Erdenet-<br />

Mitarbeiter, für 10 000 Menschen hat man geplant.<br />

Das mit dem Wasser, sagt der Campleiter,<br />

sei gar kein Problem, »wir haben da staatliche Gutachten«.<br />

Die Botschaft des Campleiters: Die Mine<br />

schafft Arbeitsplätze. Und nutzt außerdem jedem<br />

Mongolen. »Unabhängig vom Alter und Geschlecht<br />

soll jeder Mongole Anteile am Unternehmen<br />

erhalten. Wenn sie die nicht wollen, können<br />

sie sie verkaufen und Bargeld dafür bekommen.«<br />

Für Erdenechimeg und Zogtgerel steht fest: Sie<br />

werden die Aktien behalten. Ein bisschen haben<br />

sie sich schon an Geschenke des Staates gewöhnt.<br />

Vor der letzten Wahl hat man ihnen 500 000 Tugrig<br />

versprochen, etwa 300 Euro, 300 000 haben sie<br />

dann wirklich bekommen. »Wie wir das ausgegeben<br />

haben? Ach, keine Ahnung«, lacht Zogtgerel.<br />

»Irgendwie haben wir’s schon verbraten. Wahrscheinlich<br />

für das Studium der Töchter.« Im Prinzip<br />

aber findet er die Bargeldgeschenke nicht richtig.<br />

»Viel besser wäre es doch gewesen, der Staat<br />

hätte mit dem Geld Schulen und Straßen gebaut,<br />

das hätte allen etwas gebracht.« Zogtgerel glaubt,<br />

dass von dem Bergbauboom nur wenige profitieren<br />

werden. »Und wir gehören nicht dazu.«<br />

Das mit den Cash-Handouts, sagt Otgochuluu,<br />

der Mann von dem Thinktank, war einfach nur fatal.<br />

»Das ganze Hot Money macht die Politiker völlig<br />

kurzsichtig. Sie machten Wahlgeschenke, bei der<br />

letzten Wahl bekam jeder Mongole Bargeld, und was<br />

waren die Folgen? Die Inflation ging hoch, die Zentralbank<br />

erhöhte den Leitzins, der Privatsektor litt,<br />

und viele Jobs wurden vernichtet.« Ob die Mongolei<br />

es schaffen wird, ihren Reichtum gut zu verwalten,<br />

das liege an den Menschen, glaubt Otgochuluu. Und<br />

an politischen Institutionen.<br />

Einerseits scheinen diese, trotz Korruption, für<br />

eine junge Demokratie recht stabil zu sein – eine<br />

Ausnahme waren die Unruhen bei der Wahl von<br />

2008. Andererseits aber wirken sie bisweilen ähnlich<br />

zusammengewürfelt wie die Architektur Ulan-<br />

Bators. Beim Wahlrecht hat man sich sowohl von<br />

Deutschland als auch von Großbritannien inspirieren<br />

lassen, beim Budgetrecht von Neuseeland,<br />

»von jedem ein bisschen, und am Ende passt es<br />

nicht wirklich zusammen«, sagt Otgochuluu.<br />

Was die Mongolei außer Bodenschätzen<br />

noch zu bieten hat, ist schwer zu sagen<br />

Mit einem Mal geht die Tür auf und P. Tsagaan<br />

schreitet herein, der Berater des Präsidenten für<br />

Rohstoffpolitik. Kopfschüttelnd überreicht er seine<br />

Visitenkarte: »Da steht Senior Advisor drauf,<br />

dabei müsste es doch Chief Advisor heißen. Pff,<br />

meine Berater können alle kein Englisch.« Die<br />

Bargeldgeschenke ans Volk, sagt er, »waren ein<br />

wirklich schlechtes Beispiel. Das Parlament hat sie<br />

jetzt verboten«.<br />

Ein Staatsfonds, das sei die einzige Lösung,<br />

»Dutch Disease und den Fluch der Bodenschätze<br />

zu vermeiden«. Nur so könnten die Einnahmen<br />

aus den Bodenschätzen sinnvoll verwaltet werden.<br />

»Wir schauen uns das genau an, 60 Länder haben<br />

ganz unterschiedliche Lösungen gefunden.« Er<br />

persönlich liebäugele mit dem norwegischen Pensionsfonds,<br />

auch einige arabische Länder hätten<br />

gute Lösungen gefunden. Statt Bargeld zu verteilen,<br />

solle die Regierung lieber soziale Anreize setzen.<br />

»Kindergeld zum Beispiel.«<br />

Die eine Frage ist, wie man die Einnahmen aus<br />

den Bodenschätzen sinnvoll verwaltet. Die andere,<br />

was die Mongolei außer Bodenschätzen eigentlich<br />

zu bieten hat. Wenn das Land wirklich dem Fluch<br />

der Bodenschätze entkommen will: Welche Geschäftszweige<br />

könnte es dann noch entwickeln?<br />

Keine einfache Frage – bei diesen Nachbarn.<br />

Südgobi, Tavan Tolgoi. Mitten in der Wüste<br />

tut sich ein schwarzer Schlund auf, Bagger graben<br />

sich tief in die Kohlevorkommen hinein. Am<br />

Rand des Abgrunds steht Minenmanager B. Batsaikhan,<br />

ein bulliger Typ, Goldringe an dicken<br />

Fingern, die Sonnenbrille erinnert an Men in<br />

Black. Er ist kein Mann der großen Worte. Lieber<br />

raucht er genüsslich vor einem »Hier können Sie<br />

rauchen«-Schild, eher wirkt es wie ein »Hier können<br />

Sie nicht rauchen«-Schild, dem einer das<br />

»nicht« davongetragen hat, doch wer könnte das<br />

hier schon so genau sagen. Er nickt zu den Kohlelastern.<br />

»Kommt alles nach China. Bald werden<br />

wir die größten Exporteure des Landes sein.« Noch<br />

liefern sie unter Weltmarktpreis, eine Tonne für 70<br />

US-Dollar.<br />

Otgochuluu lächelt müde. »Der niedrige Preis,<br />

den wir für unsere Kohle bekommen, das hat ein<br />

wenig damit zu tun, dass die Kohle noch nicht veredelt<br />

ist. Viel mehr aber mit der Macht der Chinesen.<br />

China ist unser einziger Käufer. Es absorbiert<br />

92 Prozent unserer Exporte und versorgt uns mit<br />

der Hälfte an Importen, Öl nicht eingeschlossen.<br />

Das mongolische Wachstum hängt ganz am chinesischen.«<br />

Das zu akzeptieren ist für viele Mongolen<br />

nicht einfach, pflegen sie doch ihre antichinesischen<br />

Ressentiments mit Leidenschaft.<br />

»Keines der Viehzüchterkinder<br />

will mehr Viehzüchter sein«<br />

Sie sind ein Erbe des jahrtausendealten Konfliktes<br />

zwischen Nomaden und sesshaften Bauern, vor allem<br />

aber das Erbe einer Zeit, als die Qing-Dynastie die<br />

Mongolei beherrschte. Chinesische Männer, die mit<br />

mongolischen Frauen ausgehen, werden bisweilen<br />

verprügelt, chinesische Wanderarbeiter ebenso – was<br />

viele Mongolen achselzuckend quittieren. »So was<br />

passiert eben«, heißt es dann.<br />

Ganz im Gegensatz dazu steht das diplomatische<br />

Geschick und Feingefühl, das die Mongolei<br />

auf der internationalen Bühne aufbringen muss.<br />

Eingezwängt zwischen zwei Großmächten, Russland<br />

und China, hat jedes Detail das Potenzial,<br />

zur Staatsaffäre zu werden. So auch die Mine Tavan<br />

Tolgoi. Eigentlich sollte sie vom chinesischen<br />

Konzern Shenhua, Peabody sowie einer russischmongolischen<br />

Gruppe gemeinsam entwickelt<br />

werden. Dann aber protestierten Japaner und<br />

Südkoreaner, weil man sie nicht einbezogen hatte,<br />

und die mongolische Regierung blies das Projekt<br />

ab.<br />

Die Mongolei muss auf viele Staaten Rücksicht<br />

nehmen. Um die Übermacht Chinas und Russlands<br />

zu kontern, hat sie die Politik des Dritten<br />

Nachbarn entwickelt. Südkorea, Japan, die USA,<br />

Deutschland, auch Italien zählt die Mongolei zu<br />

diesem Kreis. Gerne würde man dem Einfluss<br />

Chinas auch durch ein Bündnis mit Indien begegnen,<br />

»doch die Inder sind leider nicht so aktiv«.<br />

Die strategische Lage beherrscht auch die<br />

Volkswirtschaft der Mongolei. Die berühmte Eisenbahnlinie<br />

etwa. Sie verläuft einspurig, gerne<br />

würde die Regierung sie ausbauen. Das aber führt<br />

zu allerlei Verwicklungen und Problemen mit dem<br />

russischen Staat, dem 50 Prozent der Linie gehören.<br />

Ähnlich verhält es sich mit den Exporten. Allzu<br />

gerne würde die Mongolei mehr Waren nach<br />

Europa exportieren, doch dazu müssten sie Russland<br />

passieren, »und die Transitgebühren sind<br />

sehr, sehr hoch«, sagt Otgochuluu.<br />

Ohnehin stellt sich die Frage: Was will die<br />

Mongolei eigentlich exportieren, wo China, der<br />

Nachbar im Süden, der Welt doch fast alles billiger<br />

und in besserer Qualität bieten kann? In sozialistischen<br />

Zeiten war die mongolische Industrie entwickelter<br />

als heute. Damals waren etwa 30 Prozent<br />

der Fleischexporte verarbeitet, heute ist es nur<br />

noch ein verschwindend geringer Teil. Aus der<br />

Mongolei stammt zwar ein Drittel der weltweiten<br />

Kaschmirproduktion, das meiste aber wird als<br />

Rohstoff in andere Länder geliefert. Nur wenige<br />

Firmen wie zum Beispiel Gobi schneidern daraus<br />

auch Kleider.<br />

Was Otgochuluu nicht davon abhält, von einer<br />

Zukunft zu träumen, in der die Mongolei Ökofleisch<br />

und feine Kaschmirkleidung in die ganze<br />

Welt verkauft und Ökotourismus in der Steppe<br />

anbietet. »Wir können uns nicht mit China messen.<br />

Wir müssen etwas ganz anderes machen.« Mit<br />

Kaschmirpullis und Reiterferien kann man zwar<br />

nicht Millionen Jobs schaffen. Andererseits gibt es<br />

auch nur 3,18 Millionen Mongolen.<br />

Südgobi, die Jurte der Zogtgerels. Die Nacht<br />

senkt sich über der Steppe. Tochter Sumya geht<br />

die Kamele melken. Sie kann es noch immer wie<br />

im Schlaf, obwohl sie doch längst in Ulan-Bator<br />

Elektrotechnik studiert. Auch sie möchte mal bei<br />

Erdenet arbeiten, am liebsten im Kraftwerk, »so<br />

kann ich nahe bei meiner Familie sein«. Der Bergbauboom<br />

habe sein Gutes, sagt sie, und doch frage<br />

sie sich, »ob noch genug bleibt für die Generationen,<br />

die nach uns kommen«.<br />

Wie diese wohl mal leben werden? Sumya<br />

selbst will keine Viehzüchterin mehr sein, ihren<br />

Freunden und Kollegen geht das genauso. »Und<br />

trotzdem kann ich mir gar keine Mongolei ohne<br />

Nomaden vorstellen. Das macht uns doch aus.«<br />

Zogtgerel hört zu und nickt. »Ich sehe es um<br />

uns herum, keines der Viehzüchterkinder will<br />

mehr Viehzüchter sein. Wir«, sagt er und nickt in<br />

Richtung seiner Frau, »werden bei den Tieren bleiben,<br />

bis wir sterben.« Er schweigt und greift zur<br />

Wodkaflasche, einen kurzen Moment denkt er<br />

nach, will den traurigen Satz wohl nicht so stehen<br />

lassen. Er nimmt einen tiefen Schluck und lacht.<br />

Draußen seufzen die Kamele.<br />

Lastwagen fahren zur Kokskohlemine Tavan Tolgoi im Süden der Gobiwüste<br />

Ein Mädchen springt Seil vor den Toren Ulan Bators<br />

Lastwagen stehen vor dem Bergwerk von Tavan Tolgoi<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 27<br />

Fotos: Kieran Doherty/Corbis (2); Gilles Sabrie/NYT/Redux/laif (mitte); Angela Köckritz für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> (klein, S. 26)


28 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Kursverlauf<br />

Veränderungen<br />

seit Jahresbeginn<br />

GELD UND LEBEN<br />

Innerer Weltspartag<br />

Banken verachten das Kleingeld,<br />

das ist gar nicht schön<br />

Vermutlich geht es vielen Menschen wie mir. Am Ende<br />

des Tages leere ich meine Hosentaschen, finde dort<br />

vielleicht ein altes Taschentuch, eine Büroklammer<br />

und ein paar Münzen. Kleingeld, 1-, 2- oder 5-Cent-<br />

Stücke, auch mal was Größeres. Das Geld wandert in<br />

eine kleine Kiste im Flur, vielleicht brauche ich es<br />

später. Doch dummerweise lasse ich es am nächsten<br />

Morgen regelmäßig dort liegen, sodass ich all die<br />

kleinen Einkäufe des Tages wieder mit Scheinen bezahlen<br />

muss, nur um abends neue Münzen für die<br />

Kiste zu haben. So geht das weiter. Bis die Kiste voll<br />

und schwer geworden ist und ich mich frage: Was jetzt?<br />

Einmal bin ich eines Tages mit den Münzen aus<br />

meiner Kiste in meine Bankfiliale spaziert und dachte,<br />

die Leute da kippen das<br />

Die Woche von<br />

Marcus Rohwetter<br />

DAX<br />

7368<br />

+24,9 %<br />

in eine Maschine, wo es<br />

durchrattert, und dann<br />

schauen wir mal, wie viel<br />

da so zusammengekommen<br />

ist. Von wegen! So<br />

eine Maschine gab es<br />

zwar, aber das Durchlaufenlassen<br />

sollte um die<br />

20 Euro kosten. Als kostenlose<br />

und kunden-<br />

freundliche Alternative reichte man mir bunte Zettel<br />

aus Papier zum Selbereinrollen der Münzen. Das war<br />

sogar überraschend kontemplativ, ich habe daheim<br />

mehrere Stunden so verbracht. Es ist gar nicht so leicht,<br />

einen Stapel aus 1-Cent-Stücken so aufzureihen, dass<br />

beim Einschlagen ins Papier nichts wegkullert.<br />

Ich habe gelernt, dass meine Bank mit dem Thema<br />

Kleingeld nicht viel zu tun haben möchte. Das ist<br />

symptomatisch für eine Zeit, in der es vielen nur um<br />

das ganz große Geld geht. Menschen scheinen nur als<br />

»Ultra High Net Worth Individuals« für die Finanzindustrie<br />

interessant zu sein, also als Superreiche. Bei<br />

Vermögensvermehrung und Steuervermeidung helfen<br />

Banken ja gern. Andere müssen sich selber helfen.<br />

Abgeben durfte ich die Rollen bei meiner Filiale<br />

übrigens nicht. Rollen würden nur bei der nächsten<br />

Zentralfiliale entgegengenommen, hieß es, dort fuhr<br />

ich mit dem Auto hin. Mein Kontostand war anschließend<br />

um 71,30 Euro gewachsen. Immerhin. Es<br />

war mir ein innerer Weltspartag. Und davon abgesehen<br />

ein Tag, den ich mir gern erspart hätte.<br />

$<br />

DOW JONES<br />

13 559<br />

+11,0 %<br />

Illustration: Karsten Petrat für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.splitintoone.com<br />

JAPAN-AKTIEN<br />

NIKKEI: 9157<br />

+8,3 %<br />

Ein Euro ist wieder mehr als<br />

1,30 Dollar wert, die Risikoaufschläge<br />

auf Staatsanleihen aus<br />

Portugal, Spanien und Italien<br />

sind deutlich zurückgegangen,<br />

der Deutsche Aktienindex bewegt<br />

sich um die Marke von<br />

7400 Punkten, auch andere europäische Börsenindizes<br />

sind im September gestiegen. So positiv<br />

präsentieren sich derzeit viele Märkte, dass Anleger<br />

sich fragen: Was sind die Gründe für den<br />

deutlichen Aufschwung in den vergangenen<br />

Wochen? Ist die Krise nun vorbei? Beginnt gar<br />

eine neue Phase der Stabilität?<br />

Aktueller Auslöser für die Belebung der europäischen<br />

Börsen war ein Bündel spektakulär<br />

guter Nachrichten binnen weniger Tage. So<br />

folgte die Europäische Zentralbank (EZB) ihrem<br />

Präsidenten Mario Draghi auf seinem Kurs,<br />

alles Erdenkliche zu tun, um den Euro zu ver-<br />

BRASILIEN-<br />

AKTIEN<br />

BOVESPA: 61 806<br />

+9,2 %<br />

FINANZSEITE<br />

EURO<br />

1,31 US$<br />

+1,2 %<br />

teidigen. Dann gab das deutsche Bundesverfassungsgericht<br />

den Weg für den neuen europäischen<br />

Rettungsfonds ESM unter Auflagen frei.<br />

Und schließlich verkündete die amerikanische<br />

Notenbank am vergangenen Freitag, erneut<br />

Wertpapiere aufkaufen zu wollen und auf diese<br />

Weise weiter Geld in die Wirtschaft zu pumpen.<br />

Insbesondere die Entwicklung in Europa erfreute<br />

viele Anleger. »Die Märkte haben auf mehr<br />

Risiko umgeschaltet«, sagt Hans-Jörg Naumer,<br />

Leiter der Kapitalmarktanalyse beim Anlageriesen<br />

Allianz Global Investors. Lange hatte die Angst vor<br />

einer dramatischen Eskalation der Krise, vor einem<br />

Auseinanderbrechen der Euro-Zone, das Verhalten<br />

vieler Investoren geprägt. »Diese Angst ist vom<br />

Tisch«, sagt Naumer. »Europa ist nicht mehr im<br />

Krisenmodus. Jetzt beginnt die Zeit des Aufräumens.«<br />

Dabei würden die jüngsten Schritte, die<br />

Entscheidungen der EZB und des Bundesverfassungsgerichts,<br />

allerdings »von den Märkten aktuell<br />

ROHÖL (WTI)<br />

97 US$/BARREL<br />

–2,4 %<br />

SILBER<br />

35 US$/<br />

FEINUNZE<br />

+24,3 %<br />

Erleichterung,<br />

keine Euphorie<br />

Ob Aktien, Euro oder Staatsanleihen, die Stimmung<br />

an den Börsen steigt – zu Recht? VON ARNE STORN<br />

etwas überschätzt«, denn diese seien zwar entscheidend<br />

für die Stabilisierung der Währungsunion,<br />

keineswegs aber deren finale Rettung. Wichtig sei<br />

nun vor allem, dass Länder wie Spanien oder Italien<br />

in ihren Reformbemühungen vorankämen. Vor<br />

ihnen liege noch ein sehr langer Weg.<br />

Es ist mehr die Erleichterung über das Ausbleiben<br />

der Apokalypse, die die Anleger derzeit<br />

kaufen lässt. So sei das aktuelle Hoch des Dax eindeutig<br />

von der EZB und »weniger von Zahlen und<br />

Nachrichten aus den Unternehmen getrieben«, sagt<br />

Robert Greil, der bei der Bank Merck Finck viele<br />

Unternehmen aus der Auto-, Stahl- und Konsumindustrie<br />

beobachtet. Zwar stehen einige Branchen<br />

gut da, doch Grund zur Euphorie gibt es <strong>2012</strong><br />

nicht. Es sei möglich, »dass bis Jahresende noch<br />

einige Unternehmen beim Gewinn zurückrudern<br />

müssen«, glaubt Matthias Thiel von der Privatbank<br />

M. M. Warburg. »Unternehmenszahlen laufen allerdings<br />

der Entwicklung hinterher.<br />

Es ist denkbar, dass sich die<br />

Aussichten parallel verbessern.«<br />

Das zumindest ist die Hoffnung<br />

(siehe dazu auch S. 21).<br />

Natürlich hängt die exportorientierte<br />

deutsche Wirtschaft stark<br />

von der Euro-Zone ab, und da sieht<br />

es schlechter aus als hierzulande.<br />

Bei M. M. Warburg erwartet man<br />

2013 ein Plus von null Prozent, im<br />

Klartext: Stagnation. »Die Euro-<br />

Zone wird deutlich schwächer<br />

wachsen als Amerika«, so Matthias<br />

Thiel, dort rechne man mit einem<br />

Plus um die 2,5 Prozent. Die Lage<br />

bei den Fundamentaldaten – Daten<br />

wie zum Beispiel Absatz, Auftragseingänge<br />

oder Wachstum –<br />

bleibe weiter sehr angespannt. Er<br />

sehe daher nur einen »Ein maleffekt«<br />

der geldpolitischen Entscheidungen,<br />

neue Rückschläge<br />

seien möglich. Auch bei schlechten<br />

Nachrichten aus anderen Teilen der<br />

Welt. »Probleme in China, im Iran<br />

oder beim Öl hätten alle das Potenzial,<br />

die Märkte noch einmal<br />

ordentlich zu schütteln«, sagt Thiel. Wenn in China<br />

das Wachstum weiter falle oder wenn es im Iran<br />

zu einem Luftschlag durch Israel kommen sollte,<br />

dann seien die Folgen schwer abzuschätzen.<br />

Interessant an der jüngsten Rallye der Kurse ist,<br />

dass sie offenbar an den Investoren hierzulande vorbeilief.<br />

»Die institutionellen Anleger aus Deutschland<br />

haben über Wochen hinweg Skepsis und<br />

Pessimismus an den Tag gelegt. Die Nachfrage jetzt<br />

kam überwiegend aus dem Ausland«, sagt Joachim<br />

Goldberg, der mit seiner Firma Cognitrend das Verhalten<br />

der Marktteilnehmer analysiert und mit der<br />

Deutschen Börse regelmäßig Umfragen unter institutionellen<br />

Investoren wie Versicherungen oder<br />

Pensionsfonds durchführt. Das Vertrauen in Europa<br />

sei jenseits der Grenze größer als diesseits der<br />

Grenze. Komme es kurzfristig zu einer Korrektur<br />

der Kurse, dürfte dies eher die bisherigen Skeptiker<br />

zu Käufen bewegen als wieder eine Talfahrt auslösen,<br />

wie sie zwischen März und Juni zu beobachten<br />

war. Sollte der Dax unter die Marke von 7200<br />

Punkten fallen, glaubt Goldberg, komme es zu<br />

erster neuer Nachfrage, unterschreite das Börsenbarometer<br />

die Marke von 7000 Punkten, dann<br />

greife auch das Gros derer zu, die den jüngsten Aufschwung<br />

verpasst hätten.<br />

Dass sich die Beurteilung der Lage vor allem im<br />

Ausland geändert hat, darauf deutet auch eine aktuelle<br />

Studie der Bank of America hin. In einer<br />

Erhebung unter mehr als 250 europäischen Fondsmanagern<br />

in der vergangenen Woche zeigt sich ein<br />

Realrendite<br />

BAUMWOLLE<br />

0,76 US$/PFUND<br />

–16,5 %<br />

großer Umschwung. Die Angst um die Entwicklung<br />

in den USA, wo demnächst Steuererleichterungen<br />

auslaufen und die Staatsverschuldung<br />

wieder gesetzliche Grenzen zu erreichen droht, ist<br />

im Vergleich zur Erhebung im August deutlich gestiegen.<br />

Parallel dazu ist die Angst um Europa<br />

dramatisch zurückgegangen. Zum ersten Mal seit<br />

rund 18 Monaten sehen die Herrscher über Hunderte<br />

Milliarden die Finanzierungsprobleme europäischer<br />

Staaten nicht mehr als das größte Risiko<br />

an. Im Zusammenspiel mit der Tatsache, dass europäische<br />

Unternehmen derzeit, gemessen an den<br />

Gewinnen, im globalen Vergleich am billigsten zu<br />

haben sind, hat dies die Attraktivität Europas als<br />

Anlageziel für Investoren deutlich erhöht. Der Anstieg<br />

des Euro ist eine logische Folge.<br />

Fließt mehr Geld, fließt es derzeit vor allem in<br />

Aktien. Wer sie erwirbt, erwirbt Anteile an Unternehmen<br />

mit konkreten Produkten und kann im<br />

Fall von Gewinnen auf Ausschüttungen<br />

hoffen. »Wo<br />

wollen Sie derzeit investie-<br />

ren, wenn nicht in reale<br />

Werte?«, fragt Kapitalmarktexperte<br />

Naumer. Zu groß ist<br />

die Sorge um die Realrendite.<br />

Die Renditen vieler<br />

festverzinslicher Anlagen<br />

sind derzeit angesichts des<br />

niedrigen Zinsniveaus im<br />

Vergleich wenig attraktiv.<br />

Fügt man alle Puzzlestücke<br />

zusammen, so ergibt<br />

sich am ehesten das Bild<br />

eines plötzlich robusteren<br />

Europas. Nach eher ruhigen<br />

Wochen wird es an den<br />

Märkten zwar bald wieder<br />

mehr Ausschläge geben, da<br />

sind sich die Experten einig.<br />

Schlechte Nachrichten<br />

aus Spanien, Griechenland<br />

oder auch einzelnen Unternehmen<br />

könnten wieder zu<br />

sinkenden Kursen führen.<br />

Sofern diese Nachrichten<br />

aber nicht völlig überraschend<br />

kämen, komme es nicht zu tiefen Abstürzen.<br />

Für Euphorie und Hoffnungen auf einen<br />

ungebremsten Höhenflug ist es demnach zu<br />

früh, die Zeit der Untergangsszenarien aber<br />

scheint vorbei.<br />

Never fight the Fed, kämpfe niemals gegen die<br />

amerikanische Notenbank – diese alte Weisheit<br />

gelte im gleichen Maß für die Europäische Zentralbank,<br />

glaubt Hans-Jörg Naumer von Allianz<br />

Global Investors, und werde nun von vielen Investoren<br />

beherzigt. Wichtigster Indikator dafür<br />

sei, dass die Risikoprämien für Staatsanleihen aus<br />

Portugal, Spanien und Italien im Vergleich zu<br />

Staatsanleihen aus Deutschland zuletzt teils um<br />

mehrere Prozentpunkte zurückgegangen seien.<br />

»Das ist massiv. Das ist dauerhaft«, sagt der Kapitalmarktexperte.<br />

Er sehe nun ein positives Momentum,<br />

registriere in Gesprächen allerdings<br />

weiter eine gewisse Skepsis.<br />

Damit sich die Wahrnehmung grundlegend<br />

verschiebt, »muss die Phase länger anhalten«,<br />

sagt Naumer, »dafür muss auch der letzte Bär kapitulieren«,<br />

also auch der letzte Pessimist überzeugt<br />

werden. Er richtet seinen Blick bereits auf<br />

2014 und die Zeit danach. Erst dann werde man<br />

sehen, ob Europas Krisenstaaten mit ihren Reformen<br />

erfolgreich seien und ob das Eingreifen<br />

der Notenbanken – wie von vielen befürchtet –<br />

zu mehr In fla tion führe. »Wir haben noch eine<br />

Menge Schlaglöcher vor uns. Um die müssen<br />

wir herum.«<br />

Unter der Realrendite<br />

verstehen Investoren die<br />

Rendite einer Anlage<br />

nach Abzug der<br />

Inflation. Vor lauter<br />

Angst, dass die aktuelle<br />

Geldpolitik der EZB in<br />

Zukunft zu steigenden<br />

Preisen führen könnte,<br />

wird gern übersehen,<br />

dass die Realrendite<br />

vieler Anlagen schon<br />

heute – bei einer<br />

Inflationsrate von nur<br />

rund zwei Prozent – oft<br />

im Minus liegt. Abhilfe<br />

können etwa Aktien von<br />

Firmen bieten, die hohe<br />

Dividenden zahlen<br />

WIRTSCHAFT<br />

KUPFER<br />

8316 US$/<br />

TONNE<br />

+9,9 %


Fotos: Steffens/ddp; SVEN SIMON (u.)<br />

WIRTSCHAFT<br />

LEISTUNGSSCHUTZRECHT<br />

Werkzeug oder Knute?<br />

Internetfi rmen nutzen Presseausschnitte kostenlos. Ein Gesetz soll dagegen<br />

helfen – und wird zum Symbol der Netzpolitik. Ein Pro und Contra<br />

Die Bundesregierung will ihren Entwurf für<br />

ein Leistungsschutzrecht demnächst in<br />

Bundesrat und Bundestag einbringen.<br />

Der Gesetzentwurf erweckt den Eindruck, als ginge<br />

es darum, dass der Internetkonzern Google<br />

künftig dafür zahlt, dass er seinen Dienst Google<br />

News aus Nachrichten zusammenstellt, die zuvor<br />

auf den Online-Seiten deutscher Verlage erschienen<br />

sind. Erst bei genauem Hinsehen erschließt<br />

sich: Dieses Gesetz würde Deutschland als Innovationsstandort<br />

für unabsehbare Zeit zurückwerfen.<br />

Nach dem Entwurf sollen Suchmaschinenanbieter<br />

und »gewerbliche Anbieter von Diensten,<br />

die Inhalte entsprechend aufbereiten«, in Deutschland<br />

immer das Recht einholen müssen, kleine<br />

Auszüge aus Texten (Snippets) zu verwenden, die<br />

Presseverlage und andere Online-Publikationen<br />

erstellt haben.<br />

Wieso das innovationshemmend ist? Dazu muss<br />

man Parallelen zur Musikindustrie und zum digitalen<br />

Streaming-Dienst Spotify ziehen. Spotify kam 2008<br />

in Schweden auf den Markt und erlaubt es, Lieder<br />

bekannter Künstler aus dem Internet abzurufen. In<br />

Deutschland wurde der Dienst, der als einer der Wegbereiter<br />

in die Zukunft der Musikwirtschaft angesehen<br />

wird und Millionen Nutzer hat, erst im März<br />

<strong>2012</strong> gestartet. Und warum? Weil es fast vier Jahre<br />

gedauert hat, um alle Rechte zu »klären«, also Lizenzverträge<br />

mit der hiesigen Musikindustrie zu schließen.<br />

Vier Jahre sind im digitalen Zeitalter Äonen.<br />

Das Leistungsschutzrecht würde ähnliche Verhältnisse<br />

auf dem Markt für innovative Informationsdienste<br />

schaffen. Es soll ein geistiges Eigentumsrecht,<br />

ein Immaterialgüterrecht sein. Solche Rechte haben<br />

die Eigenschaft, dass jeder, der ein hierdurch geschütztes<br />

Gut nutzen will, vorher eine Erlaubnis (eine<br />

Lizenz) vom Rechteinhaber einholen muss. Tut er<br />

dies nicht, drohen ihm Abmahnungen, Schadensersatzforderungen<br />

und unter Umständen sogar<br />

Das Leistungsschutzrecht wird ein Schub<br />

von Innovationen und neuen Ideen auslösen.<br />

Kritiker, die das bezweifeln, gehen<br />

von falschen Voraussetzungen aus. Das Recht errichtet<br />

keinen Schutzwall um überholte Geschäftsmodelle.<br />

Vielmehr schafft es die Voraussetzungen<br />

für einen boomenden neuen Markt: mit Suchmaschinen<br />

und mit Aggregatoren.<br />

Was sind Aggregatoren? Das sind elektronische<br />

Angebote, die Texte, Fotos und Videos aus verschiedenen<br />

Quellen zusammentragen und dem Leser<br />

bequem wie eine persönliche Internet-Zeitung auf<br />

den Bildschirm liefern. Aggregatoren sind sehr beliebt.<br />

Sie sparen dem Leser Wege und Zeit.<br />

Die allermeisten Aggregatoren zahlen den Urhebern<br />

und ihren Verlagen heute kein Geld, sondern<br />

bedienen sich kostenlos auf deren Webseiten.<br />

Manche Aggregatoren liefern den Verlagen Besucher,<br />

weil man sich von ihnen auf die Originalseiten<br />

durchklicken kann. Andere versuchen, das<br />

Publikum bei sich zu behalten, ihm Abos schmackhaft<br />

zu machen oder Werbung zu zeigen. Wieder<br />

andere verkaufen die kopierten Artikel weiter an<br />

Kunden in der Wirtschaft, denen das Durchsuchen<br />

des Webs nach Beiträgen über ihre Firma<br />

oder Branche zu mühsam wäre.<br />

Der Leser hat immer recht. Deshalb wissen Verlage,<br />

dass sie die Entwicklung nicht aufhalten sollten.<br />

Eines aber können sie nicht akzeptieren: dass sie<br />

journalistische Leistungen kostenlos zur Verfügung<br />

stellen sollen.<br />

Leider ist in den vergangenen Jahren ein erbitterter<br />

Streit um Lizenzen entbrannt. Zu viele Internetfirmen<br />

verweigern sich noch einem Lizenzvertrag.<br />

Andere, die eher dazu bereit sind, zögern<br />

ihre Unterschrift hinaus, solange wichtige Kon-<br />

strafrechtliche Sanktionen. Massenhaft Lizenzen einzuholen<br />

bedeutet massenhaft Verträge zu schließen.<br />

Dies wiederum ist mit enormen Transaktionskosten<br />

verbunden und erfordert spezielles Know-how. Google<br />

und Microsoft mögen hierzu fähig sein, Start-ups<br />

verfügen weder über das nötige Geld noch über das<br />

Wissen. Oder sie brauchen Jahre – wie Spotify.<br />

Wird das Leistungsschutzrecht eingeführt, werden<br />

Innovationen auf dem Markt der Informationsdienste<br />

nicht aus Deutschland<br />

kommen. Zum anderen<br />

werden hiesige Unternehmen<br />

und Bürger von<br />

solchen Diensten (oft<br />

auf Jahre) abgeschnitten<br />

sein. Hätte es vor zehn<br />

Jahren schon ein Leistungsschutzrechtgegeben,<br />

wer weiß, ob Deutsche<br />

heute schon Google<br />

nutzen könnten.<br />

Die Verlage argumentieren,<br />

sie brauchten<br />

das Gesetz, da es heute<br />

sehr schwierig sei, gegen<br />

das systematische Raubkopieren<br />

von Texten vorzugehen.<br />

Als Grund wird<br />

angegeben, dass sie mit<br />

vielen Autoren zusammenarbeiten<br />

und sie vor<br />

Gericht für jeden einzelnen<br />

Text beweisen müs-<br />

sen, dass sie die Verwertungsrechte an einem Text<br />

haben. Das zu ändern, braucht es kein Leistungsschutzrecht.<br />

Eine simple prozessrechtliche Regelung<br />

würde ausreichen, nach der vermutet wird, dass der<br />

Verleger befugt ist, Rechte an den im Presseerzeugnis<br />

enthaltenen Werken vor Gericht geltend zu machen.<br />

kurrenten noch Totalverweigerer sind – und ein<br />

Gesetz fehlt.<br />

Die Verlage, unter ihnen Axel Springer, verhandeln<br />

mit vielen Aggregatoren, und diese Gespräche<br />

werden zu fairen Verträgen führen, fair für alle Seiten,<br />

sobald das Leistungsschutzrecht in Kraft ist. Es leistet<br />

also einen Beitrag zur<br />

Lösung des Problems<br />

und erlaubt, rechtlich<br />

gegen gewerbliche Angebote<br />

vorzugehen, die<br />

ohne Genehmigung<br />

kopieren. Damit wird<br />

der Weg für Aggregatoren<br />

geebnet, die ein faires<br />

Geschäft machen möchten.<br />

Sie müssen keine<br />

Gratiskonkurrenz mehr<br />

fürchten. Private Kopien<br />

bleiben weiter kostenlos.<br />

Wer nun wie die SPD<br />

sagt, man brauche kein<br />

Gesetz, sondern könne es<br />

den Verlagen durch einen<br />

juristischen Trick<br />

erleichtern, ihre Interessen<br />

vor Gericht durchzusetzen,<br />

macht einen<br />

Denkfehler. Ohne das<br />

Gesetz muss der Verlag<br />

Contra<br />

TILL<br />

KREUTZER<br />

ist Anwalt für<br />

Urheberrecht,<br />

Datenschutzrecht<br />

und Telekommunikationsrecht<br />

Pro<br />

CHRISTOPH<br />

KEESE<br />

ist Urheberrechtssprecher<br />

der<br />

Verlegerverbände<br />

und Manager bei<br />

Axel Springer<br />

heute für jeden Text einzeln nachweisen, welche Verwertungsrechte<br />

er besitzt. Nun einfach pauschal alle<br />

Rechte dem Verlag zuzumessen, damit es vor Gericht<br />

schneller geht, ist Journalisten gegenüber unfair. Sie<br />

müssen an der Zweitverwertung ihrer Texte beteiligt<br />

werden. Genau das will das Leistungsschutzrecht.<br />

ANALYSE UND MEINUNG<br />

ANALYSE<br />

A<strong>DIE</strong> ANALYSE<br />

Das papierlose Büro. Globale Videokonferenzen.<br />

Arbeiten von<br />

jedem Ort der Welt aus. Kommunikationstechnik<br />

verändert<br />

permanent den Arbeitsalltag,<br />

und an passenden Utopien mangelte es noch<br />

nie. Das klassische Angestelltenverhältnis als<br />

nine to five-Job samt Zeiterfassung und Überstundenkonto<br />

weiche einer flexiblen Arbeitsrealität,<br />

von der alle profitierten – das war eine<br />

Zukunftsvision. Und sie klang vielversprechend:<br />

Der Arbeitnehmer wäre nicht mehr<br />

durch feste Bürozeiten an seinen Schreibtisch<br />

gefesselt und könnte so Job und Privatleben viel<br />

besser zusammenbringen. Der Arbeitgeber hätte<br />

Personal, das einen eiligen Auftrag aus Fernost<br />

umgehend und nicht erst am nächsten<br />

Morgen bearbeiten könnte. So weit der Plan.<br />

Mit den Chancen und Risiken der Digitalen<br />

Arbeit in Deutschland hat sich nun die der SPD<br />

nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung befasst.<br />

Dabei zeichnen die beiden Autoren Michael<br />

Schwemmle und Peter Wedde zwar ein differenziertes,<br />

im Kern aber einseitiges Bild. Digitale<br />

Arbeit sei »vorwiegend von Vorgaben und Dispositionen<br />

der Unternehmen, der Arbeit- und<br />

Auftraggeber abhängig«, schreiben sie, »zu wenig<br />

jedoch an den Bedürfnissen der Erwerbstätigen<br />

und am Ziel guter Arbeit ausgerichtet.«<br />

Was ein digitaler Arbeiter sein soll, definieren<br />

Schwemmle und Wedde bewusst eng. Ein Dachdecker<br />

mit E-Mail-Account und Mobiltelefon<br />

gehört nicht dazu. Stattdessen sind Menschen<br />

gemeint, die hauptsächlich mit Laptops, Smartphones,<br />

Tablets und dergleichen solche Informationen<br />

bearbeiten, die typischerweise in digitali-<br />

Ungemach für die Kanzlerin<br />

Eigentlich könnte es ein ruhiger Herbst werden:<br />

Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg frei<br />

gemacht für den Rettungsschirm ESM, die Europäische<br />

Zentralbank (EZB) hat entschieden, die<br />

Krisenländer im Ernstfall durch den Kauf von<br />

Staatsanleihen zu stützen. Es gibt also jetzt einen<br />

Schlachtplan, und es gibt eine im Prinzip unerschöpfliche<br />

Kriegskasse – und trotzdem könnte<br />

die Euro-Rettung die Bundesregierung innenpolitisch<br />

noch in die Bredouille bringen.<br />

Da ist der Konflikt zwischen Bundesbank-<br />

Präsident Jens Weidmann und EZB-Chef Mario<br />

Draghi. Weidmann ist gegen das Anleiheprogramm,<br />

Draghi hat es sich ausgedacht. Die<br />

Bundesregierung hält zu Draghi, weil sie<br />

glaubt, dass sich die Krise ohne die Feuerkraft<br />

der Notenbank nicht lösen lässt. Sie kann es<br />

sich aber nicht leisten, Weidmann zu kritisieren,<br />

weil die Bundesbank in der Öffentlichkeit<br />

hoch angesehen ist und ihre Bedenken von<br />

vielen Deutschen geteilt werden.<br />

Angela Merkels Ausweg: Sie lobt einfach<br />

beide – obwohl das rein logisch betrachtet<br />

nicht zusammenpasst. Bislang kommt die<br />

Kanzlerin damit ganz gut durch. Doch wenn<br />

die EZB wirklich gezwungen sein sollte, im<br />

großen Stil Anleihen zu kaufen, und der öffentliche<br />

Druck wächst, muss sich Merkel<br />

möglicherweise für einen der beiden entschei-<br />

sierter Fassung vorliegen: Texte, Grafiken, Zahlen,<br />

Fotos. Eine Untersuchung des Statistischen Bundesamts<br />

von 2010 besagt, dass fast zwei Drittel<br />

aller Beschäftigten in Deutschland regelmäßig am<br />

Computer arbeiten.<br />

Doch was macht der Rechner, macht das Netz<br />

mit ihnen?<br />

Aus der Perspektive von abhängig Beschäftigten<br />

lösen sich herkömmliche Alltagsbegriffe auf.<br />

Der Arbeitsplatz ist kein klar umgrenzter Ort<br />

mehr, stattdessen befindet er sich jeweils dort, wo<br />

ein Computer Zugang zum Netz hat – mithin<br />

überall. Ebenso schwierig wird es, Beginn und<br />

Ende der Arbeitszeit zu definieren, vor allem,<br />

wenn Teams aus mehreren Ländern und Zeitzonen<br />

an einem Projekt arbeiten. Arbeitsort und<br />

-zeit zum Teil selbst bestimmen zu können, werten<br />

Schwemmle und Wedde zwar grundsätzlich als<br />

positiv und einen Zugewinn von Macht und<br />

Freiheit. Das könne aber nur gelten, wenn die<br />

Arbeitsmenge es überhaupt zulasse, diese Freiheit<br />

sinnvoll ausüben zu können. Überspitzt gesagt:<br />

Wer rund um die Uhr arbeitet, hat von der Flexibilität<br />

gar nichts. Viele Beschäftigte empfinden es<br />

der Studie zufolge als Last, nie genau zu wissen,<br />

wann eigentlich Schluss ist.<br />

Eine Vielzahl von »Solo-Selbstständigen« betrachtet<br />

es demgegenüber offenbar als große<br />

Chance, selbstbestimmt und frei von klassischen<br />

Anwesenheitszwängen zu arbeiten. Die Autoren<br />

diskutieren eine Selbstdarstellung aus der Szene<br />

der Digital Natives, derzufolge die Regeln eines<br />

Normalarbeitsverhältnisses als »Relikt aus den<br />

Zeiten der Industrialisierung« beschrieben werden.<br />

Unklar bleibt, warum die Gruppe der Digitalarbeiter<br />

so begeistert ist, obwohl sie sich in einer<br />

den. Schlägt sie sich auf Draghis Seite, wird<br />

sie innenpolitisch Schwierigkeiten bekommen<br />

und müsste um ihre Kanzlerschaft bangen.<br />

Schlägt sie sich dagegen auf Weidmanns Seite,<br />

wäre die Krise wahrscheinlich mit einem<br />

Schlag zurück, weil die Akteure an den Finanzmärkten<br />

in einem solchen Fall daran zweifeln<br />

würden, dass die EZB ihr Programm gegen<br />

den Willen Deutschlands fortsetzen kann.<br />

Da ist das Ringen um Spanien. Um sich für<br />

die Anleihekäufe der EZB zu qualifizieren,<br />

muss das Land einen Antrag auf ein Hilfsprogramm<br />

der EU stellen. Bislang schreckt die<br />

Regierung in Madrid jedoch davor zurück,<br />

nicht zuletzt weil sie die Auflagen fürchtet, die<br />

mit einem solchen Programm verbunden sein<br />

könnten – obwohl die Notenbank die Kriterien<br />

bereits gelockert hat.<br />

Auch in der Bundesregierung sähen es einige<br />

gerne, wenn die Spanier auf diesen Schritt<br />

vorerst verzichten würden. Denn andernfalls<br />

müsste Angela Merkel noch einmal vor den<br />

Bundestag, um sich das Programm genehmigen<br />

zu lassen. Auch wenn die Abgeordneten<br />

am Ende wohl zustimmen würden, bliebe das<br />

Restrisiko eines Scheiterns – und es blieben<br />

Tage, wenn nicht gar Wochen, mit kontroversen<br />

Debatten, die wieder für Unruhe an den<br />

Finanzmärkten sorgen könnten.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 29<br />

Ohne Feierabend<br />

Freiheit oder Zwang? Eine Studie untersucht die<br />

digitale Arbeitswelt VON MARCUS ROHWETTER<br />

vergleichsweise schlechten finanziellen Lage<br />

befindet. »Unter den vermeintlich Privilegierten<br />

der Kreativszene schrammen viele an prekären<br />

Verhältnissen vorbei«, heißt es im Vorwort der<br />

Studie. »Ungezählte Solounternehmer leben von<br />

der Hand in den Mund. Im digitalen Nomadentum<br />

kann der gesicherte Broterwerb zur<br />

Utopie werden.«<br />

Die Studie der Ebert-Stiftung basiert großteils<br />

auf Statistiken und wissenschaftlicher Literatur.<br />

Ihr Ergebnis: Digitale Arbeit ist psychische Last<br />

für einige, bedeutet oft wenig Geld für andere,<br />

aber auch Freiheit und Selbstbestimmtheit. Die<br />

Untersuchung lässt den Schluss zu, dass sich Politik<br />

und Gesellschaft vom Tempo des technischen<br />

Fortschritts überrumpelt sehen. Getrieben von der<br />

Erkenntnis, dass Unternehmen als Arbeit- oder<br />

Auftraggeber zunehmend im globalen Wettbewerb<br />

stehen und nie eine Zeit kommt, zu der die<br />

ganze Welt zugleich Feierabend macht. »Es dominiert<br />

eine Akzeptanz der normativen Kraft des<br />

Faktischen«, schreiben Schwemmle und Wedde,<br />

gleichwohl sei der Gesetzgeber nicht zum Zuschauen<br />

verdammt. So regen die Autoren an, Beschäftigten<br />

gesetzlich die Möglichkeit zuzugestehen,<br />

ihre Arbeit teilweise von selbst gewählten<br />

Orten aus erbringen zu dürfen – und zugleich ein<br />

»Recht auf Nichterreichbarkeit außerhalb bestimmter<br />

Arbeitszeitkorridore« festzuschreiben.<br />

Zudem sollten Solo-Selbstständige stärker in soziale<br />

Sicherungssysteme integriert werden.<br />

All das sind wichtige Fragen, auf die es bislang<br />

keine Antworten gibt. Fest steht nur, dass Technik<br />

für sich genommen weder gut noch schlecht ist.<br />

Gesellschaft und Politik können die digitale Zukunft<br />

mitgestalten. Sie müssen es nur tun.<br />

Die Finanzmärkte haben sich beruhigt, politisch bleibt die Euro-Rettung heikel VON MARK SCHIERITZ<br />

Deshalb hofft man in Berlin, dass allein die<br />

Ankündigung möglicher Stützungskäufe durch<br />

die EZB ausreicht, um die Zinsen so weit zu<br />

drücken, dass sich die Spanier wieder zu annehmbaren<br />

Konditionen finanzieren können.<br />

Tatsächlich kommt das Land derzeit erheblich<br />

günstiger an frisches Geld als vor Draghis Ankündigung,<br />

im Rahmen seines Mandats alles zu<br />

tun, um den Euro zu retten. Nach Analysen der<br />

Bundesregierung liegen die Zinsen im Süden<br />

jetzt in etwa wieder auf einem Niveau, das zu<br />

den ökonomischen Rahmenbedingungen passt.<br />

Doch auch eine solche Garantieerklärung<br />

ist eine Form der Unterstützung – selbst wenn<br />

noch kein Geld fließt. Und solange die Regierung<br />

in Madrid sich keinem Anpassungsprogramm<br />

unterwirft, haben die Europäer keine<br />

Handhabe, um zusätzliche Auflagen durchzusetzen.<br />

Damit wächst die Gefahr, dass das Land<br />

vom Reformkurs abkommt, und das Risiko<br />

politischer Kontroversen in Deutschland.<br />

Im Kanzleramt setzt man darauf, dass die<br />

Intervention der Notenbank bis zur Bundestagswahl<br />

für Ruhe sorgt – um dann vielleicht<br />

im Rahmen einer Großen Koalition den Umbau<br />

der Währungsunion mit frischer Kraft voranzutreiben.<br />

Die Lage an den Finanzmärkten<br />

hat sich beruhigt, politisch bleibt die Euro-<br />

Rettung spannend.


30 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

»Wir ziehen<br />

das durch«<br />

Der britische Unternehmer Richard Branson will Spaß haben und<br />

die Welt verbessern. Ein Gespräch über Abenteuer und Disziplin<br />

7.30 Uhr morgens am vergangenen Samstag auf<br />

dem High-Tech-Gelände in Berlin-Adlershof.<br />

Richard Branson ist für ein paar Stunden nach<br />

Deutschland gekommen. 2009 hat er die Initiative<br />

Carbon War Room gegründet. Sie will Unternehmer,<br />

Erfinder und Geldgeber zusammenbringen,<br />

um neue Konzepte fürs Klima zu entwickeln und<br />

weltweit umzusetzen. Deshalb veranstaltet sie<br />

hochrangige Brainstorming-Treffen. Und nun war<br />

man gemeinsam mit dem deutschen Partner Triad<br />

Berlin dafür erstmals in Deutschland.<br />

Am Samstagmorgen kommt der Milliardär aus<br />

Großbritannien dazu. Er trägt ein dunkles Samtjackett<br />

über einem offenen weißen Hemd, die<br />

blond-weißen Haare sind in der Mitte gescheitelt,<br />

der Bart ist sorgfältig geschnitten. Der Konferenzleiter<br />

hält ihm die Hand hin, »umarmen Sie mich«,<br />

sagt er mit ausgebreiteten Armen. Der Ton ist gesetzt.<br />

Branson wirkt gelöst und erzählt, wie er<br />

neulich in Japan ein Auditorium um Fragen bat,<br />

und als niemand reagierte, bot er an, er werde<br />

dem ersten Fragensteller einen Erste-Klasse-Flug<br />

nach Europa spendieren. Die Zuhörer in Berlin<br />

schweigen kurz, aber keiner erhält einen Flug.<br />

Dann die Präsentation der Brainstorming-Ergebnisse.<br />

Es geht darum, wie Trucker sich gegenseitig<br />

informieren können, wenn sie noch freien Laderaum<br />

haben. Später um ein Effizienz-Rating für<br />

die Industrie. Schließlich darum, wie man ganze<br />

Inseln mit sauberer Energie versorgt. Erst eine,<br />

dann zehn, dann alle.<br />

Branson ist konzentriert, aber man merkt ihm<br />

an: Wenn der Vortragende nicht präzise und witzig<br />

redet, wird er unruhig. Das »Fantastisch« am<br />

Ende klingt dann nicht mehr ganz so herzlich.<br />

Und doch: Mit seiner leisen, klaren Stimme stellt<br />

er Fragen, die zeigen, er hat genau zugehört.<br />

Nach einer halben Stunde ist alles gesagt. Ein Fototermin<br />

noch mit den Teilnehmern, und Branson<br />

hat Zeit fürs Interview. Einen Kaffee braucht<br />

er. Dann ist er wieder entspannt und ganz bei<br />

der Sache. Übrigens, in einer halben Stunde muss<br />

er zum Flieger. UWE JEAN HEUSER<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Jemand, der Ihnen nahesteht, hat gesagt,<br />

wenn es ihm Spaß machen soll, frag ihn<br />

nach den Sex Pistols. Also – die Sex Pistols. Warum<br />

gerade die?<br />

Richard Branson: Ich hatte ein unabhängiges<br />

Musik-Label in den Siebzigern, und die Sex Pistols<br />

waren mit mein erster Klient. Ohne sie säßen<br />

wir heute nicht hier. Nachdem wir sie gewonnen<br />

hatten, kamen die Rolling Stones, kam auch Genesis.<br />

Die Sex Pistols haben meiner Firma Virgin<br />

geholfen, überhaupt auf die Beine zu kommen.<br />

Ohne sie hätten wir keine Airline. Ohne sie hätten<br />

wir keine Bank.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und ohne sie würden Sie heute nicht versuchen,<br />

die Welt zu retten.<br />

Branson: Ja, eins ist aus dem anderen entstanden.<br />

Ich bin neugierig, will immer etwas Neues<br />

lernen. Deshalb hat Virgin neue Felder besetzt.<br />

Jetzt verbringe ich 90 Prozent meiner<br />

Zeit damit, gemeinnützige Organisationen<br />

aufzubauen. Ich bin nun mal<br />

einer von denen, die glauben,<br />

dass die Erderwärmung ein<br />

ernstes Problem ist. Aber selbst<br />

wenn ich falschliege, müssen<br />

die Volkswirtschaften autark in<br />

ihrer Energieversorgung werden.<br />

Das Öl geht aus, da sind<br />

wir besser fantasievoll und bewahren<br />

die wertvollen Naturschätze,<br />

die wir haben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Daher also der Carbon<br />

War Room?<br />

Branson: Den haben wir aufgebaut, um mit der<br />

Industrie zu arbeiten, statt sie zu attackieren,<br />

wie es ein Teil der grünen Bewegung macht.<br />

Unser Ziel ist es, 25 Gigatonnen an Kohlenstoffen<br />

aus der Atmosphäre herauszubringen<br />

und gleichzeitig der Industrie zu helfen, Geld<br />

zu verdienen und zu sparen, indem sie kein<br />

teures Öl aus Übersee kaufen muss. Wir wollen<br />

unsere Volkswirtschaften wohlhabender<br />

und gesünder zugleich machen. Dabei entstehen<br />

aufregende Ideen und Geschäftsmöglichkeiten.<br />

Wenn Leute zum Beispiel meinen, sie<br />

können Geld verdienen, indem sie eine Insel<br />

mit Öko-Energie versorgen, dann werden sie<br />

das tun. Als Unternehmer weiß ich, was die<br />

Welt bewegt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Geld?<br />

Branson: Es ist nicht nur das Geld. Aber Sie müssen<br />

nachhaltig arbeiten können. Wenn Sie Geld<br />

mit einer Insel verdienen, können Sie alle Inseln<br />

der Welt verwandeln. Wir haben all diese tollen<br />

Leute im Carbon War Room, hier in Deutschland<br />

zum Beispiel, die dann ihren Weg nach<br />

China finden. Ideen können mit anderen geteilt<br />

werden, ohne dass es geistiger Diebstahl wäre.<br />

Und dann kann man auf globaler Ebene arbeiten.<br />

Energie ist so zentral für die Weltwirtschaft,<br />

dass viele Leute mitmischen können.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Noch mal zurück zu Ihren Anfängen ...<br />

RICHARD BRANSON<br />

» Wir sollten nicht die<br />

Menschen davon<br />

abhalten, Spaß zu<br />

haben, sondern dafür<br />

sorgen, dass sie reisen<br />

können, ohne die Welt<br />

zu beschädigen «<br />

Branson: (lacht) ... wenn ich so lange antworte,<br />

dass mir ein Weihnachtsmannbart wächst, müssen<br />

Sie das entschuldigen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ich stelle Sie mir nur vor, damals auf Ihrem<br />

Hausboot in London, als sie eine kleine<br />

Musikfirma lenkten – und frage mich, was Sie,<br />

abgesehen von Ihrer Neugier, als Unternehmer<br />

ausmacht. Was Sie vorwärtstreibt.<br />

Branson: Ich glaube, der Begriff des Unternehmers<br />

oder Geschäftsmannes führt in die Irre.<br />

Was ist Geschäft? Im Wesentlichen, dass jemand<br />

mit einer Idee aufwartet, die für andere Menschen<br />

eine Verbesserung in ihrem Leben ist. In<br />

meinem Fall war es der Vietnamkrieg, den ich<br />

für ungerecht und falsch hielt. Ich wollte die<br />

Schule verlassen, um ein Magazin zu gründen,<br />

mit dem ich gegen den Krieg kämpfen konnte.<br />

Als das Magazin geschrieben wurde, kamen Musiker<br />

mit Bändern zu mir. Wunderbare Musik,<br />

die niemand bringen wollte. Also habe ich eine<br />

Plattenfirma gegründet. Ich dachte nicht daran,<br />

viel Geld zu verdienen, sondern wollte das Magazin<br />

und die Musik öffentlich machen. Später<br />

wollte ich eine Fluglinie aufbauen, bei der ich<br />

selber gerne mitfliegen würde. Und so weiter.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Geld brauchten Sie dafür auch.<br />

Branson: Natürlich hoffte ich, dass am Ende des<br />

Jahres mehr Geld reingekommen als rausgeflossen<br />

war. Ich war furchtbar in Mathe gewesen und<br />

Legastheniker dazu, also brauchte ich Leute, die<br />

darauf achteten. Manche Jahre schafften wir es,<br />

andere nicht. Zeit meines Lebens habe ich es aber<br />

geliebt, große Unternehmen und große Branchen,<br />

die ineffizient sind, herauszufordern. Mit<br />

Produkten wie der besten Airline der Welt, der<br />

besten Bahnlinie der Welt, der aufregendsten<br />

Raumfahrtfirma. Wir setzen uns Herausforderungen<br />

und versuchen Dinge zu schaffen, auf die<br />

wir wirklich stolz sein können. Und jetzt mache<br />

ich dasselbe im gemeinnützigen Sektor, der für<br />

mich gar nicht so anders ist.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sowohl als Geschäftsmann wie auch als<br />

Abenteurer sind Sie wagemutig. Extremsportler<br />

sagen einem, die Wagemutigsten bräuchten auch<br />

die meiste Disziplin, sonst seien sie schnell tot.<br />

Sind Sie disziplinierter, als man es öffentlich<br />

wahrnimmt?<br />

Branson: Ein bisschen mehr. Als Geschäftsmann<br />

müssen Sie sich gegen die downside schützen,<br />

gegen die schlimmste Möglichkeit. Ich bin im<br />

Geschäft, seit ich 15 bin, und noch nie ist uns<br />

eine Firma wirklich pleite gegangen. Aber natürlich<br />

habe ich Dinge probiert, die noch kein<br />

Mensch gemacht hat, und die sind mit Risiko<br />

verbunden. Wenn Sie zum Beispiel in einem<br />

Ballon die Erde umrunden wollen und Sie wissen,<br />

dass es niemand vor Ihnen gemacht hat,<br />

dann gehen Sie ein kalkuliertes Risiko ein. Wir<br />

haben eine Kapsel gebaut, die schwimmen würde,<br />

wenn sie in den Ozean stürzt, damit wir zurückkehren<br />

und unsere Geschichte erzählen<br />

könnten. Im Meer sind wir dann auch sechs Mal<br />

gelandet. Aber Glück hatten wir natürlich auch.<br />

Bei den vielen Abenteuern hat jemand von oben<br />

auf uns heruntergelächelt.<br />

Und doch habe ich auch da<br />

immer versucht, fürs<br />

Schlimmste gerüstet zu sein.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Gehen Sie Ihre philanthropischen<br />

Unternehmungen<br />

genauso an?<br />

Branson: Die Leute vom Carbon<br />

War Room haben diese<br />

Haltung, zum Teufel, wir ziehen<br />

das jetzt durch. Sie haben<br />

hier deutsche Geschäftsleute<br />

getroffen, die eher nach einem<br />

festen Plan vorgehen – oder, wie einige der War-<br />

Room-Leute sagten, die schottischer seien als wir.<br />

Eine Mischung der beiden Ansätze ist ideal. Insgesamt<br />

nehmen wir unsere gemeinnützigen Projekte<br />

vielleicht noch ernster als unsere Geschäfte.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sind wahrscheinlich der einzige Unternehmer,<br />

der es schafft, als ernster Klimakämpfer<br />

zu gelten und gleichzeitig einen Formel-1-Rennstall<br />

zu betreiben ...<br />

Branson: ... und ein Raumfahrtunternehmen.<br />

(lacht laut auf)<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie bringen Sie das überein?<br />

Branson: Ich betrachte mich gerne als ehrlich.<br />

Und meine Botschaft lautet: Sie können die<br />

Welt nicht in dunkle Zeiten zurückversetzen.<br />

Stattdessen müssen wir vorwärtsgehen. Wir verwenden<br />

alle Profite unserer Airline und unserer<br />

Zuglinie, um saubere Treibstoffe zu entwickeln.<br />

Allzu viel Gewinn machen wir da vielleicht<br />

nicht, aber den geben wir dafür aus. Und mithilfe<br />

des Carbon War Room gibt es jetzt Treibstoffe<br />

für Flugzeuge und Raumschiffe, Züge und<br />

Formel-1-Autos, die fast zu hundert Prozent<br />

sauber sind. Nehmen Sie die Airline-Industrie.<br />

Es gibt nur rund 1800 Pumpstationen auf der<br />

Welt, um große Flieger aufzutanken. Da können<br />

Sie sich sehr schnell von einer der dreckigsten<br />

zu einer der saubersten Industrien wandeln.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Welche Treibstoffe sind das?<br />

WAS BEWEGT RICHARD BRANSON?<br />

Abenteurer<br />

Es war Mitte der sechziger Jahre, und<br />

er war fünfzehn Jahre alt, als er meinte,<br />

jetzt müsse er etwas gegen den<br />

Vietnamkrieg unternehmen. Also<br />

verlegte Richard Branson ein Magazin<br />

und bekam Interviews mit Berühmtheiten<br />

wie Mick Jagger. Bald<br />

schickten ihm Protestbands auch ihre<br />

Musikbänder; und 1969 gründete er<br />

ein Plattenlabel. Die Marke Virgin<br />

war geboren. 1984 kam eine Airline<br />

hinzu, dann Radiosender, Bahnfirmen,<br />

Mobilfunkbetreiber, ein Formel-1-Team<br />

und ein Unternehmen<br />

für private Raumflüge. Letzteres soll<br />

bald auch ganz normale Leute befördern,<br />

verspricht Branson. Heute betreibt<br />

der 61-jährige Milliardär rund<br />

200 Firmen mit insgesamt etwa<br />

50 000 Mitarbeitern in 29 Ländern.<br />

Die meiste Zeit verbringt er indes mit<br />

seiner Stiftung Virgin Unite, die soziale<br />

und ökologische Probleme in<br />

aller Welt anpacken soll. 2007 gründete<br />

er mit anderen Prominenten die<br />

Gruppe The Elders, die unter anderem<br />

versucht, regionale Konflikte,<br />

etwa in Kenia, zu lösen.<br />

Als Abenteurer bleibt sich Branson treu.<br />

Anfang Juli hat er als ältester Kitesurfer<br />

den Ärmelkanal überquert und sich<br />

dabei einige Blessuren zugezogen<br />

(Foto). Den Rekord zu brechen – das<br />

war seinem Sohn vorbehalten. UJH<br />

Branson: Sprit aus Algen oder aus den Abgasen<br />

von Aluminium- und Stahlfabriken. Jetzt müssen<br />

wir die Verfahren entwickeln, um die Mengen<br />

herzustellen, die man braucht. Das ist für<br />

mich die Antwort: nicht die Menschen davon<br />

abhalten, Spaß zu haben, sie nicht vom Reisen<br />

abhalten. Besser sorgt man dafür, dass sie reisen<br />

können, ohne die Welt zu beschädigen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Klingt prima. Aber glaubt man Umweltexperten,<br />

hält die Welt nicht mehr viel Wachstum<br />

aus, weil wir dann immer mehr Ressourcen verbrauchen.<br />

Der Nutzen aus höherer Effizienz und<br />

Innovation wird mehr als aufgefressen von der<br />

schieren, wachsenden Menge der Produktion.<br />

Branson: Der Carbon War Room kann zum Beispiel<br />

zeigen: Wenn Sie jedes Gebäude umweltfreundlich<br />

machen, können Sie den Energiekonsum<br />

um 60 Prozent verringern und den Besitzern<br />

viel Geld sparen. Wir haben gerade Kapital von<br />

850 Millionen Dollar eingeworben, um in<br />

Miami damit zu experimentieren. Die Banken<br />

verdienen daran, die Bauunternehmer verdienen<br />

daran, die Stadt verdient daran. Jeder. Verlierer<br />

sind nur die Ölimporteure in Amerika. Man<br />

kann den Verbrauch enorm reduzieren, wenn<br />

man auch Boote, Flugzeuge, Batterien und so<br />

weiter effizienter macht. Nehmen Sie an, jedes<br />

Land der Welt sagt, im Jahr 2025 importieren<br />

wir kein Öl mehr. Wenn Sie sich dieses Ziel setzen<br />

und von da aus arbeiten, ist es auch zu schaffen.<br />

Dann entwickeln Sie neue Treibstoffe, die<br />

nicht die Nahrungsmittelproduktion beeinträchtigen.<br />

Wir haben die Sonne, wir haben den<br />

Wind, vielleicht ist all diese Energie am Anfang<br />

etwas teurer, aber schnell wird der Preis sinken<br />

und wettbewerbsfähig sein.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ist der Staat Ihr Freund in diesem Unterfangen?<br />

Branson: Wenn er zukunftsbewusst ist, kann er<br />

uns ein sehr starker Freund sein und die ganze<br />

Entwicklung beschleunigen. Der Staat will und<br />

braucht Organisationen wie den Carbon War<br />

Room, um mit ihnen zu arbeiten. Politiker können<br />

nicht drei- oder viertägige Brainstorming-<br />

Sitzungen abhalten, wir schon.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Hätte der Staat die europäische Solarindustrie<br />

beschützen sollen, in der Sie auch Geld<br />

verloren haben?<br />

WIRTSCHAFT<br />

Sir Richard Branson auf einer Konferenz im New Yorker Museum of Modern Art<br />

Branson: Die wichtigste Aufgabe des Staates ist<br />

es, Ziele für die Reduzierung der Emissionen zu<br />

setzen und für fairen Wettbewerb zu sorgen, wo<br />

auch immer auf der Welt. Ich glaube fest an den<br />

Markt, und soweit es um mein Geschäft geht,<br />

kann ich nur sagen: Sie müssen das Süße und das<br />

Saure schlucken. Einige Firmen haben Erfolg,<br />

andere nicht.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie hatten Ihr grünes Coming-out Mitte<br />

des vergangenen Jahrzehnts. Was war der entscheidende<br />

Moment, in dem sie zum Krieger<br />

fürs Klima wurden?<br />

Branson: Es war ein Besuch des früheren USamerikanischen<br />

Vize-Präsidenten Al Gore. Die<br />

Wissenschaft spricht in der Sache eine eindeutige<br />

Sprache – und die neuen Berichte über die<br />

Eisschmelze in der Arktis verstärken diese Botschaft.<br />

Aber ich bin ein geborener Optimist<br />

und glaube, die menschliche Erfindungsgabe<br />

kann alle Schwierigkeiten überwinden. Trotzdem<br />

müssen wir besser darin werden, unsere<br />

Bemühungen zu koordinieren. Deshalb habe<br />

ich den Carbon War Room gegründet, um die<br />

klügsten Leute aus Wirtschaft und Finanzen,<br />

Technologie und Wissenschaft zusammenzubringen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie wichtig ist der Spaßfaktor? Würden<br />

Sie auch etwas machen, was keinen Spaß macht?<br />

Branson: Spaß und Abenteuer sind mir wichtig.<br />

Ohne Spaß sind Sie nicht so gut in dem, was Sie<br />

tun. Gerade habe ich mit meinen Kindern den<br />

Mont Blanc bestiegen, um beim Start ihrer gemeinnützigen<br />

Initiative zu helfen. Das hat ebenso<br />

Spaß gemacht wie das Treffen hier in Berlin.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie wirken bei alldem sehr entspannt. Was<br />

aber macht Sie unruhig, was macht Sie besorgt?<br />

Branson: Nicht viel (lacht). Die meisten Probleme<br />

dieser Welt können gelöst werden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und was inspiriert Sie?<br />

Branson: Viele meiner besten Ideen sind durch<br />

Interviews entstanden. Einmal wurde ich gefragt,<br />

warum ich nicht im Bahn-Geschäft sei. Dann<br />

stand in dem Artikel am nächsten Tag, dass ich<br />

darüber nachdächte. Also musste ich einen Managing<br />

Director finden, um das Bahngeschäft<br />

wirklich zu starten.<br />

Die Fragen stellte UWE JEAN HEUSER<br />

Fotos: Gerald Holubowicz/laif; Hussein Samir/SIPA/ddp (u.)


Foto [M]: Vincent Hazat/PhotoAlto/dpa<br />

WISSEN Tödlicher<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 31<br />

Geld<br />

oder<br />

Leben<br />

Diese Worte kennt jeder Arzt:<br />

»Ich werde ärztliche Verordnungen<br />

treffen zum Nutzen der<br />

Kranken nach meiner Fähigkeit<br />

und meinem Urteil, hüten aber<br />

werde ich mich davor, sie zum<br />

Schaden und in unrechter Weise<br />

anzuwenden ...« So steht es in jenem berühmten<br />

Eid aus der Antike, der nach dem griechischen Arzt<br />

Hippokrates benannt ist. Heute, 2500 Jahre später,<br />

schwören Mediziner zwar nicht mehr bei den Göttern<br />

Apollon und Asklepios. Doch die wichtigsten Gedanken<br />

dieser Ethik gelten noch immer: das Primat des<br />

Patientenwohls. Die Schweigepflicht. Das Euthanasieverbot.<br />

Oder das primum non nocere: das Gebot,<br />

einen Eingriff eher zu unterlassen, als künftige Beeinträchtigungen,<br />

gar den Tod zu riskieren.<br />

Aber Papier ist geduldig, und in den Widersprüchen<br />

des Alltags verlieren sich die Ideale allzu oft. Wie<br />

groß der Leidensdruck vieler Ärzte mittlerweile ist,<br />

belegt die Flut von Leserbriefen, die uns nach Erscheinen<br />

unserer Titelgeschichte Das Ende der Schweigepflicht<br />

(<strong>ZEIT</strong> Nr. 21/12) erreichte. Darin hatten Ärzte<br />

aus dem Alltag ihrer Krankenhäuser berichtet und geklagt,<br />

wie sie immer häufiger in den Interessenskonflikt<br />

zwischen dem Wohl der Patienten und den Gewinn<br />

erwar tun gen ihres Hauses gerieten. Berichtet<br />

wurde von unnötigen Therapien, die aus finanziellen<br />

Gründen angeordnet wurden, oder davon, dass Kliniken<br />

Patienten nicht gehen ließen, für die es lukrative<br />

Pauschalen zu kassieren gab.<br />

Die Ärzte und Ärztinnen, die uns diese Fälle erzählten,<br />

hatten anonym bleiben wollen. Nur so schien<br />

es ihnen möglich, weiter zu arbeiten, ohne vom Arbeitgeber<br />

oder von geschädigten Patienten verklagt zu<br />

werden. Doch das überwältigende Echo, das die Berichte<br />

auslösten, macht klar: Die bitteren Erfahrungen<br />

sind keine Einzelfälle. Auch die Mehrheit unserer<br />

Leserbriefschreiber, darunter viele Ärzte, beklagte,<br />

dass in deutschen Krankenhäusern ein brutaler Verteilungskampf<br />

tobt, bei dem das Überleben des Hauses<br />

immer wieder Vorrang hat vor einer adäquaten<br />

Behandlung der Patienten.<br />

Bleibt der Patient zu lange – weil er alt ist<br />

oder gebrechlich –, zahlt die Klinik drauf<br />

Ein entscheidender Grund liegt im veränderten Finanzierungssystem<br />

von Krankenhäusern und Arztpraxen.<br />

Seit 2003 bekommen die deutschen Kliniken<br />

keine Tagessätze mehr. Sie werden nach Fallpauschalen<br />

bezahlt, die sich aus der Ein lie fe rungs dia gno se<br />

errechnen. Für eine künstliche Hüfte gibt es eine<br />

anderen Pauschale als für einen Herzinfarkt. Wenn<br />

die Patienten länger bleiben müssen, als es die einkalkulierte<br />

Verweildauer vorsieht – weil sie alt und<br />

gebrechlich sind oder weil es Wartezeiten bei den<br />

Untersuchungen gibt –, dann geht die längere Liegezeit<br />

zulasten des Krankenhauses.<br />

Das ist ein Anreiz, schneller zu arbeiten. Die<br />

durchschnittliche Aufenthaltsdauer wurde zwischen<br />

2000 und 2010 um zwei Tage auf 7,8 Tage verkürzt.<br />

Eroberer: Auf den<br />

Wiesen und Weiden breitet<br />

sich das Kreuzkraut aus S. 38<br />

Was hat in Krankenhäusern Vorrang – der Profi t oder<br />

die Patienten? Einladung zu einer überfälligen Debatte<br />

VON HEIKE FALLER UND CHRISTIANE GREFE<br />

TITELGESCHICHTE<br />

GESUNDHEIT<br />

Krankenhäuser werden<br />

heute wie Unternehmen<br />

geführt, sie wetteifern um<br />

Patienten und lukrative<br />

Therapien. Da bleiben<br />

die Interessen der<br />

Kranken leicht auf der<br />

Strecke (diese Seite).<br />

Fünf Insider schildern,<br />

wie es hinter den<br />

OP-Türen zugeht, und<br />

entwerfen ein Manifest<br />

für eine menschliche<br />

Medizin (Seite 32/33)<br />

Das trug dazu bei, dass die Krankenhausausgaben in<br />

Deutschland seit Jahren stabil bleiben, obwohl die<br />

Bevölkerung älter wird und der medizinische Fortschritt<br />

neue Möglichkeiten bietet.<br />

Zugleich sorgte die Pauschalabrechnung dafür,<br />

dass die Effizienz von Krankenhäusern vergleichbar<br />

wurde und sich der Wettbewerb der Kliniken erhitzte.<br />

Wer es nicht schafft, wirtschaftlich zu arbeiten,<br />

der kann nun überführt werden – und wird früher<br />

oder später fusioniert, privatisiert oder geschlossen.<br />

In den vergangenen Wochen haben die niedergelassenen<br />

Ärzte für höhere Honorare gekämpft.<br />

Auch in Arztpraxen werden Leistungen unterschiedlich<br />

vergütet, und hinter dem Streit mit den Krankenkassen<br />

steht der Unmut vieler Mediziner über<br />

das Abrechnungssystem. Welche Leistungen wie<br />

bezahlt werden, wird in Ausschüssen immer wieder<br />

neu ausgehandelt. So kommt es, dass auch Fachärzte<br />

die Patienten mal zur Akupunktur und mal zur vorsorglichen<br />

Darmspiegelung bitten, je nachdem, was<br />

gerade gesondert honoriert wird.<br />

In den Kliniken aber hat die Steuerung über Fallpauschalen<br />

besonders drastische Folgen: Die Krankenhäuser<br />

suchen sich oft die lukrativsten Patienten<br />

oder Prozeduren heraus (»Cherry Picking«). Der<br />

Anreiz ist gestiegen, das Lohnenswerte – aufwendige<br />

Operationen – häufig zu tun und das Notwendige<br />

zu vernachlässigen, etwa das Gespräch mit den Patienten.<br />

Ältere und gebrechliche Menschen werden<br />

entweder gar nicht erst aufgenommen oder zu früh<br />

nach Hause geschickt, wenn die Kosten ihrer Behandlung<br />

die Fallpauschale übersteigen (»blutige<br />

Entlassung«). Dabei entstehen am Ende womöglich<br />

noch höhere Kosten, die von anderen Systemen getragen<br />

werden. Aber das Krankenhaus erscheint auf<br />

dem Papier wirtschaftlicher.<br />

Die Arbeit in den Häusern hat sich bis in den<br />

letzten Winkel verändert. Pfleger sehen schon an<br />

Farbmarkierungen im Computersystem, ob ein Patient<br />

die Grenzverweildauer überschritten hat und<br />

zum Minusgeschäft geworden ist. Pfleger und Ärzte<br />

verbringen viel mehr Zeit am Rechner. Chef- und<br />

Oberärzte werden über Bonusverträge an betriebswirtschaftlichen<br />

Zielen beteiligt, die auch im Widerspruch<br />

zur angemessenen Behandlung stehen können.<br />

Krankenhäuser würden heute geführt »wie Industrieunternehmen«,<br />

bemängelte jüngst die Deutsche<br />

Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM).<br />

Krankheiten würden »zur Ware, Ärzte zu Anbietern<br />

und Patienten zu abgerechneten Fällen«.<br />

Natürlich sitzen nicht in allen Klinikleitungen<br />

Spekulanten, und schon gar nicht arbeiten alle Ärzte<br />

fahrlässig oder rücksichtslos. Die Mehrheit versorgt<br />

die Kranken weiterhin professionell und verantwortungsvoll.<br />

Aber der Patient kann sich nicht mehr sicher<br />

sein, ob der Arzt, der ihn berät, wirklich nur<br />

seine Heilung im Sinn hat.<br />

Nun könnte man sagen: Das ist doch nicht neu.<br />

In der Geschichte der Medizin gab es – allen Eiden<br />

zum Trotz – stets Quacksalber und Scharlatane, die<br />

nur aufs Geldverdienen aus waren. Und in modernen<br />

Krankenhäusern ging es neben der Genesung<br />

KINDER<strong>ZEIT</strong><br />

Zu Besuch bei einem<br />

Seifenkistenrennen S. 41<br />

stets auch um Profit: Zur Zeit der Tagessätze behielt<br />

man Patienten gern ein paar Tage länger als notwendig<br />

da, um die vorhandenen Betten auszulasten. Privatpatienten<br />

laufen immer schon Gefahr, dass nicht<br />

nur zu viel auf ihre Rechnung gesetzt, sondern auch<br />

zu viel gemessen, durchleuchtet, operiert und verordnet<br />

wird.<br />

Doch offensichtlich erhöhen die neuen Rahmenbedingungen<br />

das Risiko, dass mehr auf die Unternehmensziele<br />

des Krankenhauses als auf das Wohl<br />

der Patienten geachtet wird. Das geschieht oft ganz<br />

unbewusst, weil sich schon eine entsprechende Unternehmenskultur<br />

entwickelt hat. Ärzte folgen kritiklos<br />

den Weisungen ihres Ober- oder Chefarztes,<br />

weil sonst die eigene Karriere gefährdet wäre.<br />

Die Ärzte selbst fordern inzwischen<br />

einen deutlichen Kurswechsel<br />

Mittlerweile aber regt sich Widerstand. Die Deutsche<br />

Gesellschaft für Innere Medizin stellte sich im<br />

Juli gegen »Fehlentwicklungen durch falsche Anreize«.<br />

Bonusverträge, die höhere Fallzahlen oder Umsätze<br />

belobigen, könnten Ärzte zu »großzügigen Indikationsstellungen«<br />

verleiten und »korrumpierbar«<br />

machen, heißt es in der Stellungnahme der DGIM.<br />

Berufsanfänger erlernten eine »falsche Priorisierung<br />

ärztlicher Tätigkeiten«. Das betriebswirtschaftliche<br />

Denken vermindere »in erheblichem Maße die<br />

Möglichkeiten der Anteilnahme und der geduldigen<br />

Zuwendung«. Die DGIM fordert einen deutlichen<br />

Kurswechsel. Doch solche Reformen dauern, und<br />

bis dahin stellt sich die Frage: Ist das alles noch mit<br />

dem Berufsethos des Arztes vereinbar?<br />

Gerade Ärzte haben zu allen Zeiten großen Wert<br />

auf die Selbstverpflichtung ihres Standes gelegt. So<br />

wurde der hippokratische Eid nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg vom Weltärztebund zeitgemäß neu formuliert.<br />

Dieses »Genfer Gelöbnis« betont ausdrücklich,<br />

dass Ärzte ihre Patienten unabhängig von sozialer<br />

Stellung, Geschlecht oder ethnischer, konfessioneller<br />

und politischer Zugehörigkeit behandeln und<br />

ihre medizinischen Kenntnisse auch unter Drohung<br />

nicht »in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit«<br />

anwenden sollen. Der Text ist in Deutschland<br />

der Berufsordnung vorangestellt.<br />

Von Boniverträgen ist im Genfer Gelöbnis noch<br />

keine Rede. Darum geht es in einer Charta of Medical<br />

Professionalism, die von europäischen und amerikanischen<br />

Ärzten erarbeitet und 2002 veröffentlicht<br />

wurde, aber in Deutschland wenig bekannt<br />

und nicht verpflichtend ist.<br />

Braucht es also für das Arbeiten in Krankenhäusern<br />

und Praxen einen neuen Eid? Ein Gelöbnis, das<br />

Ärzten Standfestigkeit und Patienten Sicherheit<br />

gibt? Wir haben einen ehemaligen Chefarzt, einen<br />

Notarzt, eine Krankenschwester, eine Chirurgin<br />

und einen Medizinethiker eingeladen, über diese<br />

Fragen zu diskutieren. Das Ergebnis finden Sie auf<br />

den folgenden Seiten.<br />

A www.zeit.de/audio<br />

HAUTKREBS<br />

Geröstetes Schwein<br />

Rufmord an der Wissenschaft?<br />

Nein, eine Gesundheitskampagne<br />

Auf den ersten Blick war die Täuschung<br />

gut gemacht. Was da unter der Webadresse<br />

http://46.245.180.132 im Netz zu sehen<br />

war, hätte tatsächlich ein geleakter Forschungsbericht<br />

sein können. Die Bilder<br />

waren jedenfalls empörend: Sie zeigten ein<br />

Schwein in einem Versuchslabor, das von<br />

Männern in blütenweißen Kitteln bei lebendigem<br />

Leib mit einer UV-Lampe geröstet<br />

wurde. Seine Haut warf rote Blasen, das<br />

Tier krümmte sich jämmerlich. »Schmerzäußerungen«<br />

und »offene Wundbildung«<br />

verzeichnete das danebenstehende Versuchsprotokoll,<br />

das sich wie durch Zufall<br />

ebenfalls im Netz fand.<br />

Ein besonders herzloses Tierexperiment?<br />

Ein weiterer Beweis für die Skrupellosigkeit<br />

der modernen Wissenschaft? Oder eine Inszenierung<br />

von radikalen Tierschützern?<br />

Weit gefehlt. In Wirklichkeit handelte es<br />

sich um eine gut gemeinte Kampagne der<br />

Deutschen Krebshilfe.<br />

Mithilfe der Werbeagentur Jung von<br />

Matt wollte die Krebshilfe vor allem Jugendliche<br />

über das Risiko von Hautkrebs<br />

aufklären. Schließlich sterben jedes Jahr in<br />

Deutschland rund 3000 Menschen an dessen<br />

Folgen. Und 167 000 Jugendliche unter<br />

18 Jahren zieht es laut Krebshilfe ins<br />

Solarium – obwohl Minderjährigen diese<br />

Art von Schönheitspflege seit 2009 verboten<br />

ist. Diese junge Zielgruppe sollte durch<br />

die frei erfundene Schweinequäl-Webseite<br />

aufgerüttelt werden. Via Face book und<br />

Twitter würde sich die Botschaft per viralem<br />

Marketing im Internet verbreiten, die<br />

Jugendlichen wären geschockt – und würden<br />

danach ernsthaft über ihr eigenes<br />

Hautkrebsrisiko diskutieren. So stellten<br />

sich die Herren bei der Krebshilfe die Sache<br />

vor.<br />

Ein glorioser Irrtum. Zwar wurde der<br />

Link verbreitet und kräftig diskutiert.<br />

Allerdings ging es dabei nicht – wie von der<br />

Krebshilfe erhofft – um die Schädlichkeit<br />

künstlicher UV-Bestrahlung, sondern vielmehr<br />

um die Frage, ob dieser Versuch echt<br />

sein könne oder ob es sich um einen Hoax<br />

handele; und darum, ob Wissenschaftlern<br />

diese Art von Tierversuchen wirklich zuzutrauen<br />

sei.<br />

Dabei agieren die Forscher im Film völlig<br />

stümperhaft und quälen ein Tier ohne<br />

erkennbaren Zweck, denn die schädliche<br />

Wirkung von UV-Strahlen ist längst bewiesen.<br />

Eine schlechtere Imagekampagne für<br />

die Wissenschaft ist kaum vorstellbar.<br />

Doch die Vertreter der Deutschen Krebshilfe<br />

klopfen sich auch noch selbst auf die<br />

Schulter: »Mit dieser Aktion werden wir die<br />

Leute wachrütteln«, schwärmt Hauptgeschäftsführer<br />

Gerd Nettekoven auf rosi-hatschwein-gehabt.de.<br />

Millionen Menschen<br />

hätten das Video gesehen, die Aktion sei ein<br />

voller Erfolg gewesen.<br />

Hat Nettekoven sich vom Werbegeschwätz<br />

von Jung von Matt einwickeln<br />

lassen? Fakt ist: Von den geschminkten<br />

Wunden auf der Haut des Schweins zog bei<br />

Face book und Twitter niemand die Verbindung<br />

zum eigenen Solariumbesuch. In<br />

den Diskussionen im Netz ging es nie um<br />

Hautkrebs. Dafür rückte die Kampagne<br />

ganz offenbar wissenschaftliche Forschung<br />

in ein falsches Licht. Eine Institution, die<br />

auf die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern<br />

angewiesen ist, hätte so etwas nicht zulassen<br />

dürfen.<br />

Vielleicht liegt der Flop ja auch nur daran,<br />

dass niemand das Schwein zurate gezogen<br />

hat. LAURA HENNEMANN<br />

Glück und Glotze<br />

Laut dem Glücksatlas <strong>2012</strong> ist die »Lebenszufriedenheit«<br />

in Deutschland in einem »klaren<br />

Aufwärtstrend«. Hurra! Endlich gute Nachrichten<br />

in krisengeschüttelten Zeiten. Doch auf<br />

Seite 70 des frohgemuten Werkes kommt man<br />

ins Grübeln. Dort geht es um das »Vertrauen<br />

HALB<br />

WISSEN<br />

in Institutionen«. Und<br />

darum steht es schlecht.<br />

Nur jeder Siebte traut<br />

den politischen Parteien<br />

über den Weg. Gerade mal ein Drittel der<br />

Deutschen hält die Bundesregierung für glaubwürdig;<br />

kaum besser weg kommen Kirchen<br />

und Gewerkschaften. Echtes Zutrauen genießen<br />

dagegen Rechtsstaat, Polizei, Bundeswehr<br />

– und das Fernsehen! Dem Geflimmer auf der<br />

Mattscheibe glauben angeblich sogar zwei<br />

Drittel der Deutschen, doppelt so viele wie<br />

ihrer Regierung. Ausgerechnet die größte Illusionsmaschine<br />

als Fels in der Brandung der<br />

Ungewissheit? Der Glücksatlas <strong>2012</strong> wird von<br />

der Deutschen Post herausgegeben. Der können<br />

Sie glauben – vertrauen Sie uns. BEL


32 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Einige von Ihnen haben uns Leserbriefe<br />

geschrieben, in denen Sie die Folgen eines durchökonomisierten<br />

Klinikalltags beklagen. Können<br />

Sie Beispiele erzählen?<br />

Ursula Stüwe: Ich kann Ihnen eines aus meiner<br />

Familie nennen: Da bekam eine junge Frau ein<br />

Kind, das kurz nach der Geburt in die Kinderklinik<br />

verlegt wurde, zur Überwachung wegen angeblicher<br />

Herzgeräusche. Dort sollte es für 48<br />

Stunden bleiben, obwohl es keinen krankhaften<br />

Befund gab. Die Eltern waren natürlich total<br />

beunruhigt. Ich fragte die Ärztin, ob Ihre Entscheidung<br />

vielleicht etwas mit der Mindestverweildauer<br />

zu tun habe. Wenn diese nicht eingehalten<br />

wird, gibt es weniger Geld von der Kasse.<br />

Und in der Tat: die Kollegin konnte keinen medizinischen<br />

Grund nennen.<br />

Susanne Sänger: Man hört im Arbeitsalltag ständig<br />

den Satz: Das machen wir jetzt so, sonst bekommt<br />

die Abteilung kein Geld. Zum Beispiel, wenn ein<br />

Rückenpatient zur Schmerztherapie in der Chirurgie<br />

aufgenommen wird und dort bleibt, obwohl<br />

seine Befunde eher auf eine urologische Erkrankung<br />

hindeuten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie behaupten also, dass in diesen Fällen betriebswirtschaftliche<br />

Ziele der Klinik den Vorrang<br />

vor dem medizinisch Angebrachten haben?<br />

Urban Wiesing: Ich wäre da vorsichtig. Das sind<br />

Einzelfälle, bei denen Sie schlecht nachweisen können,<br />

dass es um ökonomische Einflüsse geht.<br />

Medizin ist nun einmal uneindeutig, sie fordert<br />

komplexe Entscheidungen, die können Sie nie mit<br />

mathematischer Exaktheit fällen.<br />

Paul Brandenburg: Aber in diesem Graubereich<br />

wird tendenziell das gemacht, was vom Haus gewünscht<br />

wird.<br />

Wiesing: Ich glaube trotzdem, dass wir nicht auf<br />

Einzelfälle schauen sollten, sondern auf die generelle<br />

Frage: Werden falsche Entscheidungen getroffen,<br />

weil es seit einigen Jahren Fallpauschalen<br />

gibt, die bestimmte Prozeduren besser honorieren<br />

als andere? Machen wir deswegen in Deutschland<br />

insgesamt zu viel? Führt das Anreizsystem zum<br />

Beispiel dazu, dass zu viel operiert wird?<br />

Brandenburg: Orthopäden sagen immer so schön,<br />

wenn man nur einen Hammer hat, sehen viele<br />

Probleme aus wie ein Nagel. Was man sicher sagen<br />

kann, ist, dass es bestimmte Moden gibt. Im<br />

Moment werden beispielsweise komplexe Herzfrequenzanalysen<br />

besonders gut honoriert. Und<br />

siehe da, die steigen. Oder: In kaum einem anderen<br />

Land wird so viel katheterisiert wie in Deutschland.<br />

Es gibt Kliniken, die man als Notarzt vermeidet,<br />

weil man genau weiß: Wenn sich dort der<br />

Patient einmal an die Brust fasst, kriegt er prompt<br />

einen Herzkatheter. Das ist ein Eingriff, der Leben<br />

retten kann. Aber es gibt eben auch Risiken. Da<br />

wird ein Schnitt in die Leistenarterie gemacht und<br />

dann ein Draht bis zum Herzen geführt. Und natürlich<br />

kann es da Komplikationen geben, man<br />

kann die Gefäße beschädigen, man kann allergische<br />

Reaktionen verursachen, man kann sogar<br />

einen Herzinfarkt auslösen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und deshalb kommt es vor, dass Sie als Notarzt<br />

entscheiden: Diese Klinik fahre ich nicht an,<br />

dort bekommt der Patient vielleicht einen unnötigen<br />

Eingriff?<br />

Brandenburg: Ja. Man kann sich beispielsweise<br />

sicher sein, dass eine vierzigjährige Frau, die fit und<br />

schlank ist und gerade Psychostress hat, höchstwahrscheinlich<br />

keinen Herzinfarkt hat, wenn sie<br />

ein Engegefühl in der Brust verspürt. Da entscheide<br />

ich mich als Notarzt manchmal gegen Klinik A,<br />

weil ich weiß, da heißt es gleich: durchfahren zum<br />

Herzkatheter.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Vielleicht besser, als eine Krankheit unentdeckt<br />

zu lassen?<br />

Brandenburg: Schon – andererseits gibt es Studien,<br />

nach denen bis zu einem Prozent aller Behandelten<br />

an diesem Eingriff sterben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie bitte?<br />

Brandenburg: Natürlich ist diese scheinbar hohe<br />

Zahl auch der Tatsache geschuldet, dass die Patienten<br />

in der Regel schwer krank sind – es gibt also<br />

keinen Grund, Angst vor einer solchen Unter-<br />

suchung zu haben. Aber die Indikation muss eben<br />

sorgfältig gestellt werden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und das wird sie nicht?<br />

Wiesing: Wir beobachten in den vergangenen Jahren<br />

tatsächlich eine Zunahme bestimmter Eingriffe,<br />

die wir nicht medizinisch erklären können,<br />

auch nicht mit der älter werdenden Bevölkerung.<br />

Wir sind Weltmeister im Katheterisieren, bei<br />

Endo prothesen – dabei leben wir überhaupt nicht<br />

länger als andere Nationen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Haben Sie auch schon selbst Entscheidungen<br />

getroffen, von denen Sie sagen würden: Da<br />

hab ich mich zu sehr von ökonomischen Kriterien<br />

leiten lassen?<br />

Brandenburg: Ganz ehrlich? Ja, das ist so. Ich würde<br />

allerdings für mich und die meisten meiner<br />

Kollegen in Anspruch nehmen, dass das ausschließlich<br />

in Bereichen passiert ist, wo es dem<br />

Patienten nicht geschadet hat. Im Rettungswesen,<br />

das ist ein offenes Geheimnis, ist der Großteil der<br />

Fahrten völlig unsinnig. Trotzdem wird der Patient<br />

fast immer transportiert. Warum? Weil es Geld<br />

gibt. Der Rettungsdienst hat nach<br />

meiner Erfahrung meist die klare<br />

Order vom Wachleiter: Wenn ihr<br />

dahin fahrt, nehmt ihr den mit.<br />

Michael Scheele: Ein anderes Beispiel:<br />

Ein Kreißsaal ist irgendwann<br />

mal überlastet. Wenn das Krankenhaus<br />

dennoch weitere Schwangere<br />

annimmt, hat das oft auch<br />

einen ökonomischen Hintergrund.<br />

Es kam zum Beispiel schon<br />

vor, dass Zwillinge auf der Station<br />

im Badezimmer zur Welt kamen.<br />

Natürlich steht dort nicht das ganze<br />

Equipment eines Kreißsaals zur<br />

Verfügung. Da kämpft man als<br />

Chefarzt ständig mit der Grenze:<br />

Was ist wirklich nicht mehr verantwortbar,<br />

und was müssen wir<br />

machen? Wir brauchen schließ-<br />

lich Geburten.<br />

Wiesing: Das ist sicher nicht<br />

schön, Herr Scheele, aber wir<br />

müssen uns auch darüber im Klaren<br />

sein, dass die Mehrheit der<br />

Weltbevölkerung froh wäre, wenn<br />

sie überhaupt so ein Badezimmer<br />

hätte. Also, da wäre ich etwas zurückhaltender.<br />

Aber dass laut der<br />

Techniker Krankenkasse 80 Prozent<br />

der Rückenoperationen überflüssig<br />

sind: Das ist für mich ein<br />

Skandal. Oder dass es mittlerweile<br />

eine Gruppe von ehemaligen<br />

Knieoperateuren gibt, die sich zusammengeschlossen<br />

haben, um<br />

Patienten eine Zweitmeinung zu geben, weil sie<br />

finden, es werde zu viel am Knie operiert: Das ist<br />

doch genauso gut ein Skandal. Ebenso, dass wir in<br />

Europa die größte Dichte an Herzkathetern haben,<br />

aber nicht herzgesünder sind.<br />

Sänger: Ich denke jedenfalls, dass man sich, wenn<br />

man ein Krankenhaus betritt, darüber im Klaren<br />

sein muss, dass die medizinischen Entscheidungen<br />

der Ärzte von ökonomischen Gesichtspunkten<br />

beeinflusst sein können. Als Patient kann ich nicht<br />

ohne Weiteres davon ausgehen, dass die Entscheidung<br />

so ausfällt, wie es für mich das Beste wäre.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Warum machen Sie als Ärzte da mit? Keiner<br />

kann Sie zwingen, unnötige Behandlungen vorzunehmen<br />

...<br />

Stüwe: Ich bin seit 1965 in deutschen Krankenhäusern<br />

tätig, insofern überblicke ich viele Jahre.<br />

Die Einführung der Fallpauschalen im Jahr 2003<br />

war für mich tatsächlich der Wendepunkt. In einer<br />

mir bekannten Klinik wurde damals beispielsweise<br />

ein neuer Operationstrakt eingerichtet, der sollte<br />

sich natürlich rentieren. Da setzen sich dann die<br />

Ökonomen hin und rechnen aus: Wenn man pro<br />

Tag etwa 35 Gallen operiert, dann ist der neue<br />

Trakt rentabel. Das wird auch den Ärzten so kommuniziert.<br />

Damit beginnt der Konflikt zwischen<br />

Ökonomie und Medizin. Denn Gallen wachsen ja<br />

TITELGESCHICHTE: Geld oder Leben<br />

nicht auf Bäumen. Die Folge: Unklare Oberbauchbeschwerden<br />

bei vorhandenem Gallenstein führen<br />

dann eben etwas schneller zur Operation.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Aber irgendjemand muss ja die Indikation<br />

stellen. Wie bringt man Ärzte dazu?<br />

Brandenburg: Sagen wir, eine Klinik hat sich gerade<br />

zum Darmexzellenzzentrum erklärt. Der Chefarzt<br />

weiß: Er muss jetzt soundso viele Betten mit<br />

Patienten zur stationären Darmspiegelung belegen.<br />

Der Oberarzt kennt die Zielzahlen, und der<br />

Assistent erfährt vom Oberarzt, was gewünscht<br />

wird. Unter vier Augen wird klar gesprochen.<br />

Dann heißt es: Hör zu, wir haben hier Vorgaben,<br />

wir brauchen X-hundert Darmspiegelungen, die<br />

müssen reinkommen. Der Assistent weiß auch:<br />

Wenn ich dem Oberarzt noch einen Patienten zuspiele,<br />

steigen meine Chancen, dass ich die Untersuchung<br />

machen darf, die ich für meine Weiterbildung<br />

brauche. Und weil man eine Problematik<br />

meistens unterschiedlich deuten kann, tendiert<br />

man vielleicht zu einer invasiven Diagnostik, die<br />

man in manchen Fällen auch durch Abwarten und<br />

Beobachten hätte lösen können. Dabei ist die Prozedur<br />

der Darmspiegelung nicht ohne: In zwei von<br />

tausend Fällen wird dabei der Darm perforiert.<br />

Ohne dass die Klinikleitung in dem konkreten Fall<br />

den Eingriff angeordnet hätte.<br />

Wiesing: Genau, Herr Brandenburg, das ist ganz<br />

wichtig. Kaum ein Geschäftsführer ist so töricht,<br />

zum Arzt zu gehen und sich direkt in medizinische<br />

Entscheidungen einzumischen.<br />

Scheele: Einspruch. Es gibt Klinikdirektoren, die<br />

machen das. Ich kenne Beispiele, da staunen Sie.<br />

Wiesing: Was ich sagen will, ist, dass das in der<br />

Regel subtil läuft. Zumal jeder Mitarbeiter ja selbst<br />

am Fortbestand des Krankenhauses interessiert ist.<br />

Scheele: Das stimmt. Die Angst, das Haus könnte<br />

schließen, ist bei den Mitarbeitern allgegenwärtig.<br />

Wenn die Leistungszahlen sinken, dann wird das<br />

deutlich kommuniziert: Wir haben die Planzahlen<br />

nicht erreicht. Wenn das so weitergeht, müssen wir<br />

die Mittel kürzen.<br />

Wiesing: Aber da muss man auch Ross und Reiter<br />

benennen. Jeder weiß, dass wir zu viele Krankenhäuser<br />

in Deutschland haben. Jeder weiß, dass wir<br />

einen Überlebenswettbewerb haben, der nicht<br />

über den medizinischen Nutzen läuft, sondern<br />

darüber, wer schwarze Zahlen schreibt. Das heißt:<br />

Die Häuser, die sich halten, sind nicht die guten,<br />

nicht die notwendigen, sondern die finanziell erfolgreichen.<br />

Die Politik wagt es aber nicht, inhaltlich<br />

einzugreifen, sondern sie macht einen<br />

Überlebenswettbewerb über Rentabilität. Das ist<br />

der politische Hauptgrund. Das geht beim Bürgermeister<br />

los, der nicht wiedergewählt wird,<br />

wenn er sein Krankenhaus schließt. Und das hört<br />

bei den Wählern auf, die vor Ort behandelt werden<br />

wollen.<br />

Brandenburg: Aber wir sind ja nun mal alle nicht<br />

aus der Politik, und die Frage ist doch: Warum<br />

machen wir es mit? Warum halten die Ärzte alle<br />

die Klappe?<br />

Scheele: So einfach ist das nicht.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wieso nicht?<br />

Scheele: Ich war seit 1995 Chefarzt in einem Perinatalzentrum<br />

Level 1, also einer Geburtshilfe, die<br />

auf höchste Risiken ausgelegt ist. Die Geschäftsleitung<br />

wollte offene Schichten mit Honorarärzten<br />

besetzen; das sind Ärzte, die keine festen Verträge<br />

haben und kurzfristig einspringen. Es wurde dann<br />

eine Kollegin engagiert, die noch nie bei uns gear-<br />

beitet hat. Sie müssen sich vorstellen: Da kommt<br />

eine Ärztin in eine Nachtschicht, die total alleine<br />

ist, sich nicht auskennt und die dann in einer Risikogeburtshilfe<br />

vor Ort die Entscheiderin sein soll.<br />

Daraufhin habe ich protestiert, weil ich der Meinung<br />

war, dass ich damit meine Patienten gefährde.<br />

Abgesehen davon gibt es Leitlinien, in denen<br />

eindeutig steht, dass ein Chefarzt einen Facharzt<br />

nicht einsetzen darf, ohne zu überprüfen, ob dieser<br />

Mensch das auch kann. Deshalb habe ich eine<br />

zweiwöchige Einarbeitungszeit gefordert. Und da<br />

ist das passiert, was Sie nicht für möglich gehalten<br />

haben, Herr Wiesing: Der Klinikdirektor hat den<br />

Dienstplan angeordnet.<br />

Wiesing: Das ist seine Aufgabe.<br />

Scheele: Ja, aber aus fachlicher Sicht sage ich, der<br />

Dienstplan ist so nicht machbar, weil er Patienten<br />

gefährdet. Das ist meine Pflicht. Patienten sind<br />

wichtiger als Profit. Ich habe dann den Kreißsaal für<br />

diese Zeiten von der öffentlichen Notfallversorgung<br />

abgemeldet, worüber sich die Behörde bei der Klinikleitung<br />

beschwerte. Es kann nicht sein, dass der<br />

medizinische Sachverstand des Chefarztes vom Klinikdirektor<br />

überstimmt wird. Und wenn das so ist,<br />

muss der Chefarzt handeln. Über die Konsequenzen<br />

muss er sich allerdings im Klaren sein.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was waren die Konsequenzen?<br />

WISSEN<br />

»Klappe halten<br />

und wegsehen«<br />

So kennen sie den Alltag im Medizinbetrieb. Sie haben erfahren,<br />

dass manchmal der Profi t wichtiger als das Wohl des Patienten ist.<br />

Ein Gespräch über das, was sich in Krankenhäusern ändern muss<br />

Paul Brandenburg<br />

Dr. Paul Brandenburg, 34, ist<br />

Facharzt für Allgemein- und<br />

Notfallmedizin. Seine Ausbildung<br />

zum Chirurgen hat er<br />

abgebrochen und ist in die<br />

Notfallmedizin gewechselt.<br />

Heute arbeitet er selbstständig<br />

für verschiedene Krankenhäuser<br />

Ursula Stüwe<br />

Dr. Ursula Stüwe, 65, war zunächst<br />

Krankenschwester und<br />

dann Chirurgin in einem<br />

kommunalen Krankenhaus in<br />

Wiesbaden. Von 2004 bis<br />

2008 war sie Präsidentin der<br />

Landesärztekammer Hessen<br />

und Stellvertretende Vorsitzende<br />

der Ärztegewerkschaft<br />

Marburger Bund, Hessen<br />

Urban Wiesing<br />

Prof. Dr. Dr. Urban Wiesing,<br />

54, ist Arzt und Philosoph. Er<br />

leitet das Institut für Ethik<br />

und Geschichte der Medizin<br />

an der Universität Tübingen<br />

Susanne Sänger<br />

Susanne Sänger, 51, arbeitet<br />

seit 23 Jahren als Krankenschwester,<br />

überwiegend auf<br />

chirurgischen Stationen<br />

Scheele: Ich darf das juristisch nicht in einen Zusammenhang<br />

stellen, aber Arbeitgeber wissen ja,<br />

wie sie unliebsame Mitarbeiter mürbe kriegen.<br />

Solche Mitarbeiter haben eine schlechtere Verhandlungsposition<br />

bei der Stellenvergabe, der Ton<br />

in Verhandlungen wird feindselig, gleichzeitig wird<br />

einem vorgeworfen, nicht konstruktiv zu sein.<br />

Man verliert die ganze Arbeitsfreude. Das können<br />

Sie dann nur mit einem guten Anwalt und einem<br />

guten Coach überstehen. Irgendwann habe ich<br />

einer Vertragsauflösung zugestimmt.<br />

Wiesing: Sind Sie sicher, dass bei Ihnen wirklich<br />

Patienten gefährdet gewesen wären?<br />

Scheele: Ja. Wenn diese Kollegin uneingearbeitet<br />

auf einen Notfall getroffen wäre, dann wäre das<br />

schiefgegangen.<br />

Wiesing: Vielleicht stellt sich dann die Klinikleitung<br />

eben stur und sagt: Wofür gibt es einen<br />

Facharzt-Titel?<br />

Scheele: Natürlich kann eine Fachärztin eine einfache,<br />

normale Geburt betreuen, aber hier handelt<br />

es sich um Notfälle in einer Hochrisikogeburtshil-<br />

Michael Scheele<br />

Dr. Michael Scheele, 61, war<br />

16 Jahre lang Chefarzt in der<br />

Geburtshilfe eines städtischen<br />

Krankenhauses in Hamburg,<br />

das 2004 privatisiert wurde.<br />

Risikomanagement war einer<br />

seiner Schwerpunkte. Er schied<br />

2011 aus und arbeitet seither<br />

als Gutachter. Im Deutschen<br />

Ärzteorchester spielt er Geige<br />

fe, wo man innerhalb von Minuten die richtige<br />

Entscheidung treffen muss. Das kann nur, wer die<br />

Erfahrung hat. Wenn jemand die Örtlichkeiten<br />

nicht kennt, nicht weiß, wen er ansprechen muss,<br />

dann geht das nicht – so wie sich ein Flugkapitän<br />

ja auch nicht in ein ihm völlig fremdes Flugzeug<br />

setzt. Deshalb fordern die Leitlinien eine Einarbeitungszeit.<br />

Damit kommen wir aber an einen<br />

entscheidenden Punkt: Wer entscheidet, was<br />

rechtens ist? Da gibt es eine Arbeitsgemeinschaft<br />

für Medizinrecht, die stellt Leitlinien auf. Die<br />

sind rechtlich aber nicht bindend, sagte mir der<br />

Klinikdirektor, als ich mich darauf berief. Wenn<br />

jedoch etwas schiefgeht und Sie als Chefarzt vor<br />

Gericht landen, werden Sie an den Leitlinien gemessen.<br />

Und dann können Sie auch nicht argumentieren,<br />

dass die Geschäftsführung sich nicht<br />

daran halten wollte.<br />

Wiesing: Sie können sich aber auf die Berufsordnung<br />

beziehen, in der explizit steht, dass ein Arzt<br />

sich nicht von Nichtärzten in seinen medizinischen<br />

Entscheidungen beeinflussen lassen darf.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Hat die Berufsordnung, hat das Genfer Gelöbnis,<br />

in dem Sie in feierlichen Worten versprechen,<br />

das Patientenwohl über alles zu stellen, denn<br />

noch eine Bedeutung? Oder ist das einfach ein<br />

Stück Papier, das im Alltag keine Rolle spielt? Be-<br />

Foto [M]: Benno Kraehahn für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>


WISSEN TITELGESCHICHTE: Geld oder Leben<br />

rufsanfänger bekommen es ziemlich profan mit<br />

der Post zugeschickt ...<br />

Wiesing: Letztlich ist das Gelöbnis ja die Präambel<br />

der Berufsordnung. Ich glaube, dass beide den<br />

Ärzten starke Argumente für ihre Entscheidungen<br />

bieten und dass darin auch ein Arzt ethos ausgedrückt<br />

ist, das im Kern unumstritten ist. Ich glaube<br />

nicht, dass wir die Berufsordnung neu schreiben<br />

müssen. Wir müssen uns daran erinnern.<br />

Brandenburg: Allerdings muss man auch ein Umfeld<br />

haben, in dem das möglich ist, ohne sofort<br />

Repressalien zu bekommen.<br />

Scheele: Was mir in der Tat gefehlt hat, war die<br />

Solidarität der anderen Chefärzte.<br />

Wiesing: Also, liebe Chefärzte: Habt Mut, euch<br />

des Berufsethos zu bedienen!<br />

Brandenburg: Vergessen Sie es. Im Gegenteil, wir<br />

haben in der Ärzteschaft eine besonders ausgeprägte<br />

Kultur des Klappehaltens und Wegsehens.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Woher rührt diese Kultur, die Sie da sehen?<br />

Brandenburg: Der Arztberuf ist von Anfang an ein<br />

Verdrängungswettkampf. Ich muss dem Chef ge-<br />

fügig sein, am besten in vorauseilendem Gehorsam,<br />

sonst krieg ich meinen für den Facharzt notwendigen<br />

Operationsplan nicht voll. Das ist ein<br />

Weiterbildungssystem aus dem Mittelalter, ein<br />

absolutes Machtinstrument, mit dem der Weiterbildungsermächtigte<br />

den Assistenten völlig in<br />

seiner Abhängigkeit hält. Ein solcher Assistent<br />

kritisiert nichts in seinem Haus.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was hätte er denn zu befürchten?<br />

Brandenburg: In meiner Zeit als chirurgischer Assistenzarzt<br />

habe ich einmal kritisch nachgefragt, ob<br />

denn eine risikoreiche Leber-Lebendspende einer<br />

30-jährigen Frau und zweifachen Mutter ethisch<br />

vertretbar sei. Die Leber sollte ihrem todgeweihten<br />

Ehemann transplantiert werden. Der Patient litt<br />

unter einem überaus bösartigen Tumor der Gallenwege,<br />

die Frau wollte eigentlich nicht spenden,<br />

ließ sich dann aber von ihrem verängstigten Mann<br />

zu der Operation drängen. Die verantwortlichen<br />

Chirurgen haben ihm diese prestigeträchtige Operation<br />

als realistische Heilungschance verkauft.<br />

Damals warnte mich ein wohlmeinender Oberarzt:<br />

Noch so eine Nachfrage – und du gehst.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und? Sind Sie rausgeflogen?<br />

Brandenburg: Ich bin auf eigenen Wunsch gegangen.<br />

Meine chirurgische Ausbildung habe ich irgendwann<br />

abgebrochen, um lieber als Notarzt zu<br />

arbeiten. Das ist übrigens kein seltener Weg: Wer<br />

in diesen Hierarchien nicht mehr arbeiten will,<br />

endet außerhalb der Klinik, als Honorararzt oder<br />

niedergelassener Arzt. Viele von denen, die bleiben,<br />

schalten dagegen irgendwann das kritische<br />

Reflektieren aus und erwarten das später auch von<br />

ihren Untergebenen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was müsste sich strukturell ändern?<br />

Brandenburg: Evaluiert die Weiterbildung, macht<br />

die Ausbildungskriterien auch für den Weiterbildner<br />

verbindlich, und schafft unabhängige Instanzen,<br />

die diesen prüfen können.<br />

Stüwe: Die Ärztekammern müssten sich unbeliebt<br />

machen und zum Beispiel die Kataloge, die von<br />

den Assistenten vorgelegt werden, nachprüfen. Im<br />

Moment geschieht das nur stichprobenartig.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Herr Scheele, was hätte Ihnen, außer mutigeren<br />

Kollegen, denn geholfen, sich an Ihre Berufsordnung<br />

zu halten, ohne einen so hohen persönlichen<br />

Preis zu zahlen?<br />

Scheele: Wenn es beispielsweise ein Gremium<br />

gegeben hätte, das in Kenntnis der Lage gesagt<br />

hätte: Das kann man so machen – oder eben<br />

nicht. Davon hätte ich mich ja womöglich überzeugen<br />

lassen.<br />

Brandenburg: Ich finde, der Ruf nach Institutionen<br />

ist falsch. Es ist eine Kulturfrage, da muss ein<br />

Wandel kommen. In Ihrem Fall hätten alle, einschließlich<br />

der Assistenzärzte, aufstehen müssen<br />

und sagen: So geht das nicht, ohne uns.<br />

Scheele: Es gab 35 Chefärzte in diesem Haus<br />

– und fünf haben für mich erkennbar zu mir gestanden;<br />

zwei unter Inkaufnahme persönlicher<br />

Nachteile. Der Rest hat geschwiegen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Mutigere Ärzte einzufordern ist wohl so<br />

ähnlich, wie von Bankern Bescheidenheit zu verlangen.<br />

Was hätte Ihnen institutionell geholfen,<br />

Herr Scheele?<br />

Scheele: Wenn ich einen Ansprechpartner gehabt<br />

hätte, an den ich mich hätte wenden können,<br />

ohne dass man mir den Vorwurf gemacht hätte,<br />

ich verrate Betriebsgeheimnisse.<br />

Stüwe: Auch da müssten die Ärztekammern noch<br />

viel stärker in Erscheinung treten!<br />

Scheele: Sie müssten nicht nur Ärzten den Rücken<br />

stärken, sondern auch vom Krankenhausträger anerkannt<br />

sein. Eine Art Schiedsstelle.<br />

Brandenburg: An der verkorksten Kultur ändern<br />

solche Gremien aber leider nichts.<br />

Wiesing: Ich wäre da nicht so pessimistisch. In der<br />

heutigen Arbeitswelt ist Supervision keine Seltenheit.<br />

So etwas Ähnliches wäre das ja hier: Wir<br />

wenden uns einer dritten Person zu, stellen uns<br />

neben das Problem und berichten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Der Interessenkonflikt zwischen Arzt und<br />

Klinikleitung ist inzwischen oft internalisiert.<br />

Viele Chef- und Oberärzte sind über Bonusverträge<br />

selbst am wirtschaftlichen Erfolg des Hauses<br />

be teiligt.<br />

Wiesing: Die Frage ist, welche Boni akzeptabel<br />

sind. Meiner Meinung nach gibt es viele unschädliche<br />

Anreize: Wenn der Chefarzt es schafft, die<br />

Wartezeiten für Patienten zu reduzieren, dann ist<br />

das in Ordnung.<br />

Stüwe: Die Forderung wäre ganz einfach: keine<br />

Boni, die auf Fallzahlsteigerungen gründen. Man<br />

kann Boni für die Patientenzufriedenheit bekommen<br />

oder für die Zufriedenheit der Weiterbildungsassistenten<br />

– aber nicht für die Steigerung<br />

der Fälle und dann mit fragwürdigen Indikationen<br />

den Patienten auf den OP-Tisch legen. Das hat<br />

Manifest für eine menschliche Medizin *<br />

1.<br />

Ärzte<br />

Dauerkonflikt zwischen<br />

und Ärztinnen<br />

befinden sich in einem<br />

dem Wohl des Patienten und<br />

den wirtschaftlichen Zielen der<br />

Klinik. Wenn ein Arzt sich in<br />

einem konkreten Fall, seinem<br />

Gewissen folgend, gegen die<br />

Klinik stellt, darf er nicht allein<br />

gelassen werden. Ärztekammern<br />

sollen Ärzten, die sich<br />

gegen ökonomische Vorgaben<br />

der Klinik wenden, den Rücken<br />

stärken. Sie sollen<br />

Schiedsstellen einrichten, vor<br />

denen Konflikte ausgetragen<br />

werden können.<br />

2.<br />

Ärzte<br />

willig ökonomischen<br />

und Ärztinnen<br />

ordnen sich zu bereit-<br />

und hierarchischen Zwängen<br />

unter und verlieren dabei mitunter<br />

das Wohl des Patienten<br />

aus dem Auge. Es gibt in deutschen<br />

Krankenhäusern eine<br />

Kultur des vorauseilenden Gehorsams,<br />

die durch eine übermäßige<br />

Abhängigkeit der Assistenzärzte<br />

von Ober- und<br />

Chefärzten während ihrer<br />

Weiterbildungszeit gefördert<br />

wird. Deshalb sollen Weiterbildungskataloge<br />

für Chefärzte<br />

verbindlich gemacht werden.<br />

Die Ärzte kammern sollen<br />

diese überprüfen.<br />

3.<br />

Der<br />

ist es nicht, Renditeer-<br />

vorrangige Zweck<br />

von Krankenhäusern<br />

wartungen zu befriedigen. Die<br />

Ökonomie soll der Medizin<br />

dienen, nicht umgekehrt. Bonusverträge,<br />

die ärztliche Entscheidungen<br />

beeinflussen, sind<br />

deshalb unethisch.<br />

4.<br />

Ärzte<br />

mit Patienten und zu<br />

und Pfleger verbringen<br />

zu wenig Zeit<br />

viel Zeit mit Dokumentation<br />

und berufsfremden Tätigkeiten.<br />

Ihre Arbeit soll von fachfremden<br />

Aufgaben entlastet<br />

werden.<br />

5.<br />

Nicht<br />

verstehen – Ökono-<br />

nur Ärzte müssen<br />

die Ökonomie<br />

men müssen auch die medizinische<br />

Seite im Blick haben.<br />

Deshalb gehört zur Ausbildung<br />

von Gesundheitsökonomen<br />

ein Pflichtpraktikum<br />

auf Station.<br />

6.<br />

Gesprächsschulung<br />

und Supervision sollen<br />

fester Bestandteil der<br />

Arbeit sein.<br />

7.<br />

Auch<br />

Gesundheitssystem be-<br />

Patienten können<br />

dazu beitragen, dass das<br />

zahlbar bleibt. Durch eine<br />

transparente Darstellung der in<br />

Anspruch genommenen Leistungen<br />

und durch Selbstbeteiligung<br />

können Kosten gespart<br />

werden.<br />

* Dieses Manifest haben die Teilnehmer<br />

des <strong>ZEIT</strong>-Gesprächs –<br />

Susanne Sänger, Ursula Stüwe,<br />

Paul Brandenburg, Michael<br />

Scheele und Urban Wiesing –<br />

gemeinsam formuliert.<br />

Es soll eine Debatte über das<br />

gegenwärtige Gesundheitssystem<br />

anregen.<br />

Sie können sich auf<br />

facebook.com/medizinermanifest<br />

an der Diskussion beteiligen<br />

übrigens gerade auch die Deutsche Gesellschaft<br />

für Innere Medizin gefordert. Da kann ich mich<br />

nur anschließen.<br />

Wiesing: Also: kein Anreizsystem, das direkt oder<br />

indirekt die ärztliche Entscheidung beeinflusst!<br />

Die Ökonomie hat der Medizin zu dienen – nicht<br />

umgekehrt.<br />

Scheele: Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das System der Fallpauschalen wurde ja<br />

eingeführt, damit die Krankenhauskosten nicht<br />

steigen. Wie soll man stattdessen sparen?<br />

Brandenburg: Die Frage ist doch: Warum steigen<br />

die Kosten? Es sind ja nicht die wenigen schwer<br />

kranken Menschen auf den Intensivstationen,<br />

die das deutsche System so teuer machen. Es sind<br />

Lappalien: wenn Leute den Rettungsdienst rufen,<br />

weil ihr Kind gestolpert ist und einen blauen<br />

Fleck hat, und die dann im Krankenhaus noch<br />

eine Computertomografie verlangen. Was wir<br />

Krankenkasse nennen, ist auch ein Umlagesystem<br />

für die Folgen unserer überhöhten Anspruchshaltung.<br />

Stüwe: ... und die Kassen hatten ja auch eine<br />

Zeitlang viel Geld und haben diese Einstellung<br />

gefördert.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das heißt: Auch die Patienten tragen Verantwortung?<br />

Brandenburg: Ja, jeder Patient sollte eine Rechnung<br />

kriegen. Nicht nur die Privatpatienten. Momentan<br />

kann ein gesetzlich versicherter Patient gar<br />

nicht wissen, welche Kosten er generiert. Ich sage<br />

dem Patienten, der sich nachts um vier wegen<br />

langjährig bestehendem Rückenschmerz abholen<br />

lässt: Wissen Sie, dass das 400 Euro gekostet hat?<br />

Die Privatpatienten kommen nicht so schnell, weil<br />

sie etwa 150 Euro erst mal selbst bezahlen müssen.<br />

Stüwe: Warum fordert man keine Selbstbeteiligung,<br />

ähnlich wie bei Privatversicherten? Das kann<br />

man auch sozial gerecht gestalten.<br />

Scheele: Stimmt – wobei man auch sagen muss,<br />

dass sich kein Arzt mehr traut, den Patienten ohne<br />

irgendeine Prozedur oder Tablette wieder nach<br />

Hause zu schicken.<br />

Sänger: Wenn man das im Gespräch ausführlich<br />

begründet, akzeptiert der Patient das auch. Wir<br />

müssen an dieser Stelle aber über das Thema Zeit<br />

reden. In deutschen Krankenhäusern haben wir<br />

kaum Zeit für ein ausführliches Gespräch und<br />

stehen tagtäglich vor der Frage: Machen wir Papier-<br />

oder Patientenpflege?<br />

Wiesing: Richtig, wir haben eine<br />

höhere Arbeitsverdichtung, sowohl<br />

beim Pflegepersonal als auch<br />

bei den Ärzten. Das hat aber auch<br />

Vorteile ...<br />

Brandenburg:... und die wären?<br />

Wiesing: Jeder Arzt, der rumsitzt<br />

und nichts tut, wird bezahlt – das<br />

ist Verschwendung.<br />

Sänger: Das ist aber lange her.<br />

Wiesing: Dennoch: Früher gab es<br />

das. Und da haben die Ärzte und<br />

Schwestern in der freien Zeit keineswegs<br />

immer nur mit den Patienten<br />

gesprochen. Ich glaube,<br />

man muss den Arztberuf auf arztspezifische<br />

Tätigkeiten konzentrieren<br />

und die Ärzte und Pfleger<br />

von Bürokratie entlasten.<br />

Sänger: Früher haben wir Schwestern<br />

jedenfalls nicht alle möglichen<br />

Dienstleister kontrollieren<br />

müssen. Und kaum hat man sich<br />

mit einem eingearbeitet, wird der<br />

schon wieder ausgetauscht, weil<br />

ein anderer ein Angebot macht,<br />

das billiger ist – auf dem Papier.<br />

Brandenburg: Oder die Schwestern<br />

teilen mittags Essen aus. Und<br />

niemand merkt, wenn einer aus<br />

dem Bett fällt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das heißt: zusätzliche Stellen?<br />

Wiesing: Nein, aber differenzierte<br />

und angemessene Stellen.<br />

Sänger: Wobei ich das Essenverteilen als pflegerische<br />

Tätigkeit ansehe. Als Schwester muss ich einen<br />

Überblick haben, ob und wie viel ein Patient isst<br />

und welche Hilfe er dabei benötigt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Welche Tätigkeiten würden sie delegieren<br />

wollen, Frau Sänger?<br />

Sänger: Putzen zum Beispiel. Ich bin der Meinung,<br />

dass eine Station von einer gewissen Größe eine<br />

ganztägig beschäftigte Putzfrau benötigt – gerade<br />

in Zeiten von resistenten Keimen.<br />

Brandenburg: Oder einen Transportdienst! Stattdessen<br />

schieben Schwestern mit zwanzig Jahren<br />

Berufserfahrung Patienten durchs Krankenhaus.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wir reden hier die ganze Zeit darüber, wie<br />

man sich innerhalb der Rahmenbedingungen besser<br />

arrangiert – wieso versuchen Sie nicht, daran<br />

etwas zu ändern? Müssten die Krankenhausärzte<br />

nicht stärker politisch aktiv sein?<br />

Stüwe: Das wäre schön. Die Ärzte haben sich die<br />

Fallpauschalen einfach überstülpen lassen. Viele<br />

haben sich halt auch gefreut, dass Abläufe effizienter<br />

wurden. Aber das Problem sollte nicht allein bei der<br />

Ärzteschaft hängen bleiben. Auch ein Krankenhausgeschäftsführer<br />

sollte die ethischen Ansprüche unseres<br />

Berufes kennen. Wenn die Ökonomen so viel<br />

von Medizin verstehen würden wie die Ärzte von<br />

Ökonomie, wäre die Ko ope ra tion sicher leichter.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 33<br />

»Es gibt Kliniken, die man als Notarzt vermeidet«, sagt der Arzt<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie wollen Sie das erreichen? Mit einem<br />

Pflichtpraktikum auf Station für die Controller?<br />

Stüwe: Manche machen das ja freiwillig. So ein<br />

Praktikum gehört in die Ausbildung jedes Krankenhausökonomen.<br />

Wiesing: Aber das ist doch wie in der Politik:<br />

Nicht jeder Verteidigungsminister muss im Krieg<br />

gewesen sein, nicht jeder Ernährungsminister<br />

einen Bauernhof geführt haben. Bei einer komplexen<br />

Rollenverteilung ist es nur wichtig, die<br />

Rolle richtig auszuführen.<br />

Stüwe: Das Verständnis würde gefördert!<br />

Scheele: Eine Kenntnis des ärztlichen Ethos wäre<br />

schon wichtig. Der Meister zeigt sich darin, dass er<br />

weiß, was er nicht kann.<br />

Wiesing: Entscheidend ist, dass er sich nicht einmischt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Einmal aus Sicht des misstrauischen Patienten<br />

gefragt: Was muss ich beachten, damit ich in<br />

einem Krankenhaus gut behandelt werde?<br />

Brandenburg: Fragen Sie einen Arzt, der diese Prozedur<br />

nicht selbst durchführt! Gehen Sie im Falle<br />

einer Hüftoperation noch zu einem konservativen<br />

Orthopäden. Das bietet keine absolute Sicherheit,<br />

aber Sie haben zumindest den Faktor ausgeschaltet,<br />

dass der Arzt von Ihrer Operation profitiert.<br />

Wiesing: Fragen Sie so lange, bis Ihr Fragebedürfnis<br />

gestillt ist. Und wenn eine Klinik nicht gewillt<br />

ist, Ihre Fragen zu beantworten, gehen Sie zur<br />

nächsten!<br />

Scheele: Die Zeit dafür muss da sein. Und wenn<br />

sie nicht da ist, würde ich das als schlechtes Zeichen<br />

werten – vorausgesetzt, es geht um nichts<br />

Akutes. Sehr häufig fürchten die Patienten: Wenn<br />

ich aufsässig bin, rächen die sich an mir. Aber das<br />

muss man Ihnen zugestehen, Sie sind ja auch ein<br />

bisschen Kunde. Das muss ein Team aushalten.<br />

Das wäre übrigens noch eine Forderung: Gesprächsschulung.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Gibt es noch andere Anhaltspunkte für eine<br />

gute Klinik? Bin ich zum Beispiel in einem konfessionellen<br />

Krankenhaus sicherer als in einem<br />

öffentlichen oder privaten?<br />

Stüwe: Grundsätzlich: Nein.<br />

Scheele: Der gnadenlose Verdrängungskampf auf<br />

Kosten der Patienten tobt in jedem einzelnen<br />

Krankenhaus.<br />

Wiesing: Es gibt in Deutschland keine objektiven<br />

Daten wie in anderen Ländern. Man kann dem<br />

Patienten nichts anderes empfehlen, als zu fragen,<br />

und wenn er sich nicht aufgehoben fühlt, wieder<br />

zu gehen.<br />

Scheele: Reden Sie mit dem einweisenden Arzt.<br />

Der kennt die Krankenhäuser in seiner Umgebung.<br />

Fragen Sie ruhig: Wo würden Sie Ihre<br />

Mutter hinschicken?<br />

Das Gespräch führten HEIKE FALLER<br />

und CHRISTIANE GREFE<br />

I Haben Sie Informationen oder Dokumente, die<br />

Missstände im Gesundheitssystem belegen und von<br />

denen die Öffentlichkeit erfahren sollte? Schicken Sie<br />

diese über unseren »digitalen Briefkasten« an die<br />

Investigativ-Redaktion der <strong>ZEIT</strong> – anonym und<br />

vertraulich: www.zeit.de/briefkasten<br />

Foto [M]: Hartmut Schwarzbach/argus


34 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

STIMMT’S?<br />

Hat Schluckauf<br />

einen Sinn?<br />

… fragt Linda Heitmann<br />

aus Reutlingen<br />

Es ist schon erstaunlich, dass die Wissenschaft<br />

immer noch über den Hintersinn einiger Körperphänomene<br />

rätselt. Manchmal lautet die Antwort<br />

der Experten einfach »hat keinen Sinn, ist ein evolutionäres<br />

Überbleibsel«, etwa bei den männlichen<br />

Brustwarzen. Manche Forscher vertreten diese Ansicht<br />

auch bezüglich des Schluckaufs – weiteres<br />

Nachdenken wäre dann zwecklos.<br />

Aber der Schluckauf ist eine Plage, von der nur<br />

Säugetiere befallen werden, und deshalb evolutionsgeschichtlich<br />

ziemlich jung. Babys haben diesen<br />

Reflex schon im Mutterleib, Säuglinge hicksen<br />

sehr häufig, mit zunehmendem Alter wird das<br />

Phänomen seltener. Erfüllt der Schluckauf vielleicht<br />

bei Föten und kleinen Babys einen Zweck?<br />

Der Reflex ist erstaunlich komplex: Er beginnt<br />

mit einer heftigen Kontraktion des Zwerchfells. In<br />

der Folge wird die Atemmuskulatur aktiviert. Etwa<br />

35 Millisekunden später verschließt sich die<br />

Stimmritze, dabei entsteht der charakteristische<br />

Hicks. Durch diesen Verschluss kommt es zu einem<br />

Unterdruck im gesamten Brustraum.<br />

Oft kann man lesen, der Schluckauf verhindere<br />

beim Ungeborenen, dass Fruchtwasser in die Lungen<br />

eintritt. Bis zum dritten Lebensmonat nämlich<br />

verschließt der Kehlkopf noch nicht die Luftröhre,<br />

und das Baby kann gleichzeitig schlucken<br />

und atmen.<br />

Aber hilft der Schluckauf tatsächlich gegen<br />

Flüssigkeit oder Fremdkörper, die in die Luftröhre<br />

geraten? In diesem Jahr erschien ein Aufsatz in der<br />

Zeitschrift Bioessays. Darin bezweifelt der Autor,<br />

Daniel Howes von der Queen’s University im kanadischen<br />

Kingston, diese Erklärung. Die Luftröhre<br />

werde ja beim Schluckauf verschlossen, und<br />

das heftige Einatmen vor dem Verschluss sorge<br />

eher dafür, dass Fremdkörper noch tiefer rutschten<br />

und nicht herauskatapultiert würden, argumentiert<br />

Howes. Außerdem hätten wir schon genügend<br />

Reflexe, die für eine freie Luftröhre sorgten<br />

– etwa Husten und Niesen.<br />

Howes’ Theorie: Der Schluckauf ziele auf die<br />

Speiseröhre. Er sei dazu geeignet, Luft aus dem<br />

Magen nach draußen zu befördern – also eine Art<br />

aktives Rülpsen. Das erkläre auch, warum ausschließlich<br />

Säugetiere Schluckauf bekämen: Die<br />

Milch trinkenden Babys könnten so ihren Magen<br />

besser füllen und schneller wachsen – ein klarer<br />

evolutionärer Vorteil. CHRISTOPH DRÖSSER<br />

Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen:<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder stimmts@<br />

zeit.de. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts<br />

www.zeit.de/audio<br />

KOMPAKT<br />

Man kann ja mal nachsehen<br />

Mit welchen Tricks sich deutsche Wissenschaftler in Palermo zu Mumienforschern machten VON URS WILLMANN<br />

Erhalten deutsche Forscher Gelegenheit,<br />

eine Mumiensammlung in der Gruft<br />

eines sizilianischen Kapuzinerklosters zu<br />

inspizieren, ist das für Journalisten eine<br />

reizvolle Konstellation. Aus diesem Grund sahen<br />

Fernsehzuschauer am Montagabend eine dreiviertelstündige<br />

Dokumentation auf n-tv und lasen<br />

Zeitungsleser in der <strong>ZEIT</strong> vor einigen Wochen<br />

(Nr. 36/12) einen Artikel über rund 2000<br />

jahrhundertealte Mumien in Palermo. Die seien<br />

kaum erforscht, erklärten die deutschen Forscher<br />

und versprachen, Licht ins Dunkel zu bringen.<br />

Der Wuppertaler Archäologe Jörg Scheidt und<br />

die Kriminalbiologen Mark Benecke und Kristina<br />

Baumjohann wollten zudem behilflich sein,<br />

den toten Schatz vor dem Verfall zu retten.<br />

Man kann die Vorgänge in den Katakomben<br />

auch aus anderem Blickwinkel betrachten – etwa<br />

aus dem der Europäischen Akademie Bozen (Eurac).<br />

Dieses Südtiroler Institut für Mumien und<br />

den Iceman erforscht nicht nur den Ötzi, sondern<br />

seit 2007 auch in einem interdisziplinären<br />

Projekt die Totensammlung der Kapuziner. Das<br />

Institut besitzt Exklusivverträge mit der Soprintendenza,<br />

dem Landesdenkmalamt für Kunst<br />

und Kultur in Palermo. Seit fünf Jahren rücken<br />

Mumienexperten aus Italien, Österreich und den<br />

USA den Toten zu Leibe – mit Methoden aus<br />

Anthropologie, Gerichtsmedizin, Paläopathologie<br />

und Genetik. Es fanden toxikologische, histologische<br />

und entomologische Untersuchungen<br />

statt. Die Forscher ergründen die Geheimnisse<br />

der Überreste mit Röntgenstrahlen und Computertomografie,<br />

prüfen Zähne, Knochen, Raumklima.<br />

Mit dem German Mummy Project der<br />

Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim beteiligen<br />

sich auch Deutsche. Sie untersuchen Haarproben,<br />

Textilien und archäologische Artefakte.<br />

Diese Arbeiten wurden von der deutschen<br />

Forschergruppe um Jörg Scheidt explizit marginalisiert<br />

– stattdessen vermittelte der selbstständige<br />

Archäologe den Eindruck, mit seinem Wirken<br />

Neuland zu betreten. Und weder <strong>ZEIT</strong>-Leser<br />

noch n-tv-Zuschauer erfuhren, dass es mit Dario<br />

Piombino-Mascali einen wissenschaftlichen Kurator<br />

der Katakomben gibt, der auch Ehreninspektor<br />

für Mumienfunde der Region Sizilien<br />

ist. Stattdessen drängte sich das deutsche Forschergrüppchen<br />

mit seinen angeblichen Pioniertaten<br />

dreist in den Mittelpunkt. Der aus Talkshows<br />

bekannte Forensiker Benecke zupfte mit<br />

der Pinzette Insekten aus den Nasenlöchern von<br />

Mumien. Man sah ihn im Fernsehen auf trockene<br />

Körper klopfen, er hob Bauchdecken an und stocherte<br />

mit dem Finger in den Leichenresten eines<br />

frisch geöffneten Sargs herum.<br />

Ein unschöner Anblick für jene, die seit Jahren<br />

die Exklusiverlaubnis für die Forschung an<br />

den Mumien besitzen. Eine solche Erlaubnis<br />

können Scheidt, Benecke und Baumjohann<br />

nicht vorweisen. Als die Deutschen im Juli zu<br />

den Toten hinabstiegen, lag ihnen einzig eine<br />

Bewilligung vor, sich fünf Tage in der Gruft aufhalten<br />

zu dürfen – gegen einen finanziellen Obo-<br />

lus. Keine Erlaubnis jedoch zum Forschen oder<br />

gar zum Entnehmen von Insekten-, Haar- oder<br />

Gewebeproben. Oder doch?<br />

Scheidt sagt: »Die Mumien gehören den<br />

Kapuzinern. Der Friedhof ist deren Privateigentum.«<br />

Und so habe der Abt seiner Gruppe<br />

anlässlich eines Gesprächs in der Bibliothek<br />

den »offiziellen Auftrag« erteilt, die Mumien zu<br />

erforschen, leider nur »mündlich«.<br />

In schriftlicher Form lag dem Archäologen<br />

seit Monaten allerdings das explizite Verbot<br />

vor, in der Gruft zu forschen. Kurator Piombino<br />

hatte den Wuppertaler darauf hingewiesen,<br />

dass es für Untersuchungen an Kulturgütern<br />

(zu denen die Mumien zählen) einer Genehmigung<br />

der Region Sizilien bedarf. Diese Bewilligung<br />

hat einzig und allein die Forschergruppe<br />

unter Bozener Führung.<br />

Die Deutschen machten sich trotzdem auf.<br />

Und die Kapuziner gaben ihren Gästen bereitwillig<br />

eine »Forschungserlaubnis«. Den Grund dafür<br />

verriet der Abt in einem Gespräch im Kloster: Es<br />

bestehe große Enttäuschung darüber, dass die<br />

Bozener kaum Resultate lieferten. Sie täten auch<br />

wenig für den Erhalt, beklagte sich der Abt. Und<br />

dann fielen unschöne Worte über den angeblich<br />

faulen Kurator Piombino, der von den Bozenern<br />

längst entlassen worden sei – was schlichtweg<br />

nicht stimmt. Mit seinen Argumenten setzte sich<br />

der Abt kurzerhand über weltliche Vorschriften<br />

hinweg. Auch das Kamerateam von n-tv durfte<br />

in die Gruft (gegen eine Spende).<br />

ERFORSCHT UND ERFUNDEN<br />

Strom aus Abwärme<br />

In Industrieanlagen geht viel Energie ungenutzt<br />

verloren. Auch in Autos verpufft ein<br />

Großteil als Abwärme. Nun haben US-Forscher<br />

ein Material entwickelt, das noch besser<br />

als jedes bisherige Wärme in nutzbaren Strom<br />

umwandeln kann (Nature, Bd. 489, S. 414).<br />

Es besteht aus Bleitellurid, dessen Aufbau die<br />

Wissenschaftler sowohl auf atomarer Ebene,<br />

auf der Größenskala von Nanometern, als<br />

auch auf der Größenordnung der körnigen<br />

Struktur optimierten. Damit erreicht es eine<br />

Effizienz, die bislang kein anderes Material<br />

vorweisen kann. Schon bei der ersten Mondlandung<br />

wurden thermoelektrische Elemente<br />

als Energiequellen eingesetzt. Auch der Marsrover<br />

Curiosity wird von solchen angetrieben.<br />

Die dort verwendeten Bauteile haben jedoch<br />

lediglich eine Effizienz-Kennzahl von 1, während<br />

der nun entwickelte Stoff eine Kennzahl<br />

von 2,2 erreicht.<br />

Brunft-Gebrummel<br />

Nicht nur das fröhliche Trällern der Nachtigallen-Männchen<br />

beeindruckt potenzielle<br />

Partnerinnen. Langgezogene Passagen, die eher<br />

nach einem Brummeln oder Schnarren klingen<br />

und im Abstand von etwa fünf Minuten ertönen,<br />

können den Weibchen viel über den Sänger<br />

verraten, schreiben Verhaltensbiologen im<br />

Fachblatt Plos One (online). Die Forscher stellten<br />

fest, dass schwerere Männchen mehr<br />

Brummel-Untereinheiten pro Sekunde schafften<br />

als leichtere Artgenossen. Auch der Beziehungsstatus<br />

wird über die schnarrenden Passagen<br />

angedeutet: Wer zum Ende der Saison<br />

noch Single war, brummte kürzer, aber dafür<br />

häufiger als noch zu Beginn der Partnersuche.<br />

Tatsächlich scheinen die Brummel-Passagen<br />

den Weibchen zu gefallen: Wurden ihnen solche<br />

Liedteile vorgespielt, hüpften die Damen<br />

häufiger und wippten öfter mit dem Schwanz;<br />

beides zeigt eine höhere Erregung an. Womöglich<br />

sind wir Menschen die Ausnahme, wenn<br />

wir uns beim Gesang der Nachtigallen vor<br />

allem über das Zwitschern freuen.<br />

Auf den Umstand hingewiesen, dass die Probenentnahme<br />

an den Mumien illegal gewesen sein dürfte,<br />

zeigt die »interdisziplinäre Forschergruppe«, deren<br />

»leitender Archäologe« Scheidt laut eigener Website<br />

ist, erstaunlich rasante Zerfallserscheinungen. »Ich<br />

habe keine Proben entnommen. Und Herr Benecke<br />

hat in Palermo autark geforscht«, sagt Scheidt.<br />

Unterdessen haben die italienischen Wissenschaftler<br />

um den Ötzi-Experten Albert Zink die zuständige<br />

Behörde informiert. Die Beamten werden<br />

den Abt ins Gebet nehmen und ihn darauf aufmerksam<br />

machen müssen, dass weltliche Vorschriften,<br />

Verträge und Gebote durchaus Gültigkeit haben –<br />

auch wenn es nur um Personal im Jenseits geht.<br />

MEHR WISSEN:<br />

Zell-Phone<br />

WISSEN<br />

In der Kapuzinergruft:<br />

Benecke und Baumjohann<br />

(links), Scheidt<br />

(ganz rechts)<br />

Im Netz:<br />

:-) – der Smiley im Netz wird dreißig<br />

www.zeit.de/smiley<br />

Gesund essen trotz<br />

Hektik: Wie man die<br />

größten Fallen in der<br />

Mittagspause umgeht<br />

Das neue<br />

<strong>ZEIT</strong> Wissen: am<br />

Kiosk oder unter<br />

www.zeitabo.de<br />

Mit »cell phones« im wahrsten Sinne des Wortes<br />

beschäftigen sich Wissenschaftler der ETH<br />

Zürich: Sie ahmten auf künstliche Weise die<br />

Kommunikation zwischen Körperzellen<br />

nach (Nature Biotechnology, online), durch die<br />

etwa Entzündungsreaktionen oder das Wachstum<br />

der Blutgefäße reguliert werden. Die Forscher<br />

manipulierten Säugetierzellen so, dass<br />

diese sich über Botenstoffe austauschen konn-<br />

ten. Durch Zugabe des Blütenduftstoffs Indol<br />

wurde in Senderzellen die Produktion einer<br />

Aminosäure ausgelöst. Die Empfängerzellen<br />

reagierten darauf mit der Produktion von Acetaldehyd.<br />

Sobald die Sender wiederum eine bestimmte<br />

Konzentration von Acetaldehyd bemerkten,<br />

stoppten sie die Produktion ihrer<br />

Aminosäure. Die Zukunftsvision der Forscher:<br />

Durch gesteuerte Zellkommunikation das<br />

Wachstum von Blutgefäßen zu unterbinden,<br />

die einen Tumor versorgen.<br />

Foto: Fritz Habekuß


35<br />

GRAFIK<br />

1. Pflücken Welken 3. Fixieren 4. Rollen 5. Fermentieren 6. Trocknen 7. Sortieren<br />

Grüntee Schwarztee<br />

20. September <strong>2012</strong><br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

It’s Tea<br />

Time!<br />

Über 50 000 Tonnen Tee gießen die Deutschen jährlich auf.<br />

Aber nur ein Drittel davon, nämlich Schwarz- und Grüntee,<br />

ist »echter Tee«, hergestellt aus den Blättern des Teestrauchs<br />

Tee-Bräuche<br />

Andere Länder, andere Tee-Sitten<br />

Ostfriesland: ein Stück Kandis in die<br />

Tasse, Tee einschenken, Sahne dazugeben<br />

– und bloß nicht umrühren! So genießt<br />

man drei Tee-Geschmäcker.<br />

Russland: Auf dem Samowar steht<br />

eine kleine Kanne mit konzentriertem<br />

Tee. Der kommt ins Glas und wird<br />

mit heißem Wasser aufgefüllt.<br />

Indien: Der Tee wird mit kochender<br />

Milch aufgebrüht und mit Zimt,<br />

Nelken und Kardamom gewürzt –<br />

fertig ist der »Chai«.<br />

England: Beim typisch britischen<br />

Five o’Clock Tea kommt zuerst<br />

Milch in die Tasse, dann der Tee.<br />

Am Schluss wird gesüßt.<br />

Japan: Bei der Teezeremonie wird<br />

grüner Pulvertee in einer Schale mit<br />

heißem Wasser aufgegossen.<br />

Alle trinken aus derselben Teeschale.<br />

Die Tee-Herstellung<br />

Grüner und schwarzer Tee entstehen aus den gleichen Teeblättern<br />

Für bestimmte Sorten gilt<br />

die Regel: »Two Leaves and<br />

a Bud« – nur die zwei<br />

obersten Blätter eines<br />

Triebs und die Knospe<br />

dürfen gepflückt werden.<br />

2.<br />

Die Blätter werden auf<br />

langen Gestellen aus gebreitet<br />

und welken in der Sonne bis<br />

zu 20 Stunden lang. So sinkt<br />

der Wasseranteil auf 60 bis<br />

65 Prozent.<br />

2<br />

Um die Fermentierung des<br />

grünen Tees zu vermeiden,<br />

müssen Enzyme im Blatt<br />

zerstört werden. Dazu<br />

werden die gewelkten<br />

Teeblätter kurz erhitzt.<br />

Schwarz vorne<br />

Die beliebtesten Teesorten<br />

der Deutschen<br />

(Marktanteile in Prozent)<br />

19,2 %<br />

Aromatisierte Kräuter-<br />

und Früchteteemischungen<br />

Bekannte Vertreter:<br />

Waldfrüchtetee, Pina-<br />

Colada, Gute-Nacht-Tee<br />

Zutaten: Kräuter, Früchte,<br />

Gewürze sowie Aroma-Öle<br />

oder Aroma-Granulate<br />

Zubereitung:<br />

nach Belieben ziehen lassen<br />

Anteil des exportierten Tees<br />

Gesamtproduktion<br />

in tausend Tonnen<br />

in Prozent<br />

1 China 1376 22,2<br />

2 Indien 973 21,0<br />

3 Kenia 314 105,6*<br />

4 Sri Lanka 290 99,5<br />

5 Türkei 199 1,1<br />

6 Vietnam 186 44,4<br />

7 Iran 166 6,5<br />

8 Indonesien 146 63,0<br />

9 Japan 86 2,7<br />

10 Argentinien 72 97,4<br />

*importierter Tee wird weiterverarbeitet<br />

10<br />

1<br />

Tee-Länder<br />

Zwei schwere Metallplatten<br />

drehen gegeneinander. Die<br />

Blätter werden dazwischen<br />

bis zu einer Stunde lang<br />

gerollt. Dabei brechen die<br />

Zellen in den Blättern auf.<br />

5<br />

3<br />

Schwarztee<br />

Die wichtigsten<br />

Teeproduzenten der Welt<br />

Bekannte Vertreter:<br />

kräftiger Assam, vielseitiger<br />

Darjeeling oder Ceylon-Tee<br />

Zutaten: fermentierte<br />

Blätter des Teestrauchs<br />

Zubereitung:<br />

maximal fünf Minuten<br />

ziehen lassen<br />

7<br />

2<br />

4<br />

6<br />

1<br />

8<br />

9<br />

26%<br />

Im ausgequetschten Zellsaft<br />

sind Enzyme, die nun mit<br />

dem Sauerstoff aus der Luft<br />

reagieren. Nach einigen<br />

Stunden hat der schwarze<br />

Tee sein typisches Aroma.<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

In bis zu 95 Grad heißer<br />

Luft werden die Blätter<br />

getrocknet. Die Fermentation<br />

des Schwarztees<br />

stoppt, die Restfeuchte<br />

beträgt etwa fünf Prozent.<br />

10,8 %<br />

Pfefferminztee<br />

Zutaten: Blätter der Pflanze<br />

Mentha piperita<br />

Zubereitung: Beutel wenige<br />

Minuten, frische Blätter<br />

zehn Minuten ziehen lassen<br />

10,1 %<br />

Beuteltee<br />

40 %<br />

loser Tee<br />

60 %<br />

8,0 %<br />

7,7 %<br />

7,3 %<br />

Nicht aromatisierte<br />

Mischungen<br />

Grüntee<br />

Kamillentee<br />

Fencheltee<br />

Die Blätter werden mechanisch<br />

nach Größe sortiert,<br />

zum Beispiel Blatt (große<br />

Blätter), Broken (kleine<br />

Blätter), Fanning (kleinste<br />

Blattteile für Teebeutel).<br />

N<br />

171<br />

o<br />

THEMA:<br />

TEE<br />

Die Themen der<br />

letzten Grafiken:<br />

170<br />

Facebook<br />

169<br />

Kompost<br />

168<br />

Neil Armstrong<br />

Weitere Grafiken<br />

im Internet:<br />

www.zeit.de/grafik<br />

Illustration:<br />

Anne Gerdes<br />

Recherche:<br />

Franziska<br />

Badenschier<br />

Quellen:<br />

Deutscher Teeverband;WirtschaftsvereinigungKräuter-<br />

und Früchtetee;<br />

tea-up-your-life.de;<br />

teekampagne.de<br />

Fotos:<br />

Abraham’s Tea<br />

House, Ernst-<br />

August Galerie<br />

Hannover,<br />

www.a-teehaus.de


Illustration: Martin Burgdorff für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>, verwendete Fotos: alimdi.net (2); bildstelle; Claudia Schatz (u.)<br />

38 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Fast täglich zieht Eva Maria Limmer, mit<br />

Spaten und Handschuhen bewaffnet, in<br />

den Kampf. Die Front ihres Feldzugs<br />

verläuft hinter ihrem Haus in Friedenshorst,<br />

einem Weiler mit acht Häusern,<br />

70 Kilometer nordwestlich von Berlin. Durch die<br />

Fenster ihres Wohnzimmers sieht die Pferdehalterin<br />

die gelben Flecken, die der Feind wie Fahnen<br />

hochhält: Die Blütenstände von Senecio jacobaea,<br />

dem Jakobskreuzkraut, sprenkeln die nah gelegenen<br />

Wiesen und Weiden.<br />

»Ausreißen, ausgraben, mähen, mulchen – ich<br />

habe alles versucht«, sagt Limmer, während sie in<br />

Lederstiefeln und Reiterweste auf die Weide stapft<br />

und versucht, Rosetten gefiederter Blätter, die auf<br />

dem kargen brandenburgischen Sandboden zwischen<br />

dem spärlichen Bewuchs hervorragen, mitsamt<br />

den Wurzeln auszureißen. Seit zwei Jahren<br />

versucht sie das Kreuzkraut zurückzudrängen, das<br />

ihre Weiden erobert hat und durch das sie das Leben<br />

ihrer Pferde bedroht sieht. »Es kommt immer<br />

wieder«, sagt Limmer. »Das ist echt gruselig.«<br />

Jakobskreuzkraut ist eine gelb blühende Pflanze<br />

mit gefiederten Blättern und schirmartigen Blütenständen.<br />

Sie heißt auch Jakobsgreiskraut, ist<br />

schön anzusehen – und hochgiftig. Das Kraut enthält<br />

Pyrrolizidin-Alkaloide, eine Klasse pflanzlicher<br />

Inhaltsstoffe, die in der Leber zu giftigen<br />

Stoffwechselprodukten abgebaut werden. In großer<br />

Menge können die Abbaustoffe die Leber stark<br />

schädigen und wenige Tage nach Aufnahme zu irreversiblen,<br />

oft tödlichen Leberschäden führen.<br />

Bei Tierärzten ist das Krankheitsbild als Seneziose<br />

oder Schweinsberger Krankheit bekannt. Neben<br />

direkten Leberschäden können die Giftstoffe langfristig<br />

auch Leberkrebs verursachen, Missbildungen<br />

hervorrufen und Embryonen schädigen.<br />

Giftige Pflanzen gibt es viele, auch hierzulande.<br />

Das Problem: Jakobskreuzkraut und verwandte<br />

Kreuzkräuter scheinen sich seit einigen Jahren<br />

massiv in unseren Breitengraden auszubreiten und<br />

Brachen, Weiden und Heuwiesen zu erobern. Verlässliche<br />

Zahlen zur tatsächlichen Verbreitung gibt<br />

es zwar nicht. Das Julius-Kühn-Institut, das Bundesforschungsinstitut<br />

für Kulturpflanzen, bestätigt<br />

aber, dass sich Berichte über das zunehmende Vorkommen,<br />

die Ausbreitung und Verdachtsmomente<br />

auf Vergiftungen beim Weidevieh häufen. Auch<br />

die Landwirtschaftsministerien der Länder sprechen<br />

von einer massiven Zunahme des Kreuzkrauts<br />

seit einigen Jahren.<br />

Mögliche Gründe hierfür gibt es viele: Der Klimawandel<br />

mit trockenen heißen Sommern begünstigt<br />

das anspruchslose Kraut und schwächt<br />

konkurrierende Gräser auf den Wiesen. Agrarpolitisch<br />

lange Zeit geförderte landwirtschaftliche<br />

Das Kreuz mit dem Kraut<br />

Das hochgiftige Jakobskreuzkraut breitet sich auf deutschen Wiesen aus.<br />

Toxische Substanzen zen gelangen auch in die menschliche Nahrung. Ist das gefährlich? VON <strong>DIE</strong>TRICH <strong>DIE</strong>TRI VON RICHTHOFEN<br />

Brachflächen bieten ihm mehr Lebensraum. Bis<br />

2009 wurde Jakobskreuzkraut auch in Regelsaatgutmischungen<br />

ausgesät, um Straßenböschungen<br />

und Bahndämme zu befestigen. Von hier aus kann<br />

es durch seine hartnäckigen Fortpflanzungsstrategie<br />

Weiden und Heuwiesen besiedeln.<br />

Während erfahrene Weidetiere das bittere<br />

Kraut gewöhnlich meiden, solange sie genug zu<br />

fressen finden, sind Jungtiere gefährdet. Spätestens<br />

wenn die Giftpflanze zu Heu verarbeitet wird,<br />

können auch erwachsene Pferde und Kühe sie<br />

nicht mehr von bekömmlichen Pflanzen unterscheiden.<br />

Die Bitterstoffe werden abgebaut, die<br />

Alkaloide bleiben aktiv und werden mit dem Futter<br />

aufgenommen.<br />

Die Lage ist konfus: Einzelne Tierärzte verzeichnen<br />

eine Häufung von Erkrankungen, die<br />

toxikologischen Institute mehrerer veterinärmedizinischer<br />

Fakultäten können dies nicht bestätigen.<br />

Ernst Petzinger, Direktor des Instituts für Pharmakologie<br />

und Toxikologie an der Universität Gießen,<br />

kann sich jedoch vorstellen, dass es bei Vergiftungen<br />

mit dem Kraut eine hohe Dunkelziffer<br />

gibt. »Das Jakobskreuzkraut ist eine Pflanze, die<br />

überwiegend nach chronischer, wochen- bis monatelanger<br />

Einnahme mit dem Heu einen tödlich<br />

verlaufenden Leberschaden verursacht«, sagt der<br />

Veterinärmediziner. Eine Vergiftung falle zunächst<br />

nicht auf. »Da die Pferde abmagern, werden sie<br />

aussortiert und zum Schlachter gegeben, noch bevor<br />

sie ein Tierarzt zu behandeln versucht hat.«<br />

Petzinger plädiert deshalb für eine Meldepflicht<br />

für Schlachthöfe und Krematorien bei Verdacht<br />

auf Leberzirrhose und ähnliche Krankheiten.<br />

Nicht nur Weidetiere sind durch das Kraut gefährdet<br />

– immer wieder kam es auch zu Vergiftungen<br />

von Menschen durch Nahrungsmittel, in die<br />

Pyrrolizidin-Alkaloid-haltige Pflanzen gelangt waren.<br />

Insgesamt gibt es weltweit rund 6000 Pflanzen,<br />

die Substanzen dieser Stoffklasse enthalten.<br />

Die Kreuzkräuter gehören mit weit über 1000 Arten<br />

zu den wichtigsten Vertretern und verfügen<br />

mit über die höchsten Alkaloid-Konzentrationen.<br />

Verwandte des Jakobskreuzkrauts lösten in Afghanistan<br />

durch kontaminiertes Getreide Massenvergiftungen<br />

mit Tausenden von Toten aus und führten<br />

in Ägypten zu massiven Leberschäden bei<br />

Kleinkindern, die mit belasteter Ziegenmilch gefüttert<br />

wurden.<br />

In Deutschland geriet 2009 das gemeine Kreuzkraut<br />

(Senecio vulgaris) in den Fokus der Aufmerksamkeit,<br />

nachdem die dem Rucola ähnlichen Kreuzkrautblätter<br />

in Salatpackungen gefunden wurden. Im<br />

gleichen Jahr verlor eine schwangere Frau ihren Fötus,<br />

nachdem sie über einen längeren Zeitraum einen<br />

Alkaloid-haltigen Kräutertee getrunken hatte. In<br />

diesem Jahr starb ein Mann in Bayern, der das Jakobskreuzkraut<br />

beim Kräutersammeln verwechselt und<br />

sich Tee daraus zubereitet hatte, eine Frau zog sich<br />

massive Leberschäden zu, nachdem sie einen Wildkräutersalat<br />

gegessen hatte.<br />

Tragische Einzelfälle? Helmut Wiedenfeld, akademischer<br />

Direktor am Pharmazeutischen Institut<br />

Giftiger Eroberer<br />

Jakobskreuzkraut ist eine in Deutschland<br />

heimische Art, die eine wichtige<br />

Funktion im Ökosystem innehat. Die<br />

Pflanze (im Bild die beiden Blätter<br />

links) wird oft mit Löwenzahn, Rucola<br />

oder Wiesenpippau (im Bild rechts)<br />

verwechselt. Sie bietet zahlreichen<br />

Insekten Lebensraum. Diese fressen das<br />

bittere Kreuzkraut, um sich für Feinde<br />

ungenießbar zu machen.<br />

Bei der Eroberung des neuen Lebensraums<br />

hat das Kraut leichtes Spiel: Eine<br />

Pflanze kann 100 000 Flugsamen<br />

produzieren, die wie beim Löwenzahn<br />

mit dem Wind verbreitet werden. Die<br />

Samen überdauern bis zu 35 Jahre in<br />

der Erde. Wird sie abgeschnitten, veranlasst<br />

dies die Pflanze zur Notblüte.<br />

Aus verbleibenden Wurzelresten treiben<br />

neue Stängel aus. DVR<br />

der Universität Bonn, ist überzeugt, dass die Gefahr<br />

weiter reicht. »Zahlreiche Studien haben gezeigt,<br />

dass die Giftstoffe auch über Milch, Honig<br />

und andere landwirtschaftliche Produkte in die<br />

menschliche Nahrungskette gelangen können.«<br />

Die umfangreichsten Daten über die Belastung<br />

mit den Alkaloiden liegen für Honig vor. Demnach<br />

enthält ein erheblicher Anteil der Honige auf<br />

dem deutschen Markt die leberschädigenden Substanzen.<br />

Besonders stark betroffen sind den Untersuchungen<br />

zufolge Rohhonige aus Mittelamerika<br />

und Asien, wo dieselbe Art des Kreuzkrautes teils<br />

die zehnfache Menge an Alkaloiden entwickeln<br />

kann wie hierzulande. Noch höhere Giftmengen<br />

wurden in pollenhaltigen Nahrungsergänzungsmitteln<br />

aus diesen Regionen gefunden.<br />

Honige deutscher Herkunft waren zwar geringer<br />

betroffen, aber auch hier waren einzelne Rohhonige<br />

belastet. Ein Imker in Schleswig-Holstein<br />

vernichtete vor Kurzem seine gesamte Ernte, nachdem<br />

er durch einen Test auf die starke Belastung<br />

seines Produkts aufmerksam wurde. Die meisten<br />

Honige auf dem Markt sind zudem Mischungen,<br />

die neben deutschen zu hohen Anteilen auch ausländische<br />

Honige beinhalten. In Milch wurden die<br />

Alkaloide ebenfalls bereits nachgewiesen – meist<br />

wird jedoch die Milch vieler verschiedener Produzenten<br />

zusammengeschüttet, sodass hier mit erheblichen<br />

Verdünnungseffekten zu rechnen ist, die<br />

die Alkaloidkonzentration vermindern.<br />

Doch welcher Belastung sind wir im Alltag<br />

tatsächlich ausgesetzt? Wie hoch ist die Gefahr?<br />

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />

(EFSA) hat am ehesten gesundheitliche<br />

Bedenken bei Kleinkindern und Kindern, die große<br />

Mengen an Honig verzehren, sowie bei Menschen,<br />

die regelmäßig unverschnittenen Honig bestimmter<br />

Kleinerzeuger zu sich nehmen.<br />

Viele Fragen zur toxischen Wirkung der Pyrrolizidin-Alkaloide<br />

sind jedoch offen. Warum sind<br />

Pferde, Kühe und Schweine besonders anfällig,<br />

während Ziegen und Hasen kaum auf das Gift<br />

reagieren? Warum reagieren Kinder besonders<br />

stark, und woher rührt die unterschiedliche Wirkung<br />

auf Männer und Frauen? Und vor allem:<br />

Wie weit verbreitet sind Vergiftungen mit den<br />

Substanzen tatsächlich?<br />

Es gibt bislang weder Therapiemöglichkeiten<br />

bei einer Vergiftung noch verbindliche Höchstwerte<br />

für Lebensmittel. Das Bundesinstitut für<br />

Risikobewertung (BfR) empfiehlt, eine tägliche<br />

Dosis an Pyrrolizidin-Alkaloiden von 0,007 Mikrogramm<br />

je Kilogramm Körpergewicht nicht zu<br />

überschreiten. Allerdings erreicht diese Menge bereits<br />

jemand, der von stark belasteten deutschen<br />

Honigen fünf bis zehn Gramm konsumiert.<br />

»Nimmt man die vorgeschlagenen Grenzwerte<br />

ernst, müssten einige Honige sofort vom Markt genommen<br />

werden«, sagt Helmut Wiedenfeld. Von der<br />

Einführung von Grenzwerten hält er ohnehin wenig.<br />

Eine dauerhafte Kontrolle von Lebensmitteln auf<br />

ihren Alkaloidgehalt dürfte extrem schwierig sein.<br />

Die Stoffklasse der Pyrrolizidin-Alkaloide umfasst<br />

insgesamt etwa 500 Substanzen, darunter hochtoxi-<br />

sche und vollkommen harmlose Vertreter. »Man muss<br />

schon genau wissen, welches Alkaloid in welcher<br />

Menge enthalten ist, um die Toxizität eines Lebensmittels<br />

abzuschätzen«, sagt Wiedenfeld.<br />

Einen verbindlichen Höchstwert hielte er für irreführend.<br />

Geringe Belastungen über längere Zeiträume<br />

seien für Menschen vermutlich sogar gefährlicher<br />

als eine einmalige Einnahme größerer Mengen.<br />

Es gelte vor allem Kinder zu schützen. Bei ihnen sei<br />

der zur Abwehr nötige Entgiftungsmechanismus noch<br />

nicht ausreichend entwickelt. Sie produzierten deshalb<br />

weit mehr Gift aus den aufgenommenen Alkaloiden<br />

als Erwachsene. Gerade in Kindernahrung<br />

fände aber Honig weit verbreiteten Einsatz als Süßstoff.<br />

Wiedenfeld fordert deshalb absolute Nulltoleranz<br />

bei Pyrrolizidin-Alkaloiden. »Diese Stoffe haben<br />

in Lebensmitteln einfach nichts verloren.«<br />

Nur wie lassen sich die toxischen Substanzen<br />

aus der Lebensmittelerzeugung verbannen? Das<br />

Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft<br />

und Verbraucherschutz (BMELV) fordert<br />

Eigentümer von Wiesen und Weiden dazu auf,<br />

ihre Flächen sachgerecht zu pflegen – sieht aber im<br />

Moment keinen weiteren Handlungsbedarf. Sabine<br />

Jördens vom Arbeitskreis Kreuzkraut ist hingegen<br />

davon überzeugt, dass die Pflanze zu einer<br />

Plage geworden ist, gegen die man schnell aktiv<br />

vorgehen müsste. »Die massive Ausbreitung ist<br />

durch menschlichen Einfluss verursacht, nun müssen<br />

wir hier auch korrigierend eingreifen.«<br />

Jördens betreibt im niedersächsischen Uetze<br />

eine private Rinderzucht und hält Pferde. Sie hat<br />

2007 ein Pferd verloren und ist davon überzeugt,<br />

dass es am Jakobskreuzkraut gestorben ist. Damals<br />

gründete sie den Arbeitskreis, um andere Tierhalter<br />

zu beraten, Aufklärungsarbeit zu betreiben und<br />

das Kraut zurückzudrängen. Sie sieht sich und die<br />

anderen Tierhalter in der Pflicht, die Weidepflege<br />

zu verbessern. Doch um dem Kraut flächendeckend<br />

beizukommen, sei ein konzertiertes Vorgehen<br />

unausweichlich. »Die Regierung muss endlich<br />

zentral gegen die massive Ausbreitung von<br />

Jakobskreuzkraut vorgehen.«<br />

Immerhin wird auf EU-Ebene daran gearbeitet,<br />

die Analytik zu gewährleisten. Zusätzlich werde,<br />

sagt das BMELV, eine EU-Empfehlung für ein<br />

Monitoring vorbereitet, um eine gesicherte Datenlage<br />

zu erhalten. Ziel sei es, zulässige Höchstgehalte<br />

in Lebensmitteln festlegen zu können.<br />

Währenddessen schreibt Jördens an ihrer Liste<br />

weiter: Sie führt Buch über Tierhalter, deren Weiden<br />

von Jakobskreuzkraut überwuchert werden<br />

und die teils auch Tiere verloren haben. Die Liste<br />

ist lang, und sie wächst beständig.<br />

A www.zeit.de/audio<br />

WISSEN


HIER AUSREISSEN!<br />

VERRÜCKTE VIECHER (22)<br />

Hummel-Fledermaus<br />

1973 entdeckte ein thailändischer Forscher in<br />

seiner Heimat ein kleines pelziges Wesen. In der<br />

Abenddämmerung schwirrte es durch die Luft<br />

und war durch seine braune Farbe schwer zu erkennen.<br />

Der Biologe vermutete, dass er eine neue<br />

Hummelart gefunden hatte. Doch bei näherer Betrachtung<br />

stellte sich heraus, dass das Tierchen<br />

kein Insekt, sondern eine Fledermaus war. Die<br />

Hummel-Fledermaus ist eines der kleinsten Säugetiere<br />

der Welt, nur drei Zentimeter lang. Die<br />

Winzlinge leben in Kalksteinhöhlen in Thailand<br />

und im Nachbarstaat Myanmar und ernähren sich<br />

von noch kleineren Insekten, die sie im Flug von<br />

Pflanzen abpicken. Weil ihre Körpergröße so erstaunlich<br />

ist, machen leider immer wieder Wilderer<br />

Jagd auf sie, um sie ausgestopft an Souvenirsammler<br />

zu verkaufen.<br />

Die Radiogeschichte über die Hummel-Fledermaus<br />

hörst Du am Sonntag um 8.05 Uhr in der Sendung<br />

»Mikado – Radio für Kinder« auf<br />

oder im Internet unter www.ndr.de/mikado<br />

FRAGEBOGEN<br />

Dein Vorname:<br />

Wie alt bist Du?<br />

Wo wohnst Du?<br />

Was ist besonders schön dort?<br />

Und was gefällt Dir dort nicht?<br />

Was macht Dich traurig?<br />

Was möchtest Du einmal werden?<br />

Was ist typisch für Erwachsene?<br />

Wie heißt Dein Lieblingsbuch?<br />

Jede Woche stellt sich hier<br />

ein Kind vor. Willst Du auch<br />

mitmachen?<br />

Dann guck mal unter<br />

www.zeit.de/fragebogen<br />

Bei welchem Wort verschreibst Du Dich immer?<br />

BUCH-<br />

TIPP<br />

Falschgeld-<br />

Alarm<br />

Wie gern hätte Anton diese coolen Turnschuhe mit<br />

ausklappbaren Rollen! Doch dann geht die Waschmaschine<br />

kaputt, und überhaupt ist das Geld bei<br />

Antons Eltern knapp. Was tun? Versuch eins: Geld<br />

gewinnen. Anton reicht ein selbst gedrehtes Video<br />

bei einem Wettbewerb ein. Leider gewinnt er nicht.<br />

Versuch zwei: Falschgeld drucken am Computer. Genial,<br />

findet Anton – bis ihm aufgeht, dass die Polizei<br />

sich für das Falschgeld in seinem Viertel interessiert ...<br />

Das zweite Anton-Buch von Milena Baisch ist nicht<br />

ganz so gut wie Band 1, Anton taucht ab, aber dafür<br />

gibt es mehr Nervenkitzel für Krimifans.<br />

Milena Baisch: Anton macht’s klar<br />

Beltz & Gelberg <strong>2012</strong>; 12,95 Euro; ab 10 Jahren<br />

Mehr für Kinder!<br />

Die D neue Ausgabe<br />

von vo <strong>ZEIT</strong> LEO,<br />

dem d Magazin für<br />

Kinder, K<br />

jetzt je am Kiosk!<br />

WWeitere<br />

Infos im<br />

In Internet:<br />

wwww.zeitleo.de<br />

Fotos: Inge Schrüfer (Seifenkisten); Merlin Tuttle/NAS/Okapia (Viech); Illustrationen: Jon Frickey für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.jonfrickey.com (Wappen, Leo)<br />

POLITIK, WISSEN, KULTUR UND ANDERE RÄTSEL FÜR JUNGE LESERINNEN UND LESER<br />

Vorsichtig klettert Simon<br />

in das Cockpit<br />

seines silbern lackiertenMini-Rennwagens.<br />

Er streckt beide<br />

Beine durch den<br />

schmalen Einstieg<br />

und schiebt dann den Oberkörper hinterher.<br />

Als er endlich im Rennwagen<br />

liegt, ist nur noch sein Kopf im schwarzen<br />

Helm hinter dem Visier zu sehen.<br />

Geschafft. Der Seifenkistenpilot ist bereit<br />

für die Testfahrt vor dem wichtigsten<br />

Rennen der Saison.<br />

Simon, zwölf Jahre alt, und sein Vater<br />

Markus überprüfen, ob der Renner<br />

bereit ist für die Deutsche und die Europameisterschaft<br />

im Seifenkistenfahren.<br />

Simon testet auf einer Probefahrt<br />

die Bremse und die Lenkung. Alles<br />

funktioniert. Er steigt aus der engen<br />

Kiste aus und setzt den Helm ab.<br />

Seit er neun Jahre alt ist, fährt Simon<br />

Rennen in Seifenkisten. Früher<br />

bastelten sich Kinder aus alten Kisten<br />

für Käse und Seife oder aus Blechwannen<br />

ihre Rennwagen selbst. Damit<br />

sausten sie Berge und Abhänge hinunter.<br />

Heute haben die Kisten keine<br />

Ecken mehr, sondern sind vorne spitz,<br />

damit der Wind sie nicht bremst. Sie<br />

sind heute richtige Profi-Wagen mit<br />

teuren Spe zial rä dern und besonderen<br />

Bremsen, die wie ein Stempel auf den<br />

Boden gehen. »Seifenkisten« heißen sie<br />

aber immer noch.<br />

Seifenkisten haben keinen Motor.<br />

Sie rollen auf ihren vier Rädern von<br />

ganz allein, wenn die Rennstrecke<br />

bergab geht. Für die Seifenkistenrennen<br />

werden normale Straßen abgesperrt.<br />

300 Meter sind die meisten<br />

Strecken lang. Alle Piloten tragen bei<br />

den Rennen einen Helm, weil ein Unfall<br />

sonst sehr gefährlich wäre. Bis zu<br />

60 Kilometer in der Stunde werden die<br />

Kisten schnell, wenn die Strecke ein<br />

starkes Gefälle hat. Das ist schneller, als<br />

Autos in Ortschaften fahren dürfen.<br />

Die Fahrer müssten sich darum sehr<br />

konzentrieren, sagt Simon. Gullideckel,<br />

Schlaglöcher oder Hubbel könnten die<br />

Kiste von der Ideallinie abbringen. Einmal<br />

knallte Simon bei einem Rennen<br />

gegen die Bande, die der Veranstalter<br />

zum Schutz der Fahrer aufgestellt hatte.<br />

Passiert ist Simon dabei nichts.<br />

Simons Seifenkiste steht in der Garage<br />

seiner Eltern in einer Kleinstadt in<br />

Bayern. Daneben ist die Kiste seiner<br />

Schwester Stella aufgebockt. Auch Stella,<br />

zehn Jahre alt, wird bei den Meisterschaften<br />

antreten, in der Juniorklasse<br />

Früher waren Seifenkisten eckig, heute sind sie windschnittig<br />

Auf der Piste<br />

Seifenkisten schaff en 60 Kilometer in der Stunde – ohne Motor. Ein Besuch bei zwei Piloten vor<br />

dem wichtigsten Rennen der Saison VON HAUKE FRIEDERICHS<br />

für Acht- bis Elfjährige. Simon startet<br />

in der Seniorklasse, in der die Älteren<br />

bis 18 Jahre antreten. Stella hat ihren<br />

älteren Bruder bei Rennen gesehen und<br />

selbst Lust darauf bekommen. Die Junioren<br />

steuern ihre Wagen im Sitzen,<br />

die Größeren im Liegen. Stella macht<br />

sich bei den Rennen ganz klein, beugt<br />

sich nach vorn, um möglichst wenig<br />

Luftwiderstand zu erzeugen.<br />

»Die Seifenkisten sind ein Hobby der<br />

ganzen Familie«, sagt Inge, die Mutter.<br />

Von der Rampe, fertig, los!<br />

Spezialbehandlung für Spezialräder<br />

Simon steuert im Liegen, Stella sitzt<br />

Die Kinder steuern die Wagen. Der Vater<br />

ist im Team der Mechaniker. Er repariert<br />

die Kisten, versucht sie immer schneller<br />

zu machen und schiebt die schweren<br />

Rennwagen die Rampe hoch, wenn der<br />

nächste Start ansteht. Stellas Kiste hat ihr<br />

Vater sogar selbst gebaut, im Keller der<br />

Garage. Stella hat dabei geholfen, Holz<br />

abgeschliffen und ganz oft Probe gesessen.<br />

Auch Simons Kiste, gebraucht gekauft,<br />

hat er gründlich überholt. Die<br />

Mutter gibt bei den Rennen Tipps und<br />

diskutiert mit den Piloten die richtige<br />

Taktik. Wo verläuft die Ideallinie? Soll<br />

man die Kurve weiter links anfahren?<br />

Außerdem macht sie Fotos von den Wettkämpfen<br />

und tröstet, wenn es sein muss.<br />

In diesem Jahr brauchten ihre Piloten<br />

kaum Aufmunterung. Auf einer<br />

Fensterbank im Wohnzimmer stehen<br />

viele Pokale – Simon und Stella haben<br />

sie allein in diesem Jahr gewonnen.<br />

»Am meisten Spaß macht die Geschwindigkeit«,<br />

sagt Simon. Manchmal<br />

fährt seine Kiste so schnell, dass er den<br />

Fahrtwind rauschen hört. »Ich gewinne<br />

gerne«, sagt Stella, »und ich fahre am<br />

liebsten richtig schnell.«<br />

Am zweiten Septemberwochenende<br />

ist es so weit: Die Meisterschaften beginnen.<br />

Simon und Stella laden mit<br />

ihren Eltern die Seifenkisten in einen<br />

Kleinbus und fahren nach Mettingen,<br />

in die Nähe von Osnabrück. Dort treffen<br />

sie auf andere Rennfamilien aus<br />

ganz Deutschland, Österreich, der<br />

Schweiz und Dänemark. 70 Teams<br />

starten in der Seniorklasse und 49 bei<br />

den Junioren.<br />

Ein Rennen besteht aus drei Probeläufen<br />

und aus drei Läufen, die gewertet<br />

werden. Meistens starten zwei Fahrer<br />

gleichzeitig nebeneinander. Mit<br />

Laseranlagen messen die Organisatoren,<br />

wie lange die Fahrer von der Startrampe<br />

bis ins Ziel brauchen. Wer nach<br />

drei Fahrten insgesamt die niedrigste<br />

Zeit hat, gewinnt. Simon hat zuletzt<br />

oft den ersten Platz belegt. In diesem<br />

Jahr ist er bayerischer Meister geworden<br />

– 2011 war er sogar Europameister.<br />

Auf seiner Kiste steht der Schriftzug<br />

»Carpe Momentum«. Das ist Latein<br />

und heißt übersetzt »Nutze den Moment«.<br />

Beim Seifenkistenrennen entscheiden<br />

oft Hundertstelsekunden über<br />

Sieg oder Niederlage.<br />

Für Stella läuft es am Samstag super.<br />

Schon bei den Probeläufen ist ihre Kiste<br />

richtig schnell. Stella belegt zweimal<br />

den zweiten Platz. Sie freut sich riesig,<br />

auch über die Digitalkamera, die sie als<br />

Preis bekommt.<br />

Am Sonntag ist Simon dran. Vor allem<br />

der Start ist immer spannend: Simons<br />

Kiste steht dabei oben auf einer<br />

Rampe. Vor ihm liegt die Piste. Ein<br />

Mann von den Rennorganisatoren<br />

prüft noch mal die Bremsen. Dann<br />

geht es los. Eine Platte vor den Reifen<br />

klappt weg, und Simons Seifenkiste<br />

rollt die Rampe hinunter. Die Räder<br />

drehen sich immer schneller. Dann rast<br />

Simons Seifenkiste dem Ziel entgegen.<br />

Etwas mehr als 36 Sekunden später<br />

bleibt die Uhr stehen – Simon hat<br />

knapp verloren. Nur wenige Hundertstelsekunden<br />

fehlen ihm zu einem Platz<br />

auf dem Treppchen. Er wird Fünfter<br />

bei der Deutschen und Vierter bei der<br />

Europameisterschaft. Nächstes Jahr<br />

wird er wieder antreten.<br />

U<br />

M S<br />

E<br />

C K<br />

C<br />

H E<br />

N<br />

G E<br />

D ACHT<br />

20. September <strong>2012</strong><br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> No <strong>39</strong><br />

UMS ECKCHEN GEDACHT<br />

Findest Du die Antworten<br />

und – in den getönten Feldern –<br />

das Lösungswort der Woche?<br />

DER D ELEKTRONISCHE HUND<br />

BLEEKER<br />

41<br />

1. Am Ende der Autobahnstrecke<br />

nehmen wir eine – viel gemütlicher ist<br />

eine mit dem Pferdewagen<br />

2. Statt Lenkrad hält er Leinen, und »Hü!«<br />

ruft er, statt ein Gaspedal zu treten<br />

3. GERD ZUPFE wird keinen<br />

Kutschwagen bewegen,<br />

die hingegen können’s schaffen<br />

4. Auf einer Kutschfahrt kann man gut ...,<br />

nur für die Zugtiere kommt die Erholung<br />

erst nach dem ...<br />

5. Auf dem sitzt der Kutscher – was nicht<br />

heißt, dass wir beim Ziegenreiten wären<br />

6. Auch ein KOCH, DER’S eilig hatte,<br />

nahm einst statt Taxi die<br />

7. Sechs wurden eingespannt,<br />

als Aschenputtel ins Schloss reiste<br />

8. Mit dieser als Gestänge erhöht sich<br />

vorn die Kutschenlänge<br />

9. Kutschpferde ... oft, fürs Galoppieren<br />

sind die Wagen ja zu schwer<br />

10. Na, dufte: Was die Motorabgase beim<br />

Auto, ist der bei der Kutsche<br />

1<br />

6<br />

S T<br />

2<br />

H<br />

3<br />

D<br />

4<br />

U P<br />

5<br />

O<br />

R<br />

7<br />

I<br />

8<br />

L<br />

9<br />

N<br />

10<br />

F A<br />

Schick es bis Dienstag, den 2. Oktober,<br />

auf einer Postkarte an<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>, Kinder<strong>ZEIT</strong>,<br />

20079 Hamburg,<br />

und mit etwas Losglück gewinnst Du mit<br />

der richtigen Lösung einen Preis, ein<br />

Bücher-Überraschungspaket.<br />

Lösung aus der Nr. 37:<br />

1. auswendig, 2. ein Laden / einladen,<br />

3. Prospekt, 4. Dosen, 5. Bedienung,<br />

6. B/braten, 7. Wechselgeld, 8. Waagen,<br />

9. Lakritze, 10. Kuehltruhe. – WARENREGAL


»Vorsicht, »Vo i h ddie<br />

Herdmanns<br />

schon wieder«<br />

Sechs Kinder gibt es in der<br />

Familie Herdmann, und eins ist<br />

schlimmer als das andere.<br />

An ihrer Schule gilt die eiserne<br />

Regel: Nur ein Herdmann pro<br />

Klasse! Also ist ausgeschlossen,<br />

dass ein Herdmann-Kind jemals<br />

sitzen bleibt. Eine tolle<br />

Geschichte über die<br />

schlimmsten Geschwister aller<br />

Zeiten von der amerikanischen<br />

Autorin Barbara Robinson<br />

1.<br />

2.<br />

3.<br />

4.<br />

5.<br />

6.<br />

7.<br />

8.<br />

9.<br />

Der erste Schultag<br />

Das tätowierte Baby<br />

Die Katze im<br />

Waschsalon<br />

Leopolds Schlange<br />

Die Talentshow<br />

Das Lehrerzimmer<br />

Der Schulbus<br />

Baby an der Leine<br />

Eugenia, die Retterin<br />

10. Die Feuerübung<br />

11. Haustier-Panik<br />

12. Genial!<br />

(Abdruck mit freundlicher<br />

Genehmigung des Oetinger Verlages)<br />

© Barbara Robinson:<br />

Vorsicht, die Herdmanns schon wieder,<br />

Deutsch von Kristina Kreuzer,<br />

Verlag Friedrich Oetinger GmbH,<br />

Hamburg 2010 Illustrationen: Martin Burgdorff für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.martinburgdorff.de<br />

42 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Zwei- oder dreimal im Jahr fehlten<br />

alle Herdmanns in der<br />

Schule, und das war dann wie<br />

Ferien. Man wusste, man würde<br />

in der Pause nicht umgebracht,<br />

man müsste nichts von seinem<br />

Pausenbrot abgeben, und man<br />

brauchte sein Geld nicht zu verstecken, falls man<br />

welches hatte. Sogar der Unterricht war einfacher<br />

als sonst. Bosse Fährmann meinte, die Lehrer<br />

würden das mit Absicht machen, als Erholung<br />

für uns, aber meine Mutter meinte, das<br />

taten sie wahrscheinlich, um selbst wieder zu<br />

Kräften zu kommen.<br />

Man wusste nie, wann die Herdmanns fehlen<br />

würden, aber eigentlich war das auch ganz egal,<br />

außer einmal, als sie bei einem Feuerwehrprobealarm<br />

fehlten und unsere Schule daraufhin den<br />

Schnelligkeits- und Sicherheitspreis der Feuerwehr<br />

gewann. »Ich kann es gar nicht glauben«, sagte der<br />

Feuerwehrhauptmann. »Letztes Mal haben Sie<br />

vierunddreißig Minuten gebraucht, um das Gebäude<br />

zu räumen. Was war denn da los?« – »Sie<br />

wissen doch, was da los war«, sagte Herr Zwackbaum.<br />

»Uns war der halbe Kindergarten abhandengekommen.<br />

Olli Herdmann hatte die Kinder<br />

aus einer Tür im Erdgeschoss rausgelassen und<br />

dann mit in die Stadt genommen.« – »Ich meine,<br />

was war dieses Mal los?« – »Dieses Mal ist nichts<br />

passiert«, sagte Herr Zwackbaum. »Olli ist nicht<br />

da. Und Ralf und Eugenia und Leopold und Klaus<br />

und Hedwig auch nicht.« – »Und wo sind sie,<br />

wenn ich fragen darf?« – »Sie fehlen heute«, sagte<br />

Herr Zwackbaum. Der Feuerwehrhauptmann<br />

seufzte. »Ich dachte schon, sie wären weggezogen<br />

oder so. Nun gut ...« Er seufzte wieder und sagte,<br />

dass er dann wohl lieber mal zurück auf die Feuerwehrwache<br />

gehen würde, um auf alles vorbereitet<br />

zu sein. Alle waren ziemlich aufgeregt wegen<br />

des Schnelligkeits- und Sicherheitspreises, denn<br />

noch nie zuvor hatten wir etwas in der Art gewonnen,<br />

und wir würden es wohl auch nie wieder,<br />

zumindest nicht, bevor der letzte Herdmann die<br />

Woodrow-Wilson-Schule verlassen hatte. Doch<br />

erst mal durften wir uns nur über die Ehre freuen,<br />

denn den richtigen Preis würden wir erst am<br />

Brandschutztag erhalten.<br />

Es würde eine besondere Versammlung geben,<br />

mit dem Feuerwehrhauptmann und dem Bürgermeister,<br />

und es würde jemand von der Zeitung<br />

kommen, der Fotos machte und den Kindern<br />

Fragen zum Brandschutz stellte. Brandschutz war<br />

natürlich etwas, wovon die Herdmanns überhaupt<br />

keine Ahnung hatten – außer dass sie dagegen<br />

waren, denke ich. Also musste man hoffen, dass<br />

die Reporter nicht gerade einen von ihnen befragen<br />

würden. Man hoffte außerdem, sie würden zu<br />

diesem großen Spektakel am besten gar nicht erst<br />

auftauchen mit ihren T-Shirts, die für Bier Werbung<br />

machten. Oder besser noch, sie würden einfach<br />

überhaupt nicht auftauchen.<br />

In der Morgenansage am nächsten Tag wurde<br />

das Treffen der Feuerschutzgruppe im Aufenthaltsraum<br />

angekündigt. Eugenia stieß mich an. »Was<br />

ist die Feuerschutzgruppe?« – »Die ist für die Versammlung<br />

am Brandschutztag«, sagte ich. »Ein<br />

paar Kinder werden vorführen, was man im Falle<br />

eines Feuers machen muss.« Eugenia zuckte die<br />

Schultern. »Wasser draufschütten und die Beine<br />

in die Hand nehmen.« Dann kniff sie die Augen<br />

zusammen. »Wer ist in der Gruppe?« Ich wollte<br />

gerade sagen: »Ich weiß es nicht«, oder: »Ist doch<br />

egal« – irgendetwas, was Eugenia die Lust am<br />

Nachfragen nehmen würde –, aber wie immer<br />

musste Alice ihren Senf dazugeben. »Ich bin dabei«,<br />

sagte sie. »Wir sind zu zehnt, plus zwei Ersatzleute,<br />

falls jemand in letzter Minute krank wird.«<br />

Es war nicht ungewöhnlich, dass Leute in<br />

letzter Minute krank wurden – insbesondere wenn<br />

die Herdmanns mitmischten –, daher hörte Eugenia<br />

nun genauer hin. Sie schien aber noch immer<br />

nicht sonderlich interessiert, bis Alice sagte: »Wir<br />

werden T-Shirts tragen, auf denen ›Feuerschutzgruppe<br />

Woodrow-Wilson-Schule‹ steht, damit wir<br />

dann auf dem Foto alle gleich aussehen.« Ich<br />

brauchte gar nicht mehr »Halt den Mund, Alice«<br />

zu sagen – es war sowieso schon zu spät.<br />

Natürlich war Eugenia nicht die Einzige der<br />

Herdmanns, die nach der Schule im Aufenthalts-<br />

raum auftauchte. Sie waren alle da und lungerten<br />

herum, zu jeder Schandtat bereit. Sie hockten auf<br />

den Tischen, kratzten Kaugummi unter den Bänken<br />

hervor und kauten es – und es war wirklich<br />

altes Kaugummi, vor Keimen schimmernd und<br />

hart genug, um sich daran die Zähne auszubeißen.<br />

Aus jedem Jahrgang war mindestens ein Kind in<br />

der Feuerschutzgruppe, und sie alle behielten die<br />

Herdmanns im Auge, sodass Herr Zwackbaum sie<br />

nicht einfach ignorieren konnte, auch wenn er das<br />

wahrscheinlich am liebsten getan hätte. »Die<br />

Schule ist aus, Ralf«, sagte Herr Zwackbaum.<br />

»Eugenia, Olli – ich denke, ihr habt hier eigentlich<br />

nichts mehr zu suchen, und es ist Zeit für euch,<br />

nach Hause zu gehen. Hier findet jetzt ein Treffen<br />

statt.« – »Wir wollten uns eintragen«, sagte Ralf.<br />

»Eintragen für was? Das hier ist die Feuerschutzgruppe.«<br />

– »Genau«, sagte Leopold. »Für die<br />

wollen wir uns eintragen.« – »Wir haben es in der<br />

Ansage gehört«, sagte Hedwig, »als es um das<br />

Treffen nach der Schule ging.«<br />

Herr Zwackbaum machte den Mund auf und<br />

dann wieder zu, weil er nichts dagegen tun konn-<br />

te. Er hatte selbst die Regel aufgestellt, dass jeder<br />

Schüler der Woodrow-Wilson-Schule sich für alles<br />

eintragen durfte, was er wollte, ohne Ausnahme.<br />

Und eine andere Regel war, dass jeder sich für irgendetwas<br />

eintragen musste, ob er wollte oder<br />

nicht. Doch bisher war es noch nie vorgekommen,<br />

dass sich die Herdmanns für irgendetwas eintrugen.<br />

Bis jetzt. Mama meinte, es sei eine gute Idee,<br />

dass die Herdmanns bei der Feuerschutzgruppe<br />

mitmachten. »Wer sonst muss so viel über Feuerschutz<br />

wissen wie diese Kinder?«, sagte sie. Einige<br />

Leute meinten, so könne man sie wenigstens bei<br />

der Versammlung am Brandschutztag im Auge<br />

behalten. Mein Vater sagte, das sei so, wie wenn<br />

man Bankräuber einlud, um ihnen zu zeigen, wie<br />

man eine Bank ausraubt. Drei Kinder stiegen direkt<br />

aus der Feuerschutzgruppe aus, bevor ihnen<br />

noch irgendetwas Schlimmeres passierte. Ihre<br />

Mütter meinten, sie sollten aber trotzdem die<br />

T-Shirts bekommen, wegen der besonderen Umstände.<br />

Herr Zwackbaum wusste, was für Umstände<br />

sie meinten – die Herdmanns nämlich –,<br />

daher sagte er weiter nichts dazu. Er erklärte nur,<br />

er habe nichts mit den T-Shirts zu tun. »Das ent-<br />

scheidet der Elternbeirat«, sagte er. »Der Elternbeirat<br />

stellt die T-Shirts für die Feuerschutzgruppe<br />

zur Verfügung, zu Ehren dieses besonderen Anlasses.«<br />

Der Vorsitzende des Elternbeirats sagte, sie<br />

hätten keine T-Shirts für Kinder, die aus der Feuerschutzgruppe<br />

austreten. Frau Wendlaken sagte, sie<br />

sollten den Herdmanns keine T-Shirts geben, da<br />

sie sich einfach in die Feuerschutzgruppe reingemogelt<br />

hätten. Alle redeten von den T-Shirts, aber<br />

ich musste Charly recht geben, der sagte, selbst für<br />

Geld würde er nicht bei der Feuerschutzgruppe<br />

mitmachen, nicht mal für fünfzig T-Shirts.<br />

Im letzten Moment wurden zwei Kinder krank<br />

(oder zumindest sagten sie, dass sie krank seien),<br />

und direkt danach traten auch die beiden Ersatzleute<br />

aus, was niemanden wirklich erstaunte. »Ich<br />

bin nur Ersatz«, sagte Rebecca Schneider. »Ich<br />

kann nicht wirklich dabei sein.« – »Rebecca, als<br />

Ersatz solltest du immer bereit sein«, sagte Herr<br />

Zwackbaum. »Es ist deine Aufgabe, mit Leib und<br />

Seele dabei zu sein. Das gilt auch für dich, Mats<br />

Hagemann.« Mats war der andere Ersatzmann,<br />

und er sagte, er müsse wegen seines Asthmas aus-<br />

Die Feuerübung<br />

Die Herdmanns sprengen den Brandschutztag und werden<br />

natürlich dafür belohnt VON BARBARA ROBINSON<br />

treten. »Netter Versuch, V Mats«, sagte Herr Zwack-<br />

baum. »Aber du d hast gar kein Asthma. Zufälliger-<br />

weise weiß ich, ic welche Schüler Asthma haben. Ich<br />

weiß, iß, wer Bindehautentzündung, Fußpilz oder<br />

sonstige e Krankheiten hat, und übrigens weiß ich<br />

auch, wer Husten oder Grippe oder einen empfindlichen<br />

Magen hat.« Herr Zwackbaum nannte<br />

keine weiteren Krankheiten, und als Mats’ Mutter<br />

in der Schule anrief, um zu sagen, dass Mats einen<br />

Ausschlag habe, glaubte Herr Zwackbaum ihr kein<br />

Wort. »Das ist zu einfach«, sagte er. »Es ist wahrscheinlich<br />

Fingerfarbe oder Textmarker, irgendwas<br />

in der Art. Vor ein paar Wochen sah ich Leopold<br />

Herdmann mit roten Flecken im Gesicht rumlaufen,<br />

er führte mal wieder irgendwas im Schilde.<br />

Da habe ich zu ihm gesagt, Leopold, geh und<br />

wasch dein Gesicht, und als ich ihn das nächste<br />

Mal sah, waren alle Flecken verschwunden.«<br />

Aber bei Mats war es keine Fingerfarbe. Es<br />

waren Windpocken, und bevor man das Wort<br />

»Schnelligkeits- und Sicherheitspreis« auch nur<br />

aussprechen konnte, war so gut wie kein Schüler<br />

mehr übrig, der zur Verleihung gehen konnte. Herr<br />

Zwackbaum wollte den Brandschutztag verlegen,<br />

ZUM (VOR)LESEN<br />

aber der Feuerwehrhauptmann meinte, das könne<br />

man nicht tun. »In der ganzen Stadt ist Brandschutztag«,<br />

sagte er, »sogar im ganzen Bundesstaat.<br />

Sie können nicht einfach Ihren eigenen Brandschutztag<br />

feiern, wann Sie gerade Lust dazu haben.<br />

Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie<br />

eine kleine Gruppe zusammenstellen aus den<br />

Kindern, die noch übrig sind – Ihre Feuerschutzgruppe<br />

zum Beispiel –, können Sie mit denen zu<br />

uns auf die Feuerwehrwache kommen, dann findet<br />

die Verleihung dort statt. Das wird eine ganz große<br />

Sache.« Es wurde eine noch größere Sache, als<br />

alle erwartet hatten, denn der Ofen des Pizzabäckers<br />

ging eine Stunde vor der Verleihung in die<br />

Luft. Das Feuer konnte zwar sofort gelöscht werden,<br />

aber Herr Santoro schickte alle seine Gäste<br />

wegen des Rauches fort, und die meisten von ihnen<br />

folgten dem Feuerwehrauto bis zur Wache und<br />

blieben gleich für die Verleihung dort. Einige<br />

Leute dachten, das Feuer wäre Teil der Verleihung,<br />

vor allem, als Herr Santoro kam und die übrig<br />

gebliebene Pizza umsonst verteilte. Alle fanden,<br />

das sei eine tolle Art, Werbung für Brandschutz zu<br />

machen. Dem Zeitungsreporter geriet dann alles<br />

durcheinander. »KÜNSTLICHES FEUER HÖ-<br />

HEPUNKT DES BRANDSCHUTZTAGES«,<br />

schrieb er. »RESTAURANTBESITZER VER-<br />

TEILT PIZZA AN DUTZENDE VON MEN-<br />

SCHEN, <strong>DIE</strong> DER VERLEIHUNG BEIWOH-<br />

NEN. SCHÜLER AUSGEZEICHNET FÜR<br />

SICHERHEITS<strong>DIE</strong>NSTE.« Die »ausgezeichneten<br />

Schüler« waren die, die von der Feuerschutzgruppe<br />

übrig geblieben waren – Ralf, Eugenia,<br />

Leopold, Klaus, Olli und Hedwig –, und von ihnen<br />

war ein Foto abgebildet, wie sie vor dem<br />

Feuerwehrauto standen. Das sah aus wie eine<br />

Gegenüberstellung bei der Polizei. Und sie trugen<br />

natürlich alle die gleichen, heiß begehrten T-Shirts.<br />

»Wenn ich es nicht anders wüsste«, sagte meine<br />

Mutter, »würde ich denken, dass hier die Herdmanns<br />

ausgezeichnet werden statt der Schule.«<br />

Anscheinend war sie nicht die Einzige, die das<br />

Gefühl hatte, und einige riefen bei der Zeitung<br />

an, um sich zu beschweren, sodass eine andere<br />

Meldung gedruckt wurde – »WOODROW-WIL-<br />

SON-SCHULE GEWINNT TROTZ WIND-<br />

POCKEN DEN SCHNELLIGKEITS- UND<br />

SICHERHEITSPREIS«. Mein Vater meinte, das<br />

sei besser als nichts, aber noch immer nicht ganz<br />

richtig. »Was haben die Windpocken denn damit<br />

zu tun?«, wollte er wissen, doch Mama sagte, er<br />

könne nur das Wort Windpocken nicht mehr<br />

hören, weil ihm unsere ständige Kratzerei so<br />

furchtbar auf die Nerven ging. Frau Wendlaken<br />

steckte Alice in eine Badewanne voll Backpulverwasser,<br />

und sie musste weiße Baumwollhandschuhe<br />

tragen, damit sie sich nicht kratzte. »Ich<br />

denke nicht, dass das nötig ist«, sagte Fräulein<br />

Kornfeld. »Ich muss sie tragen, beim Nachdenken«,<br />

erklärte Alice ihr, »sonst vergesse ich, dass<br />

ich mich nicht kratzen darf. Wenn man Windpocken<br />

aufkratzt, entzünden sie sich und hinterlassen<br />

Narben.« – »Bei Leopold nicht«, sagte<br />

Eugenia. »Und bei Olli auch nicht. Und bei ...«<br />

– »Warte mal kurz«, sagte Fräulein Kornfeld. »Leopold?<br />

Olli? Ich habe nicht mitbekommen, dass<br />

einer von ihnen während unserer Epidemie gefehlt<br />

hat.« – »Oh, das haben sie auch nicht«, sagte Eugenia.<br />

Fräulein Kornfeld runzelte die Stirn. »Aber<br />

du hattest keine Windpocken, oder?«, fragte sie.<br />

»Sie wollen wissen, ob ich Windpocken hatte?«,<br />

sagte Eugenia. »Wenn du Windpocken hattest,<br />

kannst du aber nicht ohne eine Bescheinigung<br />

vom Arzt wiederkommen«, sagte Fräulein Kornfeld,<br />

und Eugenia sagte: »Aha. Ist gut«, stand auf<br />

und verließ das Zimmer.<br />

Niemand wusste also genau, ob sie tatsächlich<br />

die Windpocken gehabt hatten oder nicht, und<br />

auch nicht, wie viele von ihnen die Windpocken<br />

hatten. Es wusste ebenfalls niemand, ob sie zur<br />

Schule gekommen und alle angesteckt hatten und<br />

damit unsere große Preisverleihung ruiniert hatten<br />

oder ob sie alle krank gewesen waren und am Tag<br />

des Feueralarms zu Hause geblieben waren, sodass<br />

wir den Preis überhaupt gewinnen konnten.<br />

Nächste Woche: Eugenia Herdmann schmiert<br />

den Kopf eines Jungen mit Margarine ein und<br />

befreit ihn aus dem Fahrradständer


FEUILLETON<br />

Vom Star<br />

zum Opfer<br />

im Netz<br />

Die Kommunikation im Internet ist voller<br />

Fallen. Selbst die Piratenpolitikerin Julia<br />

Schramm verfi ng sich darin VON JENS JESSEN<br />

Das Internet ist ein gefährlicher<br />

Ort. Selbst Menschen,<br />

die das Netz als ihren natürlichen<br />

Lebensraum betrachten,<br />

können darin scheitern,<br />

wie das Beispiel der Piratenpolitikerin<br />

Julia Schramm<br />

zeigt. Ihr Schiffbruch offenbart einen Selbstwiderspruch,<br />

den weder die Sphäre des Web noch die der<br />

Politik verzeihen kann: Sie hat ihr eigenes Medium<br />

nicht verstanden.<br />

»Mein Name ist Julia, und ich lebe im Internet.<br />

Ich bin da ziemlich glücklich, habe Freunde, die<br />

ich nur digital kenne und abschalten kann, wann<br />

ich will.« Mit dieser Idylle beginnt ein autobiografisches<br />

Buch, das sie dieser Tage veröffentlicht hat<br />

– aber unglückseligerweise in traditionell verlegter<br />

Form, zum Kaufen im Buchhandel, und nicht<br />

etwa als Datei zum kostenlosen Download im<br />

Netz, wie es die Autorin eigentlich hätte machen<br />

müssen. Denn Julia Schramm ist eine bekennende<br />

Verächterin des Urheberrechts, eine der radikalsten<br />

und prominentesten, sie fände geistiges Eigentum<br />

»ekelhaft«, äußerte sie einmal. Was will sie<br />

dann im Verlagsgeschäft? Um den Widerspruch<br />

auf die Spitze zu treiben, haben ihre Freunde im<br />

Netz jetzt eine Datei des Buches zur freien Raubkopie<br />

bereitgestellt. Und was tun Julia Schramm<br />

und ihr Verlag? Sie lassen die Datei so schnell wie<br />

möglich verschwinden und bedrohen jeden mit<br />

Abmahnung, der von ihr Gebrauch machen sollte,<br />

falls sich eine Kopie noch irgendwo finden sollte<br />

– was im Labyrinth des Netzes mehr als wahrscheinlich<br />

ist.<br />

Schneller dürfte politische Glaubwürdigkeit noch<br />

nie verspielt worden sein. Jetzt wird sich zeigen, wie<br />

das mit dem Glück und den Freunden im Internet<br />

ist – das heißt, wer wen abschaltet, wenn er den nötigen<br />

Verdruss verspürt. Klick mich heißt der neckische<br />

Titel von Julia Schramms Buch, und der Aufforderung<br />

werden gewiss viele nachkommen: zum<br />

Wegklicken. Der Gerechtigkeit halber muss man allerdings<br />

sagen, dass Personen der Öffentlichkeit sich<br />

schon vor Erfindung des Netzes in gefährliche Selbstwidersprüche<br />

verstrickt haben. Cicero, einer der<br />

berühmtesten Politiker und Autoren der Antike,<br />

wechselte zwischen den Protagonisten des römischen<br />

Julia Schramm, erklärte Feindin des Urheberrechts. Ihr Verlag geht gegen Raubkopien ihres Buches vor<br />

Bürgerkrieges, zwischen Marc Anton und Octavian,<br />

so lange hin und her und hielt für jedes der Lager so<br />

eindrucksvolle, tief überzeugte Reden, dass schließlich<br />

jede Autorität dahin war. Themistokles, der<br />

glänzende Verteidiger athenischer Freiheit gegen die<br />

persische Monarchie, lief am Ende seines Lebens zum<br />

Großkönig über – was ihn in der griechischen Öffentlichkeit<br />

vom demokratischen Freiheitshelden zum<br />

Hasardeur, wenn nicht Lakaien machte.<br />

Seitenwechsel sind in der Politik nicht immer<br />

tödlich – aber immer dann, wenn die Sache der einen<br />

Seite mit einem Maß an ideologischer Überhöhung<br />

vertreten wurde, dass der Übertritt ins andere Lager<br />

nicht mehr als taktisch, noch nicht einmal als opportunistisch,<br />

sondern als blanker Verrat, als Ausweis<br />

bodenloser Charakterlosigkeit erlebt wird. Angela<br />

Merkel, deren Hin und Her in der Finanzkrise gewiss<br />

nicht prinzipienfest war, hat es doch klug vermieden,<br />

jemals irgendeine ihrer vorübergehenden Positionen<br />

ideologisch zu begründen. Das war schlimm in den<br />

Augen ihrer Kritiker, die Prinzipientreue gerne hätten<br />

– aber nicht schlimm für sie, die etwas anderes als<br />

Pragmatismus niemals versprach.<br />

Und vor allem: Das Drama der Merkelschen<br />

Krisenbewältigung wird<br />

nicht im Netz uraufgeführt. Es spiegelt<br />

sich nur dort – wie sich alles im<br />

Netz spiegelt. Das ist ein bedeutender<br />

Unterschied. Angela Merkel kann sich an die<br />

üblichen politischen Teilöffentlichkeiten wenden,<br />

an das Parlament, das Kabinett, die Partei; an das<br />

Plenum internationaler Gipfeltreffen oder kaum<br />

sichtbare Diplomatenkreise; schließlich auch an<br />

eine allgemeine, aber immer medial vermittelte<br />

Öffentlichkeit, sieht man von ihrem Podcast einmal<br />

ab. Mit anderen Worten: Es sind deutlich verschiedene,<br />

voneinander abgegrenzte Sprechakte, je<br />

nach Publikum und Adressat, und selbst Botschaften<br />

direkt ans Volk haben ihre eigentümliche, definierte<br />

Form wie in den Weihnachtsansprachen<br />

oder werden von Journalisten übermittelt, also gewohnheitsmäßigen<br />

Übersetzern.<br />

Nirgendwo schießen diese Sprechakte unvermittelt<br />

zusammen oder treffen auf ungeübte Ohren.<br />

Sie verlieren auch ihre zeitliche Ordnung<br />

nicht. Es gibt nur einen Ort, wo dies geschehen<br />

könnte – wo nicht mehr kalkulierbar ist, zu wem<br />

man spricht, und wo Entstehung und Zeit einer<br />

Wortmeldung unsichtbar werden: Das ist das Internet.<br />

Man überlege sich nur einmal, was im Netz<br />

mit dem politischen Denker Heinrich Heine geschehen<br />

wäre, dessen Position sich im Laufe seines<br />

Lebens vom Demokraten zum Kommunisten und<br />

schließlich Monarchisten wandelte. Jede Phase<br />

seines Denkens hätte die andere unrettbar denunziert,<br />

obwohl Jahrzehnte zwischen ihnen lagen<br />

und Heines charakteristische Dialektik im Übrigen<br />

auch nahelegte, jeweils eine Gegenposition zur<br />

herrschenden Meinung zu artikulieren.<br />

Heinrich Heine, der bedeutendste Gesellschaftskritiker<br />

vor Marx und Nietzsche, wäre im Netz nichts<br />

als eine verlachte Hassfigur – wenig mehr als eine<br />

Julia Schramm, die gestern das Urheberrecht verachtet<br />

und heute die Profite daraus sichern möchte.<br />

Nun wird man zugeben müssen, dass Schramm ihre<br />

Positionen auch nach Maßstäben der Dialektik deutlich<br />

zu rasch und unvermittelt gewechselt hat. Aber<br />

in einer anderen Kommunikationsumgebung hätte<br />

man doch von gewandelter Einsicht sprechen können<br />

oder sogar eine Unterscheidung gemacht zwischen<br />

der politischen Person und der Geld verdienenden<br />

Privatperson – vielleicht jedenfalls.<br />

Das eigentliche Dilemma des Netzes besteht in<br />

seiner grenzenlosen, für niemanden einschätzbaren<br />

Öffentlichkeit. Wer im Netz spricht, weiß niemals,<br />

zu wem er spricht – von klar eingegrenzten Foren<br />

einmal abgesehen. Gibt es Kenntnisse, Einsichten,<br />

moralische Maßstäbe, gar Ironiefähigkeit oder Bildung?<br />

Es gibt sie natürlich – und es gibt sie natürlich<br />

nicht. Wer das Wesen seines Adressaten nicht kennt,<br />

kann aber keinen sinnvollen Satz formulieren. Was<br />

dem einen als selbstverständlich, fast als Plattitüde<br />

erscheint, kann schon dem nächsten Tränen des Zorns<br />

in die Augen treiben. Man äußere nur einmal im Netz,<br />

dass Norwegen oder die Ukraine künstlich geschaffene,<br />

auf wackliger Grundlage erfundene Nationen<br />

ohne Tradition seien – es würde bei jedem Historiker,<br />

auch bei jedem historisch gebildeten Norweger oder<br />

Ukrainer nur müde Zustimmung, aber bei allen<br />

naiven Patrioten Wutschreie provozieren.<br />

Nicht nur die Welt als Ganze, auch jede Nation<br />

und jede Stadt besteht aus zahllosen Parallelgesellschaften,<br />

deren Denkhorizonte nicht ohne bizarre<br />

LITERATUR<br />

Ulf Erdmann Zieglers Roman<br />

»Nichts Weißes« S. 47<br />

Missverständnisse und tiefe Kränkungen zusammengeführt<br />

werden können. Nur ein besonders trauriges<br />

Beispiel ist das antimohammedanische Video, das<br />

derzeit sein Hasspotenzial vom Internet hinaus auf<br />

die Straße trägt, aber für ein westliches Publikum nur<br />

eine Albernheit darstellt, während es die islamische<br />

Welt ganz ernsthaft ins Mark trifft. Mit guten Gründen<br />

haben die traditionellen Medien, die regional<br />

begrenzten Sender und Zeitungen, stets nur Teilöffentlichkeiten<br />

bedient – die Parallelgesellschaften<br />

der Welt abgebildet.<br />

Natürlich kann es seinen Witz, mitunter<br />

auch eine lehrreiche Pointe<br />

haben, wenn die Mauern zwischen<br />

Milieus eingerissen werden – und<br />

die Welt erfährt, wie der amerikanische<br />

Präsidentschaftskandidat Romney im kleinen<br />

Kreis die Wähler seines Kontrahenten Obama<br />

beschimpft, die er eigentlich für sich gewinnen<br />

müsste. Aber was folgt daraus? Mitt Romney hat<br />

den Sprechakt gewählt, der dem kleinen Kreis von<br />

Anhängern vielleicht sehr angemessen war – nur<br />

eben nicht geeignet, heimlich mitgefilmt und ins<br />

World Wide Web gepustet zu werden. Nüchtern<br />

gesehen, war sein Fehler nur, die jederzeit mögliche<br />

und tödliche Denunziation im Netz nicht einkalkuliert<br />

zu haben.<br />

Auf der Überschreitung von Milieugrenzen, die<br />

in den traditionellen Medien selbstverständlich bestanden,<br />

beruhte auch die Aufregung über die<br />

Nacktfotos von Kate Middleton. In der Schmuddelpresse<br />

mit ihrem Schmuddelpublikum hätten sie<br />

ihren rechten Ort gehabt und vielleicht nur einen<br />

kleinen Prozess nach sich gezogen, der zur Feier<br />

solcher Indiskretion gehört. Erst die Präsentation<br />

vor dem unspezifischen Publikum des Internets<br />

konnte den Gedanken der Majestätsbeleidigung<br />

aufkommen lassen. Niemand weiß, wie die Fotos<br />

dort gelesen werden, mit einem Augenzwinkern<br />

oder dem dramatischen Verlust jeden Respekts vor<br />

der Monarchie.<br />

Die Revolution einer Weltöffentlichkeit, die das<br />

Internet geschaffen hat, wird Jahrzehnte, wenn nicht<br />

Jahrhunderte brauchen, um aufgeklärte, tolerante<br />

Formen des Gesprächs zu entwickeln, das nicht Hass<br />

und Missgunst jederzeit fürchten muss.<br />

Foto (Ausschnitt): Hermann Bredehorst/Polaris/laif<br />

GLAUBEN & ZWEIFELN<br />

Blasphemie: Ein Gespräch mit Seyran Ates<br />

über Demokratie und religiöse Gefühle S. 58<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 43<br />

HASS-VIDEO<br />

Falsche Bärte<br />

Was zeigt der Schmähfilm gegen<br />

Mohammed eigentlich?<br />

Jeder kennt diese scheinbar von einem Nichts<br />

ausgelösten Familienstreite, die zu Türenknallen,<br />

Geschrei, ja sogar panischen Fluchten<br />

im Auto eskalieren. Nach einer Weile,<br />

wenn alle heiser geschrien wieder zusammenkommen,<br />

fragt man sich, was zum Teufel eigentlich<br />

der Auslöser war. Zwei der schlimmsten<br />

Streite unserer Familie wurden ausgelöst<br />

von einer roten Socke, die meine Schwester<br />

oder ich aus Versehen in die Kochwäsche geworfen<br />

hatte, und von einem unter den Teller<br />

geklebten Kaugummi.<br />

Es ist nicht zynisch, die Ausschreitungen<br />

der Muslime in aller Welt aus einem analogen<br />

Blickwinkel zu betrachten. Es ist nicht<br />

zynisch, weil der Konflikt ganz offenkundig<br />

nur einen beliebigen, ja regelrecht abseitigen<br />

Auslöser brauchte, um sich in stereotyper<br />

Weise zu entfalten. Wer sich den sogenannten<br />

Mohammed-Schmähfilm The Innocence<br />

of Muslims als Kurzversion im Internet anschaut,<br />

der sieht: Menschen mit angeklebten<br />

Bärten, die in eine Art digitale Wüstentapete<br />

montiert sind. Männer in scheichartigen<br />

Gewändern (die es in Berlin bei Deko-Behrend<br />

in besserer Qualität gibt), die mit<br />

Schwertern herumfuchteln. Einen Typen namens<br />

Mohammed, der sich mit einem Straßenjungen<br />

um einen abgenagten Knochen<br />

streitet, seinen Kopf linkisch zwischen die<br />

Beine einer Frau steckt, alle weiblichen Wesen<br />

in seiner Umgebung ins Bett zieht und<br />

auf debile Weise zum Feldzug gegen Christen<br />

aufruft. Das Ganze, man muss es einfach<br />

sagen, sieht aus, als habe Otto Waalkes den<br />

Koran gelesen und nach einer Wasserpfeife<br />

einen Trailer für 7 Zwerge – Männer allein in<br />

der Wüste gedreht. Oder als habe sich eine<br />

Laienspielgruppe in der deutschen Provinz<br />

nach ein paar Kästen Bier vorgenommen, bei<br />

den Passionsspielen mal was richtig Abgefahrenes<br />

zu machen.<br />

Es nimmt nicht weiter Wunder, dass für<br />

den Dreh des Films ein Trash-und-Porno-<br />

Regisseur mit dem Pseudonym Alan Roberts<br />

verantwortlich zeichnet (seine weiteren<br />

Werke sind: Zombie-Kriege, Die glückliche<br />

Nutte geht nach Hollywood). Der Internetclip<br />

ist ja tatsächlich ein Pornofilm, ein<br />

schmutziges, kleines, blödes Werk mit Alibihandlung,<br />

das möglichst umstandslos<br />

zum Ziel kommt. Die einstündige Langfassung<br />

wurde bisher nur einmal, vergangenen<br />

Juni, in einem halb leeren Kino in Hollywood<br />

gezeigt, ohne dass sich irgendjemand<br />

darüber aufgeregt hat.<br />

Was heißt das? Dass es rein gar nichts<br />

bringen kann, hinter den teilnahmslos in die<br />

Wüste blickenden Kamelen und Blechsäbeln<br />

von The Innocence of Muslims nach Gründen<br />

für die Hassausbrüche und die Toten der<br />

letzten Tage zu suchen. Dass den Ernst der<br />

Lage zu erkennen gerade bedeuten kann, den<br />

Auslöser nicht zu ernst zu nehmen. Und dass<br />

es eine Irreleitung wäre, den Clip durch ein<br />

Verbot noch weiter aufzuwerten und zu dämonisieren.<br />

Man wird unzählige Werke finden<br />

können, die mit den vielschichtigen Ursachen<br />

der arabischen Unruhen zwar nichts<br />

zu tun haben, aber mühelos für weitere Mobilmachungen<br />

instrumentalisiert werden<br />

können. Genauso gut könnte man rote Socken<br />

verbieten. KATJA NICODEMUS


Illustration: P.M.Hoffmann für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.pmhoffmann.de; Foto: Piper Ferguson/Corbis<br />

44 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Der Teufel regiert immer mit<br />

Ry Cooder, legendärer Songwriter und Gitarrist, spricht über die Abgründe der amerikanischen Politik<br />

Der Gitarrist, Sänger und Songwriter Ry Cooder<br />

gehört seit vier Jahrzehnten zu den wichtigsten<br />

amerikanischen Roots-Musikern. Er hat mit den<br />

Rolling Stones, Randy Newman und Captain<br />

Beefheart gespielt und die alten Herren des Buena<br />

Vista Social Club weltbekannt gemacht. Von<br />

ihm stammen Klassiker wie »Paradise and<br />

Lunch«, »Chicken Skin Music« oder »Bop Till You<br />

Drop«. Den kommerziellen Durchbruch brachten<br />

ihm Filmsoundtracks – insbesondere zu Wim<br />

Wenders’ Film »Paris, Texas«. Sein neues Album<br />

»Election Special« ist ein beißender Kommentar<br />

zur aktuellen amerikanischen Politik. In neun<br />

Blues- und Folk-Songs mischt Cooder sich in den<br />

Präsidentschaftswahlkampf ein.<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Mr. Cooder, gefährden Sie nicht Ihren<br />

Ruf als Songwriter, wenn Sie sich mit Election<br />

Spe cial in die Untiefen des US-Wahlkampfs begeben?<br />

Ry Cooder: Ich tue das aus Notwehr. Die amerikanische<br />

Rechte ist sehr clever in ihrer Propaganda.<br />

Sie bringt die Wähler am Ende dazu, gegen ihre<br />

eigenen Interessen zu stimmen – insbesondere<br />

weiße Amerikaner, die um ihre Jobs und Häuser<br />

fürchten. Und Songs zu schreiben ist doch besser,<br />

als nur mit der Faust auf den Tisch zu hauen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sind wütend?<br />

Cooder: Und ob. Viele Amerikaner sind sehr<br />

wütend. Leider versteht sich die Tea Party nur allzu<br />

gut darauf, diesen Ärger für ihre Zwecke zu<br />

nutzen. Der rechte Flügel der Republikaner finanziert<br />

ein pausenloses Trommelfeuer im Internet,<br />

im Fernsehen, im Radio. Die Rechte kontrolliert<br />

einen Großteil dieser Medien. Sie nutzt<br />

sie, um ihre Lügen zu wiederholen, bis die Leute<br />

sie irgendwann glauben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: In früheren Songs haben Sie sich regelmäßig<br />

mit der amerikanischen Geschichte befasst.<br />

Ist es schwieriger, über aktuelle Tagespolitik zu<br />

schreiben?<br />

Cooder: Ich habe bewusst die Form des Bluesund<br />

Folk-Songs gewählt. So knüpfe ich an eine<br />

amerikanische Tradition an, die bis Joe Hill und<br />

Woody Guthrie zurückreicht und heute von der<br />

Occupy-Bewegung aufgenommen wird. Warum<br />

nicht über Tagespolitik singen? Woody Guthrie<br />

hat so anschauliche Songs geschrieben, weil er die<br />

De pres sion selbst erlebt hat.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie nennen Woody Guthrie Ihr Vorbild.<br />

Ihre Songs unterscheiden sich dennoch vom feierlich-pathetischen<br />

Protest-Folk der sechziger Jahre.<br />

Cooder: Weil ich meine Songs nicht für die Front,<br />

für Demos oder Sit-ins geschrieben habe. Lieber<br />

erzähle ich Geschichten – so wie es Country-Musiker<br />

tun, nur dass meine story lines etwas über den<br />

Zustand unseres Landes und die Moral unserer<br />

Politiker aussagen. Nehmen Sie etwa den Mutt<br />

Romney Blues. Mutt wie Trottel. Das sage natürlich<br />

nicht ich, sondern ich lasse seinen Hund erzählen.<br />

Sie haben sicher die Geschichte gehört,<br />

wie Romney in den Urlaub fuhr und seinen<br />

Hund einfach für 1000 Meilen auf das Autodach<br />

geschnallt hat.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Deswegen gibt es ja schon eine »Mein<br />

Hund bellt gegen Romney«-Kampagne. Auf Ihrem<br />

Album überwiegen die düsteren, manchmal<br />

bitteren Töne: vom Gefängnis-Lamento namens<br />

Guan ta na mo bis zu Kool-Aid, wo Sie die Gehirnwäsche<br />

durch die Rechte anklagen. Steht es wirklich<br />

so schlecht um Ihr Land?<br />

Cooder: Es geht ein tiefer Riss durch Amerika.<br />

Und die rechte Propaganda hat ihn zu verantworten.<br />

Sie hetzen die Menschen so lange auf, bis<br />

ein selbst ernannter Wachmann namens George<br />

Zimmerman einen unbewaffneten schwarzen<br />

Ein Demokrat:<br />

Ry Cooder<br />

Teenager erschießen kann und die Polizei ihn<br />

laufen lässt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Immerhin haben Ihre Landsleute vor vier<br />

Jahren den ersten schwarzen Präsidenten gewählt.<br />

Cooder: Präsident Obama macht seinen Job so<br />

gut wie möglich. Ich singe in Cold Cold Feeling<br />

über seine Einsamkeit im Oval Office. Am Ende<br />

aber steht er wie David gegen Goliath: Großindustrielle<br />

wie die Koch-Brüder können inzwischen<br />

ganz legal Millionen ausgeben, um den<br />

Äther mit ihren Lügen zu vergiften.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Auch diesen berüchtigten Financiers der Ultrarechten<br />

widmen Sie einen Song: Brother Is Gone.<br />

Cooder: Ich habe lange nach einem Weg gesucht,<br />

über die Brüder Charles und David Koch zu singen.<br />

Bis mir Robert Johnsons alte Blues-Fabel<br />

einfiel; er spricht von der Wegkreuzung, an der<br />

man den Teufel trifft. So erkläre ich die Macht<br />

der Koch-Brüder. Satan verspricht ihnen einen<br />

Pakt: Ihr könnt die totale Macht haben. Aber ich<br />

werde als meinen Preis einen von euch Brüdern<br />

zur Hölle mitnehmen, und nur ich weiß, wen<br />

und wann. So wacht Charley Koch eines Tages<br />

auf, und sein Bruder Davey ist verschwunden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wollen Sie mit Ihren Songs den Kampfgeist<br />

des linken, demokratischen Amerikas anstacheln?<br />

Cooder: Ein Präsident der Demokraten kann<br />

kaum etwas richtig machen. Weil die zwei Amtszeiten<br />

von George Bush das Präsidentenamt beschädigt<br />

haben. Was nützt es, auf dem Fahrersitz<br />

des Autos zu sitzen, wenn das Auto nicht mehr<br />

fährt? Obama hat ein kaputtes Fahrzeug von den<br />

Republikanern übernommen. Und natürlich hätte<br />

ich ihn lieber radikaler, er hat es viel zu lange<br />

vermieden, die unsozialen Pläne der Republikaner<br />

frontal anzugreifen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Glauben Sie, dass Polit-Songs eine Rolle<br />

im Präsidentschaftswahlkampf spielen werden?<br />

Cooder: Ich überschätze die Rolle von Musik<br />

nicht. Songs geben dir nur Bilder, kleine Allegorien.<br />

Vor achtzig oder hundert Jahren waren Songs<br />

für viele Menschen noch die einzige Informationsquelle.<br />

Heute kauft kaum jemand noch Platten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und doch hat der politische Song überlebt<br />

...<br />

Cooder: Dass die Occupy-Bewegung keine kommerziellen<br />

Absichten verfolgt, gibt mir große<br />

Hoffnung. Diese Menschen können vielleicht<br />

auch meine Lieder brauchen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: So wie Ihren Song The 90 And The 9, auf<br />

dem Sie die 99 Prozent der nicht superreichen<br />

Amerikaner auffordern, für ihre Rechte zu<br />

kämpfen?<br />

Cooder: Würden die einfachen Menschen sich<br />

verbünden, hätten die rechten Republikaner keine<br />

Chance. Doch die Reichen spielen immer eine<br />

Gruppe gegen die andere aus: Speziell in Kalifornien<br />

werden die mexikanischen Wanderarbeiter<br />

vor jeder Wahl angeklagt, den Weißen ihre Jobs<br />

wegzunehmen. Nach der Wahl muss man sie dann<br />

wieder zurückholen – weil ja irgendjemand ihre<br />

Arbeit machen muss. Noch schlimmer ist der Versuch<br />

der Rechten, die Wahlrechte zu beschneiden.<br />

Sie wollen Menschen, die für Obama stimmen<br />

würden, von den Urnen fernhalten: Schwarze sollen<br />

nicht wählen. Arme sollen nicht wählen. Und<br />

die Leute vom Obersten Gerichtshof finden Wege,<br />

all die Gesetze, die Präsident Johnson während der<br />

Bürgerrechtsbewegung erließ, rückgängig zu machen.<br />

Das ist der gefährlichste Angriff auf unsere<br />

Bürgerrechte in der Geschichte unseres Landes.<br />

Das Gespräch führte JONATHAN FISCHER<br />

Madame Tattoo<br />

Ein Rückblick auf die hysterische Debatte um Bettina Wulff<br />

VON URSULA MÄRZ<br />

Ein paar Fragen sind in der Causa Bettina<br />

Wulff schon noch offen, Fragen,<br />

die über den Einzelfall hinaus durchaus<br />

interessant sind. Zum Beispiel die<br />

Frage, ob Bettina Wulffs Anspruch,<br />

Gerüchte über eine angebliche Rotlichtvergangenheit<br />

auf juristischem Weg auszuräumen, dadurch<br />

beeinträchtigt oder gar desavouiert ist, dass sie ihn<br />

mit der Veröffentlichung ihres Buches und dessen<br />

Vermarktung zeitlich, also strategisch verknüpfte.<br />

Hat Bettina Wulff, die sich den Medien sehr gern,<br />

sehr selbstbezogen und auf durchaus peinliche<br />

Weise hingibt, hierdurch ihr Recht verwirkt, sich<br />

gegen die Auslieferung ihres Namens an As so ziations<br />

be grif fe wie »Prostituierte« oder »Escort-Service«<br />

im Medium Internet zu wehren? Eindeutig:<br />

Nein. Sie hat das Recht, ohne Wenn und Aber. Ihr<br />

Anspruch, sich von unwahren Bordellgeschichten<br />

zu befreien, wird keinen Millimeter geschmälert<br />

durch die Show, die sie in den vergangenen zwei<br />

Wochen abzog. Auch wenn Bettina Wulff, wonach<br />

es aussieht, komplett den Überblick verloren hat,<br />

auch wenn sie uns bis Weihnachten mit Privata,<br />

Kochrezepten oder biografischen Erinnerungen<br />

bombardiert, auch wenn sie der Aufgabe, zwischen<br />

ihrer Ehrenrettung und ihren Selbstdarstellungsgelüsten<br />

zu unterscheiden, überhaupt nicht gewachsen<br />

ist: Die Öffentlichkeit hat die Aufgabe,<br />

hier zu unterscheiden und das eine vom anderen<br />

zu trennen.<br />

Die Klage gegen Google ist ein Muss,<br />

da sind alle Allüren egal<br />

Was Frau Wulff in ihrem wahrhaft unangenehmen<br />

Buch Jenseits des Protokolls, was sie von Interview zu<br />

Interview an Banalitäten und Plattitüden, von Foto<br />

zu Foto an Styling aufbietet, ist schon nervig. Was<br />

der Gattin eines ehemaligen deutschen Bundespräsidenten<br />

in verleumderischer Absicht angehängt<br />

wurde und im Internet immer noch anhängt, das<br />

allerdings ist nicht nervig. Es ist absolut untolerierbar.<br />

Nicht nur für die Gattin. Auch für uns. Man<br />

möchte es nicht hinnehmen, dass die Allüren einer<br />

jungen, etwas wichtigtuerischen Frau die Ablagerung<br />

von erlogenen Schmutzgeschichten um das höchste<br />

Amt im Staat rechtfertigen. Die Bild-Zeitung will<br />

durch eine Umfrage herausgebracht haben, dass bis<br />

zum Beginn des Spektakels vor zwei Wochen nur<br />

15 Prozent der Bundesdeutschen von den Rotlichtgerüchten<br />

wussten. Das sind 15 Prozent zu viel. Zu<br />

viel dafür, dass die Betroffene über ein Jahr lang der<br />

Repräsentation der Bundesrepublik diente. Wer sich<br />

ein paar Stunden damit beschäftigt, durch das Labyrinth<br />

der digitalen Sex- und Bordellseiten zu<br />

surfen, die sich bei Google aus der Eingabe des Vornamens<br />

»Bettina« ableiten, der empfindet Bettina<br />

Wulffs Ehetherapie-Outing als vergleichsweise unmonströs.<br />

Bettina Wulff hat gegen Google Klage<br />

erhoben. Der juristische Ausgang dürfte relevant<br />

genug sein, um die Klägerin künftig vorzugsweise<br />

in diesem Kontext wahrzunehmen – nicht im Kontext<br />

ihrer desaströsen PR-Offensive.<br />

Warum geriet sie überhaupt in dieses Desaster?<br />

Wie kann es sein, dass Bettina Wulff die Anfeindungen,<br />

die ihr nun geballt entgegenschlagen, noch<br />

nicht einmal als ferne Möglichkeit in Betracht zog?<br />

Wie kommt es, dass eine Frau, von deren intellektuellen<br />

Kapazitäten und deren Erfahrung als PR-<br />

Expertin zumindest die Effektberechnung ihres<br />

Auftretens zu erwarten ist, sich bei ihrer Schreiberei<br />

und Quasselei über den Gefühlsstress im Schloss<br />

Bellevue, über die Unbehaglichkeit der Bundespräsidentenvilla,<br />

über die Wahl des Kostüms gelegentlich<br />

des Rücktritts Christian Wulffs etc. pp. in völliger<br />

Sicherheit wähnte, all dies würde vom Publikum<br />

als bedeutsame und Sympathie stiftende<br />

Auskunft begrüßt? Diese Frage ist nicht leicht zu<br />

beantworten. Die Suche nach einer Antwort führt<br />

zu einer anderen Frage: Wo lebt Bettina Wulff eigentlich?<br />

Wie ist aus ihrer Sicht ein Land beschaf-<br />

FEUILLETON<br />

fen, das ihr Buch so einstimmig bejubelt wie ihre<br />

wechselnden Modelposen? Ja wie eigentlich?<br />

Es ist ein Land, in dem die Journalistin, die schon<br />

erfolgreich mit Veronica Ferres an einem Buch gearbeitet<br />

hat, genau die richtige Ghostwriterin für das<br />

Buch einer Politikergattin ist. Ein Land also, in dem<br />

das System Unterhaltungsprominenz als Referenzgröße<br />

für das System Politik dient. In diesem Land<br />

genügt die Aussage eines Looks als Aussage über das<br />

Rollenverständnis einer Bundespräsidentengattin<br />

und eine Tätowierung als politisches Thema. Das<br />

Drehbuch, welches dieses Land auf die Geschichte<br />

seines öffentlichen Personals anwendet, ist kein<br />

anderes als das des Medienstars. Und genau dies ist<br />

das Drehbuch, in dem Bettina Wulff sich befindet<br />

und das sie bis ins Detail hinein befolgt. Sie scheint<br />

tatsächlich zu glauben, dass sie alles richtig macht,<br />

wenn sie sich an die Erfolgsrezepte von Figuren hält,<br />

bei denen es darauf ankommt, möglichst ubiquitär<br />

sichtbar zu sein, möglichst viel privaten Episodenstoff<br />

zu liefern, möglichst umfangreich und reizstark<br />

abgebildet zu werden.<br />

Wenn sich Bettina Wulff in knallroter Bluse,<br />

knallrotem kurzem Rock, knallroten Stiefeln auf<br />

einer Treppe sitzend fotografieren lässt, dann demonstriert<br />

sie nicht nur ihren Attraktivitätsstolz. Sie<br />

demonstriert das elementare Missverständnis der<br />

Rolle, der sie ihre öffentliche Karriere verdankt. In<br />

dem Land, das Bettina Wulff wahrnimmt, ist der<br />

Vorteil, den Daniela Katzenberger gegenüber Annette<br />

Schavan insofern genießt, als sie das Medienprinzip<br />

schlichtweg professioneller beherrscht,<br />

durchaus von einer gewissen Bedeutung. Man würde<br />

sich kaum mehr wundern, wenn die Gattin des<br />

ehemaligen Bundespräsidenten demnächst einen<br />

Werbevertrag unterschriebe und im Fernsehen für<br />

Müller-Milch aufträte. Kurzum: Bettina Wulff hat<br />

sich verrannt, wie sich Stephanie zu Guttenberg, der<br />

sie augenscheinlich nacheifert, ebenso gnadenlos<br />

verrannt hätte, wenn das Schicksal sie nicht im<br />

letzten Moment über den Atlantik entführt hätte.<br />

Endlich Glamour im Politbetrieb,<br />

endlich auch bei uns ein wenig Bruni<br />

Was ist mit diesen Geschöpfen eigentlich los? Erfahrene,<br />

selbstbewusste, willensstarke Frauen aus<br />

einer Generation mit weiten Spiel- und Handlungsräumen,<br />

die sich, kaum haben sie die Sphäre<br />

der Politik betreten, in einer Art benehmen, als<br />

handele es sich dabei um die Location eines Fotoshootings.<br />

Nun ja, ein wenig übereitel sind sie<br />

schon, und sie wissen auch sehr um ihr optisches<br />

Po ten zial. Aber die Erfahrung, dass sie dank dieses<br />

Potenzials von der Öffentlichkeit empfangen wurden,<br />

als brächten sie ein Glas Wasser in die Wüste,<br />

um den vom Verstaubungstod bedrohten Politbetrieb<br />

zu retten, diese Erfahrung begleitete ihre<br />

ersten Schritte auf dem roten Teppich allerdings<br />

auch. Endlich!, schallte es ihnen entgegen, endlich<br />

weiblicher Glamour und Palastglanz in der Berliner<br />

Bürokratenhütte. Endlich ein klein wenig Michelle<br />

Obama, eine Spur Carla Bruni, endlich Garderobe<br />

von Designern, die Annette Schavan nicht einmal<br />

vom Namen her bekannt sein dürften.<br />

Man kann, was ihnen angeboten wurde, einen<br />

Deal nennen: Dafür, dass sie dem Drehbuch der<br />

Politik einen Look und Celebrity beisteuerten,<br />

durften sie eine Weile ignorieren, dass es sich bei<br />

dem Land, in dem sie leben, um eine repräsentative<br />

Demokratie handelt, deren Akteure Stellvertreter,<br />

nicht Selbstdarsteller sein sollen. Diesen Deal hat<br />

sich Bettina Wulff restlos zu eigen gemacht. Sie<br />

erschien zum großen Zapfenstreich mit neuer Frisur,<br />

sie erzählte, wie sie Herrn Wulff im Flugzeug<br />

kennenlernte, sie schrieb ein Buch mit einer Celebrity-Ghostwriterin.<br />

Sie spielte, was im Drehbuch<br />

eines Unterhaltungsstars so drinsteht. Und das war<br />

offensichtlich ein großer Fehler.<br />

A www.zeit.de/audio<br />

Individualität hat<br />

ihren Preis: Das<br />

Motiv von Bettina<br />

Wulffs Tätowierung


FEUILLETON<br />

Es ist so ruhig, als hätte einer den<br />

Soundtrack der Großstadt auf null<br />

gedreht. Bedford Square im Londoner<br />

Stadtteil Bloomsbury atmet<br />

die Gelassenheit einer entspannten<br />

Epoche. Schnurgerade Häuserreihen<br />

um einen Park. Türbögen in<br />

Rot-Weiß. Man stellt sich vor, wie Virginia Woolf,<br />

vom Tavis tock Square her kommend, ihrem Spaniel<br />

nachhechelte in Richtung Grün, aus dessen Hecken<br />

sich jetzt allerdings erstaunlich viele Männer lösen.<br />

Es kommen: einer von links, zwei von rechts, einer<br />

von geradeaus, es sind pralle Typen in schwarzen<br />

Anzügen, verkabelte fleischige Ohren. Security!<br />

Ich versuche einen Scherz und sage: »Ich habe<br />

hier ein Date mit Salman Rushdie.« Sie fragen, wer<br />

Salman Rushdie sei. Ich frage sie, wer sie sind, und<br />

sie antworten, sie seien die Security zum Schutz der<br />

Studenten, die heute im Park Examen feiern.<br />

Studenten! Ob das eine gute, eine schlechte<br />

Nachricht ist? Dass der Autor Salman Rushdie, auf<br />

dessen Kopf der islamische Mullah Ajatollah Chomeini<br />

am 14. Februar 1989 eine Million Dollar ausgesetzt<br />

hatte, dessen Name in Schockwellen um die<br />

Welt lief, der vom Special Service des Vereinigten<br />

Königreiches über zehn Jahre lang von Versteck zu<br />

Versteck gebracht, vor Mörderkommandos geschützt<br />

werden musste, dass Salman Rushdie einem<br />

Londoner Security Service heute ein Unbekannter<br />

ist? Und Studenten der Security bedürfen?<br />

Wir sind mit Salman Rushdie in seiner Agentur<br />

verabredet. Zu Wylie hatte Rushdie sich geflüchtet,<br />

als der Boden unter seinen Füßen zu beben begann,<br />

als er hörte, was der Ajatollah Chomeini sagte:<br />

Ich informiere das stolze muslimische Volk der<br />

Welt, dass der Autor des Buches »Die satanischen Verse«,<br />

welches sich gegen den Islam, den Propheten und<br />

den Koran richtet, sowie alle, die zu seiner Publi kation<br />

beigetragen haben, zum Tode verurteilt sind. Ich<br />

bitte alle Muslime, die Betroffenen hinzurichten ...<br />

Heute sitzt der Autor bei Wylie auf der Terrasse,<br />

ein kleiner, molliger Herr. Er hat seine Autobiografie<br />

geschrieben, eine 700 Seiten lange Aufzählung<br />

der Horrorszenarien seiner Zeit im Untergrund.<br />

Alles überstanden! Besser gesagt: überlebt. Es ist ein<br />

sonniger Tag. In Pakistan wurde ein 14-jähriges<br />

Mädchen, das der Beleidigung des Korans angeklagt<br />

war, aus dem Gefängnis entlassen. Nicht so gut die<br />

Nachricht, dass, weil die iranische Schauspielerin<br />

Gol shif teh Farhani in einem Künstlervideo eine<br />

Brust entblößt hat mit dem Satz: »Ich werde deine<br />

Träume nähren«, ihr Vater Drohanrufe erhält, jemand<br />

schrie ins Telefon, man werde ihr die Brüste<br />

abschneiden und ihm auf einem Tablett servieren.<br />

Wir wissen noch nicht, dass es eine Woche vor dem<br />

Tag ist, an dem ein Mob die amerikanische Botschaft<br />

in Bengasi stürmt und den Botschafter tötet,<br />

die deutsche Botschaft in Khartoum brennt und in<br />

Tripolis Kentucky Fried Chicken. Unruhen in Irak,<br />

Iran, Katar, Kaschmir und Ägypten, wegen eines<br />

Films, der den Propheten Mohammed verspottet.<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Die Fatwa gab Ihrem Leben eine völlig<br />

neue Richtung. Wann haben Sie das verstanden?<br />

Salman Rushdie: Vielleicht eine Woche nachdem es<br />

begann. Als die diplomatischen Bemühungen gescheitert<br />

waren. Es gab diesen Moment, in dem ein<br />

Senior Police Officer sagte: Hören Sie, sieht so aus,<br />

als könnte es auf unbestimmte Zeit so bleiben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Auf unbestimmte Zeit ein Fliehender. Sie,<br />

der Star des literarischen London, Gewinner des<br />

Booker Prize für Midnight’s Children, verjagt aus<br />

dem eigenen Leben. Was waren Ihre Gefühle?<br />

Rushdie: Furchtbar. In den ersten zwei Jahren war<br />

ich in Gefahr, mich zu verlieren. Eine Spirale in die<br />

Depression. Nicht schreiben können, nicht arbeiten,<br />

können nicht klar denken können. Sie betonten,<br />

ich würde nicht mehr nach Hause zurück<br />

können. Ich hatte ein wunderbares Haus, ich hätte<br />

darauf bestehen sollen, dort zu bleiben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie verloren Ihr Haus, Ihre Ehe ging zu<br />

Bruch, Ihr Name war nur noch ein Symbol, Sie<br />

brauchten einen neuen. Sie wählten: Joseph Anton.<br />

Rushdie: Joseph wie Joseph Conrad. Anton wie<br />

Anton Tschechow.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wir alle lernten, dass eine heilige Fatwa nie<br />

mehr zurückgerufen werden kann.<br />

Rushdie: Die theologische Komponente ist mir<br />

egal. Entscheidend war, dass es um einen staatlich<br />

unterstützten Terrorismus ging. Die iranische Regierung<br />

hatte Killer. Mir wurde klargemacht, dass<br />

mir der Schutz des britischen Staates nur zuteil<br />

würde, weil es sich um einen Angriff eines Staates<br />

auf einen britischen Bürger handelte.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Fatwa veränderte auch Ihren hochgelobten<br />

Roman – in einen Stein des Anstoßes.<br />

Rushdie: Das passierte schon vor der Fatwa. Auf<br />

den Tag vier Wochen vorher, als das Buch in Bradford<br />

verbrannt wurde. Als ich das brennende Buch<br />

sah, verstand ich, dass das Buch sich in etwas anderes<br />

verwandelt hatte, in eine Ikone für Abscheu<br />

oder ein Objekt der Blasphemie oder etwas, das<br />

man unterstützen musste. Als ich das brennende<br />

Buch sah, passierte in mir etwas sehr Tiefgehendes.<br />

Was? Es machte mich sehr, sehr, sehr wütend.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ich erinnere mich an meine Lektüre des Buches,<br />

wundervoll. Ich habe oft schallend gelacht.<br />

Keine Kompromisse!<br />

Über zehn Jahre lang musste sich Salman Rushdie vor einer Fatwa verstecken. In seiner<br />

Autobiografi e erzählt er von seinem Leiden. SUSANNE MAYER hat den Autor besucht<br />

Rushdie: So etwas Schönes hat seit Langem niemand<br />

mehr über das Buch gesagt.<br />

Die Satanischen Verse sind ein Werk von 500 bis 700<br />

Seiten, je nach Druck. Neun Kapitel. Das Buch,<br />

dessen Verdammung erst später als Auftakt einer<br />

Zeitenwende verstanden wird, die auch zum 11.<br />

Sep tember führte, beginnt mit der Explosion eines<br />

Flugzeuges über London. Jumbo AI-420 bricht auf<br />

wie eine alte Zigarre. In dem Regen aus Getränketrolleys,<br />

Einreiseformularen, Pappbechern befinden<br />

sich Saladin Chamcha und Gibril Farishta, die kopfüber<br />

in London landen. Multiple Handlungsstränge<br />

überschneiden sich zu einer Textstruktur, in der sich<br />

religionsgeschichtliche, märchenhafte, auf Träumen<br />

basierende, ironische, burleske Passagen überlagern.<br />

Ein Ajatollah wird als zwanghafter Greis karikiert.<br />

Da ist ein Harem, in dem Damen unter den Namen<br />

der Frauen Mohammeds anschaffen. Und ein<br />

Traum, in dem der Offenbarung des Korans Satanische<br />

Verse untergejubelt werden. Wieder Nominierung<br />

für den Booker Prize!<br />

<strong>ZEIT</strong>: Dieses Buch war die Krönung Ihres Werkes.<br />

Rushdie: Ich bin ungeheuer stolz auf dieses Buch.<br />

Der Erfolg von Midnight’s Children und Shame<br />

hatte mir das Vertrauen gegeben, neues Terrain zu<br />

erobern, ich finde, das ist gelungen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Andere finden, es sei eine respektlose Ironisierung<br />

religiöser Themen. Andererseits: War Religion<br />

damals nicht – altmodisch?<br />

Rushdie: Genau so war es. Es war eine andere<br />

Welt. Der Libanon war eine offene säkulare Gesellschaft.<br />

Beirut nannte man das Paris des Ostens.<br />

Teheran und Bagdad waren kosmopolitische Städte.<br />

Religiösen Fanatismus kannte man nicht.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Eine Meinung, die sich als naiv erwies.<br />

Salman Rushdie<br />

Der Autor der »Satanischen Verse« wurde am<br />

19. Juni 1947 in die Familie eines wohlhabenden<br />

Geschäftsmanns in Bombay geboren. Mit 14 ging<br />

er auf die elitäre englische Privatschule Rugby. Dort<br />

machte er die Erfahrung von Anderssein und Ausgeschlossenwerden,<br />

die sich auch durch das Geschichtsstudium<br />

in Cambridge nicht verwischte.<br />

Rushdie: Als Fehler (lacht). Tatsächlich dachte die<br />

Generation der sechziger Jahre, Religion sei vorbei.<br />

Also, warum hätte man nicht respektlos sein dürfen?<br />

Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich wirklich<br />

keine Vorstellung davon, dass ich meine Sicherheit<br />

riskierte. Ich zeigte das Manuskript einigen Freunden,<br />

unter ihnen Edward Said ...<br />

<strong>ZEIT</strong>: … dem Autor des Buches Orientalismus!<br />

Rushdie: Er sagte: Stell dich auf Krach ein.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Taten Sie das?<br />

Rushdie: Natürlich. Ich finde, dass ist genau das,<br />

was Bücher tun sollten – eine Debatte lostreten. Das<br />

ist so gut an Büchern, dass sie Gesellschaften oder<br />

Kulturen zwingen können, sich auf eine Unterhaltung<br />

einzulassen, die diese gerne vermeiden würden.<br />

Man streitet, und vielleicht hat jeder etwas gelernt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Eine sehr westliche Betrachtungsart. In Ägypten<br />

wurde der liberale Denker Nasr Hamid Abu<br />

Zaid zwangsgeschieden und ins Exil gejagt, weil er<br />

dachte, man könne sich über den Koran unterhalten<br />

wie über jeden anderen literarischen Text.<br />

Rushdie: Ich bin in Indien aufgewachsen, in einer<br />

muslimischen Familie. Indische Muslime waren<br />

immer säkularisiert. Als Gandhi und Nehru über<br />

die indische Unabhängigkeit nachdachten, bestanden<br />

sie darauf, dass Indien ein säkularer Staat sein<br />

müsste. In Indien gibt es eine 80-prozentige Hindumajorität;<br />

wäre die Verfassung nicht säkular,<br />

hätten Hindus immer die Macht. Die muslimische<br />

Minderheit, immer noch 140 Millionen Menschen,<br />

weiß, dass ein säkularer Staat ihr bester<br />

Schutz ist. Der Islam, der sich im 20. Jahrhundert<br />

in den arabischen Ländern entwickelte, ist etwas<br />

anderes, etwas Härteres. Ich bin in Indien gebo<br />

ren, einer freien Gesellschaft, und zog og nach<br />

England, in eine andere freie Gesellschaft, lschaft,<br />

ich hatte damit keine Erfahrung.<br />

Nach Wanderjahren als Schauspieler<br />

und Werbetexter fand Rushdie zum<br />

Schreiben. Schon sein zweites Buch<br />

»Midnight’s Children« war ein großer<br />

Erfolg. Rushdie war viermal verheiratet<br />

und hat zwei Söhne, er lebt<br />

heute in New York.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sind der globale flexible Bürger, an dem<br />

sich ein globaler Streit entzündete.<br />

Rushdie: Es war der Beginn von etwas. Wir leben<br />

in einer Gesellschaft, deren Plage die Rückkehr der<br />

Religionen ist. Nicht nur des Islams. In Amerika<br />

sehen Sie die Erstarkung der christlichen Rechten,<br />

in Indien eine Erhebung des rechten Hinduismus.<br />

Pakistan ist heute ein dunkler Ort.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ihre Freunde haben sich um sie gestellt –<br />

Martin Amis, Ian McEwan, Julian Barnes, Susan<br />

Sontag. Solidaritätsadressen, Veranstaltungen, sie<br />

gaben Ihnen Unterschlupf. Ob Ihre Bedrohung<br />

auch das Schreiben dieser Autoren beeinflusst hat?<br />

Rushdie: Nein. Aber sie formte unsere Beziehungen<br />

zueinander. Ian McEwan sagte einmal, die Fatwa<br />

habe uns als Generation zusammengebracht, sie<br />

prägte uns, hier, zu einem historischen Zeitpunkt.<br />

Auch anderswo hieß es Farbe bekennen. Die Fatwa<br />

erklärte zum Kriegsgebiet: das Verlagswesen, die<br />

Lektoren, die Übersetzer, Buchhändler; alle, die das<br />

Buch verbreiten würden, waren der Fatwa unterworfen.<br />

In englischen Buchhandlungen detonierten<br />

Bomben. In Amerika lebte der Verleger Peter Mayer<br />

als Sicherheitsgefangener in seiner Wohnung, eine<br />

traumatische Erfahrung, erzählt sein Freund, der Verleger<br />

Helge Malchow, dessen Verlag Kiepenheuer &<br />

Witsch die Satanischen Verse auf der Frankfurter<br />

Buchmesse 1988 gekauft hatte mit der Auflage, das<br />

Buch im Herbst auf Deutsch zu veröffentlichen.<br />

Reinhold Neven DuMont, damals Eigentümer und<br />

Verleger, erinnert sich, wie er in seinem Verlag von<br />

einer Frau mit schreckgeweiteten Augen empfangen<br />

wird: »Man Man hat Sie S zum Tode verurteilt!« Die Hek-<br />

tik! Straßensperrung! Straßens Einbau von Pollern, um<br />

das Heranf Heranfahren von mit Sprengstoff belade-<br />

nen Autos zu verhindern. Fällen eines Bau-<br />

Salman Sa Rushdie:<br />

JJoseph<br />

Anton.<br />

Die Autobiografie<br />

Aus dem Englischen von<br />

Bernhard Robben und<br />

Verena von Koskull;<br />

Ve Verlag C. Bertelsmann,<br />

Mü MMünchen<br />

<strong>2012</strong>; 720 S., 24,99 €<br />

Fotos: Garry Clarkson/Picture Press (o.); Chris Young/The Canadian Press/ddp/AP<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 45<br />

Das Buch »Die satanischen Verse«<br />

wird am 14. Januar 1989 in Bradford<br />

von Muslimen verbrannt<br />

mes, von dem aus man den Verlag hätten beschießen<br />

können. Die Übersetzerin der Satanischen Verse wirft<br />

hin. Was tun? Der Verlag zögert. Dann kommt es zu<br />

einer beispiellosen Solidarisierung, zu einem neuen<br />

Verlag, genannt »Artikel 19«, in Anspielung auf die<br />

Erklärung der Menschenrechte zur freien Meinungsäußerung.<br />

Das Verzeichnis der Unterstützer ist zwei<br />

Seiten lang. Herbert Achternbusch und Jürgen Becker<br />

und Lew Kopelew, Thomas Kling, Katja Lange-<br />

Müller, die Verlage Haffmans, Rowohlt, Rotbuch,<br />

Wagenbach, Suhrkamp und so weiter. Es ist ein heroischer<br />

Akt. Es werden neue Übersetzer gefunden, die<br />

undercover arbeiten. Nicht ohne Bangen. Der dänische<br />

Übersetzer wird angegriffen, der japanische von einem<br />

Messerstecher hingerichtet. Einer der deutschen Übersetzer<br />

erinnert sich, wie er in Arbeitspausen auf seinem<br />

Balkon rauchte und sich dabei beobachtete, wie er die<br />

Straße beobachtete. Sollte er das Kind noch in den<br />

Kindergarten bringen? War es sicher, jeden Tag um<br />

acht das Haus zu verlassen?<br />

Von solchen Ängsten anderer Menschen oder<br />

ihrem Mut findet sich in Rushdies Buch wenig. Da<br />

ist ein gereizter Unterton. Die Beschützer werden ihm<br />

zu Freiheitsberaubern. Viele kommen schlecht weg,<br />

Mitschüler in Rugby, Kommilitonen in Cambridge,<br />

Engländer überhaupt, gar nicht zu reden von Ehefrauen<br />

(drei). So gesehen, ist die oft sehr intime Erzählung<br />

auch ein Dokument des Unbewältigten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Man hat Sie angegriffen. Als eitel, provokant,<br />

diabolisch – hat es Ihre Sicht auf sich selbst berührt?<br />

Rushdie: Nein, es änderte meine Sicht auf einige<br />

Leute. Wenn ich etwas sagen kann, dann, dass ich<br />

weiß, wer ich bin. Aber die Attacken waren effektvoll,<br />

noch Jahre später würden die Leute sagten:<br />

Oh, Sie sind tatsächlich ganz nett.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Diskussion polarisierte sich schnell. Ihren<br />

Unterstützern wurde ein fundamentalistischer<br />

Menschenrechtsbegriff vorgeworfen.<br />

Rushdie: Die religiösen Faschisten behaupteten,<br />

die Verteidiger des Rechts auf freie Meinungsäußerung<br />

seien absolutistisch. Aber Liberale verlangen<br />

nicht, dass Menschen, die anderer Meinung sind,<br />

umgebracht werden. Ich hatte den Impuls, meinen<br />

Text zu verteidigen. Ich dachte, dann würden die<br />

Mullahs sich an den Kopf schlagen und sagen:<br />

Aber natürlich. Sorry. Alles okay. Das war naiv.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Es ging nicht um Argumente. Verstehen Sie,<br />

warum Sie die Gefühle von Leuten verletzten?<br />

Rushdie: Es ist mir egal, warum sie sich verletzt<br />

fühlten. Um von einem 600-Seiten-Buch verletzt<br />

zu sein, muss man viel Arbeit investieren. Es ist<br />

sehr einfach, nicht verletzt zu sein, man guckt sich<br />

ein anderes Kunstwerk an. Unsere Buchläden sind<br />

voll mit Büchern, damit man auswählen kann. Es<br />

gibt auch Bücher, die mich verletzen würden,<br />

Shades of Grey vermutlich (lacht), aber deswegen<br />

fackele ich nicht den Laden ab. Das Gerede von<br />

»Verletztsein« ist Quatsch. Keiner hat das Recht,<br />

verletzt zu sein. Wäre Verletztsein ein Argument,<br />

wäre Harry Potter in Amerika verboten, weil einige<br />

Leute finden, dass es Hexerei unterstützt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wünschen Sie sich heute, angesichts dessen,<br />

was Sie und viele durchgemacht haben, Sie hätten<br />

das eine oder andere zurückhaltender formuliert?<br />

Rushdie: Im Gegenteil. Wenn ich etwas gelernt<br />

habe: Keine Kompromisse. Es gibt Werte, nach<br />

denen ich mein Leben leben möchte, und sie bilden<br />

die Grundlage für die Art von offener Gesellschaft,<br />

in der ich gerne lebe. Bei diesen Werten<br />

kann es keine Kompromisse geben. Die Freiheit<br />

der Meinungsäußerung gehört dazu, ohne sie verschwinden<br />

alle anderen Freiheiten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Haben Sie jemals daran gedacht, den Mördern<br />

zuvorzukommen und sich selber zu töten?<br />

Rushdie: Nein, das ist mir nicht gegeben. Aber ich<br />

hatte auch Menschen, die zu mir standen, meine<br />

Familie, meine Frau Elizabeth, mein Sohn.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sprechen oft, mehr noch als von Furcht,<br />

von Scham, die Sie empfunden haben. Was ist der<br />

Kern dieses Gefühls von Scham?<br />

Rushdie: In der östlichen Kultur gibt es diese Achse<br />

zwischen Ehre und Scham. In der christlichen<br />

Welt liegt sie zwischen Sünde und Erlösung. Es<br />

bedeutet, etwa aus der Perspektive der muslimischen<br />

Kultur, dass Stolz eng verbunden ist mit der<br />

Identität. Wer gezwungen ist, sich so zu verhalten,<br />

das der Stolz verletzt wird – empfindet Scham.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Aber Sie waren noch immer Salman<br />

Rushdie, der den Booker Prize gewonnen hat ...<br />

Rushdie: Das macht es schlimmer. Der Salman<br />

Rushdie, der den Booker Prize gewonnen hat,<br />

muss sich unter dem Küchentisch verstecken,<br />

wenn ein Nachbar vor dem Haus steht.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie leben jetzt mitten in Manhattan ...<br />

Rushdie: Ja.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Im Gewühle beim Union Square ...<br />

Rushdie: Nein, tue ich nicht!<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sehen Sie ab und zu über die Schulter?<br />

Rushdie: Nie. In Manhattan sind alle Taxifahrer<br />

Muslime, nicht selten wollen sie ein Autogramm.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Mr. Rushdie, vielen Dank für das Gespräch.<br />

PS. Der Daily Telegraph meldete am 17. September<br />

<strong>2012</strong>, dass die iranische Gruppierung<br />

15 Khordad Foundation das Kopfgeld auf Salman<br />

Rushdie auf 3,3 Millionen US-Dollar erhöht hat.


46 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> FEUILLETON<br />

Wir können es nicht riechen.<br />

Aber es muss entsetzlich<br />

stinken, als die<br />

Polizei die Tür aufbricht,<br />

in die Wohnung eindringt<br />

und die Klebestreifen<br />

mit einem schneidenden<br />

Geräusch herunterreißt, mit denen jemand die<br />

Schlafzimmertür versiegelt hat. Und dann sehen wir<br />

auch schon die Tote. Sehr fern, sehr wächsern und<br />

majestätisch liegt sie auf dem Bett. Die Zeit im<br />

Totenzimmer, die gerade noch stillstand, beginnt<br />

wieder zu laufen. Gleich werden die Beamten die<br />

Tote einpacken, die jetzt noch, mit Blumen geschmückt<br />

und im besten Kleid, wie zu einer letzten<br />

großen Verabredung daliegt. Man wird die Fenster<br />

öffnen. Der Lärm des Lebens wird wieder einsetzen.<br />

Paris wird auch diese Tote verschlucken.<br />

Täglich sterben überall Menschen. Selten sieht<br />

ihnen jemand geduldig dabei zu. Beobachtet, wie die<br />

Zeit sich am Sterbebett aufstaut, wie alle Zukunft in<br />

sich zusammenfällt, wie das Leben sich in die Augenblicke<br />

zurückzieht, wie alles andere verschwindet und<br />

nur noch das da ist, was ist. Michael Hanekes Film<br />

Liebe nimmt sich die Zeit dafür. Und schenkt uns die<br />

Zeit der genauen Empfindung, von der oft behauptet<br />

wird, dass es sie nicht mehr gibt, für einen Kinoabend<br />

zurück. Er erzählt ruhig, ungerührt, diskret, was in<br />

den Tagen und Monaten geschah, bevor die zarte<br />

Dame aus ihrer dornröschenhaften Totenruhe gerissen<br />

wurde. Wer sie war, wer sie geliebt hat, wie tief<br />

und bedingungslos sie geliebt wurde, wo sie gelebt<br />

hat, wie sie todkrank wurde, wer bei ihr war und wer<br />

ihr beim Sterben half.<br />

Die Totenszene, mit der der Film beginnt, ist ein<br />

Vorgriff. Das Ende, das in jedem Anfang schon enthalten<br />

ist. Gleich darauf sieht man die zarte Dame,<br />

Fotos (Ausschnitte): X Verleih<br />

Die Zärtlichkeit des Endes<br />

Michael Hanekes grandioser Film »Liebe« über die letzten Lebenswochen eines alten Paares VON IRIS RADISCH<br />

von Emmanuelle Riva mit dem trockenen, ein wenig<br />

gouvernantenhaften Charme der alten Pariser Großbourgeoisie<br />

fabelhaft gespielt, neben ihrem Mann in<br />

einem Konzert sitzen und im Bus nach Hause fahren.<br />

Es sind die letzten Momente ihres alten Lebens. In<br />

der Nacht kann die sie nicht schlafen. Am nächsten<br />

Morgen beim Frühstück erleidet sie einen Schlaganfall.<br />

Es beginnt ein langer Abschied vom Leben,<br />

der in manchen Augenblicken quälend ist, in manchen<br />

banal, in manchen komisch und manchmal<br />

auch so innig, dass einem die Tränen kommen.<br />

Ein Mann und eine Frau<br />

bei ihrem letzten Tango in Paris<br />

Die schöne, geräumige alte Pariser Innenstadtwohnung<br />

des Paares mit soziologisch korrektem Interieur<br />

– im Salon Bibliothek, Flügel, Samtsessel,<br />

Gemälde; im Vestibül eine große Tapisserie; neben<br />

der Küche das ehemalige Dienstbotenkabinett –<br />

bleibt dann das einzige Bühnenbild für dieses<br />

Sterbe schauspiel, das uns immer tiefer hineinzieht<br />

bis zu jenem letzten Punkt, an dem nur noch der<br />

Tod aus der Enge dieser vakuumverpackten Räume<br />

wieder hinausführt. Am Ende kennt man jedes<br />

Möbelstück so genau, als habe man selbst sein Leben<br />

in diesem retreat verbracht, in das Haneke sich<br />

mit seinen beiden Hauptdarstellern zurückgezogen<br />

hat, um in der Stille und ungestört von der<br />

hypernervösen Gegenwart ein paar menschlichen<br />

Wahrheiten auf den Grund zu gehen.<br />

In Das weiße Band, Hanekes vorigem Film über<br />

die protestantischen Lebensläufe in einem brandenburgischen<br />

Dorf zu Beginn des 20. Jahrhunderts,<br />

konnte man manchmal das Gefühl haben, in<br />

ein gegen die Quicklebendigkeit des Lebens restlos<br />

abgedichtetes, allergikerfreundliches Filmmuseum<br />

interniert zu werden. Und obwohl auch das Pariser<br />

Sterbequartier einer luxuriösen Anstalt gleicht, aus<br />

der beinahe alles verbannt wurde, was den Anstaltsregeln<br />

widersprechen könnte, ist der legendäre<br />

Perfektionismus Hanekes hier niemals störend.<br />

Für ein leidenschaftliches Liebesdrama mag dieser<br />

Puritanismus ungeeignet sein. Die Banalität eines<br />

langsamen Sterbens, das letzte zärtliche Aufflackern<br />

einer alten Liebe, das Lächerliche und Erbärmliche<br />

des Todes hingegen entfalten ihre atemberaubende<br />

Wucht in der rigorosen Konzentration dieses Films<br />

auf grandiose Weise. Es sind die porösen, die tragischen<br />

Seiten des Lebens, die sich vielleicht erst unter<br />

den Laborbedingungen des Autorenkinos mit aller<br />

Unerbittlichkeit erfahren lassen.<br />

Der Tod nähert sich behutsam. Und auch der<br />

Film scheint immer wieder fast zum Stillstand zu<br />

kommen, zeigt in langen Tableaus die leeren Räume,<br />

als wäre alles schon vorbei. Zunächst ist aber<br />

nur eine Operation fehlgeschlagen, ein Bein und<br />

ein Arm bleiben gelähmt. Jean-Louis Trin ti gnant<br />

läuft in Turnschuhen, leicht humpelnd wie ein verletzter<br />

Krieger hinter dem Rollstuhl seiner Frau her<br />

und sieht dem Unvermeidlichen mit einer umwerfend<br />

stoischen Ratlosigkeit ins Gesicht. Ein Krankenbett,<br />

eine neue Matratze werden geliefert und<br />

eine Filmewigkeit lang ausgepackt. Im großen Entrée<br />

werden Gehübungen abgehalten. Das alte<br />

Paar, eng umschlungen bei seinem letzten Tango<br />

in Paris. Ein Mann, eine Frau, eine Wohnung in<br />

Paris, eine ausweglose Liebe, zum Tod verurteilt,<br />

sternenweit vom Alltagsleben entfernt, das hinter<br />

den geschlossenen Fenstern unbemerkt weitergeht.<br />

Immer wieder denkt man an den alten Filmklassiker<br />

von Bernardo Bertolucci. Aber nicht die nackte<br />

Lust, sondern die nackte Anstrengung des Überlebens<br />

zeigt sich auf den geröteten Wangen der greisen<br />

Liebenden. Und wenn er ihr das Höschen herunterzieht,<br />

dann eben nicht, um sie zu besitzen,<br />

sondern um sie auf die Toilette zu setzen.<br />

Darin ist auch nicht das kleinste Gran von sanfter<br />

Seniorenerotik, wie das Mainstreamkino sie für<br />

den wachsenden, an einem gepflegten Altershedonismus<br />

interessierten Markt hervorbringt. Georges<br />

und Anne, wie die beiden Alten heißen, behandeln<br />

sich mit ausgesuchter altfranzösischer Oberklassenförmlichkeit.<br />

Im Bett liest er ihr aus Le Monde vor.<br />

Bei Tisch fragt er, ob er ihr noch ein Glas Wein anbieten<br />

dürfe. Die Art und Weise, wie Anne ihre<br />

Sätze mit einem spitzen »S’il te plaît« beschließt, lässt<br />

keine Missverständnisse darüber aufkommen, dass<br />

es sich beim Leben um harte Präzisionsarbeit und<br />

nicht etwa um Vergnügen handelt. Man wundert<br />

sich, dass die beiden sich nicht siezen, wie Simone<br />

de Beauvoir und Jean-Paul Sartre das gemacht haben.<br />

Zärtlichkeiten entstehen in flüchtigen Augenblicken,<br />

mitten in der ehelichen Tischkonversation,<br />

bei einem kurzen Händedruck, beim Betrachten<br />

alter Fotografien. Auch später noch auf dem Sterbebett,<br />

beim Füttern, beim nur Dasitzen. Liebe ist<br />

eher das, was man nicht sieht.<br />

Einmal verlässt Georges die Wohnung, um am<br />

Begräbnis eines Freundes teilzunehmen. Als er zurückkommt,<br />

liegt Anne am Boden unter dem geöffneten<br />

Fenster im Vestibül. Vielleicht wollte sie sich<br />

hinausstürzen. Er führt sie in den Salon, erzählt von<br />

dem Begräbnis, der kleinen Urne auf der viel zu<br />

großen Bahre, dem erbärmlichen Kassettenrekorder,<br />

auf dem jemand Yesterday von den Beatles abspielte,<br />

und so weiter. Anne sieht ihm hart ins Gesicht und<br />

sagt: »Es gibt keinen Grund weiterzuleben.« Von da<br />

an läuft das Räderwerk einer griechischen Zimmertragödie<br />

unerbittlich auf das unabwendbare Ende zu.<br />

Nein, es gibt doch keinen<br />

Trost mehr in der Kunst<br />

Bevor Anne durch einen zweiten, diskret ausgesparten<br />

Anfall gänzlich gelähmt und unfähig zu sprechen<br />

wird, kommt ihr ehemaliger Klavierschüler noch<br />

einmal zu Besuch, in dessen Konzert wir sie in den<br />

letzten Augenblicken ihres unversehrten Lebens gesehen<br />

haben. Das Gespräch ist ausgesprochen dünnlippig.<br />

Nach der Lähmung gefragt, antwortet Anne:<br />

»Das passiert mit dem Alter.«<br />

Mit solchen sehr französischen Konversationsbruchstücken<br />

redet man sich durch den ganzen Film.<br />

»Das Leben ist schön. Das lange Leben«, sagt Anne<br />

beim Betrachten alter Fotografien. »Ich habe Pfirsichsaft<br />

dazugegeben«, sagt Georges, um der Sterbenden<br />

seinen Brei anzupreisen. »Wir sind nicht die Einzigen,<br />

die auf die Idee kommen, Immobilien zu kaufen«,<br />

sagt die Tochter, um die kranke Mutter zu unterhalten.<br />

So redet man, wenn man zeigen will, dass Worte<br />

nichts mehr ausrichten können. Manchmal beendet<br />

die Musik die Spachfloskelverfertigung. Man spielt<br />

Beethoven oder Bach. Einmal verliert sich die Kamera<br />

in den romantischen Landschaftsbildern, die an<br />

den Wänden hängen, als wäre die Kunst das Einzige,<br />

das hier noch mithalten kann. Doch als Annes ehemaliger<br />

Klavierschüler seine CD-Aufnahme der Impromptus<br />

von Schubert schickt, bittet sie Georges<br />

nach ein paar Takten, die Musik abzustellen. Nein,<br />

es gibt doch keinen Trost mehr in der Kunst. Oder<br />

Anne (Emmanuelle Riva)<br />

und Georges (Jean-Louis<br />

Trintignant) in »Liebe«<br />

nur ein Mal. Aber da singt Jean-Louis Trintignant<br />

mit der nur noch mühsam lallenden Emmanuelle<br />

Riva das Kinderlied Sur le pont d’Avignon, und für<br />

einen Augenblick könnte man glauben, dass die<br />

beiden nie etwas Schöneres gemeinsam erlebt haben.<br />

Wunderbar ist, wie viel Geduld der Film für<br />

seine Darsteller und seine Zuschauer aufbringt, sich<br />

Schritt für Schritt von der Hoffnungslosigkeit selbst<br />

zu überzeugen. Immer wieder wirbelt die aufgebrachte<br />

Tochter herein, die Isabelle Huppert mit<br />

einer ganz erstaunlich kraftvollen Schnauze und<br />

hinreißender verzweifelter Nervosität gibt. Ihr leerlaufendes<br />

Man-muss-doch-etwas-tun-Gerede, das<br />

sie von draußen aus dem technischen Zeitalter mitbringt,<br />

prallt ab an der stillen Klarsicht ihres Vaters,<br />

der sich wie ein alter Grieche in das Schicksal fügt.<br />

»Das Alter ist ein Massaker«, heißt es in Philip Roths<br />

erbarmungslosem Altersroman Jedermann. Ein ewiges<br />

Warten auf nichts sei das Altwerden, ein sinnloser<br />

Verfall, auf den ein noch sinnloserer Tod folgt. Haneke<br />

dementiert das nicht. Aber er zeigt, dass die einzige<br />

Würde, die einem dabei bleibt, die illusionslose<br />

Nüchternheit ist. Er habe, hat er in Bezug auf sein<br />

großes Vorbild Robert Bresson einmal gesagt, es<br />

immer als obszön empfunden, einem mit darstellerischem<br />

Furor gestalteten Leiden und Sterben zuzusehen.<br />

Denn es bestiehlt die tatsächlich Leidenden und<br />

Sterbenden um ihr letztes Gut: die Wahrheit.<br />

Und wenn dann die Zeit gekommen ist und Georges,<br />

der Anne gerade noch mit einer alten Kindergeschichte<br />

in den Schlaf gesprochen hat, seine Frau in einem<br />

letzten endgültigen Liebesakt fest an sich drückt – ist<br />

man nicht nur einverstanden, sondern hat einen der<br />

ganz großen Augenblicke der Kinogeschichte erlebt.<br />

A www.zeit.de/audio<br />

Sehenswert<br />

Was bleibt von Hans-Christian Schmidt<br />

Herr Wichmann aus der dritten Reihe<br />

von Andreas Dresen<br />

Roman Polanski: A Film Memoir<br />

von Laurent Bouserau<br />

Guilty of Romance von Sion Sono<br />

Cosmopolis von David Cronenberg


FEUILLETON<br />

LITERATUR<br />

Keiner wäscht reiner<br />

Ulf Erdmann Zieglers Roman erkundet die weißen Geheimnisse der deutschen Vergangenheit VON HUBERT WINKELS<br />

W<br />

»heilige« Johanna, zur Erstkommunion gehen.<br />

Lore trennt sich von ihrem Petrus und bleibt<br />

mit dem Geistlichen Valentin zusammen.<br />

Kennengelernt haben sich Lore und der<br />

Kaplan, weil Marleen dem Kommunionunterricht<br />

fernblieb. Sie sah keine Chance, »Mini«<br />

zu werden, also Ministrantin, eben wegen der<br />

»Unreinheit« der Mädchen. Dafür wurden<br />

Marleen und ihre Schwestern dann die ersten<br />

Testerinnen der neuen o.b.-Tampons, bevor<br />

eben auf dem Hintergrund von etwas. Dies<br />

eben meint der Titel: Es gibt nichts Weißes,<br />

ohne dass es sich von einer farbigen Umgebung<br />

abheben würde, sei es einer Linie, einem<br />

Fond, einem Schatten. Die bildende Kunst<br />

hat sich im 20. Jahrhundert mit Malewitsch<br />

und den amerikanischen Farbfeldmalern in<br />

diese Richtung weit vorgearbeitet, mit dem<br />

Weißen und dem Schwarzen Quadrat als quasimetaphysischen<br />

Schlüsselpositionen. Das<br />

Papa damit die große Werbe- und Aufklärungs- Motiv des »Reinweißen« bildet auch einen<br />

Ulf Erdmann<br />

Ziegler:<br />

Nichts Weißes<br />

Roman;<br />

Suhrkamp<br />

Verlag, Berlin<br />

259 S., 16,99 €<br />

äre der Tampon, wäre o.b.<br />

schon erfunden gewesen,<br />

hätten Mädchen dann<br />

schon früher in der katholischen<br />

Messe den Ministrantendienst<br />

versehen dürfen,<br />

gäbe es gar weibliche Geistliche,<br />

Zelebrantinnen der Verwandlung<br />

von Wein in Blut?<br />

Dürften sie o.b.-bewehrt das<br />

Blut opfer feiern, weil sie selbst<br />

nicht mehr bluteten, jedenfalls nicht sicht-<br />

und riechbar?<br />

Das ist eine der großen Fragen, die Ulf<br />

Erdmann Zieglers Roman aufwirft. o.b. und<br />

Eucharistie, Menstruationsblut und Blut der<br />

Wandlung, Kommunionkinder und Charles<br />

Wilps Afri-Cola-Nonnen hinter beschlagenen<br />

Glasscheiben, Sex im Aschram und der<br />

heilige Yogi, Letraset-Buchstaben und die<br />

Heilige Schrift, Katechismus und Werbetexte<br />

im Düsseldorf der siebziger, achtziger Jahre:<br />

Das sind Kon fron ta tio nen, mit denen<br />

Ziegler spielt. Dabei geht es ihm durchaus<br />

um den inneren Zusammenhang zwischen<br />

der modernen Gesellschaft und den spirituellen<br />

Sinnwelten.<br />

Ein Architekt, ein Designer, ein Typograf<br />

organisieren Räume und Zeichen, die Bedeutung<br />

tragen, ohne dass man sie bemerken<br />

muss. Das war schon in Zieglers erstem Roman<br />

Hamburger Hochbahn ein Thema. Im<br />

neuen Roman geht es um Schrifttypen und<br />

Typografie und ihre Anwendung in der<br />

Werbe indus trie. Die puristische Moderne<br />

und die Überlieferung des Abendlandes sind<br />

das Spannungsfeld des Buches. Und es ist<br />

von Anfang an klar, dass dieses Verhältnis<br />

sich in Übergängen, Spiegelungen, Konversionen,<br />

Übersetzungen und geheimen Identitäten<br />

ausdrückt, nicht in Gegensätzen und<br />

Ausschlüssen.<br />

Ebenso klar ist, dass Nichts Weißes dem<br />

rätselhaften Titel zum Trotz kein intellektueller<br />

Essay ist, sondern ein Roman mit richtigen<br />

Figuren und vielen Geschichten, die von<br />

der Beinahe-Gegenwart bis in die unmittelbare<br />

Nachkriegszeit und manchmal darüber<br />

hinaus zurückreichen: ein Familien-, Gesellschafts-,<br />

Entwicklungsroman, wie geschaffen<br />

für den Deutschen Buchpreis, auf dessen<br />

Shortlist er inzwischen steht. Zeitgeschichte<br />

spiegelt sich in Familien- und individuellen<br />

Schicksalsgeschichten.<br />

Und das sieht in etwa so aus: Marleen, zentrale<br />

Figur des Romans, ist die Tochter eines<br />

erfolgreichen Werbers und einer Gebrauchsgrafik<br />

produzierenden Mutter. Die fünfköpfige<br />

Familie zieht von Düsseldorf in einen modernistischen<br />

Vorort von Neuss namens Pomona,<br />

im späten Bauhausverhunzungsstil gebaut, und<br />

ist dort durchaus nicht glücklich. Was unter<br />

anderem mit den weltlich-geistlichen Konversionen<br />

zu tun hat, die fast alle Familienmitglieder<br />

erfassen: Der flotte Vater namens Petrus,<br />

der ebenjene »Ohne Binde«-Hygienekampagne<br />

gestartet hat und damit die Frauenrolle, das<br />

Freiheitsgefühl, die intime Verfassung der Republik<br />

verändert hat, dieser Petrus wird von<br />

einem Sinnhunger befallen, der ihn vom ruhelosen<br />

Dasein als Jet set-Geschäftsmann zwischen<br />

New York, Hongkong und Delhi nach Poona<br />

führt, wo er Anhänger des heiligen Rolls-<br />

Royce-Fahrers Shree Rajneesh wird, sprich ein<br />

Sannyasi. Mutter Lore verguckt sich ihrerseits<br />

in einen katholischen Kaplan der Kirchengemeinde,<br />

in der die Töchter, namentlich die<br />

Die ersten Tampons haben nicht nur die innere<br />

Verfassung der Republik verändert.<br />

Sie warfen auch schwerwiegende religiöse Fragen auf<br />

kampagne aufzog. Der sexuell-säkularisationsgeschichtliche<br />

Untergrund des Romans wird<br />

bald überdeutlich. Marleens erste große Liebe<br />

Franziskus verlässt sie, nachdem er ihr ein Kind<br />

gemacht hat, um in einen katholischen Orden<br />

einzutreten. Johanna liegt weinend vor dem<br />

Bild des nackten zwölfjährigen o.b. bewerbenden<br />

Illustrierten-Mädchens, den Katechismus<br />

neben sich, aus dem der tröstende Papa Petrus<br />

ihr vorliest. Am selben Abend liegen die Eheleute<br />

im Bett und überlegen, ob Johanna wohl<br />

eifersüchtig sei, auf die o.b.-Kampagne, auf<br />

Papa Petrus, auf den Papst, und dabei lässt Lore<br />

»ihre Hand in seine seidene Pyjamahose gleiten«<br />

und flüstert: »Ihr werdet ein Fleisch sein.«<br />

Untergrund, Hintergrund, Figur<br />

und Grund: Nach diesem Muster<br />

entwickelt sich noch ein<br />

anderes, eher erkenntnistheoretisches<br />

Problem im Roman, eigentlich<br />

das reizvollere, das sich daraus ergibt,<br />

dass wir etwas immer nur in Abgrenzung zu<br />

etwas anderem wahrnehmen können oder<br />

schönen bildlichen Anschluss an die Kinderkommunion,<br />

die Unbeflecktheit Mariens,<br />

die o.b.-Trägerinnen, die weißen Pomonavillen<br />

und was da sonst alles weiß durch den<br />

Roman gespenstert.<br />

Seltsamerweise hat sich Ziegler in seinem<br />

Neuss-Düsseldorf-Buch den Weißheitsfuror<br />

der Persil-Werbung des dortigen Henkel-Konzerns<br />

entgehen lassen, der metaphorisch überdeutlich<br />

den Sauberkeits- und Weißheitswahn<br />

der deutschen Nachkriegsgesellschaft verkörpert<br />

– alles wurde blütenweiß gewaschen und<br />

von der historischen Schuld des Nationalsozialismus<br />

von Grund auf gereinigt. Nur in einem<br />

Interview von Petrus kommt das vor, wenn er,<br />

selbst Werbeguru geworden, einer Illustrierten<br />

erläutert, dass er die Nazibeschriftung durch<br />

die Napola, der er als Kind ausgesetzt war,<br />

überwinden musste.<br />

Man muss an dieser Stelle auf einen zu<br />

Unrecht halb vergessenen Roman von Dieter<br />

Forte, Auf der anderen Seite der Welt, hinweisen,<br />

der von der Düsseldorfer Werbeszene ab den<br />

fünfziger Jahren handelt, im starken Zusam-<br />

menhang mit der Kunstakademie und dem<br />

Henkel-Konzern. Die Geschichte der Bundesrepublik<br />

und ihrer zunehmenden Einbindung<br />

in die westliche Konsumwelt über Werbung,<br />

Grafik und Kampagnen zu erzählen wäre überhaupt<br />

von höchstem Reiz.<br />

Ulf Erdmann Zieglers Roman leistet durchaus<br />

einen gewissen Beitrag dazu, obwohl er<br />

mehr an der Metaphysik des Buchstabens und<br />

anderen intellektuellen Kostbarkeiten interessiert<br />

ist. Die gute Romankonstruktion leidet<br />

unter dieser Fracht. Jede Episode, jede Bemerkung<br />

wird im Zieglerschen Idealfall dreimal<br />

codiert. Alles spielt auf vielen Ebenen gleichzeitig.<br />

Der Roman ist von einem überfordernden,<br />

leicht snobistischen Ästhetizismus geprägt.<br />

Man sieht die Mittel, erkennt die Technik,<br />

bewundert des Autors Fingerfertigkeit, doch<br />

ebendies, das Demonstrative, die modernistische<br />

Angeberei, ärgert ein wenig.<br />

Diese Sichtbarkeit des Könnens<br />

steht in Spannung zur Arbeit<br />

Marleens. Sie möchte eine<br />

Schrift entwickeln, die »alle<br />

Vorzüge aller existierenden<br />

Schriften hat und alle Nachteile Buchstabe<br />

für Buchstabe überwindet«. Herauskommen<br />

soll dabei eine Schrift, »die man gar nicht<br />

bemerkt«. Diese Idee von einem beinahe<br />

unsichtbaren, aber dennoch bedeutungstragenden<br />

Zeichen zieht sich durch das gesamte<br />

Buch – und ist zugleich eine euphorisierende<br />

Chiffre in der modernen Kunst. Marleen<br />

trifft auf ihrer Suche nach dieser geheimnisvollen<br />

Schrift einen Schweizer<br />

Schriftentwickler in Paris, der eine solche<br />

Schrift type schon erfunden hat. Nicht zufällig<br />

heißt sie Tempi Novi. Ihr Erfinder<br />

wird mit dieser eigenschaftslosen modernen<br />

Schrift zum »Gott der Gottlosigkeit« und<br />

Marleen eine »Ketzerin, die nun gezwungen<br />

wäre anzuerkennen, dass den Kult der Gottlosigkeit<br />

zu begründen nicht mehr möglich<br />

wäre«. Unter dieser Großmetaphorik tut es<br />

der Roman an keiner Stelle.<br />

Trotzdem kommt er gut in der Welt herum.<br />

Zur Ausbildung Marleens geht es nach Nördlingen<br />

in eine Druckerei, die der Anderen Bibliothek<br />

von Franz Greno zum Verwechseln ähnelt,<br />

dann nach Kassel zum Studium, nach Paris in<br />

eine Agentur und schließlich in die USA, wo<br />

nach der Blei- und der Lichtsatz-Phase jetzt die<br />

digitalen Schriften entwickelt werden. In den<br />

späten Achtzigern, als Marleen bei IOM arbeitet,<br />

einem IBM nachempfundenen Unternehmen,<br />

endet der Roman, der mit ihrem Weg<br />

in die USA begonnen hat. Unterwegs haben wir<br />

viel gelernt über die Lebendigkeit der Schrift,<br />

die ja eine paulinische ist, eine lutherische und<br />

eine typografische.<br />

Die Eigenschaftslosigkeit ist dabei ein Ideal,<br />

das Ziegler nicht nur beschwört, sondern auch<br />

inszeniert. Was seine Romanheldin Marleen<br />

angeht, gelingt ihm das vorzüglich. Für den<br />

Roman selbst gilt das allerdings nicht. Er ist in<br />

seiner Form und mit seinen Zeitsprüngen als<br />

Kunstwerk jederzeit gut sichtbar. Er lenkt die<br />

Leseaufmerksamkeit hochgradig auf sein Gemacht-,<br />

sein Gekonntsein. Ein Jota zu viel für<br />

ein ästhetisches Programm der Weißwäsche, der<br />

Dezenz, der Diskretion und des Sich-unsichtbar-Machens.<br />

Als hygienisches Vorzeigestück<br />

blutet und riecht das Buch zwar nicht, doch dass<br />

es voll von Bedeutung und sinnschwanger wie<br />

die trächtige Muttergottes ist, das will es uns<br />

allzu deutlich sagen.<br />

Fotos [M]: Johnson & Johnson (l.); www.launer.com<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 47<br />

GEDICHT: RICHARD BRAUTIGAN<br />

(1935–1984)<br />

Liebesgedicht<br />

Es ist so schön,<br />

morgens ganz allein<br />

aufzuwachen<br />

und keinem sagen zu müssen,<br />

dass man ihn liebt,<br />

wenn man ihn nicht mehr<br />

liebt.<br />

Richard Brautigan: Ausgewählte Texte<br />

Aus dem Englischen von Günter Ohnemus u. a.;<br />

Hoffmann und Campe, Hamburg <strong>2012</strong>;<br />

128 S., 12,– €<br />

WIR RATEN ZU UND AB<br />

Buch zur Tasche<br />

Von allen Gegenständen, die mit Kin deraugen<br />

beschaut werden, ist die Handtasche<br />

der märchenhafteste. Klein und handlich<br />

schwankt sie am Arm der Mutter, und es<br />

entspringen ihr im Laufe eines nachmittäglichen<br />

Spaziergangs eine Flut an Gerätschaften,<br />

die unmöglich allesamt in ihr Platz finden<br />

können: Taschentücher und ein Notizblock,<br />

ein Lippenstift und die dicke Geldbörse,<br />

Fisherman’s Friend und Obst, heute<br />

vermutlich auch ein Smart phone samt Kabelsalat.<br />

Ein Durch ein an der muss in so einer<br />

Handtasche ja herrschen, doch findet<br />

die Hand sofort immer das, was sie sucht.<br />

Es ahnt schon der heranwachsende Junge,<br />

dass darin auch Diskretes Platz findet. Aber<br />

niemals würde er die Tasche heimlich öffnen.<br />

Er ahnt, dass ihn nichts stärker an die<br />

Mutter bindet als das Ungezeigte. Und<br />

nichts fürchtet er natürlich mehr als das Erwachsenwerden.<br />

Jetzt, endlich, hat Jean-<br />

Claude Kaufmann das Buch zur Handtasche<br />

geschrieben. ADAM SOBOCZYNSKI<br />

Völlig unnötig<br />

Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat<br />

ein Frauenbuch geschrieben. Über Handtaschen<br />

– rosa Cover mit roter Lacktasche aus<br />

den Neunzigern. Wer braucht das? Frauen<br />

wissen um ihr in der Tasche lebendes erweitertes<br />

Ich, sie müssen dazu nichts lesen – es<br />

sei denn, sie tragen rote Lacktaschen aus<br />

den Neunzigern, dann herrscht Nachholbedarf.<br />

Kaufmann gelingt es nicht, über Stereotype<br />

hinauszukommen. Dass Frauen mit<br />

Papier in der Tasche (zum Lesen oder<br />

Schreiben) eher intellektuell sind und Frauen<br />

mit vielen Kunden- und Kreditkarten<br />

eher shoppingsüchtig, hätte man vermuten<br />

können. Als es auf Seite 120 interessant zu<br />

werden droht, rät der Autor: »Die Leser,<br />

denen dies zu komplex ist, können problemlos<br />

die folgenden Seiten überspringen.«<br />

Ernsthaft? NIKOLA HELMREICH<br />

Jean-Cl. Kaufmann:<br />

Privatsache Handtasche<br />

UVK Verlagsgesellschaft <strong>2012</strong>; 198 S., 19,99 €


48 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> FEUILLETON<br />

LITERATUR<br />

Erinnerung, sprich<br />

Käthe Sasso bewegt mit ihren<br />

Erlebnissen aus Widerstand und KZ<br />

Die beiden 19-jährigen Mädchen erreichten im<br />

Mai 1945 Wien, kurz nach Kriegs ende. Ihnen<br />

war zuvor die Flucht vor der SS gelungen, auf<br />

dem Todesmarsch vom KZ Ravensbrück zum<br />

KZ Bergen-Belsen. Erschöpft setzten sie sich nun<br />

in die Straßenbahn. »Das werd ich nie vergessen<br />

im Leben. Die Schaffnerin ist gekommen, wir<br />

haben gesagt, dass wir aus dem KZ kommen und<br />

uns keine Fahrscheine kaufen können. Die ganze<br />

Tramway war voller Leute, niemand hat ein Ohrwaschl<br />

gerührt. Die Schaffnerin hat die Straßenbahn<br />

angehalten und uns gezwungen, auszusteigen.<br />

Das war die Begrüßung in der Heimat.« Mit<br />

ruhiger Stimme trägt die 86-jährige Käthe Sasso<br />

ihre Geschichte vor, genau, präzise, lebendig, in<br />

charmant weichem wienerischem Singsang, über<br />

»die Zeit, an die ich mich noch erinnern kann«.<br />

Mit diesen Worten beginnt das eindrucksvolle<br />

Hörbuch Nicht nur in Worten, auch in der Tat:<br />

Die alte Dame erzählt Kindheit und Jugend in<br />

Österreich – vom Widerstand gegen Hitler, von<br />

Verhaftung und Zelle, Prozess und schließlich<br />

KZ. Längst ist ja die Zeit des Nationalsozialismus<br />

zur fernen Geschichte geworden; zur »Epoche<br />

der Mitlebenden«, so einst die klassische De fi nition<br />

für unmittelbar vergangene Zeitgeschichte<br />

durch den Historiker Hans Rothfels, gehört er in<br />

Kürze nicht mehr. Offizielle Erinnerungskultur<br />

und wissenschaftliche oder künstlerische Verarbeitung<br />

ersetzen die Erfahrung. Umso bemerkenswerter<br />

ist dieses Dokument direkter Zeitzeugenschaft,<br />

das so anders funktioniert als jene Erinnerungsfetzen,<br />

die in Fernsehdokumentationen<br />

die älteren Damen und Herren<br />

routiniert von sich geben.<br />

Käthe Sasso führt uns Nachgeborene<br />

heran, tief hinein in<br />

die Finsternis – drei spannungsvolle<br />

Stunden lang,<br />

ohne Pause. Einmal mehr hat<br />

das kleine, nicht genug zu<br />

Nicht nur in<br />

Worten, auch in<br />

der Tat. Käthe<br />

Sasso erzählt<br />

ihre Jugend im<br />

Widerstand<br />

supposé, Berlin<br />

<strong>2012</strong>; 3 CDs, 183<br />

Min., 29,80 €<br />

HÖRBUCH<br />

preisende Label supposé von<br />

Klaus Sander damit ein Hörbuch<br />

produziert, das die Kraft<br />

der konzentrierten mündlichen<br />

Erzählung zeigt.<br />

Idyllisch sind die Kindertage<br />

im Dorf, mit blühenden<br />

Wiesen und der liebevollen<br />

Großmutter Majka – später<br />

im Wien der dreißiger Jahre<br />

erlebt Käthe die politischen<br />

Unruhen mit ihren in der Arbeiterbewegung<br />

engagierten Eltern bis zum »Anschluss« 1938.<br />

Danach brüllt ihre vergötterte Lehrerin: »Jüdische<br />

Fratzen haben in unserer Klasse keinen<br />

Platz!«, nachdem Käthe nach ihren verschwundenen<br />

jüdischen Mitschülerinnen fragte. Die<br />

Mutter stirbt 1941, der Vater muss zur Wehrmacht<br />

– die 15-Jährige engagiert sich in der<br />

Widerstandsgruppe »Gustav Adolf Neustadl«,<br />

hilft Angehörigen von Hingerichteten und verteilt<br />

Flugblätter, bis zur Verhaftung 1942. Als<br />

Minderjährige entgeht sie der Todesstrafe, die<br />

anderen werden hingerichtet. »I bin a Köpfler«,<br />

sagt eine Freundin, die weiß, dass sie dem Tod<br />

entgegengeht. Ein Polizist erklärt ihr heimlich,<br />

wie man das Alphabet klopft, um mit Häftlingen<br />

in der Nebenzelle zu kommunizieren; ein<br />

Abschiedsgedicht der Todgeweihten erreicht sie<br />

auf einem Zettel. Käthe Sasso kommt 18-jährig<br />

ins Frauen-KZ Ravensbrück. Präzise schildert<br />

sie den Lageralltag zwischen Terror und Solidarität.<br />

So erlebt sie zweihundert ungarische Kinder<br />

aus Auschwitz, die zu Weihnachten Bonbons<br />

kriegen, bevor sie alsbald vergast werden.<br />

Gebannt hört man vom unglaublichen Entkommen<br />

der Erzählerin aus den SS-Fängen. Ihr<br />

Wienerisch nimmt dem Bericht nichts von seiner<br />

erschütternden Wirkung, sondern erzeugt<br />

eine authentische Intensität: Lange hallt Käthe<br />

Sassos Stimme nach. ALEXANDER CAMMANN<br />

Gründungsverleger 1946–1995:<br />

Gerd Bucerius †<br />

Herausgeber:<br />

Dr. Marion Gräfin Dönhoff (1909–2002)<br />

Helmut Schmidt<br />

Dr. Josef Joffe<br />

Chefredakteur:<br />

Giovanni di Lorenzo<br />

Stellvertretende Chefredakteure:<br />

Moritz Müller-Wirth<br />

Bernd Ulrich<br />

Chef vom Dienst:<br />

Iris Mainka (verantwortlich), Mark Spörrle<br />

Textchefin: Anna von Münchhausen (Leserbriefe)<br />

Internationaler Korrespondent: Matthias Naß<br />

Titelgeschichten: Hanns-Bruno Kammertöns (Koordination)<br />

Redakteur für besondere Aufgaben: Patrik Schwarz<br />

Politik: Bernd Ulrich (verantwortlich),<br />

Dr. Jochen Bittner, Andrea Böhm, Alice Bota, Frank<br />

Drieschner, Anna Kemper, Ulrich Ladurner, Khuê Pham,<br />

Jan Roß (Außen politik), Özlem Topçu, Dr. Heinrich Wefing<br />

Dossier: Sabine Rückert/Dr. Stefan Willeke (verantwortlich),<br />

Anita Blasberg, Roland Kirbach, Tanja Stelzer,<br />

Henning Sußebach<br />

Wochenschau: Ulrich Stock (verantwortlich)<br />

Geschichte: Benedikt Erenz (verantwortlich), Christian Staas<br />

Wirtschaft: Dr. Uwe J. Heuser (verantwortlich),<br />

Thomas Fischermann (Koordination Weltwirtschaft),<br />

Götz Hamann (Koordination Unternehmen), Kerstin Bund,<br />

Marie- Luise Hauch-Fleck, Rüdiger Jungbluth,<br />

Dietmar H. Lamparter, Gunhild Lütge, Marcus Rohwetter,<br />

Dr. Kolja Rudzio, Christian Tenbrock<br />

Wissen: Andreas Sentker (verantwortlich),<br />

Dr. Harro Albrecht, Dr. Ulrich Bahnsen, Christoph Drösser<br />

(Computer), Inge Kutter, Stefan Schmitt,<br />

Ulrich Schnabel, Dr. Hans Schuh-Tschan (Wissenschaft),<br />

Martin Spiewak, Urs Willmann<br />

Reich ohne Mitte<br />

Der Hamburger Sinologe Kai Vogelsang legt eine fulminante Geschichte Chinas vor VON MATTHIAS NASS<br />

Chinas 5000-jährige Geschichte – es<br />

schreibt sich so leicht dahin. Die<br />

Floskel geht zumeist einher mit einer<br />

Verbeugung vor der Kontinuität<br />

einer unvergleichlichen Kultur, die<br />

aus der Frühzeit bis in die Gegenwart reicht und<br />

die gerade eine neue, verblüffende Vitalität entfaltet.<br />

Beispiellos!<br />

Nichts daran ist falsch, gewiss nicht die Bewunderung<br />

für die Leistungen der jahrtausendealten<br />

chinesischen Kultur. Falsch ist allein die<br />

Floskel selber, das schnell dahingesagte oder -geschriebene<br />

Wort. Denn sie blendet allzu leicht<br />

das Komplexe und Ambivalente aus. Nun sind es<br />

aber gerade die Brüche, die Abstürze und Neuanfänge,<br />

die den Reichtum der Geschichte ausmachen.<br />

Eine Geschichtsschreibung, die Diskontinuitäten<br />

negiert, wird zur Ideologie. In diesem<br />

Fall heißt das: Es gibt das »ewige China« nicht,<br />

hat es nie gegeben.<br />

Dies ist die Arbeitshypothese, mit der sich der<br />

Hamburger Sinologe Kai Vogelsang ans Werk gemacht<br />

hat. In seiner fulminanten Geschichte Chinas<br />

legt er sich mit der traditionellen chinesischen Historiografie<br />

ebenso an wie mit der klassischen Sinologie<br />

des Westens. Sein donnerndes Verdikt: »›China‹<br />

und die ›Chinesen‹ sind Geschöpfe der Geschichtsschreibung.«<br />

China und die Chinesen in<br />

Anführungszeichen, das fängt ja gut an!<br />

Auf den folgenden mehr als 600 Seiten fehlen<br />

die Anführungszeichen dann meist wieder, und das<br />

ist auch richtig so. Denn natürlich gibt es eine chinesische<br />

Geschichte, was auch Vogelsang keineswegs<br />

bestreitet. Wogegen er sich wendet, ist die »ahistorische<br />

Perspektive« einer Kontinuität der chinesischen<br />

Kultur, ist das »Dogma« von der Einheit des Landes,<br />

ist die »Fiktion« einer rechtmäßigen Linie in der<br />

Abfolge der Dynastien inklusive Weitergabe eines<br />

dubiosen »Mandats des Himmels«.<br />

Oder, wie er den Anspruch seiner Arbeit formuliert:<br />

»Diese Geschichte Chinas geht davon aus, dass<br />

Wenn Männer eine Seilschaft bilden<br />

Der Diplomat Stefan aus dem Siepen hat eine Romanparabel über das ewige Mitläufertum geschrieben VON GABRIELE VON ARNIM<br />

Stefan aus dem Siepen, 1964 in Essen<br />

geboren, Jurist und Diplomat im Auswärtigen<br />

Amt, ist dabei, sich als ein<br />

eigensinniger Schriftsteller zu eta blieren,<br />

der seine Stoffe im Urgrund des<br />

Menschseins aufspürt. Mal geht es ihm um bizarre<br />

Einzelgänger, die am Rande der Normalität balancieren<br />

und konventionelle Gesellschaften mit<br />

ihrem Anderssein überfordern, dann um Gruppen,<br />

die existenziellen Gefährdungen nicht standhalten.<br />

Und da er ein Faible hat für Parabeln, ist<br />

in seinem neuen Roman die Herausforderung ein<br />

Seil, ein sehr langes Seil.<br />

In einem Dorf im Wald, fernab von irgendeiner<br />

Welt, ein paar Tagesmärsche entfernt vom nächsten<br />

Weiler, leben in einer Zeit, die schon sehr lange her<br />

sein muss, vielleicht ein Dutzend Bauern oder auch<br />

mehr mit ihren Frauen und Kindern und Alten. Sie<br />

führen ein friedliches Dasein – arbeitsam, freundlich,<br />

ereignislos. Bis Bernhardt eines Abends das<br />

Seil entdeckt. Fest geflochten und dick wie ein<br />

Daumen. Ein gutes Seil. So ein Seil hat gewiss<br />

niemand im Dorf. Aber wem kann es dann gehören?<br />

Schon früh am Morgen ist Bernhardt wieder<br />

auf den Beinen, ist auf dem Weg zum Seil. Er folgt<br />

ihm hinein in den Wald und kehrt alsbald ratlos<br />

zurück, weil das Seil kein Ende nimmt.<br />

Nun palavert das Dorf. Endlich gibt es ein Geheimnis,<br />

an dem man herumrätseln kann. Und man<br />

wird es lösen. Die erste Gruppe macht sich auf den<br />

Weg und kommt mit einem Verletzten zurück. Was<br />

Junge Leser: Dr. Susanne Gaschke (verantwortlich),<br />

Katrin Hörnlein<br />

Feuilleton: Jens Jessen/Moritz Müller-Wirth (verantwortlich),<br />

Thomas Ass heuer, Peter Kümmel, Christine Lemke-Matwey,<br />

Ijoma Mangold, Katja Nico de mus, Iris Radisch (Literatur;<br />

verantwortlich), Dr. Hanno Rauterberg, Dr. Adam Sobo czynski<br />

(Koordination), Dr. Elisabeth von Thadden (Politisches Buch)<br />

Kulturreporter: Dr. Susanne Mayer (Sachbuch),<br />

Dr. Christof Siemes<br />

Glauben & Zweifeln: Evelyn Finger (verantwortlich)<br />

Reisen: Dorothée Stöbener (verantwortlich),<br />

Michael Allmaier, Stefanie Flamm, Merten Worthmann<br />

Chancen: Thomas Kerstan (verantwortlich),<br />

Jeannette Otto, Arnfrid Schenk, Jan-Martin Wiarda<br />

Die <strong>ZEIT</strong> der Leser: Dr. Wolfgang Lechner (verantwortlich),<br />

Jutta Hoffritz<br />

<strong>ZEIT</strong>magazin: Christoph Amend (Chefredakteur),<br />

Matthias Kalle (Stellv. Chefredakteur), Christine Meffert<br />

(Textchefin), Jörg Burger, Heike Faller, Ilka Piepgras,<br />

Tillmann Prüfer (Style Director), Elisabeth Raether,<br />

Jürgen von Ruten berg, Matthias Stolz<br />

Art-Direktorin: Katja Kollmann<br />

Gestaltung: Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy<br />

Fotoredaktion: Milena Carstens (verantwortlich i.V.),<br />

Michael Biedowicz<br />

Redaktion <strong>ZEIT</strong>magazin:<br />

Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin,<br />

Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 <strong>39</strong>;<br />

E-Mail: zeitmagazin@ zeit.de<br />

Die <strong>ZEIT</strong>-App:<br />

Redaktionsleitung: Dr. Christof Siemes,<br />

Jürgen von Rutenberg (<strong>ZEIT</strong>magazin)<br />

Art-Direktion: Haika Hinze, Katja Kollmann (<strong>ZEIT</strong>magazin)<br />

Betreiber: <strong>ZEIT</strong> Online GmbH<br />

Verantwortlicher Redakteur Reportage:<br />

Wolfgang Ucha tius<br />

Reporter: Wolfgang Bauer, Marian Blasberg,<br />

Dr. Carolin Emcke, Dr. Wolfgang Gehrmann,<br />

Christiane Grefe, Jana Simon, Annabel Wahba<br />

Politischer Korrespondent:<br />

Prof. Dr. h. c. Robert Leicht<br />

Autoren: Dr. Theo Sommer (Editor-at-Large),<br />

Stefan Aust, Dr. Dieter Buhl, Ulrich Greiner,<br />

Bartholomäus Grill, Dr. Thomas Groß, Nina Grunen berg,<br />

Ingeborg Harms, Klaus Harpprecht, Wilfried Herz,<br />

Dr. Gunter Hofmann, Gerhard Jör der,<br />

Dr. Petra Kipphoff, Erwin Koch, Dr. Werner A. Perger,<br />

Roberto Saviano, Chris tian Schmidt- Häuer, Burk hard<br />

Straßmann, Tobias Timm, Dr. Volker Ullrich<br />

Berater der Art-Direktion: Mirko Borsche<br />

Art-Direktion: Haika Hinze (verantwortlich),<br />

Jan Kny (i. V.), Klaus-D. Sieling<br />

Gestaltung: Mirko Bosse, Martin Burgdorff,<br />

Mechthild Fortmann, Sina Giesecke, Katrin Guddat,<br />

Philipp Schultz, Delia Wilms<br />

Infografik: Gisela Breuer, Anne Gerdes<br />

Bildredaktion: Ellen Dietrich (verantwortlich),<br />

Florian Fritzsche, Jutta Schein, Gabriele Vorwerg<br />

Dokumentation: Mirjam Zimmer (verantwortlich),<br />

Davina Domanski, Melanie Moenig,<br />

Dorothee Schöndorf, Dr. Kerstin Wilhelms<br />

Korrektorat: Mechthild Warmbier (verantwortlich)<br />

Hauptstadtredaktion: Marc Brost (Wirtschaftspolitik)/<br />

Matthias Geis (Politik), gemeinsam verantwortlich;<br />

Peter Dausend, Christoph Dieckmann, Jörg Lau,<br />

Mariam Lau, Petra Pinzler, Dr. Thomas E. Schmidt (Kulturkorres<br />

pondent), Dr. Fritz Vorholz<br />

Reporter: Tina Hildebrandt, Elisabeth Niejahr<br />

Wirtschaftspolitischer Korrespondent: Mark Schieritz<br />

Mitarbeit: Dagmar Rosenfeld<br />

Dorotheenstraße 33, 10117 Berlin,<br />

Tel.: 030/59 00 48-0, Fax: 030/59 00 00 40<br />

Investigative Recherche: Stephan Lebert (verantwortlich),<br />

Hans Werner Kilz, Kerstin Kohlenberg, Martin Kotynek,<br />

Yassin Musharbash, Daniel Müller (Autor)<br />

Frankfurter Redaktion: Arne Storn,<br />

Eschersheimer Landstraße 50, 60322 Frankfurt a.M.,<br />

Tel.: 069/24 24 49 62, Fax: 069/24 24 49 63,<br />

E-Mail: arne.storn@zeit.de<br />

Dresdner Redaktion: Stefan Schirmer, Martin Machowecz,<br />

Ostra-Allee 18, 01067 Dresden, Tel.: 0351/48 64 24 05,<br />

E-Mail: stefan.schirmer@zeit.de<br />

Europa-Redaktion: Matthias Krupa, Residence Palace,<br />

Rue de la Loi 155, 1040 Brüssel, Tel.: 0032-2/230 30 82,<br />

Fax: 0032-2/230 64 98, E-Mail: matthias.krupa@zeit.de<br />

Pariser Redaktion: Gero von Randow,<br />

<strong>39</strong>, rue Cambronne, 75015 Paris, Tel.: 0033-972 23 81 95,<br />

E-Mail: gero.von.randow@zeit.de<br />

Kultur in China von Anbeginn nicht durch Einheitlichkeit,<br />

sondern durch Vielfalt geprägt war.«<br />

Weil bekanntermaßen einige der größten Dynastien<br />

ohnehin keine »chinesischen« waren, darunter eine<br />

mongolische (Yuan-Dynastie, 1271 bis 1368) und<br />

eine mandschurische (Qing-Dynastie, 1644 bis<br />

1912). Weil überhaupt die Chinesen von Beginn an<br />

ein buntes Gemisch aus Han-Volk und allen möglichen<br />

»Barbaren« aus den Grenzregionen des Reiches<br />

waren. »Die Wiege der chinesischen Kultur<br />

stand keineswegs nur am Gelben Fluss.«<br />

Mit anderen Worten, hier löckt einer kräftig<br />

wider den Stachel. Herausgekommen ist dabei<br />

ein Werk von staunenswerter Gelehrsamkeit, mit<br />

der sich der noch recht junge Vogelsang (Jahrgang<br />

1969) in die Riege der großen Hamburger<br />

Sinologen einreiht.<br />

Schaut nicht allein auf die großen Namen der<br />

Dynastien, schreibt er, nicht allein auf die Herrscher<br />

und ihre Schlachten, sondern mehr auf die gesellschaftlichen<br />

Bewegungen. Schaut nicht nur auf das<br />

Zentrum, sondern auch auf die einflussreichen<br />

Familien und die Regionalfürsten. Tatsächlich ist<br />

der Kampf zwischen Zentrum und Peripherie bis<br />

heute ein Dauerthema der chinesischen Geschichte.<br />

Und dabei war und ist die Zentralmacht häufig viel<br />

schwächer als gemeinhin angenommen.<br />

Auch Vogelsangs Geschichte Chinas hält sich an<br />

die Abfolge der Dynastien. Aber sie setzt die Zäsuren<br />

anders, gewichtet den sozialen Wandel stärker als<br />

den Aufstieg und den Fall der Herrscherhäuser. So<br />

beginnt für ihn die Neuzeit Chinas mitten in der<br />

Tang-Dynastie (618 bis 907), die Kaiserzeit endet<br />

lange vor der bürgerlichen Revolution und dem<br />

Ende der Qing-Dynastie 1912, nämlich schon im<br />

Jahr 1793. Vogelsang will »fraglose Kontinuitäten<br />

auflösen und zugleich den Blick auf Zusammenhänge<br />

lenken, die durch herkömmliche Unterteilung<br />

allzu leicht verdeckt werden«.<br />

Das gelingt ihm deshalb so gut, weil er zu Beginn<br />

jedes Kapitels prägnant die großen Entwicklungs-<br />

die von der Herausforderung Entzündeten erst<br />

recht antreibt, das Mysterium des Seils ergründen<br />

zu wollen. Und obwohl gerade Erntezeit ist, gehen<br />

jetzt fast alle Männer los, marschieren hinein in den<br />

Wald, dem Seil hinterher – und das Unheil nimmt<br />

seinen Lauf.<br />

Gewiss, man begreift alsbald, dass das Seil für<br />

die tückische Schlange der Versuchung steht, die<br />

den Männern einen vagen, aber einmaligen Triumph<br />

verheißt. Und natürlich verfallen sie dem<br />

sinnlosen Kitzel der Verlockung, folgen dem Seil in<br />

ungestümer Er regung. Bis die Erschöpfung sie<br />

zernagt, die Zerrüttung der Nerven die Moral<br />

zersetzt, bis aus den sittsamen Bauern eine so blindwütige<br />

wie ängstliche Meute geworden ist, die, körperlich<br />

versifft und seelisch zerfetzt, dem blöden<br />

Seil in tumber Beharrlichkeit folgt.<br />

Auch ist kaum überraschend, dass es alsbald<br />

einen Führer gibt, den Lehrer Reck. Ein kleiner<br />

Mann mit zwei großen Doggen und Klumpfuß –<br />

wie sollte man nicht an Goebbels denken bei dieser<br />

Figur –, der kann, was die Bauern nicht können,<br />

nämlich reden: ein eloquenter Beelzebub, der Sehnsüchte<br />

in den Männern zu wecken versteht, von<br />

deren Lebendigkeit in sich sie bisher noch nichts<br />

ahnten, der treuherzig die Flöte bläst und die Horde<br />

vorantreibt. Einmal hält er gar eine Ansprache,<br />

bei der die berühmte Posener Rede von Heinrich<br />

Himmler Pate gestanden haben dürfte.<br />

In Siepens Roman ruft Lehrer Reck nach einem<br />

mörderischen Kampf mit einer Wolfsmeute seinen<br />

Mittelost-Redaktion: Michael Thumann, Posta kutusu 2,<br />

Arnavutköy 34345, Istanbul, E-Mail: michael.thumann@zeit.de<br />

Washingtoner Redaktion: Martin Klingst, 7303 Maple Ave.,<br />

Chevy-Chase, Md. 20815; martin.klingst@zeit.de<br />

New Yorker Redaktion: Heike Buchter, 11, Broadway,<br />

Suite 851, 10004 New York, Tel.: 001-212/ 269 34 38,<br />

E-Mail: hbuchter@newyorkgermanpress.com<br />

Moskauer Redaktion: Johannes Voswinkel,<br />

Srednjaja Perejaslaws ka ja 14, Kw. 19, 129110 Moskau,<br />

Tel.: 007-495/680 03 85, Fax: 007-495/974 17 90<br />

Österreich-Seiten: Joachim Riedl, Alserstraße 26/6a,<br />

A-1090 Wien, Tel.: 0043-664/426 93 79,<br />

E -Mail: joachim.riedl@zeit.de<br />

Schweiz-Seiten: Peer Teuwsen, Kronengasse 10,<br />

CH-5400 Baden, Tel.: 0041-562 104 950,<br />

E-Mail: peer.teuwsen@zeit.de<br />

Weitere Auslandskorrespondenten:<br />

Georg Blume, Neu-Delhi, Tel.: 0091-96-50 80 66 77,<br />

E-Mail: blumegeorg@yahoo.de;<br />

Angela Köckritz, Peking,<br />

E-Mail: angela.koeckritz@zeit.de;<br />

Gisela Dachs, Tel Aviv, Fax: 00972-3/525 03 49;<br />

Dr. John F. Jungclaussen, Lon don,<br />

Tel.: 0044-2073/54 47 00, E-Mail: johnf.jungclaussen @ zeit.de;<br />

Reiner Luyken, Achiltibuie by Ullapool,<br />

Tel.: 0044-7802/50 04 97, E-Mail: reiner.luyken@zeit.de;<br />

Birgit Schönau, Rom, Tel.: 00<strong>39</strong>-3<strong>39</strong>-229 60 79<br />

<strong>ZEIT</strong> Online GmbH:<br />

Chefredaktion: Wolfgang Blau (Chefredakteur), Domenika<br />

Ahlrichs (Stellv. Chef redakteurin), Karsten Polke-Majewski<br />

(Stellv. Chef redakteur), Christoph Dowe (Geschäftsf. Red.),<br />

Fabian Mohr (Entwicklung, Multimedia-Formate, Video);<br />

Textchefin: Meike Dülffer; Chef/-in vom Dienst: Christian<br />

Bangel, Kirsten Haake, Alexander Schwabe; Nachrichten:<br />

Karin Geil, Tilman Steffen, Till Schwarze, Zacharias<br />

Zacharakis; Politik, Meinung, Gesellschaft: Markus Horeld<br />

(Leitung), Lisa Caspari, Ludwig Greven, Carsten Luther,<br />

Steffen Richter, Parvin Sadigh, Michael Schlieben, Katharina<br />

Schuler; Wirtschaft, Karriere, Auto: Marcus Gatzke (Leitung),<br />

Matthias Breitinger, Alexandra Endres, Philip Faigle, Tina Groll;<br />

Kultur, Lebensart, Reisen: Jessica Braun (Leitung), Maria<br />

Exner, David Hugendick, Wenke Husmann, Evelyn Runge,<br />

Carolin Ströbele, Rabea Weihser; Digital, Wissen, Studium:<br />

Dagny Lüdemann (Leitung), Patrick Beuth, Kai Biermann,<br />

Ruben Karschnik, Sven Stock rahm; Sport: Steffen Dobbert<br />

linien des dargestellten Zeitraums umreißt. Jeder<br />

Abschnitt hat zudem eine eigene Zeittafel, die eine<br />

rasche Orientierung erlaubt. Was dem Werk aber<br />

seinen besonderen Reiz gibt, sind die ein- bis zweiseitigen<br />

Begriffserklärungen, die Vogelsang in seinen<br />

Text einstreut. Stichwörter wie »Jade«, »Schrift«,<br />

»Die Große Mauer«, »Tribut«, »Korruption« oder<br />

»Mao-Kult« fügen sich zu einem eigenen kleinen<br />

China-Lexikon. Die vielen eingestreuten literarischen<br />

Zitate, Gedichte, Auszüge aus Geschichtswerken<br />

machen die Lektüre nur noch angenehmer.<br />

Vogelsang zeigt, dass Umbruchzeiten wie das<br />

Zeitalter der »Frühlings- und Herbstannalen«<br />

(722 bis 481 v. Chr.) oder der »Kämpfenden<br />

Staaten« (453 bis 221 v. Chr.) gesellschaftlich<br />

oft die produktivsten Pe rioden<br />

waren. »Gerade die Zeiten politischer<br />

Desintegration waren in der Geschichte<br />

Chinas zugleich Zeiten geistigen Auftriebs<br />

und höchster kultureller Leistungen.«<br />

Wie im Altertum, so auch nach dem<br />

Ende des Kaiserreichs 1912. Gegen die<br />

damals nach der Macht greifenden restaurativen<br />

Kräfte gingen die Studenten im<br />

Namen von Demokratie und Wissenschaft<br />

auf die Straße. Das literarische Leben<br />

blühte auf, in den neu gegründeten Zeitungen<br />

riefen Intellektuelle nach Reformen.<br />

»Wie so oft, wenn China politisch<br />

zerrissen war, erwachten die kulturellen<br />

Kräfte zu umso regerem Leben. Als die<br />

Revolution politisch am Ende war, sollte<br />

sie kulturell erst beginnen.«<br />

Immer wieder kehrt Vogelsang zu der Frage<br />

zurück: Was heißt das eigentlich – chinesisch?<br />

China war ja über Jahrtausende kein fest gefügtes<br />

Reich mit klaren Grenzen. Es verstand sich als<br />

Mittelpunkt der Welt und wurde doch immer<br />

wieder von den Völkern an seinen Grenzen überrannt.<br />

Einmal an der Macht, prägten sie das<br />

Reich – und wurden von diesem geprägt. Die<br />

Männern zu: »All dies geschieht nicht umsonst, wir<br />

müssen die Bürde auf uns nehmen.«<br />

Doch trotz aller vorhersehbaren Entwicklungen<br />

liest man den schmalen Roman mit banger Spannung:<br />

weil es dem Autor gelingt, die Absurdität des<br />

gefährlichen Sogs, den das Seil auf die Bauern ausübt,<br />

spürbar zu machen. Weil man den Irrsinn des<br />

Mitläufertums begreift und auch seine<br />

fast unentrinnbare Bedrängnis. Nach<br />

einer Weile können die Bauern nicht<br />

mehr umkehren. Sie müssen weiter hinein<br />

in den Wald, dem Seil hinterher. Sie<br />

sind schon zu weit gegangen – und das<br />

in jeder Hinsicht. Sie haben ihre Frauen<br />

und ihre Felder im Stich gelassen und<br />

sich selber verraten. Also gehen sie weiter,<br />

Tag für Tag, wochenlang.<br />

Und wir folgen dem Sog des Seils und<br />

des suggestiven Sprachklangs. Denn Siepen<br />

ist ein bedächtiger Wortsucher, der<br />

sprachlich unbeirrbar in seiner ruhigen<br />

Prä zi sion den Bauern in die Ver rohung<br />

und die Verzweiflung folgt. Hin und wieder<br />

allerdings erliegt der Autor seiner<br />

Wortlust. Dann lässt er Sturm und Hagel,<br />

Blitz und Donner über die Männer herfallen<br />

und schwelgt so ausgiebig in unheilvollen<br />

Bildern, als wolle er seinem grimmigen Sujet<br />

ein diabolisch schillerndes Gewand überwerfen.<br />

Gustave Le Bon hat einst in seiner Psychologie<br />

der Massen das »Gesetz von der seelischen Einheit<br />

(verantwortl. Red.), Christian Spiller; Video: René<br />

Dettmann, Adrian Pohr; Social Media: Juliane Leopold;<br />

Community: Sebastian Horn; E-Mail: community@zeit.de;<br />

Bildredaktion, Grafik und Layout: Tibor Bogun (Leitung),<br />

Paul Blickle, Anne Fritsch, Nele Heitmeyer, Sonja Mohr,<br />

Martina Schories; Entwicklungsredaktion: Thomas Jöchler<br />

(Leitung), Michael Schultheiß, Sascha Venohr<br />

Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser, Christian Röpke<br />

Verlag und Redaktion:<br />

Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,<br />

Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg<br />

Telefon: 040/32 80-0 Fax: 040/32 71 11<br />

E-Mail: DieZeit@zeit.de<br />

<strong>ZEIT</strong> Online GmbH: www.zeit.de<br />

© Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg<br />

Geschäftsführer: Dr. Rainer Esser<br />

Verlagsleitung: Stefanie Hauer<br />

Vertrieb: Jürgen Jacobs<br />

Marketing: Nils von der Kall<br />

Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen:<br />

Silvie Rundel<br />

Herstellung/Schlussgrafik: Torsten Bastian (verantwortlich),<br />

Helga Ernst, Nicole Hausmann, Oliver Nagel,<br />

Hartmut Neitzel, Frank Siemienski, Pascal Struckmann,<br />

Birgit Vester, Lisa Wolk;<br />

Bildbearbeitung: Anke Brinks, Hanno Hammacher, Martin Hinz<br />

Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH,<br />

Kurhessenstr. 4 –6, 64546 Mörfelden-Walldorf<br />

Axel Springer AG, Kornkamp 11, 22926 Ahrensburg<br />

Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder<br />

übernimmt der Verlag keine Haftung.<br />

Anzeigen: <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>, Matthias Weidling<br />

Empfehlungs anzeigen: iq media marketing, Axel Kuhlmann<br />

Anzeigenstruktur: Ulf Askamp<br />

Anzeigen: Preisliste Nr. 57 vom 1. Januar <strong>2012</strong><br />

Magazine und Neue Geschäftsfelder: Sandra Kreft<br />

Projektreisen: Christopher Alexander<br />

Bankverbindungen:<br />

Commerzbank Stuttgart, Konto-Nr. 525 52 52,<br />

BLZ 600 400 71; Postbank Hamburg,<br />

Konto-Nr. 129 00 02 07, BLZ 200 100 20<br />

Börsenpflichtblatt:<br />

An allen acht deutschen Wertpapierbörsen<br />

Kai Vogelsang:<br />

Geschichte<br />

Chinas<br />

54 Abb. und 14<br />

Karten; Reclam,<br />

Stuttgart <strong>2012</strong>;<br />

645 S., <strong>39</strong>,95 €<br />

Stefan aus dem<br />

Siepen: Das Seil<br />

Roman; dtv<br />

premium,<br />

München <strong>2012</strong>;<br />

176 S., 14,90 €;<br />

als E-Book 12,99 €<br />

Mandschuren der Qing-Dynastie etwa »gaben<br />

sich in Beijing chinesischer als die Chinesen«.<br />

Der Frage nachzuspüren, was eigentlich das<br />

»Chinesische« an China sei, ist ein delikates Unterfangen<br />

in Zeiten, in denen der Nationalismus<br />

blüht. China strebt nach Weltgeltung, es strotzt<br />

vor Selbstbewusstsein. Die Erfolge der Reformpolitik<br />

Deng Xiaopings machen die Welt staunen;<br />

sie hat das Land gerettet nach dem Wahn von<br />

Maos »Großem Sprung vorwärts«, der zur vielleicht<br />

größten Hungersnot der Menschheitsgeschichte<br />

wurde, und nach dem Wüten der »Großen<br />

Proletarischen Kulturrevolution«.<br />

Die Führung der Kommunistischen<br />

Partei muss derzeit um ihre Macht nicht<br />

fürchten. Und doch wirkt sie unsicher.<br />

Nichts ist ihr wichtiger als die Wahrung<br />

der nationalen Einheit. Verspielte sie<br />

diese, verlöre sie ihre Legitimität. »Das<br />

Grundproblem der chinesischen Gesellschaft«,<br />

schreibt Vogelsang, bleibe »die<br />

Ordnung einer heterogenen Gesellschaft«.<br />

Das gelte heute wie zu allen Zeiten.<br />

Es sei deshalb kein Zufall, dass die von<br />

der KP propagierte »harmonische Gesellschaft«<br />

den Konfuzianismus zu neuen<br />

Ehren kommen lasse, der schon im Altertum<br />

die »Ideologie des bürokratischen<br />

Absolutismus« gewesen sei.<br />

Harmonisch ist das heutige China<br />

wahrlich nicht. Es ist voller Gegensätze<br />

und Spannungen: zwischen Stadt und<br />

Land, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen<br />

Arm und Reich – und damit ein getreues<br />

Abbild seiner 5000-jährigen Geschichte. Man begreift<br />

die Herausforderungen, vor denen das<br />

Land steht, viel besser, wenn man die oft grandiose,<br />

oft grauenvolle Geschichte des Riesenreiches<br />

studiert. Vogelsangs fabelhaftes Werk ist jedem,<br />

der sich dieser Mühe unterziehen will, ans Herz<br />

zu legen. Ein großer Wurf.<br />

der Massen« untersucht. Genau das will Siepen mit<br />

den Mitteln der Fik tion tun, will die »Kollektivseele«<br />

ergründen und erzählerisch fassen. Er beschreibt<br />

nur selten ein »ich«, sondern meist ein »sie«<br />

– die Gruppe als physische und psychische Einheit.<br />

Sie denken, schwitzen, stinken, laufen gemeinschaftlich.<br />

Sie leiden, entgleisen, verdumpfen: »Sie<br />

dachten nicht mehr, sondern marschierten<br />

nur noch.«<br />

Das kann man nun als Konstrukt abtun.<br />

Denn es bleiben in der Tat die Figuren<br />

Statisten im Szenario. Aber man kann<br />

sich auch hineinbegeben und schreckgebannt<br />

zusehen, wie normale Männer<br />

sich enthemmen, wie verfügbar der Einzelne<br />

wird im bestimmenden Kollektiv,<br />

wie schnell der Verstand sich verwirrt,<br />

der Anstand zum Nebelgespinst zerfließt,<br />

der Mensch seine viel gerühmte Menschlichkeit<br />

verliert. Man kommt nicht<br />

umhin, auch sich zu fragen, wie lange<br />

man wohl Mitläufer geblieben wäre in<br />

dieser Seilschaft.<br />

Nur Bernhardt, der das Seil entdeckte,<br />

kehrt nach kurzer Zeit um. Er bleibt<br />

sich und seinem Gewissen treu. Und ausgerechnet<br />

ihn lässt Siepen auf dem Rückweg<br />

zugrunde gehen, sich unserem romantischen<br />

Wunsch verweigernd, dass doch bitte jedenfalls in<br />

der Literatur der belohnt werden möge, der anständig<br />

bleibt.<br />

<strong>ZEIT</strong>-LESERSERVICE<br />

Leserbriefe<br />

Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH &<br />

Co. KG, 20079 Hamburg,<br />

Fax: 040/32 80-404;<br />

E-Mail: leserbriefe@zeit.de<br />

Artikelabfrage aus dem Archiv<br />

Fax: 040/32 80-404;<br />

E-Mail: archiv@zeit.de<br />

Abonnement<br />

Jahresabonnement € 197,60;<br />

für Studenten € 124,80<br />

(inkl. <strong>ZEIT</strong> Campus);<br />

Lieferung frei Haus;<br />

Digitales Abo € 2,99 pro Ausgabe;<br />

Digitales Abo für <strong>ZEIT</strong>-Abonnenten<br />

€ 0,40 pro Ausgabe<br />

Schriftlicher Bestellservice:<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>, 20080 Hamburg<br />

Abonnentenservice:<br />

Telefon: 0180-525 29 09*<br />

Fax: 0180-525 29 08*<br />

E-Mail: abo@zeit. de<br />

* 0,14 €/Min. aus dem deutschen<br />

Festnetz, max. 0,42 €/Min. aus dem<br />

deutschen Mobilfunknetz<br />

Abonnement für<br />

Österreich, Schweiz und<br />

restliches Ausland<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> Leserservice<br />

20080 Hamburg<br />

Deutschland<br />

Telefon: +49-1805-861 00 09<br />

Fax: +49-1805-25 29 08<br />

E-Mail: abo@zeit.de<br />

Abonnement Kanada<br />

Anschrift: German Canadian News<br />

25–29 Coldwater Road Toronto,<br />

Ontario, M3B 1Y8<br />

Telefon: 001-416/<strong>39</strong>1 41 92<br />

Fax: 001-416/<strong>39</strong>1 41 94<br />

E-Mail: info@gcnews.ca<br />

Abonnement USA<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> (USPS No. 0014259)<br />

is published weekly by Zeitverlag.<br />

Subscription price for the USA<br />

is $ 270.00 per annum.<br />

K.O.P.: German Language Pub.,<br />

153 S Dean St., Englewood NJ<br />

7631. Periodicals postage is paid<br />

at Englewood NJ 07631 and<br />

additional mailing offices.<br />

Postmaster: Send address<br />

changes to: <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>, GLP, PO<br />

Box 9868, Englewood NJ 07631<br />

Telefon: 001-201/871 10 10<br />

Fax: 001-201/871 08 70<br />

E-Mail: subscribe@glpnews.com<br />

Einzelverkaufspreis<br />

Deutschland: € 4,20<br />

Ausland:<br />

Dänemark DKR 43,00;<br />

Finnland € 6,70;<br />

Norwegen NOK 62,00;<br />

Schweden SEK 61,00;<br />

Belgien € 4,50;<br />

Frank reich € 5,20;<br />

Portugal € 5,20;<br />

Großbritannien GBP 5,00;<br />

Nieder lande € 4,50;<br />

Luxemburg € 4,50;<br />

Österreich € 4,30;<br />

Schweiz CHF 7.30;<br />

Griechenland € 5,70;<br />

Italien € 5,20; Spanien € 5,20;<br />

Kanarische Inseln € 5,40;<br />

Tschechische Republik CZK 175,00;<br />

Slowakei € 6,20;<br />

Ungarn HUF 1690,00;<br />

Slowenien € 5,20<br />

ISSN: 0044-2070


FEUILLETON<br />

LITERATUR<br />

Foto: Pavel Baňka, Tschechische Republik, 1941<br />

Der Desperado in uns<br />

Von Aristoteles bis Foucault: Daniel Heller-Roazen erkundet die Philosophie des inneren Sinns VON GISELA VON WYSOCKI<br />

So hat es wohl kommen müssen,<br />

denkt man und blickt auf ein Werk<br />

von fünfhundert Seiten, dessen<br />

Schriftbild allein schon ein typografisches<br />

Ereignis ist. Netzwerke<br />

europaweiter Zitate breiten sich<br />

vor uns aus, die mit griechischen<br />

und arabischen Lettern aufwarten, mit ausladenden<br />

Belegstellen aus lateinisch verfassten Originaltexten.<br />

So aufwendig muss es wohl zugehen, wenn<br />

es sich um einen Begriff handelt, der, so wie der<br />

»innere Sinn«, schon lange ein Schattendasein<br />

führt als ungeliebtes, schließlich aus der Familiengeschichte<br />

des europäischen Denkens verstoßenes<br />

Kind. Eine Geschichte, die sich nach und nach<br />

um das Kind herumgemogelt hat, um schließlich<br />

seine wenig einladende Rätselhaftigkeit mit Ausschluss<br />

zu ahnden.<br />

Die guten Nachrichten zuerst, das Buch lässt<br />

zwei Protagonisten auftreten, deren Geschichten es<br />

uns besonders leicht machen, dem vieldeutigen<br />

Phänomen näherzukommen: den in den Wachzustand<br />

überwechselnden Schläfer am Beginn des<br />

großen Romanwerks von Marcel Proust und E.T.A.<br />

Hoffmanns Kater Murr. Woher eigentlich, um mit<br />

ihm zu beginnen, nimmt dieses so selbstgefällig urteilende<br />

Wesen die Sicherheit, sich lustig zu machen<br />

über das »auf zwei Füßen aufrecht einhergehende«<br />

Menschenpack? Was berechtigt einen Kater, so die<br />

Frage des Autors Daniel Heller-Roazen, Professor<br />

der Komparatistik an der Universität Princeton, so<br />

vollmundig mit eigenen Erfahrungen herumzuprotzen,<br />

die von einem »über allem waltenden Prinzip«<br />

und von einem »Gefühl des Daseins« schwafeln?<br />

In dem großen Aristoteles hat er allerdings für<br />

seine Haltung einen ernst zu nehmenden Mitstreiter<br />

gehabt, der das Vermögen der Tiere, sich in der<br />

Schöpfung in ihrem ureigensten Element zu fühlen,<br />

für »unfehlbar« hielt. Dafür bietet seine Schrift<br />

De anima eine ganze Palette von Beispielen. Ihn<br />

überzeugt der kunstvoll sich wie von selbst vollziehende<br />

Nestbau der Schwalbe. Die präzise angepeilte<br />

Flughöhe des Kranichs, mit der er die Landschaft<br />

unter ihm umfassend überblicken kann. Die<br />

Weitsicht und Skrupellosigkeit des Kuckucks, der<br />

sich seiner Jungen entledigt in der realistischen<br />

Selbsteinschätzung, ein Feigling zu sein und deshalb<br />

nicht dazu in der Lage, seine Brut<br />

versorgen zu können. Die Tiere, meinte<br />

ein hingerissener Seneca, kämen ausnahmslos<br />

»schon unterwiesen« zur Welt.<br />

Eine wahre Oase des sensus interior eröffnet<br />

sich auch dem Schläfer in den Augenblicken<br />

seines Erwachens. Walter<br />

Benjamin sprach ihm Wahrnehmungen<br />

von »unendlicher Varietät« zu. Mit den<br />

Worten »Lange Zeit bin ich früh schlafen<br />

gegangen« findet Marcel Proust den fulmi-<br />

nanten Einstieg in seinen Roman. Den<br />

langsam zu sich Kommenden sieht er mit<br />

einer Empfindung für die grenzenlose<br />

Reichweite der Existenz beschenkt, wie sie<br />

vergleichbar nur in einem Tier zu »beben«<br />

vermag. Alles scheint möglich, alles erreichbar<br />

zu sein, der entblößte Höhlenmensch<br />

und der Raumfahrer, der mit Lichtgeschwindigkeit<br />

durch »Jahrtausende der<br />

Menschheitsgeschichte« geschleudert wird.<br />

Daniel Heller-<br />

Roazen:<br />

Der innere Sinn<br />

A. d. Engl. von<br />

Horst Brühmann;<br />

S. Fischer, Frankfurt/M.<br />

<strong>2012</strong>; 502<br />

S., 24,99 €; als<br />

E-Book 21,99 €<br />

Daniel Heller-Roazen, 1974 geboren, hat sicher<br />

kein Talent zur halbwachen Romanfigur, aber ein<br />

offenbar ebenfalls bewusstseinserweitertes Ich zu<br />

bieten. Das Buch, das nun in der kundigen und<br />

präzisen Übersetzung von Horst Brühmann vorliegt,<br />

formuliert seine Absicht mit den Worten, die »tausendjährige<br />

Reflexion über die Natur des sprechenden<br />

Lebewesens im Abendland« nachzuvollziehen. Also<br />

bis hin zu Michel Foucault, ausgehend von Aristoteles.<br />

So weit das Auge reicht. Die Bedeutung des inneren<br />

Sinns oder die Fähigkeit, sich selber als existierend<br />

wahrzunehmen, hat Aristoteles mit dem Begriff<br />

des »Gemeinsinns« zu einer funktionstüchtigen, protokollführenden<br />

Zentrale im Reich der<br />

Sinne ausgebaut. Von diesem philosophischen<br />

Hochsitz aus äußerte er die Ansicht,<br />

es könne dem menschlichen Lebewesen<br />

unter gar keinen Umständen »sein eigenes<br />

Dasein verborgen bleiben«.<br />

Wie das Buch mit vielen Beispielen<br />

beweist, wollte die akademische Nachwelt<br />

diesen Befund nicht hinnehmen,<br />

drehte und wendete ihn so lange, bis er,<br />

hoffähig gemacht, eine besser passende<br />

Lesart ausspuckte. Man implantierte<br />

dem »inneren Tastsinn« nach und nach<br />

eine in der aristotelischen Philosophie<br />

schmerzlich vermisste Größe: das erkennende<br />

Bewusstsein. Nicht ihm, wäre es<br />

nach Aristoteles gegangen, hätte die<br />

Primadonnenrolle in der Geschichte des<br />

europäischen Philosophierens zufallen<br />

sollen, sondern ihrem Gegenpart, dem<br />

»Wissen vom Leben«. Eine Turbulenz,<br />

Dichten und<br />

verdichten<br />

Der Blick auf die Welt ist ein dichtender, weshalb wir<br />

uns nur entweder zwingen können, ihn auf das zu<br />

reduzieren, was uns real vor den Augen liegt, oder, in<br />

anderer Richtung, zu entdecken, auf welche Weise<br />

wir das Sichtbare uns anverwandeln. Der Fotograf<br />

Pavel Banka, der in Prag lebt und arbeitet, wählt den<br />

zweiten Weg, in seinen Bildern entfaltet sich die Fiktionalisierung<br />

des Realen, er verzaubert ein Kornfeld,<br />

während er in der Natur die Spuren des menschlichen<br />

Eingriffes betont. Der Band Sense of Place. Europäische<br />

Landschaftsfotografie lässt den Blick vom Norden<br />

Europas, vom Baltikum über Schweden und Däne-<br />

ein dramatisches Geschehnis, das den Blick auf das<br />

schüttere Fundament freigibt, auf dem der Bewusstseinsbegriff<br />

sesshaft geworden ist.<br />

Das Buch gibt erst spät zu erkennen, welches<br />

Motiv sich hinter dem Aufgebot an Informationen,<br />

Daten, Deutungen und inhaltlichen Verzweigungen<br />

versteckt: die Ze le bra tion eines Abschieds,<br />

der Abgesang auf ein vergessenes, menschliches<br />

Vermögen. Vor lauter Willensstärke, Belesenheit<br />

und Klugheit hat der Autor eine kleine, aber folgenreiche<br />

Schwäche nicht im Griff, es ist die Idee,<br />

auf nichts verzichten zu können.<br />

Sein Buch ist dem vor sieben Jahren verstorbenen<br />

Vater gewidmet, dem großen Historiker Paul Roazen,<br />

dessen Untersuchungen das Zustandekommen und<br />

die Auswirkungen der Wiener Psychoanalyse stoffreich<br />

zur Darstellung bringen. Man kann vermuten,<br />

dass dieses posthume Präsent den Sohn zu besonderer<br />

Seriosität verpflichtete. Aus diesem Grund hat sein<br />

neues Buch wohl nicht ganz so brillant und so ungezwungen<br />

originell werden können wie die Essays<br />

Echolalien, die von der Geburt und dem Sterben von<br />

Lauten handeln.<br />

Das dennoch eindrucksvolle Werk macht streckenweise<br />

den Eindruck, als ginge es ihm um<br />

nichts anderes als um die luftdicht abgeschlossene<br />

Rekonstruktion eines Begriffs. Bemüht um Vollständigkeit,<br />

schleust uns Heller-Roazen quer durch<br />

die philosophischen Systeme, im Gepäck die abgewandelte<br />

Gretchenfrage: Wie haltet ihr es mit dem<br />

inneren Sinn? Antwort geben unter anderem Platon,<br />

Marc Aurel, Augustinus, Albertus Magnus,<br />

Thomas von Aquin, Bacon, Campanella, Locke,<br />

Rousseau und Condillac.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 49<br />

mark nach Zentraleuropa, über Ungarn und<br />

Österreich nach Italien, Malta, Griechenland wandern.<br />

Wir sehen schneebedeckte Schlachtfelder<br />

oder lichtüberflutetes Meer, die Wunden, die wir<br />

durch Berge schlugen, Stadtsilhouetten, in denen<br />

sich Jahrhunderte verdichten. Gäbe es etwas, das<br />

dieses Europa zusammenhielte? Darüber zu meditieren,<br />

hier böte es sich an. SM<br />

Sense of Place<br />

Europäische Landschaftsfotografie<br />

Prestel Verlag, München <strong>2012</strong>; 280 S., 49,95 €<br />

Eine brillante Zitaten-Show, dabei gilt ja der eigentliche<br />

Impuls und die Leidenschaft des Buches<br />

dem Werdegang und Abstieg eines Gefühls, das<br />

uns nicht nur unser Leben spüren lässt, sondern<br />

auch unsere Sterblichkeit. »Das Fleisch der Menschen«,<br />

schrieb Aristoteles, »ist das allerzarteste.« In<br />

ihre Existenz greift der innere Sinn am tiefsten ein.<br />

Erst am Schluss des Buches werden die Karten auf<br />

den Tisch gelegt; und das mit plakativer Abruptheit.<br />

Asche über das Haupt von Descartes. Er war<br />

es, der »das Tier« aus dem Menschen »verschwinden«<br />

ließ. Ein Tötungsakt, aus dem ein empfindungsfreier,<br />

wahrnehmungsbereinigter Raum des<br />

Denkens erwuchs und eine der einflussreichsten<br />

Theorien der Frühmoderne.<br />

Glaubt man dem Autor, wird dem inneren Sinn<br />

heute kein anderes Überleben zugestanden als das<br />

eines Des pe ra dos, der in beängstigenden Quartieren<br />

Unterschlupf finden muss: im Phantomschmerz der<br />

Amputierten. In den Dissoziationsstörungen und<br />

Unvollständigkeitsgefühlen der Psychotiker. Der innere<br />

Sinn ging ein in Krankheitsbilder. Von Patienten<br />

ist die Rede, deren Leiden aus der Wahrnehmung<br />

entstand, dass sie nichts mehr wahrnehmen.<br />

Es wäre eine schöne Pointe des Buches gewesen,<br />

an seinen Anfang zurückzukehren, zu Marcel Proust,<br />

der allein schon in den Schlafhaltungen seines Protagonisten<br />

verschwenderisch angelegte Speicherorgane<br />

des inneren Sinns aufspürt. Das Phänomen, so<br />

könnte man deshalb sagen, liegt direkt vor der Haustür.<br />

Es ist zu haben. Aber zu geringfügig, zu unverlässlich,<br />

zu vielgestaltig, um unter der Gewalt der<br />

großen Konstruktionen eine Bleibe in der Philosophie<br />

gefunden zu haben.


Foto (Ausschnitt): Isolde Ohlbaum/laif<br />

50 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> FEUILLETON<br />

Der Brite unter<br />

den Deutschen<br />

Von allen Intellektuellen ist er der verwegenste Abenteurer. Ein<br />

Besuch beim Essayisten und Schriftsteller Karl Heinz Bohrer in<br />

London aus Anlass seines 80. Geburtstags VON IJOMA MANGOLD<br />

Karl Heinz Bohrer<br />

Geboren am 26. September 1932 in<br />

Köln. Sein Vater war ein liberaler Volkswirt<br />

mit starken Neigungen nach Frankreich<br />

und Spanien. Bohrer besuchte das<br />

humanistische Landschulheim Birklehof<br />

im Schwarzwald, wo er seine Leidenschaft<br />

für Latein und Griechisch entdeckte.<br />

Er war Literaturchef der »FAZ« bis<br />

1973, danach ging er als deren Kulturkorrespondent<br />

nach London. 1983 wurde<br />

er Professor für Literaturwissenschaft<br />

in Bielefeld. Mit seiner zweiten Frau, der<br />

Schriftstellerin Undine Gruenter (1952<br />

bis 2002), lebte er in Paris. Bohrer war<br />

Herausgeber des »Merkur«. Seit 2003 ist<br />

er Gastprofessor in Stanford. Heute lebt<br />

er wieder in London.<br />

Irgendwie muss ich nach der Landung in<br />

London etwas mit der Zeitverschiebung<br />

durcheinandergebracht haben, denn als ich<br />

pünktlich an der Tür von Karl Heinz Bohrers<br />

Haus klingele, öffnet seine Frau überrascht:<br />

»Mein Mann erwartet Sie erst in einer<br />

Stunde.« Das sei mir jetzt aber unangenehm, gewiss<br />

halte Herr Bohrer seinen Mittagsschlaf? Nein,<br />

er sei am Lesen. Karl Heinz Bohrer, der auch kurz<br />

vor seinem 80. Geburtstag in seiner Statur immer<br />

noch diese einmalige Mischung aus Lässigkeit und<br />

Heroismus ausstrahlt, kommt nun die Treppe herunter,<br />

ein Buch in der Hand. Ja, er habe gelesen,<br />

und ich möge bitte mal raten, was. Fontane. Irrungen<br />

und Wirrungen. Das möge man sich bitte mal<br />

geben! Er lese zurzeit die großen Realisten, auch<br />

Flauberts Erziehung des Herzens. Ausgerechnet er,<br />

der doch sein ganzes Leben immer der Mann der<br />

Tragödie gewesen sei, des Surrealismus und der<br />

romantischen Imagination. Er müsse beschämt zugeben:<br />

Das sei schon verdammt gut. Mit rheinischem<br />

Akzent, der etwas Karnevaleskes hat: »Ich<br />

habe dem Realismus unrecht getan.«<br />

Dazu muss man zweierlei wissen. Erstens: Bohrer<br />

ist jemand, der ästhetische Fragen existenziell ernst<br />

nimmt. Es wäre völlig absurd, über Bohrer zu sagen,<br />

die griechische Tragödie sei einer seiner Forschungsschwerpunkte.<br />

Genauso gut könnte man sagen, Napoleon<br />

habe sich sein Brot mit Kriegführen verdient.<br />

Nein, hier gilt die Abwandlung des bekannten Fichte-Worts:<br />

Für welche Literatur einer brennt, das verrät,<br />

was für ein Kerl er ist. Und Bohrer, zweitens, war<br />

immer ein Kerl, der alles Biedere und Verdruckste<br />

verachtete und alles Gefährliche begeistert aufnahm.<br />

Dort, wo die phantasmatische Gewalt des literarischen<br />

Worts für irgendeine dahinterliegende sittliche<br />

Idee in Dienst genommen werden sollte, da trat<br />

Bohrer als Anwalt poetischer Autonomie auf den<br />

Plan. Sophokles’ Antigone ein wahlweise pazifistisches<br />

oder feministisches Stück? Nicht mit ihm, dem Feind<br />

jeder idealistischen Hermeneutik. In diesem Sinne<br />

war Bohrer immer ein Ernst-Jünger-Leser, ein André-<br />

Breton-Verehrer, ein Baudelaire-Anhänger, während<br />

ihm das realistische Erzählen allzu harmlos vorkam.<br />

Aber es ist etwas passiert im Leben von Karl Heinz<br />

Bohrer. Seine Laufbahn begann er, nach einem Vorspiel<br />

bei der Welt, als Literaturchef der FAZ, bevor<br />

Marcel Reich-Ranicki 1973 seinen Posten übernahm.<br />

Bohrer ging darauf als Kulturkorrespondent für die<br />

FAZ nach London und wurde zum roten Tuch des<br />

bundesrepublikanischen Linksmilieus, als er in einem<br />

berühmten Artikel Thatchers Falkland-Krieg verteidigte<br />

und im deutschen Pazifismus nur die sentimentalen<br />

Reflexe von Mainzelmännchen erkennen<br />

wollte, die sich vor der Wirklichkeit der Macht in<br />

Moralismus flüchten. 1983 wurde er Professor für<br />

Literaturwissenschaft in Bielefeld, und als Herausgeber<br />

der Suhrkamp-Reihe Aesthetica ließ er den amerikanischen<br />

Dekonstruktivismus um Paul de Man<br />

diskutieren. Und schließlich seine Herausgeberschaft<br />

des Merkurs, wo ihm in den fast 30 Jahren seines<br />

Wirkens trotz der überschaubaren Auflage dieses vornehmen<br />

Organs immer wieder enorme publizistische<br />

Aufreger gelangen, bei denen dann halb Deutschland<br />

auf dem Sofa saß und übel nahm. Kurz, Bohrer war<br />

sein ganzes bewegtes Leben lang ein Mann des Wortes.<br />

Aber eben ein Mann des journalistischen, des<br />

literaturwissenschaftlichen und des essayistischen<br />

Wortes. Doch plötzlich, in seinem achten Lebensjahrzehnt,<br />

fängt er an, Prosa zu schreiben.<br />

Die Schlampigkeit des Penners und die<br />

Grandezza des Weltmanns<br />

Bohrer ist ein stolzer und formbewusster Mann.<br />

Ältere, die ihn von früher kennen, erinnern sich an<br />

ihn gerne als jemanden, der die Schlampigkeit eines<br />

Penners mit der Grandezza des Weltmanns zu verbinden<br />

wusste. Die Frauen, heißt es, lagen diesem<br />

unbourgeoisen Bürger reihenweise zu Füßen. Sein<br />

Formbewusstsein hat eher etwas mit intellektueller<br />

Delikatesse und Unerschrockenheit zu tun, mit ritterlichem<br />

Stolz. Jedenfalls scheint er sich zu sorgen,<br />

dass es irgendwie läppisch aussehen könnte, dass er<br />

nun auf seine alten Tage sich als Schriftsteller geriere.<br />

Er sagt das nicht, aber wenn er vom »Prosa-Schreiben«<br />

spricht, bekommt sein Tonfall eine Klarheit, als<br />

wolle er jede aufkommende Verwunderung schon im<br />

Keim ersticken. Doch eine stärkere Kraft als der Stolz<br />

ist die Freude. Karl Heinz Bohrer ist nämlich sehr<br />

freudefähig. Er liebt die schneidende Auseinandersetzung,<br />

aber er genießt auch das Glück, er ist kein<br />

Melancholiker. Jetzt steht er ganz im Zeichen der<br />

Freude. Er ist selbst überrascht, wie viel Freude ihm<br />

dieses für ihn neue Schreiben von Prosa bereitet hat.<br />

Dass er jetzt die Realisten lese, habe etwas mit der<br />

Niederschrift seines Buches Granatsplitter zu tun, das<br />

Ende Juli erschienen ist. Seither denke er darüber<br />

nach, wie man darstellt. Er habe Lust, Szenen zu<br />

schildern. Nichts Autobiografisches schwebe ihm vor,<br />

eher so eine Art Epochenbild der wilden siebziger<br />

Jahre. Die Unterhaltung mit einer Studentin. Oder<br />

die Art, wie man an einer deutschen Gremienuniversität<br />

miteinander kommuniziert habe. Vielleicht<br />

müsse man sogar eine Figur einführen, die sich an<br />

Jürgen Habermas orientiere, die einzige überragende<br />

Gestalt der Epoche in Deutschland, Luhmann werde<br />

ja im Ausland so gut wie nicht gelesen. Er habe, fügt<br />

Bohrer dann wie ein Radsportler hinzu, der bekannt<br />

gibt, für sein nächstes Rennen am Montblanc trainiert<br />

zu haben, jetzt auch Don DeLillo gelesen.<br />

Dionysos wartet, und Bohrer denkt<br />

ans Prosa-Schreiben<br />

Er müsse mir etwas gestehen. Der Gedanke ans Prosa-Schreiben<br />

lenke ihn gerade ab von seinen Vorbereitungen<br />

für Stanford. Seit 2003 ist Bohrer dort Gastprofessor.<br />

Eigentlich müsse er seine Vorlesungen über<br />

Dionysos vorantreiben. Er habe nämlich herausgefunden,<br />

dass das griechische Wort für »Erscheinen« bei<br />

Homer ausschließlich dem Dionysos vorbehalten sei.<br />

Götterfiguren wie Apoll oder Aphrodite, bei allem<br />

Glanz, der ihnen eigne, träten auf, zeigten sich, aber<br />

erschienen niemals. Und weil Bohrer wirklich der<br />

Letzte ist, der der Frage, mit welchem Verb Dionysos<br />

bei Homer eingeführt wird, nicht die höchste Priorität<br />

einräumen würde, deshalb ist es wirklich erstaunlich,<br />

dass er jetzt sagt: »Der Gedanke, Prosa zu<br />

schreiben, lenkt mich von meinem Dionysos ab.«<br />

Und als verbiete er sich weitere Spekulationen: »Mehr<br />

kann ich dazu nicht sagen.«<br />

Seit Granatsplitter, die Erzählung einer Jugend,<br />

erschienen ist, hat das Buch nur glänzende Kritiken<br />

bekommen, und der Hanser Verlag muss ständig<br />

nachdrucken. Wie aus dem oft ziemlich hermetischen<br />

Literaturwissenschaftler ein fesselnd anschaulicher<br />

Erzähler wurde, dafür hat er, der das geschichtsphilosophische<br />

Denken nicht sehr schätzt, gleichwohl<br />

seine eigene kleine Privatgeschichtsphilosophie parat.<br />

Sie hat zu tun mit seinem Misstrauen gegen Ideen<br />

und seiner Vorliebe für Ereignishaftigkeit. Das klingt<br />

dann so: »Meine theoretische Kritik an einer bestimmten<br />

Tradition des hermeneutischen Idealismus<br />

hat wohl auf die Dauer zu der Einsicht geführt, das,<br />

was ich sagen will, nicht mehr theoretisch zu sagen,<br />

sondern erzählerisch. Weil nur das erzählerische Wort<br />

das Klischee vermeiden kann. Klischee in dem Sinne,<br />

wie Nietzsche einmal gesagt hat: ›Nur keine Gedanken!‹<br />

Nichts ist verräterischer und kompromittierender<br />

als Gedanken. Warum? Weil in jedem Gedanken<br />

eine abgenutzte Idee steckt.«<br />

Tatsächlich ist Granatsplitter ein so brillantes<br />

Debüt, weil es, indem es eine Kindheit und Jugend<br />

am Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt, auf alles<br />

retrospektive Besserwissen verzichtet. Hier ist alles<br />

Anschauung und Erlebnis aus der Perspektive »des<br />

Jungen«, wie der Autor sein kindliches Alter Ego stets<br />

in der dritten Person nennt. »Nur keine Gedanken«<br />

meint in diesem Sinne: Nur keine moralischen Deutungen<br />

des Zeitgeschehens einbringen, die dem<br />

Jungen seinerzeit selbst nicht zur Verfügung standen.<br />

So lernt der Leser einen Jungen kennen, der zwar<br />

früh von seinem Vater über die verbrecherische Natur<br />

des Naziregimes ins Bild gesetzt wurde, der sich aber<br />

den abenteuerlichen Seiten des Krieges in seiner<br />

Fantasie nicht entziehen kann. Fasziniert sammelt er<br />

die herrlich funkelnden Granatsplitter der deutschen<br />

Flakabwehr. Auf dem Internat Birklehof erlebt er eine<br />

Aufführung von Aischylos’ Orestie und begeistert sich<br />

für das erhabene Schicksal der Atriden und die »Tonfülle«<br />

der Tragödie: »Heldisches war auch noch zu<br />

diesem Zeitpunkt seine schönste Vorstellung«, heißt<br />

es. Die männlichen Tugenden von Mut und Tapferkeit<br />

bewundert er an den Soldaten, und es fällt ihm<br />

schwer, zu akzeptieren, dass die Engländer keineswegs,<br />

wie die Propaganda verkündete, feige sind,<br />

sondern sogar siegreich, die deutschen Soldaten hin-<br />

gegen für eine gemeine Sache gekämpft haben. Nach<br />

der Kapitulation sucht der Junge nach einer Lösung<br />

für diesen Konflikt: »Wenn die Englischlehrerin ihm<br />

von der BBC erzählte und aus der englischen Geschichte,<br />

dann fand er seine Lieblingsvorstellungen<br />

von Mut und Stolz auch dort wieder. Es waren für<br />

ihn sozusagen andere, bessere Deutsche.«<br />

Überhaupt die Engländer: In diesem Bildungsroman<br />

läuft alles auf England hinaus. Erst waren sie<br />

der Feind schlechthin, später dann geradezu Bohrers<br />

normativer Begriff einer Nation. Das Buch endet mit<br />

der ersten Reise des Jungen 1953 nach England, wo<br />

ihn die beiden Seiten von Englands theatralischem<br />

Temperament tief beeindrucken: die parlamentarischen<br />

Debatten und die Shakespeare-Aufführungen.<br />

Und noch etwas kann man aus diesem herrlichen<br />

Buch lernen: Weil Bohrers Familie nie gemeinsame<br />

Sache mit den Nazis gemacht hatte, gab es für ihn<br />

auch keinen Grund, den antiheroischen Habitus der<br />

Bundesrepublik sich zu eigen zu machen. Das selbstbewusst<br />

kriegerische England, »immer im Bund mit<br />

der See und den Winden«, blieb sein Stilideal.<br />

Aber eines ist Bohrer wichtig: Granatsplitter sei<br />

keine Autobiografie. Was er dort erzähle, habe er<br />

allein aus poetologischen Gründen erzählt. Dass<br />

es zufällig auch stimme, sei nachrangig. Er habe<br />

gute Prosa schreiben wollen, nicht eine authentische<br />

Geschichte.<br />

Karl Heinz Bohrer war immer ein ausgesprochen<br />

markanter, hochindividueller Charakter. Er war dies<br />

aber nie durch Ich-Sagen, durch einen ausgestellten<br />

Biografismus, sondern allein durch seine in tel lek tuelle<br />

Verwegenheit. Es ging ihm immer um philosophische,<br />

ästhetische, politische Positionen. Das Erstaunliche<br />

ist nun dies: Alle theoretischen Begriffe, die man<br />

mit Bohrers Denken verbindet, kommen in seiner<br />

Erzählung einer Jugend plötzlich als atmende Lebensinhalte<br />

eines mit Neugier die Welt erobernden Jungen<br />

zur Erscheinung. Auch wenn Granatsplitter partout<br />

keine Autobiografie sein will, erzählt sie doch, wie<br />

einer wurde, was er ist. Wenn Mut, Schrecken, Stolz,<br />

Gefahr und Erhabenheit zentrale Begriffe von Bohrers<br />

Nachdenken über Ästhetik sind, dann finden wir sie<br />

alle bereits angelegt auf dem Abenteuerspielplatz<br />

seiner Kindheit zwischen Schultheateraufführungen<br />

von Shakespeares Was ihr wollt und den Bombennächten<br />

in Köln. Dies also sind die Bildungserlebnisse,<br />

die Bohrer zu diesem ungewöhnlichen Menschen<br />

machten, der Artistik und Machtrealismus<br />

verbindet. Nietzsche und Hobbes in einem. Der<br />

Fluchtpunkt seines Denkens ist vermutlich, dass das<br />

für ihn keineswegs zwei Seelen, ach, in einer Brust<br />

sind. Und schon gar nicht: ach.<br />

Hat sich die Abenteuererwartung des Jungen an<br />

das Leben eigentlich erfüllt? »Oh ja«, sagt Bohrer,<br />

»und zwar in meinen vielen verschiedenen Lebensphasen<br />

immer wieder aufs Neue.« Bohrer, der große<br />

Liberale, war nie ein 68er. Aber die freche Schnauze,<br />

das Antiautoritäre von 68 genoss er sehr. In ihren<br />

besten Momenten waren sie zumindest eines nicht:<br />

verdruckst. Und Bohrers Stirn kann viele Ausdrücke<br />

annehmen, aber eines ist sie nie: verdruckst. Er kann<br />

über sich lachen, aber die Radikalitätsvermeidung<br />

des selbstironischen Schmunzlers ist ihm fremd.<br />

Vielleicht trifft es auch hier am besten ein englisches<br />

Lebenskonzept: Sportsgeist. Am 28. September feiert<br />

der liberale Sportsfreund intellektueller Debatten<br />

seinen 80. Geburtstag. Wie schön, dass es ihn gibt.


FEUILLETON<br />

Goethes Mutter, eine modern<br />

gesinnte Frau, pflegte in europäische<br />

Staatsanleihen zu investieren,<br />

aber nachdem ihre<br />

Preußen- und Franzosenbonds<br />

praktisch wertlos geworden waren,<br />

musste der Sohn sie verkaufen – es gab zu<br />

viele Schlösser und Soldaten in den Staaten,<br />

zu viel Krieg und Gier, kurzum: zu viele<br />

Schulden. Es ist ja nicht so, dass etwas Neues<br />

passierte unter der fahlen Krisensonne. Man<br />

gewöhnt sich inzwischen daran, Goethe auch<br />

als finanzpolitischen Zeitgenossen zu behandeln,<br />

den Kritiker des Papiergeldes und<br />

des irren Strebens nach dem Golde, den Moralisten<br />

und Antimodernisten. Faust II: eine<br />

Allegorie des Kapitalismus. Faust I: der Bürger<br />

in totaler Selbstverantwortung. Und alles<br />

geht im Spiele komplett schief, genau wie<br />

heute in echt.<br />

Das Frankfurter Schauspiel sieht den<br />

Turm der Europäischen Zentralbank vor sich,<br />

unten lagert der letzte Trödel der Occupy-Bewegung,<br />

rechts ein Parkhaus, links eine Baustelle,<br />

welche sich »The Riverside Financial<br />

District« nennt. Goethe würde diese Lage vermutlich<br />

»bedeutend« genannt haben. Sie verpflichtet<br />

in diesen Zeiten auch künstlerisch.<br />

Und tatsächlich: Frankfurt strömt gleichsam<br />

in die Neuinszenierungen dieses Doppel-<br />

Faust ein, ins Bühnenbild ebenso wie ins ewig<br />

flackernde Videomaterial: Man sieht die Glasfassaden<br />

und die Trinkhallen, die Porsches<br />

und den Osterspaziergang am Mainufer entlang,<br />

bis der schwarze Königspudel schelmisch<br />

in die Kamera glotzt.<br />

Wie zwei unterschiedliche Tonspuren<br />

folgen die beiden Dramen dem Aus- und<br />

Einatmen dieser Finanzmetropole. Noch<br />

immer recken sich die Schlote der Geldfabriken<br />

in den Himmel, wenngleich nicht mehr<br />

so selbstsicher wie einst. Frankfurt ist die<br />

einzige kapitalistische deutsche Stadt, die zugleich<br />

eine vollkommen antikapitalistische<br />

ist. Stefan Pucher, der jüngere der beiden<br />

Regisseure, Jahrgang 1965, macht aus dem<br />

ersten Faust ein grell bebildertes Roadmovie,<br />

es ist eine urbane Revue, die in einem überdimensionalen<br />

Polyeder stattfindet, immerfort<br />

sich drehend und die Farben wechselnd,<br />

die Spieler durch expressionistisch schräge<br />

Türen drängend und durch Schlupf- und<br />

Mauselöcher. Es ist ein Gewese und Gewusel<br />

durch all die Kicks der Großstadt hindurch,<br />

die einen schlechten Geschmack im Mund<br />

hinterlassen, aber mehr auch nicht.<br />

Selbst dem Mephisto ist das ganze<br />

Unglück ein wenig peinlich<br />

Puchers Faust (Marc Oliver Schulze) tritt<br />

auf als verwahrloster Oberstudienrat aus<br />

dem Frankfurter Nordend. Irgendwie scheint<br />

er ein Zurückgelassener der Kritischen Theorie<br />

zu sein, einer, dem spät, zu spät aufging,<br />

dass sich über der fortgesetzten Adorno-Lektüre<br />

eine große Traurigkeit seines Gemütes<br />

bemächtigte. Mephisto (Alexander Scheer)<br />

sieht demgegenüber aus wie der junge David<br />

Bowie. Er ist die Club-Bekanntschaft, die<br />

immer cooler sein wird als man selbst, der<br />

Smarte, mit dem auf einmal alles möglich<br />

wird, der lang erwartete Grenzüberschreiter,<br />

der Besorger. A walk on the wild side mit einem<br />

niederen Teufel. Mephisto-Scheer vergeigt<br />

die Schüler-Szene, spielt aber passabel<br />

Gitarre. Das Gretchen (Henrike Johanna<br />

Jörissen): Typ fuck doll. Am Ende stehen alle<br />

belämmert da, sogar Mephisto ist das Ganze<br />

ein wenig peinlich. Kurzweilig war diese Affäre<br />

schon, aber es wird davon kaum etwas<br />

im Gedächtnis bleiben.<br />

Pucher macht so etwas wie Moraltheater<br />

für die Jugend. Es handelt vom Egomanen,<br />

der die Krise heraufbeschwor, dem Egoshoo-<br />

Hier wird niemand gerettet<br />

Das Stück zur Krise in der Metropole des Kapitalismus: Frankfurt genehmigt sich den ganzen<br />

»Faust« – und wird, wie sollte es anders sein, nicht warm mit ihm VON THOMAS E. SCHMIDT<br />

ter und Erlebnisjunkie, dem Auskoster, das<br />

Leben abgrasend und auf nichts und niemanden<br />

Rücksicht nehmend. Sind wir nicht alle<br />

ein bisschen Faust? Nicht länger (alter Faust)<br />

sucht er die künstlichen Paradiese in sich, sondern<br />

er wirft die Heroinnadel mit großer Geste<br />

fort und will fortan (verjüngter Faust), dass<br />

sich die Welt für ihn in ein Intensitätskontinuum<br />

verwandelt, wieder nur für sich und auf<br />

Kosten anderer. Ähnlich wie in Bret Easton<br />

Ellis’ American Psycho streift hier ein Investmentbanker<br />

durch die Stadt, Finsteres im<br />

Sinn. Nachdem er den Weiberschoß gekostet<br />

hat, gelüstet es ihn schon wieder nach dem<br />

Mammon. Für die Entsprechung von Begehren<br />

und Geld, Zahlungs- und Geschlechtsverkehr,<br />

gibt es bei Goethe zahllose Prunkzitate.<br />

Alle werden sie bei Pucher herbeideklamiert.<br />

Puchers Faust I ist ein fernsehtauglicher<br />

Calderon, von lulligem Gitarrenrock begleitet<br />

und in Videos getaucht, die oft ziemlich penetrant<br />

nach Robert Wilson aussehen. Mitten<br />

Faust<br />

(Wolfgang<br />

Michael) und<br />

Mephisto<br />

(Constanze<br />

Becker) in<br />

»Faust II«<br />

im Tohuwabohu macht sich das Gefühl von<br />

Belanglosigkeit breit. Es ist ein Theater der<br />

kapitalismuskritischen Gegenreformation.<br />

Wutbürgerkunst ist alles im Herbst <strong>2012</strong>,<br />

in den Romanen, den Filmen und auf dem<br />

Staatstheater auch. Frankfurt feiert seinen großen<br />

Sohn mit einem breit gefächerten Festprogramm.<br />

Im Goethehaus hat gerade eine Goethe<br />

und das Geld betitelte Ausstellung eröffnet.<br />

Ihre Exponate sind karg, ihr geistiger Ertrag<br />

passt in einen kleinen Aufsatz: Er war ein guter<br />

Geschäftsmann und ein skeptischer Zeitgenosse<br />

von Adam Smith. Möchte man, entsprechend<br />

dem Zeitgeist in Wut und Empörung<br />

sich windend, nicht eigentlich lieber so<br />

sein wie er? Distanziert und erfolgreich, statt<br />

den üblichen Verdächtigen zuzuhören, die<br />

mittags um zwei über »Negativität. Die Dialektik<br />

des Fortschritts« schwadronieren?<br />

Altmeister Günter Krämer hat den zweiten<br />

Faust inszeniert. Empörung kommt in dieser Regiearbeit<br />

vielleicht auch zum Ausdruck, aber<br />

plakativ ist sie beileibe nicht. Auch Krämer spürt<br />

dem Ich nach, um eine Erklärung für die Krise<br />

zu finden. Es ist Faust, der die Jetztzeit angerichtet<br />

hat, die in ihrem, mit Goethe gesprochen,<br />

»velociferischen« Fortgang sich selbst auffressende<br />

Moderne, den existenzverschlingenden Kapitalismus,<br />

der scheinbar selbst nicht mehr existieren<br />

will. Genau das verkörpert Krämers agiler<br />

und doch von der ersten Sekunde an seltsam resignierter<br />

Faust (Wolfgang Michael). Krämer<br />

interessiert am Stück eigentlich nur der Helena-<br />

Akt. Ihn inszeniert er aus, dieses gewaltige, klassische<br />

die Zeit, auch die Theaterzeit still stellende<br />

Intermezzo, in dem Faust erotische Erfüllung zuteil<br />

wird. Es ist strenges Schauspiel, so verschieden<br />

von Puchers Arbeit, wie die beiden Teile des<br />

Stücks sich voneinander unterscheiden. Sparsam<br />

das Bühnenbild, doch wirkungsvoll, wenig Musik,<br />

eigentlich sind es nur Klänge, welche die<br />

Sprach-Partitur akzentuieren.<br />

Es gibt kein Glück, und wenn der Augenblick<br />

erfüllt ist, ist er schon über sich hinaus.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 51<br />

Faust muss das lernen, Helena, ebenso die Zuschauer.<br />

Die Vereinigung des romantischen<br />

Helden mit der klassischen Schönheit ist von<br />

Dauer nicht. Günter Krämer bettet das Begehren<br />

von vornherein in ein Gewaltgeschehen<br />

ein, lässt es sich im Medium noch stärkerer,<br />

noch tieferer kreatürlicher Bedürfnisse ereignen,<br />

inmitten zerstörerischer, zentrifugaler<br />

Impulse, die mit der brüchigen Bildung des<br />

Ichs zu tun haben und die Zivilisation mit der<br />

blutigen Spur des Fortschritts durchziehen.<br />

Dabei wird die Liebe einfach mitgerissen.<br />

Nein, die Liebe ist nicht die Rettung, niemand<br />

wird hier gerettet. Zerbrechlich stehen die<br />

Körper auf der Bühne, immer bereit umzusinken.<br />

Auch die Erotik ist Moderne – und insofern<br />

krisenhaft geworden.<br />

Entsprechend ist Faust in dieser Inszenierung<br />

keine »Person« mehr, nicht länger der<br />

Gegenstand von Psychologie, sondern Artikulationsfläche<br />

mächtigerer Kräfte, er ist das<br />

Zentrum von hereingebrochenen Katastrophen,<br />

die größer waren als jeder Einzelne,<br />

mochte er ein Titan gewesen sein. Auch Mephisto<br />

(Constanze Becker) ist bloß noch ein<br />

Conferencier. Er zeigt ein Geschehen her, das<br />

ihm irgendwann entglitten ist.<br />

Die schöne Helena (fast immer nackig:<br />

Valery Tscheplanowa) hat hier gar nichts<br />

mehr von griechischer Vollkommenheit. Sie<br />

ist die Auslöserin eines die Welt aufstörenden<br />

Begehrens, und dieses Begehren kann nicht<br />

mehr erwidert, geschweige denn gezügelt<br />

werden. Helena reißt ein körperliches Loch<br />

ins Dasein, und das saugt hernach Phantasmen<br />

in sich ein, Tatkraft, Macht und Ehre,<br />

sämtliche männliche Ich-Prothesen, kurz:<br />

den Irrwitz der Zivilisationsgeschichte, den<br />

ganzen alten Faust.<br />

Goethe war Anschaffer und<br />

Verschwender zugleich<br />

Was sonst so alles im Stück passiert, es muss<br />

hier nicht mehr ausgespielt werden. Ein Bühnenbild<br />

lang – Krämer bringt das Occupy-<br />

Camp kurz aufs Theater – genügt, um zu zeigen,<br />

dass die Faustschen Visionen längst Ereignis<br />

geworden sind. Dieser Faust II zeigt<br />

nicht den scheiternden Kapitalismus, sondern<br />

seine poetische Vorgeschichte. Es geschehen<br />

dabei schöne Momente auf der Bühne, beispielsweise<br />

wenn Faust gegen Ende liebend<br />

mit der Sorge ringt – die zugleich Helena ist.<br />

Oder ganz am Schluss, wenn er sich, blind<br />

und gescheitert, in Zeitlupe die Hosen auszieht<br />

und sich zum Sterben niederlegt. Das ist<br />

beinahe ein barmherziger Augenblick, den<br />

Krämer sich erlaubt. Mag sein, dass danach<br />

die allerletzten Liebesqualen des Teufels noch<br />

immer ironische Wutbürgerkunst bedeuten<br />

wollen. Dann ist es eine äußerst sublimierte.<br />

Kurz vor seinem Ende machte Goethe in<br />

Weimar Kassensturz. Er rechnete zusammen,<br />

was ihm in mehr als achtzig Jahren an Geldern<br />

so zugeflossen war. Die Summe überraschte<br />

ihn. Er hatte mit weniger gerechnet. Noch<br />

mehr überraschte ihn, dass er im Laufe seines<br />

Lebens fast alles wieder ausgegeben hatte. Er<br />

war ein harter Anschaffer und ein Verschwender.<br />

Und er resümierte, dass Geld, viel Geld<br />

nötig war, um diese Persönlichkeit so zu bilden,<br />

wie sie am Ende ausfiel, und ihrem Horizont<br />

eine solche Breite zu verschaffen. In Goethes<br />

Augen dienten all die Taler der eigenen<br />

Vervollkommnung: »Und wie mir’s gefallen, /<br />

Gefall’ ich auch mir.«<br />

Der Dichter opferte seinen Faust den Zeitläuften;<br />

er selbst überlebte in ihnen ganz gut.<br />

Übrigens lieh er später keiner europäischen Nation<br />

mehr Geld, nur dem Zwergstaat noch, in<br />

dem er wohnte. Als Mitglied des Kabinetts hatte<br />

er allerdings auch erheblichen Einfluss auf die<br />

Zahlungswilligkeit seines Schuldners. Das ist eine<br />

Ökonomie, die Sinn bewahrt und Krisen trotzt.<br />

Foto (Ausschnitt): Birgit Hupfeld


52 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Tief in der Düsternis<br />

Ein berührender Fernsehfi lm über die Entführung und den Tod des Jungen Jakob von Metzler VON HEINRICH WEFING<br />

Leise ist dieser Film, kühl, diszipliniert.<br />

Und doch platzt einem beim<br />

Zuschauen irgendwann schier der<br />

Schädel. Denn unerbittlich steuert<br />

Der Fall Jakob von Metzler, der am<br />

kommenden Montag im ZDF ausgestrahlt<br />

wird, auf eine Frage zu,<br />

der man sich unmöglich entziehen kann. Kurz gesagt,<br />

lautet diese Frage: Was darf die Polizei, um das<br />

Leben eines Kindes zu retten? Aber man muss die<br />

Frage genauer formulieren, ausführlicher, um dem<br />

Film gerecht zu werden – und der wahren Geschichte,<br />

die er erzählt: Was passiert mit Menschen,<br />

die die Verantwortung für ein Kind haben, dessen<br />

Leben in höchster Gefahr ist? Und wie gehen wir<br />

als Gesellschaft mit ihnen um, wenn sie eine Entscheidung<br />

getroffen haben?<br />

Vor genau zehn Jahren, Ende September 2002,<br />

entführte der Jurastudent Magnus Gäfgen den elfjährigen<br />

Jakob von Metzler, den Sohn einer alteingesessenen<br />

Frankfurter Bankiersfamilie, auf dem<br />

Schulweg. Der Entführer tötete sein Opfer sofort,<br />

erpresste gleichwohl ein Lösegeld, wurde rasch aufgespürt<br />

und festgenommen, weigerte sich aber tagelang,<br />

das Versteck des Jungen preiszugeben, den<br />

die Polizei noch am Leben wähnte. Daraufhin entschied<br />

Wolfgang Daschner, der damalige Vizepräsident<br />

der Frankfurter Polizei, Gäfgen mit der Zufügung<br />

von Schmerzen zu drohen, um ihn zu einer<br />

Aussage zu bewegen. Eine Anordnung, die Kriminalgeschichte<br />

geschrieben hat und die Republik bis<br />

heute erregt. In jedem Strafrechtskommentar wird<br />

der Fall diskutiert.<br />

Jeder weiß, dass der Rechtsstaat nicht foltern<br />

darf, weil er sonst aufhört, Rechtsstaat zu sein. Niemand<br />

will in einem Land leben, in dem die Polizei<br />

Verdächtige quält, um an Informationen zu kommen.<br />

Und doch, und doch: Wer könnte von sich<br />

behaupten, er werde am Folterverbot festhalten,<br />

eisern, unerschütterlich, auch wenn es um das Leben<br />

des eigenen Kindes geht? Wer? Es ist ein Dilemma,<br />

furchtbar und unauflöslich.<br />

Nico Hofmann, der Produzent von Der Fall Jakob<br />

von Metzler, Regisseur Stephan Wagner und Jochen<br />

Bitzer, der Drehbuchautor, haben sich auf dieses<br />

Dilemma eingelassen. Sie meiden entschlossen den<br />

Kitsch, die Kühle des Herbstes steckt in ihrem Film,<br />

in seinen Bildern, in der extrem kontrollierten Emotion<br />

der herausragenden Darsteller. Lange gehen einem<br />

die Blicke von Jenny Schily nach, die Jakobs<br />

Mutter spielt, stumm, wie gelähmt, ungeheuer eindringlich.<br />

Und Hanns Zischler verleiht dem Bankier<br />

Friedrich von Metzler eine großbürgerliche Würde,<br />

die fast übermenschlich ist.<br />

Keinen Moment lässt der Film einen Zweifel an<br />

der Widerwärtigkeit von Gäfgens Tat, aber in der<br />

zentralen moralischen Frage, auf die alles hindrängt,<br />

verzichtet er auf ein Urteil. Er legt die quälende Mechanik<br />

des Konflikts bloß, Schicht um Schicht, er<br />

zeigt die fieberhaften Anstrengungen der Kripo, die<br />

ersten Reibereien zwischen den Beamten, zählt die<br />

Stunden, die noch bleiben. Aber das alles ist nur Vorspiel,<br />

notwendige Voraussetzung für die entscheidende<br />

Frage: Durfte Daschner tun, was er getan hat? Hat<br />

er richtig gehandelt? Oder hat er dem Rechtsstaat<br />

geschadet? Es ist keine Schwäche, sondern die große<br />

Stärke dieses bewegenden Films, dass er darauf keine<br />

Antwort gibt.<br />

Natürlich: Der Rechtsstaat darf nicht foltern,<br />

nicht einmal damit drohen, aus Respekt vor der<br />

Menschenwürde jedes Verdächtigen und um seiner<br />

selbst willen. Nach dem 11. September 2001, als<br />

die Debatte heftig aufflammte, haben Strafrechtler<br />

durchgespielt, was die von manchen geforderte<br />

Zulassung der Folter real bedeuten würde, neben<br />

allen moralischen Verwerfungen: Es brauchte ausgebildete,<br />

staatlich entlohnte Folterer, dazu Ärzte,<br />

die bereitstehen, um dem Gefolterten zu Hilfe zu<br />

eilen, wenn die Schmerzen über das Gewollte hinausgehen.<br />

Es brauchte, Gipfel der Perversion,<br />

eine Dienstanweisung für die Durchführung der<br />

Marter, eine Bundesfolterordnung, und Juristen,<br />

die all das ausarbeiten und kontrollieren. Die Vereinigten<br />

Staaten, die im Kampf gegen den Terror<br />

das waterboarding, das simulierte Ertränken, zugelassen<br />

haben, haben erlebt, was das mit dem<br />

Rechtsstaat macht: Es zersetzt ihn von innen wie<br />

ein ätzendes Gift.<br />

Keine Folter also, das ist das Prinzip,<br />

auch nicht, wenn das Leben eines<br />

Kindes auf dem Spiel steht, nicht einmal,<br />

wenn ein Anschlag mit Atomwaffen<br />

droht, den ein Häftling verhindern<br />

könnte, wenn er nur reden würde. Das ist<br />

Konsens. Klammheimlich aber, gut verborgen in<br />

unserem Innern, hoffen wir da nicht, dass sich in<br />

solch einer furchtbaren Lage doch ein Mensch<br />

findet, ein Minister, ein Offizier, ein Polizei-Vizepräsident,<br />

der sich über die Regeln hinwegsetzt?<br />

Einer, der das Recht bricht, damit es Recht bleiben<br />

kann, und dafür die Verantwortung übernimmt.<br />

Einer, archaisch gesprochen, der sich opfert.<br />

Von solch einem Menschen handelt Der Fall Jakob<br />

von Metzler. Nicht von der Entführung selbst,<br />

nicht vom elenden Täter, nicht von den Ermittlungen,<br />

so packend sie geschildert werden. Es ist ein<br />

Film über Wolfgang Daschner, über den Mann, der<br />

es auf sich genommen hat, trotz allem zu versuchen,<br />

Jakobs Leben zu retten. »Der Fall Daschner« wäre<br />

der bessere Titel für den Film gewesen.<br />

Ein großartiger Robert Atzorn spielt<br />

diesen Mann, nicht als Helden, nicht<br />

als moralisches Vorbild, vielmehr verkniffen,<br />

gebrochen, verbiestert, ein<br />

Bürokrat, der an seinen Pflichten schier<br />

verzweifelt. Man kann ihm dabei zusehen, wie er<br />

immer grauer wird, immer entschlossener und einsamer,<br />

während die Zeit verrinnt, während Gäfgen<br />

die Polizei narrt und immer neue Lügen auftischt.<br />

Schließlich, die Beamten glauben, der entführte<br />

Junge drohe zu verdursten, ordnet Daschner die<br />

Androhung von »unmittelbarem Zwang«, von Gewalt,<br />

an. Aber es ist keine Anweisung, es ist ein<br />

Ausbruch, Wut mischt sich darin mit Verzweiflung,<br />

das Recht, das er doch schützen soll, wird<br />

ihm zur Fessel, die er sprengt, unbeherrscht, voller<br />

Zorn. Und doch bleibt er Beamter genug, über<br />

seinen Befehl eine Aktennotiz zu verfassen.<br />

Der Film sympathisiert offen mit diesem Daschner,<br />

aber er spricht ihn nicht frei, er bleibt bei seiner Ambivalenz,<br />

er zeigt, wie der Polizist sich hineinsteigert<br />

in seine Entschlossenheit, wie er alle Zweifel wegdrückt,<br />

wie er sich gerechtfertigt glaubt. »Es gab nur<br />

eine richtige Entscheidung«, brüllt Daschner irgendwann<br />

seinen eigenen Anwalt an. Hätte er nicht gehandelt,<br />

so glaubt er, hätte er sich der Tötung durch<br />

Unterlassen schuldig gemacht. Vielleicht muss sich<br />

einer wie er panzern gegen Skepsis und Schuldgefühle,<br />

vielleicht muss er das Fragwürdige seines Handels<br />

ausblenden, um dessen Konsequenzen ertragen zu<br />

können. Kollegen rückten von ihm ab, der Innenminister<br />

entließ ihn, in der Öffentlichkeit wurde er<br />

FEUILLETON<br />

als Folterer beschimpft, die Staatsanwaltschaft erhob<br />

Klage, und im Prozess musste er sich von Gäfgen,<br />

dem Kindermörder, verhöhnen lassen, der sich als<br />

Opfer stilisierte und sich bis heute in dieser ekelhaften<br />

Rolle gefällt.<br />

Die zentrale Szene, um die immer noch gestritten<br />

wird, blendet der Film aus. Weil niemand außer den<br />

beiden Beteiligten weiß, was damals geschah. Aussage<br />

steht gegen Aussage. Was genau hat der Beamte Ortwin<br />

Ennigkeit, den Daschner mit dem letzten, entscheidenden<br />

Verhör betraute, Gäfgen angedroht? Hat<br />

er ihn geschubst, geschlagen, ihm den sexuellen Missbrauch<br />

von Kindermördern im Gefängnis geschildert,<br />

wie Gäfgen behauptet? Wir wissen es nicht. Am Ende<br />

gestand Gäfgen und führte die Polizei zu dem Ort, an<br />

dem er Jakobs Leiche versteckt hatte. Was, wenn der<br />

Junge da noch gelebt hätte? Würden wir Daschner<br />

dann anders sehen? Und was im umgekehrten Fall,<br />

wenn die Polizei nichts unternommen hätte, der Junge<br />

aber noch hätte gerettet werden können? Wäre die<br />

Öffentlichkeit dann über die Polizei hergefallen? Jede<br />

Frage führt tiefer in die Düsternis.<br />

Auch das Urteil, das schließlich über Daschner<br />

gesprochen wurde, vermochte das moralische und<br />

rechtliche Dilemma nicht zu klären, es brachte es nur<br />

in eine juristische Form. Im Dezember 2004 verurteilte<br />

das Landgericht Frankfurt Daschner und Ennigkeit<br />

wegen Nötigung zu einer Geldstrafe auf Bewährung<br />

und verwarnte beide. Dass sie bestraft wurden,<br />

bekräftigte das Verbot der Folter. Dass die Strafe so<br />

niedrig ausfiel, respektierte die furchtbare Zwangslage<br />

der Angeklagten. Strafprozessual mag das weise gewesen<br />

sein, vermutlich sogar das beste Urteil, das sich<br />

denken lässt. Frieden aber stiftet es nicht. In einem<br />

solchen Fall, das zeigt Stephan Wagners berührender<br />

Film, gibt es nur Gezeichnete.


FEUILLETON<br />

Geburt des Theaters<br />

Vor dem Theater, morgens. Natürlich<br />

trifft man gleich welche, die schon<br />

wissen, dass es idiotisch ist. Drei<br />

Opern an einem Tag, alle drei, die von<br />

»Il divino Claudio« überliefert sind,<br />

das ist doch bloß Event und Rekordversuch, die<br />

werden sich gegenseitig erschlagen. Manche haben<br />

sich den Verdacht zurechtgelegt, dass eine Neuinstrumentierung,<br />

die auch arabische Einsaiter und<br />

einen Synthesizer umfasst, nur weltmusikalisches<br />

Gaga sein kann, Populismus! Fürs Erste versprechen<br />

sie sich Kontaktpflege von diesem Tag an Berlins<br />

Komischer Oper. So viele Intendanten, Dramaturgen,<br />

Dirigenten sind angereist, dass ein Hauch Betriebsausflug<br />

in der Spätsommerluft liegt.<br />

Aber auch ein Hauch Huldigung. Ohne ihn, ohne<br />

Claudio Monteverdi, gäbe es das Genre gar nicht.<br />

Vielleicht erhofft man sich da den Zuspruch des<br />

großen, alten Bruders in einer anstrengenden Zeit,<br />

er hatte es ja auch nicht leicht. Alle sind erschöpft, es<br />

schläft keiner mehr ausreichend, alle haben Sorgen,<br />

erst recht die großen, rumpelnden Opernhausmaschinen.<br />

Dauernd werden sie auf einen ominösen Prüfstand<br />

geschoben, der, von wem, weiß keiner, so<br />

eingestellt ist, dass der Pfeil immer auf »zu teuer«<br />

zeigt. Das hat Konsequenzen, das schlaucht. Manche<br />

halten sich aufrecht mit der Gewissheit, dass schon<br />

seit gut 400 Jahren Opern gespielt werden.<br />

Im Theater, vormittags, Orpheus. Ein tiefes<br />

schwankendes D vom Kontrabass. Flirrende Orientalistik<br />

von einer Djoze, einem einsaitigen Streichinstrument<br />

aus dem Irak. Etwas Cimbalom. Frühe<br />

Regungen, die Oper ist noch gar nicht erfunden, nur<br />

Amor gibt es längst, einen alterslosen Mann im rosa<br />

Röckchen, der sich an einem Teich zu schaffen macht.<br />

Der Tod ist auch schon da, ein Mann in Schwarz<br />

lenkt die zarten Bewegungen einer skelettartigen<br />

Puppe. Dann aber platzt die Toccata aus dem Graben,<br />

und überall im Raum, in den Rängen, im wuchernden<br />

Garten, sind plötzlich Nymphen und Faune und<br />

lassen an langen Stangen Vögel flattern. Nymphen<br />

und Faune! Wo sind wir denn hier? In einem deut-<br />

schen Opernhaus des frühen 21. Jahrhunderts? Egal,<br />

es ist das pure Glück. Wäre der Jubel der Musik nicht<br />

so stark, man könnte hören, wie den Kritikern die<br />

Skalpelle und Messgeräte vom Schoß fallen. Es ist ein<br />

Ausbruch von so traumhafter, bunter Vitalität, dass<br />

einem der Grauschleier von Augen und Ohren gerissen<br />

wird und man nichts Geringeres erlebt als die<br />

Geburt des Theaters. Regisseur Barrie Kosky, der hier<br />

als Regisseur zugleich seine Intendanz eröffnet, ist<br />

offensichtlich kein bisschen erschöpft – und auch<br />

nicht naiv. In der überwältigenden Direktheit seines<br />

arkadischen Urknalls stecken alle Erfahrungen des<br />

Regietheaters, Ironie, Überspitzung, Brechung.<br />

Er hatte aber einfach mal Lust, neu anzufangen<br />

auf dieser Basis. Im wuchernden Garten, den Katrin<br />

Lea Tag geschaffen hat, gedeihen surreal große<br />

Früchte, während der Teich eindeutig ein Plastikpool<br />

ist. Das Timing, in dem die Fabelmenschen<br />

ausschwärmen, ist genau auf die Partitur abgestimmt.<br />

Elena Kats-Chernin, die sie neu instrumentiert,<br />

teils neu komponiert hat, lässt sie auch<br />

nicht einfach deswegen so arabisch starten, weil<br />

ein bisschen Cross-over nie schaden kann. Die Renaissance,<br />

aus der Monteverdi wuchs, ist undenkbar<br />

ohne den Umweg antiker Stoffe über jene<br />

maurischen Gelehrten, die sie besser hüteten als<br />

die Christen. Was wiederum alles egal ist, wenn<br />

man sich von dieser Musik verstanden fühlt.<br />

Es entsteht jene Komik, unter der<br />

man die Tiefe ahnt<br />

Dass Monteverdis Linien und Harmonien für Freude<br />

und Trauer, Schmerz und Hoffnung über 400<br />

Jahre hinweg ihre Bindungskraft behalten haben, ist<br />

ein Wunder, das gerade hier deutlich wird, im durchtrieben<br />

schlichten Setting. Wenn Orpheus (man singt<br />

deutsch) vom Tod seiner Eurydike erfahren hat, spielt<br />

Amor versonnen und tröstlich mit Papierschiffchen<br />

im Bassin, es sind aber zugleich die Vehikel des Fährmanns<br />

Charon – eine von vielen unaufwendigen,<br />

beiläufigen, treffenden Chiffren. In diesem Bassin<br />

ertrinkt am Ende der Held, anstatt mit Apoll zum<br />

Himmel aufzusteigen. Die Freudengesänge der Hirten<br />

sind zum puren Rhythmus skelettiert, in einem<br />

Trommelgewitter kämpft der Sänger vergeblich gegen<br />

seinen Untergang.<br />

Theater, mittags, 33 Jahre später. So viel Zeit verging<br />

für Monteverdi zwischen L’Orfeo und Il ritorno<br />

d’Ulisse, uraufgeführt 1640 in Venedig, diesmal nicht<br />

für einen vermögenden Herrscher, sondern für bürgerliches<br />

Publikum und mit kleinerem Etat, also<br />

ohne Chor. Vom zeitlosen Arkadien zum historisch<br />

grundierten Mythos, vom Garten zur Kunstrasenschräge,<br />

um die herum nun das Orchester sitzt – acht<br />

Celli, viel Blech, zwei Flügel, zwei moderne Harfen,<br />

eine westafrikanische Stegharfe, eine arabische Laute.<br />

Diesmal hat der exzellente Dirigent André de<br />

Ridder Probleme mit der Koordination, es fehlt zunächst<br />

am metrischen Zugriff, und auf dem Kunstrasen<br />

geht es szenisch so reduziert zu, dass ein paar<br />

Erschöpfte im Publikum eine Siesta einlegen. Theater<br />

ist eben auch anstrengend.<br />

Gerade noch rechtzeitig reißt Kosky den kargen<br />

Gegenentwurf zum verlorenen Arkadien hoch zur<br />

Karikatur, gemeinsam mit Monteverdi, der neben<br />

dem Erfinder der Oper auch ihr erster Hochkomiker<br />

ist. Die Freier, die Penelope belagern und hier als<br />

halbseidene Knallchargen auf Klappstühlen lümmeln,<br />

wären aber ohne Wirkung, hätte man nicht<br />

zuvor erlebt, wie bitter das ungewisse Warten für<br />

Penelope und Odysseus war. Die zwanzig Jahre der<br />

Trennung stellt man sich gern vor mittelmeerischem<br />

Hintergrund vor. Von dem bleibt hier nur das Funkeln<br />

der Kaskaden an Flügeln und Harfen, wobei das,<br />

nicht fern von Poulenc, auch etwas Ironisches hat.<br />

Der Kunstrasen lässt eher an Ehepaare denken, die<br />

sich auf ihrem Stückchen Grün vorm Reihenhaus<br />

auch ungetrennt nie wirklich finden.<br />

Monteverdi schreibt jetzt differenzierte, realitätsnahe<br />

Rezitative, in den Zwischenspielen lässt noch<br />

Orpheus grüßen. Zugleich aber wird deren archaische<br />

Aura von Elena Kats-Chernin in Tango und Paso<br />

doble überführt, und wenn dazu die Freier posen,<br />

entsteht jene Komik, hinter der es eben nicht flach,<br />

sondern tief wird. Trotzdem bleibt das Ganze so<br />

skizzenhaft wie das von Monteverdi überlieferte<br />

Material. Weder der Komponist spannt den großen<br />

Bogen noch der Regisseur – wobei ironischerweise<br />

der große Bogen des Odysseus zentrales Requisit ist.<br />

Es bleibt ein Tastversuch, Theater in der Krise, auch<br />

im 17. Jahrhundert, eine Krise, die dort allerdings<br />

einen ungeheuren Sprung vorbereitet.<br />

Zu preisen ist Barrie Kosky, einer der<br />

musikalischsten Regisseure heutzutage<br />

Arkadische Szene aus<br />

Monteverdis »Orpheus«<br />

an der Komischen Oper<br />

Berlin<br />

Vorm Theater, abends. Irgendwie ist man sogar<br />

erleichtert, dass der Odysseus ein bisschen karg und<br />

nicht nur aufregend war. Wer den ganzen Tag in<br />

und vor einem Opernhaus zubringt, sieht es gern,<br />

wenn es auch gewisse Parallelen zum Alltag gibt,<br />

vorausgesetzt, dass die Kurve am Abend wieder<br />

steigt. Und das tut sie, gerade weil Claudio Monteverdi,<br />

mittlerweile 75 Jahre alt, nur zwei Jahre<br />

nach seinem Odysseus, endgültig in der gesellschaftlichen<br />

Gegenwart ankommt mit der Krönung<br />

der Poppea. Längst versunken das mythische<br />

Arkadien mit seinen zeitlosen Schmerzen, es gibt<br />

auch keine Helden mehr, keine lauteren Herrscher.<br />

Es gibt Intrigen, Machtwahn, Geilheit, nirgends<br />

einen Gott.<br />

Außer natürlich Amor, den überragenden Peter<br />

Renz, der aber nun, längst zynisch geworden, als Diva<br />

mit weißer Boa den Champagnerkelch aus dem<br />

Bassin füllt, das einst ein Teich in Arkadien war und<br />

nun eine Pfütze in einer Steinwüste ist. Und Amor<br />

unterstützt ausgerechnet die Verbindung der Bösesten.<br />

Nur, wie böse sind Nero und Poppea? Monteverdi<br />

liefert in Dialogen von einer treffsicheren Rasanz,<br />

neben der jedes deutsche Fernsehspiel eine<br />

Meditationsrunde ist, eine Kritik der Macht und der<br />

Feigheit, die umso tiefer sitzt, als er jedem Protagonisten<br />

differenziert begegnet. Dem finalen Herrscherpaar,<br />

das über die Leiche des Philosophen Seneca geht,<br />

schreibt er eines der schönsten aller Liebesduette.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 53<br />

Abenteuerreise in die Welt Claudio Monteverdis:<br />

In Berlin sind alle drei Opern des Komponisten an einem Tag<br />

zu sehen – ein aufregender Kraftakt VON VOLKER HAGEDORN<br />

Niemanden verurteilt er mit seiner Musik, alle<br />

sieht er genau an, mal spöttisch, mal einfühlend. Eine<br />

comédie humaine der Oper, von keinem eingeholt – es<br />

ist, als habe Monteverdi die Entwicklung der Gattung<br />

vom Urmythos bis zu dem Moment, in dem Menschen<br />

wie wir auf der Bühne die Augen aufschlagen,<br />

in seinem Schaffen vorweggenommen. Barrie Kosky<br />

ist nicht der Erste, der die Gegenwärtigkeit entdeckt,<br />

aber er kann im Zusammenhang der Trilogie zusätzlich<br />

den Prozess der Ernüchterung zeigen, in der<br />

die Sehnsucht dem Zynismus weicht. Er will außerdem<br />

zeigen, welche Grausamkeiten der Zynismus<br />

hervorbringt. Sein Nero, seine Poppea foltern, blenden,<br />

richten hin. Sie sind richtig böse.<br />

Damit aber bleibt Kosky weit hinter Monteverdi<br />

zurück und auch hinter dem aktuellen Stand der<br />

Opernregie. Wie man eine Vergewaltigung so inszeniert,<br />

dass die Musik stirbt, das hat an diesem Haus<br />

vor neun Jahren Calixto Bieto vorgeführt, das brauchen<br />

wir nicht mehr, und eigentlich ist Kosky selbst<br />

viel weiter – als einer der musikalischsten Regisseure.<br />

Es ist wunderbar, wenn die gewaltige Amme Arnalta<br />

in Gestalt einer Putzfrau ihre Kippe genau dann ins<br />

Gürteltäschchen ascht, wenn neben fünf Bratschen<br />

ein Synthi-Ornament aufflackert. Und wie dieselbe<br />

Amme – Thomas Michael Allen mit dem raren Register<br />

des Haute-Contre – ihr Wiegenlied für Poppea<br />

singt, für diese Innigkeit hat Kosky Sinn.<br />

Und was dann nachts bleibt, wenn seltsamerweise<br />

niemand mehr erschöpft ist, das sind doch<br />

weniger diese und jene Schwäche und die Frage, ob<br />

das Banjo in der Poppea nicht unter seinen Möglichkeiten<br />

eingesetzt wurde. Es ist Bewunderung für 32<br />

Solisten, viele überragend, für einen kreativen Kraftakt,<br />

der weit mehr als die Summe seiner Teile hervorbrachte,<br />

nämlich das Universum eines Künstlers,<br />

der so viel von uns weiß, der unsere Gefühle in einer<br />

ungeheuren Klarheit wachruft. Natürlich wird sich<br />

das wieder alles relativieren, und die Kritiker haben<br />

ihr Besteck längst wieder zur Hand genommen.<br />

Aber so geht das ja nun schon seit 400 Jahren.<br />

Manchmal fühlen die sich an wie ein Tag.<br />

Foto (Ausschnitt): drama-berlin.de


DER NEUE KUNSTMARKT<br />

Es gibt viel zu entdecken:<br />

In den Galerien und auf den<br />

Messen, bei den Auktionen und<br />

im Kunsthandel brummt es trotz<br />

der Krise wie schon lange nicht<br />

mehr. Unser erweiterter<br />

Kunstmarkt bietet künftig auf<br />

zwei Seiten aktuelle Hintergrundberichte<br />

und Analysen,<br />

dazu Nachrichten und eine neue<br />

Kolumne, in der <strong>ZEIT</strong>-Autoren<br />

über ihr »Traumstück« schreiben<br />

NEUES VOM MARKT<br />

Schinkels Toilette<br />

Die Villa Grisebach öffnet sich den angewandten<br />

Künsten. Unter dem Titel »Orangerie« wird das<br />

Berliner Auktionshaus »besondere Objekte«<br />

anbieten: Möbel, Kunsthandwerk bis hin zu<br />

Autografen. Für den Aufbau der »Orangerie«-<br />

Auktion wurde der Kunsthistoriker Stefan<br />

Körner angeheuert, der bislang die Sammlungen<br />

der Fürsten Esterházy leitete. »Es geht uns um<br />

Objekte mit Aura und mit Geschichte«, erklärt<br />

Körner. Am 28. November kommen rund 30<br />

Lose zum Aufruf, darunter eine Königin-Luise-<br />

Büste von Christian Daniel Rauch, eine silberne<br />

Toilettengarnitur von Schinkel und ein Brief<br />

Schillers übers Theater.<br />

Koons’ Muskeln<br />

Bis vor Kurzem waren der Milliardär Ronald<br />

Perelman und der Galerist Larry Gagosian, der<br />

unter anderem Damien Hirst und Anselm Kiefer<br />

vertritt, Freunde. Jetzt verklagen sie sich gegenseitig.<br />

Gagosian habe ihn gedrängt, so Perelman,<br />

für vier Millionen Dollar eine Granitskulptur<br />

von Jeff Koons mit dem Titel Pop eye zu<br />

kaufen. Dabei sei ihm vorenthalten worden, dass<br />

Gagosian einen Vertrag mit Koons hat, der dem<br />

Künstler im Fall eines Wiederverkaufs 70 Prozent<br />

der Summe verspricht, die über die vier<br />

Millionen hinausgeht. Diese Information aber<br />

hätte den Sammler womöglich vom Kauf abgehalten,<br />

denn die hohe Marge für den Künstler<br />

verstärkt nicht unbedingt Gagosians Lust, Popeye<br />

irgendwann einmal zurück- oder weiterzuverkaufen.<br />

Das geheime Abkommen sei also ein<br />

finanzielles Handicap für ihn, so Perelman. Aber<br />

es ist noch komplizierter. Perelman soll die<br />

Skulptur dann zusammen mit drei anderen<br />

Kunstwerken und 250 000 Dollar bei Gagosian<br />

gegen ein ungenanntes Gemälde eingetauscht<br />

haben. Gagosian verklagt nun Perelman, weil<br />

dieser nicht gezahlt habe. Ein Novum, so Gagosian,<br />

noch nie habe er in den vergangenen 30<br />

Jahren einen Kunden verklagen müssen: »Solche<br />

Prozesse sind schlecht für die Kunden, für die<br />

Künstler und für die Kunstwerke.«<br />

»Neues vom Markt« wird erstellt von<br />

den Redaktionen der WELTKUNST und<br />

KUNST UND AUKTIONEN. Beide<br />

Magazine erscheinen im <strong>ZEIT</strong> Kunstverlag<br />

Abb.: Galerie De Jonckheere<br />

54 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> KUNSTMARKT<br />

Ein super<br />

Markt<br />

Die Pariser Biennale des Antiquaires ist die eleganteste<br />

Kunstmesse der Welt und ein Ort für Studien: Über die<br />

Geschmäcker der Superreichen VON TOBIAS TIMM<br />

Es ist die Kunstmesse der Superlative.<br />

Für die Sammler der eleganteste<br />

Ort weltweit, um sich im<br />

großen Stil Kunst und Antiquitäten<br />

anzueignen. Für die ausstellenden<br />

Händler die teuerste<br />

Messe von allen. Und die Besucher<br />

kommen zu Zehntausenden. Die Biennale<br />

des Antiquaires ist ein super Markt. Seit vergangenem<br />

Donnerstag und bis kommenden<br />

Sonntag ist er wieder geöffnet: Unter der monumentalen<br />

Glaskuppel des Grand Palais präsentieren<br />

sich diesmal 121 Galerien – gut dreißig Aussteller<br />

mehr als im Jahr zuvor. Kein Geringerer<br />

als Karl Lagerfeld hat diesmal das Bühnenbild<br />

für die Kunstmesse entworfen, sie sollte einfach<br />

noch schöner werden. In der Mitte der Halle<br />

schwebt nun ein großer, blau-weiß gestreifter<br />

Heißluftballon samt Gondel. Für die Galeristen<br />

baute Lagerfeld eine Fassadenkulisse, die mit<br />

dem grauen Pflasterstrandteppich und den aus<br />

Draht geformten Pseudogaslaternen an das Paris<br />

um 1900 erinnern soll – aber leider eher wie ein<br />

historisierendes Outletcenter anmutet.<br />

Wäre da nicht die angebotene Ware: Die Galerie<br />

Krugier aus Genf hat ein Gemälde von Cézanne<br />

mitgebracht, ein Bild mit Früchten, einer<br />

Tasse und einem nicht einmal zur Hälfte gefüllten<br />

Glas – für eine zweistellige Millionen-Euro-<br />

Summe. Rund 35 Millionen Dollar soll eine von<br />

Andy Warhols Liz-Taylor-Porträts auf dem Stand<br />

von L&M Arts (New York, Los Angeles) kosten.<br />

Und die Galerie De Jonckheere aus Paris, Brüssel<br />

und Genf hat ein von Lucas Cranach d. Ä. gemaltes<br />

Porträt des dänischen Königs Christian II.<br />

für 900 000 Euro im Angebot, dazu ein erstaunliches,<br />

protosurrealistisches Stillleben aus dem Jahr<br />

1659 mit Muscheln, Insekten und Blüten von<br />

Jan van Kessel für 750 000 Euro sowie eine Ernte<br />

von Pieter Brueghel d. J. für fünf Millionen Euro.<br />

Die Preise verraten es, diese Messe ist eine<br />

Feier des Luxus, sie bietet ein Panoptikum des<br />

Reichen-Geschmacks, und somit auch einen<br />

Ort für Studien, für eine Feldforschung zu den<br />

Geschmacksvarianten innerhalb der Internationale<br />

der Superreichen. Juweliere wie Bulgari,<br />

Cartier oder Wallace Chan aus Hongkong zeigen<br />

ihre neuesten Prunkstücke: Uhren, über<br />

und über mit Brillanten bepflastert, Zikaden<br />

aus Jade und Gold geformt oder Kristalllöwen,<br />

mit der Pranke theatralisch nach Diamantensternen<br />

greifend. Auffallend viele Asiaten stehen<br />

am Eröffnungstag Schlange vor diesen glitzernden<br />

Schaustücken.<br />

Etwas entspannter ging es nebenan in dem<br />

dämmrigen Raum der Librairie Thomas-Schel-<br />

ler zu, wo es eine Rarität ganz anderer Art gibt:<br />

die erste Karte Kanadas, Teil der Erstausgabe<br />

von Samuel de Champlains Reiseberichten ins<br />

»Neue Frankreich« (650 000 Euro). Dezent ist<br />

die Stimmung auch bei dem auf japanische<br />

Rüstungen spezialisierten Händler Charbonnier,<br />

der einen besonders spektakulären Helm<br />

ausstellte, einen Kawari Kabuto aus der Momoyama-Zeit<br />

(1573 bis 1603). Wie eine modern-abstrakte<br />

Skulptur mutet dieser Kopfschutz<br />

an: Über dem noch recht traditionell<br />

gestalteten, schwarzbraunen Eisenhelm ragt etwas<br />

auf, das eine komplizierte Faltung einer<br />

aufgerollten Seidenrolle darstellen soll. Wer hat<br />

diesen wunderbaren Helm getragen? War er ein<br />

Zierstück? Oder Teil einer Taktik, den Gegner<br />

im Kampf zu irritieren? Hyperrealistisch dagegen<br />

die schnauzbärtigen Masken aus der Edo-<br />

Zeit oder der Koi, ein Karpfen, aus fein gearbeiteten<br />

Eisenteilen zusammengesetzt (alle<br />

Preise auf Anfrage).<br />

So wie man die verschiedenen Typen von<br />

Reichen an ihren Schuhen (Pferdeleder handgenäht,<br />

Gucci oder Turnschuh) erkennen kann, so<br />

kann man die Antiquitätenhändler auf dieser<br />

Messe nach ihrem Fußbodenbelag einordnen.<br />

Die Händler kennen ihre jeweilige Klientel, und<br />

so inszenieren sie auch ihre Ware in der passenden<br />

Atmosphäre: Steinitz aus Paris präsentiert<br />

Kommoden aus dem 18. Jahrhundert ausschließlich<br />

auf original alten Parkett- und Steinböden,<br />

die umständlich ins Grand Palais transportiert<br />

wurden. Cheska Vallois zeigt ihre Artdéco-Möbel<br />

auf einem Teppich aus ebender<br />

Zeit. Und die auf schwülstige Orientalismen,<br />

auf Harems- und Basarszenen aus dem 19. Jahrhundert<br />

spezialisierte Galerie Ary Jan hat einen<br />

Stahlblechboden mit arabischem Ornament auslegen<br />

lassen. Auf dem darf zur Authentisierung<br />

der Atmosphäre sogar ein Brunnen plätschern,<br />

es fehlt nur der Ruf des Muezzin.<br />

Aber nicht nur die feinen Unterschiede der<br />

herrschenden Geschmäcker lassen sich auf dieser<br />

Biennale studieren, man erfährt hier auch viel<br />

über den Zustand des internationalen Kunstmarkts.<br />

Etwa, dass einige internationale Kunsthändler<br />

derzeit angeblich die superteuren, extrem<br />

seltenen Stücke lieber direkt zu ihren besten<br />

Kunden nach Katar, Abu Dhabi oder China<br />

bringen, statt sie auf einer Messe der breiteren<br />

Sammlerschar zu präsentieren. So mancher wählerische<br />

Supersammler, heißt es, kaufe Kunstwerke<br />

im Dutzende-Millionen-Euro-Bereich<br />

heute nur noch dann, wenn er das Recht des ersten<br />

Blicks habe und das Geschäft fernab der Öffentlichkeit<br />

einer Messe oder eines Auktionssaals<br />

abgewickelt werde – obwohl die Händler und<br />

Auktionatoren doch so gern mit ihren Kostbarkeiten<br />

werben.<br />

Vielleicht ist das der Grund dafür, dass im Vergleich<br />

zum vergangenen Jahr weniger Meisterstücke<br />

auf dieser Biennale zu sehen sind. Womöglich erklärt<br />

sich der Mangel aber auch einfach dadurch,<br />

dass diesmal die französischen Händler auf der<br />

Biennale weitgehend unter sich bleiben, und trotz<br />

der stark gestiegenen Anzahl an Ausstellern mehrere<br />

bedeutende Kunsthändler aus dem Ausland nicht<br />

mehr gekommen sind. Aus Deutschland etwa ist<br />

nur der Münchner Händler Dr. Riedl angereist.<br />

Die schöne<br />

Vielfalt der<br />

Arten:<br />

Stillleben<br />

von Jan<br />

van Kessel<br />

aus dem<br />

Jahr 1659<br />

Die geminderte Kauflust, von der mehrere Händler<br />

berichteten, mag hingegen ein Indiz für die gegenwärtige<br />

Stimmung bei der französischen Oberschicht<br />

sein. Vielleicht trauen sich die dortigen Vermögenden<br />

derzeit einfach nicht, hemmungslos zu shoppen – sei<br />

es wegen des neuen, ihnen nicht mehr ganz so gewogenen<br />

Präsidenten Hollande oder aus Angst vor einem<br />

Euro-Crash. Der von Lagerfeld installierte<br />

Heißluftballon jedenfalls blieb auch am dritten Tag<br />

der Messe stets einige Meter über dem Boden hängen<br />

und gab so ein schönes Bild für diese Ausgabe der<br />

elegantesten Kunstmesse der Welt. Er wollte und<br />

konnte einfach nicht in den Himmel aufsteigen.


KUNSTMARKT<br />

Auf dem aufgeräumten Tisch<br />

liegen iPad und iPhone. In<br />

schöner Regelmäßigkeit summen<br />

die Geräte und melden<br />

diskret den Eingang neuer E-<br />

Mails oder Anrufe. Wir sind in<br />

einer Galerie, in einer jungen<br />

noch dazu. Ihr Name: Kraupa-Tuskany. Der<br />

knapp 30-jährige Amadeo Kraupa-Tuskany betreibt<br />

sie gemeinsam mit seiner Partnerin Nadine<br />

Zeidler, einer Kunsthistorikerin. Seit 2011 zeigt<br />

das Duo meist junge, oftmals internetaffine<br />

Kunst von Künstlern wie AIDS-3D oder Florian<br />

Auer an einer selbst für Berliner Verhältnisse eher<br />

ungewöhnlichen Adresse. Kraupa-Tuskany residiert<br />

in einem ehemaligen Serverraum im vierten<br />

Stock eines alten Ostberliner Bürogebäudes direkt<br />

am Alexanderplatz. Wer den Aufzug nimmt<br />

und den nüchternen Bürogang hinuntergeht,<br />

erwartet hier alles, nur keinen Ausstellungsraum:<br />

Die Nachbarn sind Import-Export-Geschäfte<br />

und Vertreterbüros. »Es war uns wichtig, in ein<br />

Bürogebäude zu gehen«, erklärt Ziegler. »Das hat<br />

etwas Ehrliches.«<br />

Was treibt jemanden dazu, nach einem Boom-<br />

Jahrzehnt in den kriselnden Kunstmarkt einzusteigen?<br />

Was verkauft man da eigentlich und vor allem:<br />

wie? Nach Schätzungen gibt es etwa 400 Galerien<br />

in Berlin. Jedes Jahr schließen einige, dafür machen<br />

neue auf. Der Galerist ist der Zehnkämpfer des<br />

Kunstbetriebs: Er muss kalkulieren, verkaufen,<br />

spekulieren und dabei nicht nur die Kunstproduktion<br />

seiner Künstler, sondern auch die schwierigsten<br />

Sammler lange und geduldig begleiten. Den Besten<br />

gelingt es, ihre Künstler in strategisch wichtigen Ausstellungen<br />

zu platzieren und so möglichst geräusch-<br />

Intellektuell und sexy<br />

los für die Einordnung in kunsthistorische Zusammenhänge<br />

zu sorgen. Sprechen sie selbst über ihr<br />

Tun, dann klingt es ganz einfach. Er sehe sich als eine<br />

Art »Agent«, sagt Kraupa-Tuskany, als jemand, dem<br />

es darum gehe, »die Sachen an den Mann zu bringen,<br />

inhaltlich wie kommerziell«.<br />

Ist es diese Mischung aus intellektuellem Glamour<br />

und der Sexiness unternehmerischer Risikobereitschaft,<br />

die den Galeristen gegenwärtig zur<br />

heimlichen Leitfigur des Betriebs macht? Langsam,<br />

aber sicher hat das Galerist-Sein den freien Kurator<br />

als begehrten Trendjob der Kunstwelt abgelöst.<br />

Colin de Land ist heute cooler als Harald Szeemann.<br />

Der 2003 verstorbene Betreiber der New Yorker<br />

Galerie American Fine Arts ist das role model all jener,<br />

die in ihrem Tun mehr als Kunsthändler sein möchten.<br />

De Land steht nicht für schnelles Geld und ein<br />

Jetset-Leben. Vielmehr steht er für Markt-Distanz<br />

innerhalb desselben sowie für ein integratives Verständnis<br />

der Galerie als eines Ortes, an dem man das,<br />

was Kunst genannt wird, in einer engen Interaktion<br />

zwischen Künstlern, Galeristen, Kritikern und<br />

Sammlern gemeinsam herstellt.<br />

Der Grund für die anhaltende Attraktivität hängt<br />

also mit einem offeneren Begriff dessen zusammen,<br />

was eine Galerie gegenwärtig sein kann und muss.<br />

»Die Rollen im Kunstbetrieb mischen sich immer<br />

mehr, und eine Galerie ist ein sehr flexibles Format«,<br />

sagt Zeidler, die vor ihrem Einstieg in die Galerie als<br />

Kuratorin tätig war. In einer Landschaft zwischen<br />

notorisch unterfinanzierten und wenig risikobereiten<br />

Kunstinstitutionen stellt der Weg ins selbstständige<br />

(und nicht selten selbstausbeuterische)<br />

Unternehmertum oft die einzige Möglichkeit dar,<br />

einer neuen, eigenen Kunst zum Durchbruch zu<br />

verhelfen. Nicht wenige Idealisten haben deswegen<br />

inzwischen die Seiten gewechselt. »Wer früher Kurator<br />

oder Ausstellungsmacher war, ist heute Galerist«,<br />

sagt auch Waling Boers, der in der zweiten<br />

Hälfte der neunziger Jahre den bekannten Berliner<br />

Projektraum Büro Friedrich betrieb und seit 2005<br />

zusammen mit seinem Partner Pi Li die international<br />

erfolgreiche Galerie Boers-Li in Peking führt.<br />

Boers hatte es irgendwann satt, bei lokalen Verwaltungen<br />

um Geld für seinen Projektraum zu betteln.<br />

Die Arbeit als Galerist bedeutet für ihn finanzielle<br />

Unabhängigkeit: »Schwierige Kunst zu popularisieren<br />

– das machen die Galerien heute besser.«<br />

Wie Boers haben die meisten seiner Kollegen ein<br />

Vorleben im Betrieb. In Galerien oder Museen haben<br />

sie das Handwerk gelernt und Kontakte geknüpft.<br />

»Ein gutes Adressbuch ist schon wichtig«, sagt Christine<br />

Heidemann, die in Berlin seit 2009 ihre Galerie<br />

Reception betreibt. Zuvor war die promovierte<br />

Kunsthistorikerin als freie Kuratorin tätig und jobbte<br />

in Galerien. »Es hat mich irgendwann angestrengt,<br />

sich immer wieder an unterschiedliche Orten und<br />

Gegebenheiten anpassen zu müssen.« Sie sei eine<br />

»promovierte Galeristin«, sagt Heidemann und<br />

meint damit die geschmeidige Verbindung von<br />

Marktpräsenz und intellektuellem Anspruch.<br />

Ohne finanzielles Backing – durch Kredite,<br />

Erbschaften oder häufig auch durch stille Teilhaber<br />

– geht es gerade für junge Galerien nicht.<br />

Um am Markt durchzuhalten, braucht man<br />

Startkapital. Und das nicht zu knapp. Ausstellungs-<br />

und Lagerräume müssen gemietet werden,<br />

Computer angeschafft werden; Sammleressen<br />

müssen veranstaltet, Produktionskosten vorfinanziert<br />

werden. Vor allem aber schlagen die<br />

kostspieligen Messebeteiligungen zu Buche. »Auf<br />

Messen zu gehen ist extrem wichtig, um ernst<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 55<br />

Der Beruf des Galeristen ist der neue Traumjob im Kunstbetrieb. Doch wie wird man einer? VON DOMINIKUS MÜLLER UND KITO NEDO<br />

Agenten der<br />

Kunst: Die<br />

Berliner<br />

Galeristen<br />

Nadine<br />

Zeidler und<br />

Amadeo<br />

Kraupa-<br />

Tuskany<br />

genommen zu werden, auch in ökonomischer<br />

Hinsicht«, berichtet Heidemann. Eine verhältnismäßig<br />

junge und kleine Verkaufsveranstaltung<br />

wie die gerade zu Ende gegangene Berliner ABC<br />

ist mit 4000 Euro Teilnahmegebühr je ausgestelltem<br />

Künstler verhältnismäßig günstig. Für die<br />

Teilnahme auf großen Messen wie der Art Basel<br />

muss man gut und gern das Zehnfache investieren<br />

– wenn man eine der begehrten Zulassungen<br />

bekommt. Gerade in der notorisch klammen<br />

Stadt Berlin verspricht die Kombination aus<br />

Messeteilnahme und Verkäufen über das Internet<br />

den Erfolg: Kontakte knüpft man persönlich,<br />

dann schickt man ein Angebot via E-Mail hinterher.<br />

Im besten Fall beginnen danach die Geräte<br />

zu summen. »Wir haben schon in viele Städte<br />

verkauft«, sagt Kraupa-Tuskany, »aber nach Berlin<br />

bislang noch nichts.«<br />

ZAHL DER WOCHE<br />

20 000<br />

… Objekte hat die Warhol Foundation bei<br />

Christie’s eingeliefert. Die Stiftung trennt<br />

sich von ihrer Sammlung, um den Erlös, der<br />

auf mehr als 100 Millionen Dollar geschätzt<br />

wird, in Künstlerstipendien zu stecken.<br />

Nach einer Auktion in New York im<br />

November werden die meisten Lose von<br />

Februar an online versteigert.<br />

TRAUMSTÜCK<br />

Dürers »Schaustellung<br />

Christi« aus der Großen<br />

Holzschnittpasssion<br />

Ecce homo!<br />

Die Spekulanten haben Albrecht<br />

Dürer noch nicht entdeckt<br />

Kann man sich einen Dürer leisten? Ja, man kann.<br />

Auch in dem überhitzten Kunstmarkt von heute<br />

gibt es Bereiche, in denen erstrangige Werke größter<br />

Künstler zu vergleichsweise moderaten Preisen<br />

gehandelt werden; vielleicht weil sie ein Minimum<br />

an Kenntnis verlangen und sich nicht dekorativ an<br />

Wände hängen lassen. Einer dieser Bereiche ist die<br />

Alte Grafik (ein anderer die Kunst der Antike).<br />

Für die Kölner Auktion am 21. September lobt<br />

Venator & Haunstein eine Reihe von Kupferstichen<br />

und Holzschnitten Albrecht Dürers aus, darunter die<br />

komplette Kupferstichpassion von 1507–13, sechzehn<br />

gut erhaltene Blätter unterschiedlicher, aber stets kontrastreicher<br />

Druckqualität, zu einem Schätzpreis von<br />

15 000 Euro. Es werden aber auch Einzelblätter aus<br />

den beiden anderen Passionszyklen Dürers angeboten,<br />

aus der Kleinen Holzschnittpassion von 1511 und<br />

aus der kunsthistorisch berühmtesten, der Großen<br />

Holzschnittpassion von 1510. Letztere, in ihrem für<br />

die Zeit spek takulären Format von circa <strong>39</strong> mal 28<br />

Zentimetern, zeigen alle staunenswerten Neuerungen<br />

der Dürerschen Holzschnitttechnik, vor allem die<br />

bezwingende Plastizität durch Mitteltonschraffuren.<br />

Es sind Illustrationen zu einem lateinischen Text<br />

des humanistisch gebildeten Mönchs Benedikt<br />

Schwalbe, der die Passion Christi nicht aus der Bibel,<br />

sondern mit zeitgenössischen Nachdichtungen der<br />

Renaissance erzählt – Jesus ist hier vor allem Mensch<br />

mit menschlichen Empfindungen –, und dementsprechend<br />

zeitgenössisch gestaltet Dürer die Szenen<br />

und Figuren. Die Leiden Christi werden so nah wie<br />

möglich gerückt – als lautete das Motto »Jesu, wenn<br />

er heute lebte«. Mein Lieblingsblatt ist Die Schaustellung<br />

Christi, also jene Szene, in der Pontius Pilatus,<br />

der sich ums Urteil drückt, den gefangenen Jesus dem<br />

Volk zeigt, mit den seither geflügelten Worten: »Ecce<br />

homo« – »Seht, ein Mensch!«<br />

Das Blatt, dessen einzige Makel kleine Restaurierungen<br />

und ein Beschnitt des linken Randes<br />

über die Einfassungslinie hinaus sind, wird mit<br />

1200 Euro angeboten. Selbst wenn sich der Schätzpreis<br />

in der Auktion verdoppeln oder verdreifachen<br />

würde, bekäme man noch immer das Meisterwerk<br />

eines der größten Meister der Kunstgeschichte<br />

für eine Summe, für die man auf dem<br />

Schrottplatz der Gegenwartskunst nur ein höhnisches<br />

Lachen hören würde. – Die übrigen Dürer-<br />

Grafiken in der Auktion sind auf 750 bis 2000<br />

Euro geschätzt. JENS JESSEN<br />

Foto: Christoph Neumann für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/christoph-neumann.com, Kunstwerk im Hintergrund: »Hanging low (bitter sweet), <strong>2012</strong>, von Slavs and Tatars; Abb.: Venator & Hanstein KG


FEUILLETON<br />

Hier<br />

ist das<br />

Leben!<br />

Wie steht’s eigentlich um<br />

die Kunst der Gegenwart?<br />

Ein kleiner Erfahrungsbericht<br />

VON HANNO RAUTERBERG<br />

Ein Verlust ist zu vermelden, doch hält<br />

sich die Trauer in Grenzen. So gut wie<br />

niemand vermisst das große Kunstgerumpel<br />

von einst, all die schrillen,<br />

stinkenden, stechenden Gesten des<br />

Schocks und der Provokation. Heute mag kaum<br />

noch ein Künstler den Bürgerschreck geben. Kein<br />

Blutgesudel mehr, keine Selbstverstümmelungen<br />

im Namen einer höheren Wahrheit. Binnen weniger<br />

Jahre hat sich das Wollen und Wirken vieler<br />

Gegenwartskünstler gewandelt: Wo Gewalt war,<br />

ist jetzt Wohlgefallen. Wo Verzweiflung wohnte,<br />

weht ein milder Geist der Güte.<br />

Mitunter kann das sogar ein semireligiöser<br />

Geist sein, etwa auf der Mediations Biennale in<br />

Posen, die am vorigen Wochenende begann. Ungewöhnlich<br />

weihevoll geht es dort zu, vieles<br />

träumt, vieles raunt, vieles ist auf theatralische<br />

Weise gedämpft. Unter dem Motto »The Unknown«<br />

fahndet diese Biennale nach einer Kraft,<br />

die nicht zu greifen, die nur zu ahnen ist. Und<br />

nicht zufällig lassen sich die Kuratoren von christlicher<br />

Seite unterstützen.<br />

Allerdings, von Jesus, Maria und anderweitigem<br />

Kirchenpersonal wollen die Künstler nichts<br />

wissen. Für sie ist das Ungewusste vor allem das<br />

Ungefähre, sie halten die Dinge in der Schwebe.<br />

Der Koreaner Kibong Rhee zum Beispiel, der ein<br />

nachtblaues Aquarium nach Posen verbracht hat,<br />

BERLINER CANAPÉ<br />

INGEBORG HARMS<br />

Kollektive<br />

Feuerplätze<br />

Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen<br />

»Klarer denken« von Rolf Dobelli,<br />

»Jessens Tierleben« von Jens Jessen und<br />

»Berliner Canapés« von Ingeborg Harms<br />

um dort im Strudel der Blasen einen höchst seltsamen<br />

Fisch treiben zu lassen, einen Bücherrochen,<br />

der beschwingt durchs Becken trudelt und<br />

mit seinen eng bedruckten Seiten winkt. Das<br />

schwere Wissen, hier scheint es schwerelos. Und<br />

egal, welche Wahrheit in diesem Buch stehen<br />

mag: Sie steht nicht fest. Sie ist nicht eingeklemmt<br />

zwischen zwei Deckeln, sondern entfaltet, wandelt,<br />

entblättert sich. Liquide Gelehrsamkeit.<br />

Daher kann man diesen Bücherfisch, obwohl<br />

wir ihn auf dieser Seite zeigen, eigentlich nicht abbilden.<br />

Man muss ihn mit den eigenen Augen sehen,<br />

wie er vom Wasserstrudel erfasst wird, sich<br />

sträubt, sich gleiten lässt. Er lässt sich nicht einfangen,<br />

von einer Kamera erst recht nicht.<br />

Und so ist es derzeit mit vielen Werken der<br />

Kunst. Auch wenn weiterhin fleißig gemalt und an<br />

Installationen gewerkelt wird, gibt es doch gerade<br />

etliche Künstler, die sich von der vertrauten Dingkultur<br />

abwenden. Sie wollen keine Objekte herstellen,<br />

nichts, was sich einfach an eine Wand hängen<br />

und auf der nächsten Auktion teuer verkaufen<br />

ließe. Nichts, was man rasch abknipsen und in die<br />

Welt hinaustwittern kann. Nein, ihre Kunst sucht<br />

das Hier und Jetzt, sie will im Augenblick aufgehen,<br />

körperlich spürbar, eine wahre, nondigitale Erfahrung.<br />

Es ist die Kunst der Präsenz.<br />

Wohin man auch schaut, überall ist derzeit Performance.<br />

Überall wandeln sich Ausstellungen in<br />

Clubs waren gestern, heute gibt es die »Valise<br />

Society«, eine Art mobilen Salon, den<br />

der seit einigen Jahren in Berlin lebende<br />

Kalifornier Tobias Tanner gegründet hat. In regelmäßigen<br />

Abständen lädt er an wechselnden Orten<br />

zum Cocktail oder Dinner ein und bringt so die<br />

mobile globale Szene in der deutschen Hauptstadt<br />

zusammen. Der jüngste Umtrunk im ULA, einem<br />

japanischen Restaurant in der Anklamer Straße,<br />

fand zu Ehren von Deanna Zandt, einer New<br />

Yorker Netzwerkberaterin für Aktivisten und<br />

NGOs, statt. Die Avantgarde braucht keine Drogen<br />

mehr, erklärte sie zu einem Glas Leitungswasser,<br />

»es geht um Emotionen, um Möglichkeiten,<br />

in Kontakt zu treten. Als die sozialen Medien<br />

auf kamen, wurden sie sofort begeistert angenommen.<br />

Wir wollen nicht allein sein.« Auf der TED,<br />

einer Art philosophischer Trendkonferenz, die<br />

diesen Sommer in Berlin stattfand, hat Zandt ihre<br />

eigene Biografie als zeittypisches Muster gedeutet:<br />

»Jeder Job, den ich je hatte, hat sich durch Freunde<br />

ergeben. Unsere Karrieren verlaufen nicht länger<br />

geradlinig.« Sie stimmt Marshall McLuhan zu, der<br />

Aufführungen, werden Museen zu Bühnen, auf<br />

denen gezetert, gelacht und sehr viel Blödsinn verhandelt<br />

wird. Manchmal geht es auch schwer meditativ<br />

zu, wie kürzlich in Berlin, als sich die riesige<br />

Halle des Hamburger Bahnhofs mit einer Kunst<br />

füllte, die nichts als Raum, Zeit und Licht sein<br />

wollte. Im tiefsten Dunkel erstrahlten klirrend helle<br />

Spots, als hätte der Leuchtstrahl eines Ufos das Museum<br />

erfasst. Und die Menschen duschten, badeten<br />

im Licht des Künstlers Anthony McCall, versuchten<br />

es zu ergreifen. Eine irreal-reale Erfahrung.<br />

So ähnlich ist es auch in vielen Räumen des<br />

belgischen Künstlers Hans op de Beeck, dessen<br />

traumhaft verlangsamte Kunst gerade erstmals groß<br />

in Deutschland zu sehen ist, im Kunstverein Hannover.<br />

Hier gibt es Räume, in denen der Künstler<br />

auf recht gewöhnliche Weise seine Modelle und<br />

Zeichnungen zeigt; andere Räume hingegen sind<br />

nicht mehr Raum, sie sind ganz und gar Bild, und<br />

dieses Bild verschluckt uns. Ein tableau vivant<br />

könnte man es nennen, wäre hier nicht alles, das<br />

zerwühlte Bett, der Tisch, das Sofa, selbst die Mandarine,<br />

steinhart und gänzlich grau. Alles Leben<br />

scheint erloschen, und wir sitzen mittendrin in<br />

dieser Erloschenheit, schauen aus dem Fenster und<br />

sehen einem Springbrunnen beim Plätschern zu. Es<br />

ist wie in einem David-Lynch-Film, mit dem Unterschied,<br />

dass es hier nur einen einzigen Darsteller<br />

gibt. Man kannte ihn bislang als »den Betrachter«.<br />

die mediale Revolution vorhersagte und schon vor<br />

50 Jahren das Ende der Linearität proklamierte.<br />

Ihm genügte das Phänomen des Radio-DJs, um<br />

die Rückkehr der Stammesgesellschaft mit ihren<br />

Buschtrommeln und kollektiven Feuerplätzen vor<br />

sich zu sehen. Kaum waren wir im Gespräch, da<br />

hatte Zandt mir schon einen Link geschickt, den<br />

ich, ganz linear, erst zu Hause studierte. Er handelte<br />

vom Neuroökonomen Paul Zak, der nachwies,<br />

dass intensives Twittern den Ausstoß von Oxytocin<br />

beflügelt, einem Empathiehormon, das für Gesundheit<br />

und ein langes Leben sorgt.<br />

Wissenschaftler der Washington University allerdings<br />

kamen zum selben Ergebnis, als sie mit<br />

Romanlesern experimentierten. Wie bei Social-<br />

Media-Anhängern reagierte auch ihre Chemie auf<br />

die Geschicke der fiktionalen Helden, als hätten sie<br />

sie leibhaftig miterlebt. Dass der einzige Buchtipp<br />

an diesem Abend vom jüngsten Teilnehmer, dem<br />

1989 in Ostberlin geborenen »Erfahrungsmanager«<br />

Felix Wieduwilt, stammt, zeigt allerdings noch keine<br />

Trendwende an. All die neuen Berufe, die im ULA<br />

zu Lachs-Tempura zusammenkamen, drehten sich<br />

Schwebende<br />

Wahrheiten:<br />

Der Koreaner<br />

Kibong Rhee lässt<br />

ein Buch durchs<br />

Aquarium trudeln<br />

Dieser Betrachter wird nun zum Erkunder und<br />

Entdecker, zu einem, der die Kunst mit allen Sinnen<br />

zu spüren bekommt – und manchmal auch<br />

Handstand auf ihr probt. So wie auf dem Horizon<br />

Field von Antony Gormley, das in diesem Sommer<br />

rund 120 000 Besucher in die Hamburger Deichtorhallen<br />

lockte. Nichts als eine große, polierte<br />

Fläche, aufgehängt in acht Meter Höhe – und doch<br />

sah man die Menschen selten derart begeistert. Sie<br />

stiegen die Treppe hinauf, wanderten in Socken<br />

oder barfuß über das schwarze Feld, viele saßen,<br />

hüpften oder beobachteten nur, wie andere diese<br />

hochabstrakte und doch ganz und gar unabstrakte<br />

Kunst für sich vereinnahmten. Manche fotografierten,<br />

aber die schwankende Erfahrung, das leichte<br />

Zittern, das manchmal durch die glatte Fläche lief,<br />

lässt sich so wenig auf einem Bild einfangen wie die<br />

heiter-beschwingte Stimmung.<br />

Die Erschöpfungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts<br />

mag diese Art von Kunst. Sie mag die Besinnung<br />

ebenso wie das Ereignishafte. Und sie<br />

genießt es, wenn sich die alte Konfrontation –<br />

hier das Bild, dort der Betrachter – auflöst. Die<br />

Vereinzelung weicht der Kollektiverfahrung, einem<br />

Miteinander auf Zeit. Das kann manchmal<br />

schwülstig sein, manchmal kindergartenhaft albern,<br />

gelegentlich auch ergreifend. Die Kunst aber<br />

zeigt sich in diesen Werken, die keine Werke sein<br />

wollen, so lebendig wie schon lange nicht mehr.<br />

darum, wie sich das eigene Leben durch Netzwerken<br />

intensivieren lässt. Wieduwilt organisiert Unternehmenstreffen<br />

und private Dinner von Paris bis<br />

Tokio; Hunderson Sabbat bietet New-York-Besuchern,<br />

wie Tobias Tanner in Berlin, einen »kulturellen<br />

Escort-Service« an. Die Londonerin Anju Rupal<br />

ist ein »Angel Investor«, sie sammelt das nötige Geld,<br />

um Frauenhäuser und Kinderhorte in Indien und<br />

der Schweiz auf die Beine zu stellen: »Dafür habe<br />

ich keine Ausbildung«, sagt sie, »aber ein Netzwerk.«<br />

Sie plant ein indisches Äquivalent zum Body Shop<br />

und hat nebenbei eine Onlinepartnervermittlung<br />

gegründet, die auch die DNA der Interessierten<br />

berücksichtigen will.<br />

Wissenschaftliche Hilfestellungen sind in dieser<br />

Welt der Pragmatiker so wenig tabu wie pädagogische<br />

Katalysatoren. Spielerisches Lernen steht<br />

bei Deanna Zandt hoch im Kurs, auch wenn es<br />

wundert, dass die NGO-Beraterin zur Verbesserung<br />

des schulischen Alltags ausgerechnet Monopoly<br />

empfahl. Um das Stochern im Small Talk zu<br />

vermeiden, bat Tanner jeden Gast, drei Dinge zu<br />

benennen, zu denen er sich gern befragen lasse.<br />

Abb. (Ausschnitt): Ki-bong Rhee/ZKM, Karlsruhe/courtesy the artist and Kukje Gallery, Seoul<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 57<br />

Das Letzte<br />

Das EU-Parlament, weil man nicht immer nur<br />

über die Wirtschaftskrise beraten kann, möchte<br />

neue Lärm-Grenzwerte beschließen, da die<br />

Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgefunden<br />

hat, dass laute Motorengeräusche zu<br />

schlimmen Krankheiten führen. Etwa 50 000<br />

tödliche Herzinfarkte pro Jahr werden EU-weit<br />

von lauten Motoren verursacht!<br />

Vor wenigen Monaten haben Wissenschaftler<br />

vom Tufts Medical Center in Boston<br />

in einer Studie behauptet, dass die Gefahr, einen<br />

Herzinfarkt zu erleiden, um das Dreifache<br />

ansteigt, wenn man nur unregelmäßig Sex hat.<br />

Wer schon länger abstinent war, sollte lieber<br />

die Finger vom Geliebten lassen.<br />

Ein niederländisch-dänisches Forscherteam<br />

veröffentlichte Ende Juli in der renommierten<br />

Fachzeitschrift Archives of Internal Medicine<br />

eine Studie, in der aufgezeigt wurde, dass das<br />

Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, in den<br />

ersten zwei Wochen nach einer Hüft- oder<br />

Kniegelenkoperation deutlich erhöht ist.<br />

Im Februar haben amerikanische Universitäten<br />

in Miami und New York nachgewiesen, dass<br />

der regelmäßige Konsum von Diätgetränken<br />

das Risiko von Herzinfarkten massiv erhöht.<br />

Ein kanadisches Forscherteam hat nur vier<br />

Monate später die Entdeckung gemacht, dass<br />

Schichtarbeit ein Risikofaktor für Gefäßverkalkungen<br />

– und damit naturgemäß auch für<br />

den Herzinfarkt ist.<br />

An der Harvard-Universität in Boston hat<br />

man im März eindringlich vor dem Verzehr<br />

von rotem Fleisch gewarnt. Das steigere das<br />

Herzinfarktrisiko.<br />

Stockholmer Wissenschaftler hatten zuvor<br />

darauf aufmerksam gemacht, dass Zahnlücken<br />

zu erhöhtem Herzinfarktrisiko führen, es gibt<br />

erwiesenermaßen einen Zusammenhang zwischen<br />

Zahnhygiene und Herzkrankheiten.<br />

Vorschlag für Lebensmüde: Beißen Sie so<br />

hemmungslos in ein blutiges Steak, dass Ihnen<br />

ein Zahn ausfällt. Machen Sie dann eine Nachtschicht<br />

in einer Autobahngaststätte. Während<br />

des Kellnerns renken Sie sich, da Sie übermüdet<br />

sind, das Knie aus, und zwar so, dass eine Operation<br />

unerlässlich ist. Im Krankenhaus sollten<br />

Sie auf Diätgetränken bestehen. Sobald Sie<br />

entlassen werden, stürzen Sie sich bitte in eine<br />

Affäre – aber nur, wenn der letzte Beischlaf<br />

schon etwas her war. La petite mort, der kleine<br />

Tod, wie die Franzosen zum Höhepunkt sagen,<br />

sollte mühelos mit dem großen in eins fallen.<br />

Sollte Ihr Herz, wider Erwarten, all diese<br />

Schandtaten überstehen, hilft nur das Warten<br />

auf ein natürliches FINIS<br />

www.zeit.de/audio<br />

Ein Architekt aus Mailand schlug Mailand, Architektur<br />

und Feminismus vor. Der Leiter eines norwegischen<br />

Softwareunternehmens bot Künstliche Intelligenz,<br />

Ski und französische Frauen an. So füllte sich<br />

der Raum schnell mit Informationsknotenpunkten.<br />

Ich brauchte Tage, um das dichte Netz am PC zu entwirren.<br />

Jemand, der Einkaufsassistent für Versace<br />

gewesen war, kam nicht aus London oder New York,<br />

sondern aus »Boetzzettelerfehn« in Ostfriesland, wie<br />

er mir aufschrieb, 48 Einwohner, sagte er. Doch das<br />

musste eine Insider-Schreibweise sein, denn das Netz<br />

wusste nur von einem seit 1180 aktenkundigen<br />

Boek zeteler fehn. In der Willkommensadresse des<br />

Ortes wird denn auch betont, dass das Hochmoordorf<br />

»nicht auf dem Reißbrett« entstanden sei und<br />

dass »die Tatsache, dass sich fast jeder Boek zete ler in<br />

irgendeiner Weise in einem Verein engagiert«, sehr<br />

für die Dorfkultur spreche. Wir können also davon<br />

ausgehen, dass sich auch unsere Vorfahren schon zu<br />

vernetzen wussten und dabei nicht linear vorgingen.<br />

Clubs mögen out sein und mediale Salons im Kommen,<br />

aber die Oxytocin-Ausschüttung, die das deutsche<br />

Vereinswesen hervorruft, übersteht jede Krise.<br />

Illustration: QuickHoney für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.quickhoney.com/Peter Stemmler


Fotos (Ausschnitte): Vahid Salemi/AP (Teherean, 13.9.<strong>2012</strong>); Alex Trebus für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> (u.)<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Frau Ateş, fühlen Sie sich von dem<br />

Film Unschuld der Muslime beleidigt?<br />

Seyran Ateş: Nein. Ich grenze meinen Glauben an<br />

Gott ab von Menschen, die diesen Gott kritisieren.<br />

Ich fühle mich von so einem Film nicht persönlich<br />

angegriffen, sondern kann ihn diskutieren.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Aber müssten Sie als gläubige Muslimin<br />

nicht trotzdem beleidigt sein?<br />

Ateş: Wenn ich jemandem erlaube, mich zu beleidigen,<br />

nehme ich ihn ernst und gebe ihm Macht.<br />

Dass Beleidigungen ausgesprochen werden, heißt<br />

noch lange nicht, dass ich mich getroffen fühle.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Verstehen Sie, dass andere empört sind?<br />

Ateş: Ich weiß, dass es so ist, aber nachvollziehen<br />

kann ich es nicht. Natürlich lehne ich islamfeindliche<br />

Provokationen ab, wie wir sie von Vereinen<br />

wie Pro NRW kennen. Aber dieser Film wird nicht<br />

nur benutzt, um zu beleidigen, sondern auch, um<br />

demonstrativ beleidigt zu sein. Er kann nicht der<br />

wahre Grund der plötzlichen Gewalt sein, denn er<br />

steht ja schon seit sechs Monaten im Netz. Es<br />

kommt mir vor, als ob das Internet durchgescannt<br />

wurde nach einem Anlass für politische Ak tio nen<br />

im Namen des Islams.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Mit welchem Ziel?<br />

Ateş: Das ist die Frage. Woher kommt der extreme<br />

Hass auf den Westen, und wohin führt er? Die<br />

Fundamentalisten wollen Demokratie verhindern<br />

und die gesamte Gesellschaft nach religiösen Regeln<br />

gestalten. Gottes Wort ist ihnen Gesetz. Es<br />

soll auch für das Verhältnis der Bürger un ter einander<br />

gelten. Islamische Fundamentalisten wollen<br />

keine zivile Gesellschaft unabhängig vom Glauben.<br />

Deshalb hassen sie uns.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Demonstranten werfen dem Westen<br />

Blasphemie vor. Was heißt das?<br />

Ateş: Blasphemie ist Gotteslästerung und Verächtlichmachung<br />

des Glaubens und des Propheten.<br />

Wer so tiefreligiös ist, dass sein ganzer Alltag vom<br />

Glauben durchsetzt ist, der muss die Beleidigung<br />

Gottes persönlich nehmen und sich dagegen wehren.<br />

Jeder Kritiker des Islams ist für ihn ein Feind,<br />

egal ob die Kritik respektvoll oder respektlos geäußert<br />

wird. Der tiefgläubige Muslim ist verpflichtet,<br />

den Feind zu bestrafen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Aber muss er ihn töten?<br />

Ateş: Nein. Natürlich nicht. Nur in Pakistan, Saudi-Arabien,<br />

im Iran, in Afghanistan und neuerdings<br />

auch im Sudan steht auf Blasphemie die<br />

Todesstrafe, und sie wird aus dem Koran und den<br />

Hadithen abgeleitet. Aber das ist Auslegungssache.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was steht denn im Koran?<br />

Ateş: Der Vers 4,89 besagt: »Wenn sie sich abkehren,<br />

dann greift sie und tötet sie, wo immer ihr sie<br />

findet.« Das bezieht sich zunächst auf die sogenannten<br />

Heuchler, aber auch auf Abtrünnige, also<br />

Apostaten. Schließlich wird der Vers kombiniert<br />

mit der neunten Sure, Vers 65/66: »Wolltet ihr<br />

denn über Gott und seine Zeichen und seinen Gesandten<br />

spotten? Entschuldigt euch nicht! Ihr seid<br />

ungläubig geworden, nachdem ihr geglaubt hattet.«<br />

Es gibt also keine Vergebung für diejenigen,<br />

die Gott verspotten. Auch die Sure 33,61: »Verflucht<br />

sind sie. Wo immer man sie trifft, wird man<br />

sie ergreifen und unerbittlich töten«, könnte herangezogen<br />

werden, um Gewalt gegen diejenigen zu<br />

rechtfertigen, die den Islam beleidigen. Also Blasphemie<br />

wird gleichgesetzt mit Unglaube, und Unglaube<br />

gilt als größte Sünde, die ein Mensch auf<br />

sich laden kann. Darauf steht der Tod. Wie gesagt,<br />

man kann das alles auch anders deuten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: In der deutschen Rechtsprechung gibt es<br />

nur Rudimente eines Blasphemieverbotes, und<br />

zwar im Strafgesetzbuch.<br />

Ateş: Bei uns ist Gotteslästerung kein Straftatbestand.<br />

Der Strafparagraf 166 regelt, dass Verächtlichmachung<br />

oder Verhöhnung einer Religion dann<br />

strafbar ist, wenn die öffentliche Ordnung gefährdet<br />

wird. Das hat nichts zu tun mit Blasphemie, wie sie<br />

in islamischen Ländern unter Strafe steht. Dort darf<br />

man Gott und seinen Propheten nicht beleidigen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Gerichte berufen sich auf die Scharia.<br />

Ateş: Sie ist das sogenannte islamische Gesetz, aber<br />

kein einheitliches Werk für die gesamte islamische<br />

Welt, wie viele Menschen im Westen irrtümlich<br />

annehmen. Sie besteht zum einen aus religiösen Geboten<br />

und glaubenspraktischen Anweisungen und<br />

unter anderem aus zivilrechtlichen und strafrechtlichen<br />

Normen, inklusive konkreter Sanktionen und<br />

Strafparagrafen. Die Scharia wird in den verschiedenen<br />

Ländern aber ganz unterschiedlich ausgelegt<br />

und praktiziert. Je nach Rechtsschule und politischem<br />

System. Die Sunniten verstehen sie anders als<br />

die Schiiten, die Hanafiten anders als die Malikiten,<br />

um nur einige zu nennen. Der Iran behauptet zwar,<br />

es sei islamisches Recht, dass auf Blasphemie die<br />

Iranische Frauen<br />

protestieren in<br />

Teheran gegen den<br />

Film »Unschuld<br />

der Muslime« am<br />

13. September <strong>2012</strong><br />

»Beleidigt sind nur<br />

Fundamentalisten«<br />

Was heißt hier Blasphemie? Und wem nützt sie? Ein Gespräch mit<br />

der muslimischen Juristin und Menschenrechtlerin Seyran Ateş<br />

Todesstrafe steht. Trotzdem gilt sie in anderen islamisch<br />

geprägten Ländern nicht unbedingt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: In der Türkei, Ihrem Herkunftsland, gibt es<br />

keinen Straftatbestand der Blasphemie.<br />

Ateş: Jedenfalls nicht auf Grundlage der Scharia.<br />

Weil die Türkei ein laizistischer Staat ist. Atatürk<br />

hat die Scharia abgeschafft.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Aber damit sind die religiösen Gefühle nicht<br />

abgeschafft, von denen jetzt so viel die Rede ist.<br />

Ateş: Die Abschaffung der Scharia in der Türkei<br />

sollte auch nicht die Re li gion abschaffen, sondern<br />

das weltliche Recht über das Gesetz Gottes stellen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was halten Sie davon, den Film Unschuld<br />

der Muslime in Deutschland zu verbieten?<br />

Ateş: Nichts. Es ist fatal, wenn eine Re li gionsgemein<br />

schaft Strafgesetze nötig hat, um sich zu<br />

verteidigen, wenn also ihr Selbstwertgefühl zu<br />

schwach ist, sich in einer freien Gesellschaft zu behaupten.<br />

Unsere deutsche Rechtsprechung ist sehr<br />

vernünftig. Gerade weil wir die Versammlungs-<br />

und Meinungsfreiheit, die Kunst-<br />

und Pressefreiheit so stark machen, findet<br />

Gotteslästerung nur selten statt.<br />

Wenn wir die Aufführung verbieten,<br />

schließen wir uns dem Streit der Extremisten<br />

auf beiden Seiten an. Ich halte es<br />

für besser, ganz demokratisch gegen den<br />

Kirchenverbrechen bleiben Kirchensache<br />

Von dem Kölner Kardinal Joachim Meisner ist die<br />

Anekdote überliefert, wie ihn einmal eine fromme<br />

Muslimin durch tätige Empörung beschämte und<br />

zum Nachdenken über seine eigene Laxheit bei der<br />

Verteidigung des christlichen Glaubens brachte.<br />

Der Kardinal wurde nämlich Zeuge, wie eine Verschleierte<br />

an einem Zeitungskiosk pornografische<br />

Magazine runterriss, und da dachte er bei sich:<br />

Warum habe ich das nicht gemacht?<br />

Vielleicht müsste man sich als katholischer Bischof<br />

mal wieder so richtig über die Kirchenfeinde<br />

aufregen. Vielleicht müsste man die Gotteslästerlichkeit<br />

der westlichen Welt leibhaftig bekämpfen. Viel-<br />

GLAUBEN & ZWEIFELN<br />

leicht würde man dann wieder ernst genommen, ja<br />

gefürchtet, anstatt sich täglich mit unbotmäßigem<br />

Kirchenvolk rumzuschlagen. So denken in diesen<br />

hitzigen Tagen des Blasphemie-Streites wohl manche<br />

Kirchenhierarchen, zumal sie ein weltliches Gesetz<br />

gegen Gotteslästerung für Deutschland fordern.<br />

Muss man Pornomagazine vernichten, um ein<br />

guter Katholik zu sein? Muss man sich empören<br />

über Blasphemie? Muss man nicht, sagen selbst<br />

katho lische Kirchenrechtler. Auf die Beleidigung<br />

religiöser Gefühle etwa durch unzüchtige Magazine<br />

muss man nicht mit heiligem Zorn reagieren. Auch<br />

nicht auf Bilder gekreuzigter Schweine oder Spiel-<br />

Film und dessen Vorführer vorm Kino zu demonstrieren.<br />

So sehen wir die Gesichter der Rassisten<br />

und stehen weiterhin für die Meinungsfreiheit.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Der katholische Schriftsteller Martin Mosebach<br />

fordert, dass Blasphemie auch bei uns strafbar<br />

sein soll. Katholische Bischöfe pflichten ihm bei.<br />

Ateş: Das halte ich für Unsinn. Denn in diesem<br />

Land ist genug Platz für den Glauben. Wo aber Reli<br />

gion nur der Abgrenzung dient, stellt sie sich gegen<br />

die Demokratie. Und wo Re li gion nach Strafen<br />

schreit, beginnt der Krieg gegen die Aufklärung und<br />

gegen jene Freiheiten, von denen hierzulande alle<br />

Kirchen und Glaubensgemeinschaften profitieren.<br />

Auch ihre Wahrheit muss kritisierbar bleiben. Beleidigt<br />

werden kann im Grunde nur der Fundamentalist.<br />

Solchen Fundamentalismus zu bekämpfen<br />

sollte auch Aufgabe der Gläubigen sein.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und was soll der säkulare Staat tun?<br />

Ateş: Sich raushalten. Nur im Einzelfall, wenn es<br />

Konflikte gibt, soll er entscheiden, welches<br />

Recht hier Vorrang genießt. Dass islamfeindliche<br />

Vereine Mohammed-Karikaturen vor<br />

Moscheen zeigen dürfen, ist unschön, aber<br />

gehört zur Meinungsfreiheit. Der Strafparagraf<br />

166 schützt die öffentliche Ordnung,<br />

nicht die Re li gion. Karikaturen sind in unserer<br />

zivilen Gesellschaft keine Straftat.<br />

filme, in denen eine Christin das Kreuz zum Masturbieren<br />

benutzt – um nur zwei deutsche Fälle aus<br />

jüngster Zeit zu nennen. Denn man kann sich als<br />

Katholik auch an die Devise der europäischen Aufklärung<br />

halten, dass die Idee, Gott müsse von den<br />

Menschen gegen Beleidigung verteidigt werden,<br />

einem kleinlichen und daher unzutreffenden Gottesbild<br />

folgt.<br />

Selbstverständlich gibt es im kanonischen Recht<br />

den Straftatbestand der Blasphemie. Artikel 1369<br />

rechnet sie zu den Kirchenverbrechen: »Wer in einer<br />

Aufführung oder Versammlung oder durch schriftliche<br />

Verbreitung oder sonst unter Benutzung von<br />

<strong>ZEIT</strong>: Es gibt aber Leute, die gern den Seelenfrieden<br />

der Rechtgläubigen stören. Das Satiremagazin Titanic<br />

hat soeben einen Prozess gewonnen, den der<br />

Vatikan gegen das Bild eines besudelten Papstes angestrengt<br />

hatte. Warum ist solche Satire erlaubt?<br />

Ateş: Weil sie ein Teil unseres kritischen Denkens<br />

ist. Wenn wir bös arti ge Kritik verbieten, müssen<br />

wir irgendwann alle Kritik verbieten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Dürfen religiöse Gefühle also in unserer<br />

Rechtsprechung keine Rolle spielen?<br />

Ateş: Doch. Aber das Recht schützt die Religionsgemeinschaften,<br />

keine Gefühle und keinen Gott.<br />

Das ist ein Beleg unserer Rechtsstaatlichkeit, nicht<br />

Ermunterung zum Schmähen von Glaubenden.<br />

Unser Staat will kein verlängerter Arm einer bestimmten<br />

Religion sein. Obwohl die Bürger dieses<br />

Landes mehrheitlich Christen sind, spielt sich die<br />

Regierung nicht als Wächter über die Unantastbarkeit<br />

des Christengottes auf.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und was ist mit der Politik?<br />

Ateş: Ich halte es mit Dolf Sternberger, der sagt:<br />

Keine Freiheit den Gegnern der Freiheit, keine Toleranz<br />

den Gegnern der Toleranz. Religiöse Fanatiker<br />

haben vor niemandem außerhalb ihrer Re li gion<br />

Respekt. Sie sind selbstherrlich und größenwahnsinnig,<br />

deshalb darf man sie auch politisch nicht<br />

ernst nehmen. Ihre religiösen Gefühle sind in mei-<br />

SEYRAN ATEŞ wurde 1963 in der Türkei geboren sich für Integration. Sie streitet gegen das<br />

und kam mit sechs Jahren nach Kopftuch und forderte einen Straftatbestand<br />

Berlin. Die Juristin war Mitglied der Zwangsverheiratung. Für ihr Buch »Der<br />

der Islamkonferenz und engagiert Multikulti-Irrtum« wurde sie von radikalen<br />

sozialen Kommunikationsmitteln eine Gotteslästerung<br />

zum Ausdruck bringt, die guten Sitten schwer<br />

verletzt, gegen die Religion oder die Kirche Beleidigungen<br />

ausspricht oder Hass und Verachtung hervorruft,<br />

soll mit einer gerechten Strafe belegt werden.«<br />

Diese Strafe aber ist eine geistliche Strafe, sie hat<br />

keine Entsprechung im weltlichen Recht – und das<br />

ist ein Fortschritt, finden hierzulande selbst Kanonisten.<br />

Religiöse Gefühle sind kein objektivierbares<br />

Kriterium, ihre Verletzung hat deshalb in der Rechtsprechung<br />

einer Demokratie nichts zu suchen. Atheisten<br />

beispielsweise müssen keinen Respekt vor dem<br />

Glau ben zeigen, nur vor der Person des Gläubigen.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 58<br />

nen Augen keine religiösen Gefühle, sondern Ressentiments.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Kanzlerin hat die Mohammed-Karikaturen<br />

verteidigt und erntet dafür nun den Hass der<br />

Fanatiker. Hätte die Pfarrerstochter Angela Merkel<br />

gottesfürchtiger sprechen sollen?<br />

Ateş: Nein. Denn sie muss sich an unseren eigenen<br />

Maßstäben orientieren. Sie kann nicht nach den<br />

Maßstäben eines Gottesstaates wie des Irans handeln.<br />

Demokratie darf sich nicht verleugnen. Es<br />

gibt im Westen längst eine fatale Tendenz dazu.<br />

Man knickt vor den Fundamentalisten ein und<br />

warnt stattdessen vor respektloser Religionskritik.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Haben Sie kein Verständnis für eine Politik<br />

der Deeskalation?<br />

Ateş: Nein, weil sie den religiösen Eiferern nützt.<br />

Wir haben mittlerweile eine überspitzte Sensibilität<br />

gegenüber dem Islam. Eine meiner Klientinnen<br />

musste ihren Job als Lehrerin aufgeben, weil es ihr<br />

unmöglich war, die überwiegend muslimischen<br />

Schüler für ihr Verhalten zu kritisieren. Die empfanden<br />

das als Beleidigung. Oder nehmen wir das<br />

Kopftuch. Es wird so gründlich toleriert, dass die<br />

politischen Motive dafür kaum noch Beachtung<br />

finden. Wer es kritisiert, gilt als religionsfeindlich.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Das Kopftuch ist ein religiöses Symbol.<br />

Ateş: Es ist Symbol der Geschlechtertrennung, also<br />

einer politischen Haltung innerhalb der Religion.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wurden Sie auch schon einmal als Gotteslästerer<br />

beschimpft?<br />

Ateş: Nicht so direkt, aber als Islamfeindin. Ich bin<br />

in der Islamkonferenz angegriffen worden, dass ich<br />

eigentlich keine Muslimin sei.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wegen Ihrer liberalen Positionen wurden Sie<br />

mehrfach mit dem Tod bedroht. Sie mussten jahrelang<br />

in der Anonymität leben und stehen auch jetzt<br />

unter Personenschutz.<br />

Ateş: Ja, da gab es immer wieder den Vorwurf, ich<br />

würde den Islam beleidigen. Und wenn ich nicht<br />

aufhöre, würde man mich töten. Der entscheidende<br />

Punkt ist, dass die Bedroher meine Bücher nicht lesen<br />

und die Meinungsfreiheit einschränken wollen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ärgern Sie sich eigentlich mehr über blasphemische<br />

Filmemacher, die den Hass des Mobs<br />

entsichern, oder über den Hass selbst?<br />

Ateş: Weder – noch. Ich ärgere mich am meisten<br />

über die Masse der Ignoranten, die sich einschüchtern<br />

lassen. Die Provokateure und die Fanatiker<br />

kommen für mich an zweiter und dritter Stelle.<br />

Schlimmer sind die Gleichgültigen, die nicht mitwirken<br />

an der Stärkung unserer Demokratie.<br />

Schlimmer sind die Relativisten, die nicht aufstehen,<br />

um die Meinungsfreiheit zu verteidigen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Nachdem neulich Salafisten in deutschen<br />

Städten den Koran verteilt haben und dann Christen<br />

die Bibel, beteiligten Sie sich an einer Ak tion<br />

zur Verteilung des Grundgesetzes. Warum?<br />

Ateş: Weil ich Verfassungspatriotin bin. Die Aktion<br />

kam von muslimischen Frauen. Wir wollten<br />

zeigen, dass es auch Muslime gibt, die säkular denken<br />

und sich dem Grundgesetz verpflichtet fühlen.<br />

Für uns ist der Glaube Privatsache. Es muss aufhören,<br />

dass im Westen nur muslimische Kopftuchfrauen<br />

sichtbar sind und dass nur als Muslim<br />

gilt, wer ständig den Koran vor sich herträgt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was sagen Sie den Islamophoben, die Ihre<br />

Religion für unaufklärbar halten?<br />

Ateş: Dass das nun wirklich eine Verhöhnung des<br />

Islams ist – aber von der Meinungsfreiheit gedeckt.<br />

Ich würde die Behauptung nie unter Strafe stellen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was tun Sie stattdessen gegen Islamhass?<br />

Ateş: Argumente vorbringen und authentisches<br />

Verhalten an den Tag legen. Mich zur Freiheit<br />

bekennen und trotzdem an Allah glauben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Endlich fällt der Name Allahs. Muss ein<br />

Muslim ihn wirklich nicht gegen Hohn verteidigen?<br />

Ateş: Ich würde erst einmal das Niveau der Verhöhnung<br />

prüfen. Der Film Das Leben des Brian ist<br />

ein Kunstwerk, aber das Video Unschuld der Muslime<br />

ist ein Machwerk. Die Satire von Monty<br />

Python soll die Leute zum Lachen bringen. Das<br />

grottenschlechte Video soll Hass schüren. Aber<br />

Gott ist über den Hass erhaben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Auch über blasphemische Witze?<br />

Ateş: Das Lachen über etwas, was uns heilig ist,<br />

gehört zu den menschlichen Eigenheiten, die vom<br />

Wunsch eines liebenden Gottes getragen sind.<br />

Daran glaube ich ganz fest. Weder Allah noch der<br />

christliche Gott lassen sich beleidigen. Deshalb<br />

können wir Gläubigen durch Gelassenheit zur Befriedung<br />

der Welt beitragen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ist Ihnen denn gar nichts heilig?<br />

Ateş: Doch. Ich glaube, dass wir Muslime einen<br />

viel toleranteren Gott haben, als viele denken.<br />

Das Gespräch führte EVELYN FINGER<br />

Muslimen angefeindet. Wegen Todesdrohungen<br />

gab sie zeitweise ihre Anwaltstätigkeit<br />

auf. Zuletzt erschien »Der<br />

Islam braucht eine sexuelle Revolution«<br />

Mag sein, dass der christliche Glaube von der<br />

christlichen Person schwer unterscheidbar ist. Aber<br />

wenn der Staat die Unterscheidung nicht träfe,<br />

müsste er Blasphemie tatsächlich ahnden und<br />

agierte bald als Gesinnungspolizei. Blasphemisch<br />

sind ja nicht nur gewisse Hetzvideos, blasphemisch<br />

ist auch die Meinung, dass es keinen Gott gibt. Das<br />

Überwachen und Strafen finge also bei einem Film<br />

an. Und wo hörte es auf? Vielleicht hätten christliche<br />

Freunde eines weltlichen Blasphemiegesetzes<br />

gern, dass Christen sich wieder mehr aufregen.<br />

Aber Aufregung allein ist kein Glaubensbeweis.<br />

Nein, auch nach dem Kirchenrecht nicht. EF


REISEN<br />

Berlins größter Spielplatz<br />

Weitläufi ger als der New Yorker Central Park, überschaubar wie eine Steppe: Der stillgelegte Flughafen Tempelhof zieht Modellfl ieger,<br />

Gärtner und Lebenskünstler an. Die Berliner verteidigen ihr Stück Anarchie gegen Bebauungspläne des Senats VON HANS W. KORFMANN<br />

Ein dünner Nebelschleier liegt über<br />

dem hohen Gras. Es duftet nach Erde<br />

und letzten Spätsommerblüten. Alles<br />

ist grau, nur weit im Osten, am anderen<br />

Ende der Ebene, mischt sich eine<br />

erste Spur von Rot ins Morgengrauen. Dann steigt<br />

die Sonne auf. Dunkel zeichnen sich Eichen am<br />

Horizont ab. In der Ferne, am Südrand der Fläche,<br />

zieht klein wie eine Spielzeugeisenbahn die Lichterkette<br />

einer S-Bahn vorüber.<br />

Am nördlichen Rand des Wiesenmeers sitzt in<br />

der Nähe einer Baumgruppe ein Fuchs. Er wartet<br />

auf einen kleinen Mann, der jeden Morgen<br />

kommt und ihm etwas zu essen bringt. »Der kann<br />

nicht mehr jagen, der hat was am Bein, genau wie<br />

ich«, sagt der Rentner und holt eine Stulle für das<br />

hinkende Tier aus der Tasche.<br />

Fuchs und Rentner sind die Einzigen, die,<br />

wenn es hell wird, auf dem riesigen Gelände zu<br />

sehen sind. Einst war es Ackerland zwischen dem<br />

Dörfchen Tempelhof und der kleinen Stadt an<br />

der Spree. Später landeten hier die ersten Flugzeuge.<br />

Bald war der Flughafen von einem Häusermeer<br />

umgeben, von Neukölln, Kreuzberg und<br />

Tempelhof, drei Ortsteilen inmitten der lauten<br />

Weltstadt Berlin. Doch seit im Herbst 2008 das<br />

letzte Flugzeug den Airport verließ, seit plötzlich<br />

Stille eingekehrt ist, liegt das Feld außerhalb von<br />

Raum und Zeit.<br />

Wie aus der Vergangenheit dringt von Süden<br />

das Läuten eines Kirchturms herüber – als läge<br />

dort hinten, zwischen Feldern, noch immer das<br />

Gut der Templer. Und so winzig erscheinen im<br />

Osten die Dächer von Neukölln, als wären sie<br />

eine Tagesreise entfernt. Der »Park der Tempelhofer<br />

Freiheit«, wie er heute heißt, ist größer als<br />

der Tiergarten, größer als der Central Park, aber<br />

so flach und übersichtlich wie ein Fußballfeld.<br />

Wie fünfhundert zusammengelegte Fußballfelder.<br />

Diese Weite in der Großstadt hat etwas Magisches,<br />

und sie zieht immer mehr Menschen an,<br />

aus Berlin und der ganzen Welt.<br />

Nach dem Fuchs und dem Rentner tauchen<br />

die ersten Radfahrer auf. Sie nutzen die beiden<br />

über zwei Kilometer langen Start- und Landebahnen<br />

als autofreie Ost-West-Achse. Jogger laufen<br />

auf dem Flugfeld ihre Runden. Spaziergänger<br />

führen ihre Hunde aus. Allmählich löst sich der<br />

Nebel aus den Gräsern des verwilderten Rasens<br />

und steigt in den Himmel auf. Wenn die Sonne<br />

höher steht, zeigt sich der erste bunte Punkt an<br />

der weiten blauen Kuppel: der Hubschrauber von<br />

Christian Sigora. »Ich komme am liebsten so um<br />

zehn. Später sind zu viele Leute hier.« Senkrecht<br />

steigt der rote Modellhubschrauber in den Himmel,<br />

dreht Loopings und verrückte Schrauben,<br />

um am Ende brav vor den Füßen des Meisters zu<br />

landen. Die kleinen Fluggeräte gingen in Tempelhof<br />

an den Start, nachdem die großen abgeflogen<br />

waren. Abends, wenn die Sonne sinkt, kleben die<br />

Modellpiloten farbige Lichter unter die Tragflächen<br />

ihrer Spielzeuge, die dann wie bunte Glühwürmchen<br />

durch die Nacht schwirren.<br />

Bald bekommt der Hubschrauber Gesellschaft<br />

von zwei Drachen. Sie gehören André und Andor,<br />

die mit Sturzhelmen, Rucksäcken und Skateboards<br />

angerückt sind. »Das ist der einzige Spot<br />

im Umkreis von 100 Kilometern«, sagt André.<br />

»Und das mitten in der Stadt. Du kannst da einfach<br />

mit der U-Bahn hinfahren!« Es sind nicht<br />

nur die langen Asphaltstreifen, die die Kite-Piloten<br />

locken: »Auf dieser riesigen Fläche hast du immer<br />

Wind. Und keine Bäume, in denen du hängen<br />

bleibst. Das ist einmalig. Manchmal sind fünfzig<br />

Kites in der Luft, ich hab sie mal gezählt.«<br />

Doch noch ist reichlich Platz im Luftraum<br />

über dem Park, und auch am Boden wird es nicht<br />

eng. Nur bei der Baumgruppe im Norden stehen<br />

zwei Campingstühle. Darin sitzen zwei Menschen<br />

und lesen. »Hier findest du immer eine<br />

Ecke, wo du komplett ungestört<br />

bist.« Ebenso ungestört fühlt<br />

sich ein junges Paar im Schutz<br />

des hohen Grases.<br />

Auch später am Tag,<br />

wenn mehr und mehr Besucher<br />

den alten Flughafen<br />

bevölkern, bleibt die<br />

Magie der Leere erhalten.<br />

Die Menschen gehen<br />

ein in diese Landschaft,<br />

weit zerstreut im<br />

dichten Grün erinnern sie<br />

an die Tiere der Serengeti, die<br />

unter den breiten Schirmen vereinzelter<br />

Bäume lagern.<br />

Tiergarten<br />

Charlottenburg<br />

Wilmersdorf<br />

Marienfelde<br />

BERLIN<br />

Mitte<br />

Kreuzberg<br />

TEMPELHOFER FELD<br />

Es ist Mittag, Christian Sigora packt<br />

seinen Hubschrauber ein. Mittlerweile herrscht<br />

lebhafter Flugbetrieb, Drachen in allen möglichen<br />

Farben und Formen bevölkern den Himmel. Drachen<br />

von alten Männern und kleinen Mädchen,<br />

von Bastlern, die 180 kleine Rauten an eine einzige<br />

Schnur reihen und sie wie eine bunte Himmelsleiter<br />

ins Blau hinaufschicken. Streetsurfer<br />

kreuzen mit ihren Segeln auf den Asphaltstreifen<br />

durch das Wiesenmeer, Mütter schieben Kinderwagen.<br />

Hunderte Menschen sind jetzt unterwegs.<br />

»Es gibt keine Regeln, keine Straßenverkehrsordnung,<br />

und alles funktioniert trotzdem! Das ist<br />

Anarchie, ein kleines Stück Freiheit«, sagt Christian<br />

Puder vom Neuköllner Stadtteilgarten Schillerkiez,<br />

einem der Pionierprojekte, die sich im<br />

Osten der Ebene ansiedeln durften. Das Projekt<br />

ist so etwas wie die grüne Außenstelle eines Bürgerzentrums,<br />

ein gemeinschaftlicher Schrebergarten.<br />

»Wir waren total überrascht, dass wir unsere<br />

großen Blumenkästen und unsere Sessel hier aufstellen<br />

durften.«<br />

Die Pachtverträge der Neuköllner sind jedoch<br />

jederzeit kündbar, sie sind sogenannte Zwischen-<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK<br />

3 km<br />

nutzer. Am Ende, so fürchten sie, kommen die<br />

Bagger. Die Stadt Berlin hat Pläne mit dem Areal.<br />

Aber noch krabbeln zwischen den Blumen, Kürbissen<br />

und meterhohen Stangenbohnen der mobilen<br />

Beete die Babys, sitzen auf ausgedienten<br />

Sofas und zusammengenagelten Liegestühlen<br />

Mütter in der Sonne. Ein Mann spielt Geige, von<br />

Ferne klingt ein Saxofon, auf der Wiese steht ein<br />

nackter Yogi seit fünf Minuten auf dem Kopf,<br />

während seine Freundin vom Lotossitz aus den<br />

Blick über die Landschaft schweifen lässt.<br />

Die Stadtgärtner gehören längst zum Sightseeing-Programm,<br />

Touristen kommen und stellen<br />

Fragen. »Wir haben schon überlegt, ob wir eine<br />

Sprachbox installieren, mehrsprachig, damit wir<br />

nicht so viel reden müssen«, sagt Puder. »Gestern<br />

war einer aus Togo da, und der fragte das Gleiche<br />

wie das ZDF letzte Woche.« Wer die Gärtnerei erlaubt<br />

habe, und warum niemand die Tomaten<br />

klaue, obwohl es doch keinen Zaun gebe.<br />

Die Besucher fotografieren Franks<br />

Sonnenstudio, diese Symbiose<br />

von Liegestuhl und Gewächs-<br />

Lichtenhaus mit drei Wänden aus<br />

berg Fensterflügeln und der offenen<br />

Tür nach Süden.<br />

»Ich hab hier im Februar<br />

mit nacktem Oberkörper<br />

Neukölln gesessen, bei offener Tür.<br />

18 Grad Innentemperatur!«<br />

Dann richten sie ihre<br />

Kameras auf all die anderen<br />

Treptow kleinen Gartenkunstwerke,<br />

die Blumen, die aus alten<br />

Schuhen, einem Autospoiler, aus<br />

einem platten Fußball sprießen, all<br />

diese kleinen Symbole des Sieges der<br />

Natur über die Zivilisation.<br />

Die wachsende Beliebtheit der Tempelhofer<br />

Freiheit missfällt dem Berliner Senat. Er will mehr<br />

als nur eine Wiese, auf der sich jeder wohlfühlt, er<br />

möchte Breschen in die Wildnis schlagen, Sport- und<br />

Spielplätze bauen, die Steppe mit einem künstlichen<br />

See und einem Kletterberg anreichern. Und am<br />

Rand des Geländes luxuriöse Wohnviertel errichten.<br />

»Brauchen wir nicht!«, sagt Michael Stachowicz,<br />

ein Rentner aus der Nachbarschaft, der Lust<br />

auf eine Brezel im bayerischen Biergarten hatte<br />

und unter der Baumgruppe am Steppenrand sitzt.<br />

»Jedes Haus, das hier gebaut wird, ist eines zu<br />

viel.« Doch der Senat hört nicht auf Stachowicz.<br />

60 Hektar sollen bebaut werden. Das ist zwar nur<br />

ein Sechstel der Tempelhofer Freiheit, einer der<br />

größten innerstädtischen Freiflächen der Welt.<br />

Aber Freiheit ist unteilbar. Schon im kommenden<br />

Jahr könnte es losgehen, und 2020 soll die Wiese<br />

den Architekten der Internationalen Bauausstellung<br />

zur Verfügung stehen.<br />

Nur ungern geben die Planer der stadteigenen<br />

Gartenfirma Grün Berlin und der zur Entwick-<br />

lung des Areals eigens gegründeten Tempelhof<br />

Projekt GmbH zu, dass der stillgelegte Flughafen<br />

offensichtlich mehr Besucher anzieht als irgendeine<br />

andere der städtischen Grünanlagen. Dass<br />

der Wildwuchs in der Mitte der deutschen Hauptstadt<br />

attraktiver ist als jeder gestaltete Park. Selbst<br />

der Senator für Stadtentwicklung erklärte: »Die<br />

Menschen haben sich diese Fläche erobert.« Und<br />

Kreuzbergs Bürgermeister fügte hinzu: »Es gibt<br />

keine Brache in dieser Stadt, die von den Berlinern<br />

so schnell besetzt wurde wie diese.«<br />

Die Sonne hat den höchsten Stand überschritten,<br />

Menschenmassen ziehen über den Columbiadamm<br />

am Nordrand des Parks. Benannt ist er nach der<br />

blechernen Miss Columbia, die 1927 nach 43 Stunden<br />

über dem Atlantik auf dem Feld von Tempelhof<br />

landete. Sie kommen mit Taschen, Decken, Picknickkörben<br />

und Sonnensegeln, mit Bällen, Boulekugeln<br />

und Schachspielen, mit Frisbeescheiben und<br />

Federballschlägern, mit Freunden und Frauen und<br />

Gästen. Sie sind braun oder weiß oder schwarz, sie<br />

tragen Turbane, Baseballkäppis, Kopftücher und<br />

Strohhüte. Sie alle haben ihren Platz gefunden auf<br />

dem Feld. 30 000 Besucher an schönen Tagen,<br />

schätzen die Statistiker des Senats. »Viel zu wenig für<br />

so eine große Fläche«, findet Christoph Schmidt von<br />

Grün Berlin. Doch wie will man ein neues Publikum<br />

anlocken, ohne das alte zu vertreiben? Die Menschen<br />

sind glücklich mit dieser Brache. Sie wollen keine<br />

künstliche Parklandschaft. Keine teure Gestaltung.<br />

Sie wollen, dass alles ganz einfach so bleibt, wie es<br />

gerade ist.<br />

Über der Grillwiese vor dem Halbkreis des alten<br />

Terminals steigen Rauchfahnen in den Himmel.<br />

Daneben kämpfen 22 Männer in kurzen<br />

Hosen um einen Ball. Schon vor 130 Jahren weihte<br />

Germania 1888 Berlin, der älteste Fußballverein<br />

Deutschlands, seinen Platz auf dem Feld ein.<br />

Diese Wiese war immer Berlins Spielwiese. Alte<br />

Kupferstiche zeigen Damen, die in wehenden<br />

Kleidern mit Drachen an der Leine über das Feld<br />

laufen, und Männer mit Schmetterlingsnetzen.<br />

Unscharfe Fotografien dokumentieren den Start<br />

von Heißluftballons und anderen bis dahin unbekannten<br />

Flugobjekten. »Dieses Feld war auch<br />

immer ein Experimentierfeld«, sagt der Landschaftsarchitekt<br />

Hermann Barges. Nur die Experimente<br />

des Senats möchte er hier nicht sehen.<br />

Barges gehört zur »Demokratischen Initiative<br />

100% Tempelhofer Feld«, die am Wochenende<br />

eine Unterschriftensammlung startet, um eine<br />

Bebauung des Feldes zu verhindern. Er ist optimistisch:<br />

»Nicht der Mensch verändert die Orte,<br />

sondern die Orte verändern den Menschen.«<br />

Am frühen Abend sind die meisten Liegestühle<br />

in der Nähe des Biergartens besetzt. Die Stadt<br />

chillt, plaudert zum Sonnenuntergang leise vor<br />

sich hin. Auch Burghard Kieker kommt mit seinen<br />

Kindern gern aufs Feld. Der Chef von Visit<br />

Berlin ist so etwas wie der geheime Tourismus-<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N No <strong>39</strong> 59<br />

senator. »Wir haben in Berlin bald drei Millionen Besucher<br />

pro Jahr, das sind Pariser Dimensionen! Diese<br />

Leute müssen verteilt werden, die dürfen nicht nur<br />

um den Reichstag kreisen.«<br />

Es wird stiller auf der Tempelhofer Freiheit, friedlich<br />

und elegant hängt die Sichel des Mondes über dem<br />

Horizont. Im hohen Gras lässt sich wieder der Herbstnebel<br />

nieder, nur vom Asphalt der Rollbahn steigt wie<br />

eine leise Erinnerung an den Sommer noch Wärme auf.<br />

Ein Radfahrer fährt ohne Licht, mit einem Radio am<br />

Lenker, aus dem Ravels Bolero tönt. Es ist finster in der<br />

Mitte Berlins. Noch immer sind Menschen unterwegs.<br />

Leises Gelächter dringt herüber aus den Inseln im Gras.<br />

Eine Gitarre klingt, Feuerzeuge flackern, der blaue<br />

Schein der Telefone: kleine menschliche Leuchtfeuer in<br />

der Steppe, während in der Ferne wieder der Lichterzug<br />

der S-Bahn vorüberzieht.<br />

A www.zeit.de/audio<br />

Der »Park der<br />

Tempelhofer<br />

Freiheit« am Abend.<br />

Die hölzernen<br />

Vögel wurden von<br />

Schülern aufgestellt<br />

Foto: Pierre Adenis/laif


60 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> No 60 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N <strong>39</strong> REISEN<br />

o <strong>39</strong><br />

Aerolineas<br />

Argentinas,<br />

Argentinien<br />

(1978–92)<br />

United<br />

Airlines,<br />

USA<br />

(1968–70)<br />

Braniff<br />

International,<br />

USA<br />

(1966–68)<br />

Air France,<br />

Frankreich<br />

(1987–98)<br />

Southwest<br />

Airlines,<br />

USA<br />

(1995–2004)<br />

Caledonian<br />

Airways,<br />

Großbritannien<br />

(1990)<br />

Braniff<br />

International,<br />

USA<br />

(1973–74)<br />

Emirates,<br />

Arabische<br />

Emirate<br />

(1990–2009)<br />

Alle meine Stewardessen<br />

Ob gelb, ob rot, ob blau – Cliff Muskiet liebt die Uniformen der Flugbegleiterinnen. 1134 Kostüme hat er bereits gesammelt. Ein Gespräch über Rocklängen und den Traum vom Fliegen<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Herr Muskiet, Sie arbeiten als Purser<br />

für die KLM. Unterwegs suchen Sie an freien<br />

Tagen oft die Büros anderer Fluggesellschaften<br />

auf und fragen nach Stewardessen-Uniformen<br />

für Ihre Sammlung. Wie reagieren die Kollegen<br />

anderer Airlines auf Ihre Sammelleidenschaft?<br />

Cliff Muskiet: Für mich ist das ein unschuldiges<br />

Hobby. Aber manche Fluggesellschaften sehen das<br />

offenbar anders – besonders japanische und chinesische.<br />

Auf Mail-Anfragen reagieren die erst gar<br />

nicht. Und wenn ich vorbeischaue, heißt es, die<br />

Abgabe einer Uniform sei gefährlich. Ein Fremder,<br />

entsprechend eingekleidet, könne eines der Flugzeuge<br />

betreten und Menschen entführen. Ich habe<br />

einen Stewardessen-Hut von Japan Airlines aus<br />

den siebziger Jahren, und mir fehlt die Uniform<br />

dazu. Es scheint aber aussichtslos, über die Fluglinie<br />

dranzukommen. Das ist frustrierend.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Immerhin haben Sie schon 1134 Stewardessen-Uniformen<br />

von 443 Airlines, allesamt<br />

dokumentiert auf Ihrer Website Uniformfreak.<br />

com. Was war Ihr letztes Erfolgserlebnis?<br />

Muskiet: Vor ein paar Wochen<br />

war ich in Angola. KLM hat die<br />

Strecke nach Luanda erst kürzlich<br />

aufgenommen. Normalerweise<br />

arbeite ich auf Flügen nach Amerika<br />

oder Asien. Für Luanda habe<br />

ich mich extra beworben, weil ich<br />

noch keine angolanische Uniform<br />

besaß. Und es ist mir tatsächlich<br />

gelungen, ein komplettes Outfit<br />

von Angola Airlines zu bekommen.<br />

Diese Mission ist erfüllt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Da hat Sie keiner komisch<br />

angeguckt?<br />

Muskiet: Nein, ich betrat das Büro in meiner<br />

KLM-Uniform, zeigte Fotos aus meiner Sammlung,<br />

ein paar Artikel aus der Presse, schließlich<br />

meine Website. Das überzeugt meistens.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Es geht Ihnen nur um den weiblichen<br />

Dress?<br />

Muskiet: Kleidung für Männer finde ich langweilig.<br />

Dunkelblauer Anzug, weißes Hemd, das<br />

ist es in der Regel. Stewardessen-Uniformen sind<br />

viel verspielter, haben mehr Accessoires.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was macht für Sie eine schöne Uniform<br />

aus?<br />

Muskiet: Ein Hut ist das Sahnehäubchen jeden<br />

Outfits. Besonders die Pillbox-Hüte aus den sechziger<br />

Jahren gefallen mir. Damit sticht eine Frau<br />

aus der Masse hervor. Die Sechziger waren überhaupt<br />

eine spannende Zeit, es gab Uniformen in<br />

verschiedenen Farben, in Gelb, Orange, Lila. Es<br />

gab kurze Röcke, lange Röcke, Hosen, Hütchen ...<br />

<strong>ZEIT</strong>: Besonders Braniff International scheint<br />

experimentierfreudig gewesen zu sein.<br />

Muskiet: Deren Uniformen sind besonders. Die<br />

Outfits waren bunt, fast psychedelisch und sind<br />

heute so etwas wie Sammlerstücke. Für Stewardessen<br />

waren die Uniformen gewagt. Aber in den<br />

späten sechziger Jahren ging es noch darum,<br />

hauptsächlich männliche Kunden anzulocken.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Heute ist alles dezenter geworden?<br />

Muskiet: Ja, viele Flugbegleiterinnen gleichen einander.<br />

Blaue Kostüme, weiße Blusen, goldene<br />

Knöpfe am Ärmel. In den USA unterscheiden<br />

sich American Airlines oder United kaum mehr.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Haben Sie eine Erklärung für das viele<br />

Blau?<br />

Muskiet: Blau ist eine einfache Farbe, sie passt zu<br />

blonden wie brünetten Typen, wirkt professionell,<br />

und wenn Kaffee verschüttet wird, sieht man die<br />

Flecken nicht so stark wie bei helleren Farben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sammeln Uniformen aus allen Jahrzehnten.<br />

Welche Trends können Sie ablesen?<br />

Muskiet: In den späten sechziger und frühen siebziger<br />

Jahren kamen kurze Röcke oder Hosen in<br />

Mode. In den achtziger Jahren gingen die Röcke<br />

wieder bis über die Knie, die Jacketts wurden in<br />

den Schultern breiter. Ab den neunziger Jahren<br />

durften Frauen die Röcke erneut höher tragen,<br />

dafür verengten sich die Schultern. Insgesamt ha-<br />

Hughes<br />

Airwest,<br />

USA<br />

(1970)<br />

Cliff Muskiet arbeitet als<br />

Flugbegleiter für die<br />

niederländische KLM<br />

ben sich die Stoffe sehr verbessert. Früher war fast<br />

alles aus Polyester – ein extrem brennbares Material.<br />

Heute dominieren Wolle oder Baumwolle.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sehen Sie regionale Besonderheiten?<br />

Muskiet: Wenige. Im Nahen Osten gibt es Air-<br />

lines wie Emirates, wo Stewardessen einen kleinen<br />

Schleier an den Hüten haben. Im Fernen<br />

Osten tragen Frauen bei Singapore und Malaysia<br />

Airlines eine Art Sarong – bodenlange Röcke, die<br />

typisch für die Länder sind.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie hat es eigentlich begonnen mit Ihrer<br />

Uniform-Obsession?<br />

Muskiet: Über meine Begeisterung für die Luftfahrt.<br />

Seit meiner Kindheit sammle ich alles, was<br />

mit Fliegen zu tun hat. Uniformen von Polizistinnen<br />

oder Schiffs-Stewardessen würden mich<br />

nicht die Bohne interessieren.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und woher kam die Faszination für die<br />

Luftfahrt?<br />

Muskiet: Genau kann ich das gar nicht sagen.<br />

Jedenfalls fing es mit einem Flug im Jahr 1970<br />

von New York nach Amsterdam an.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was ist damals passiert?<br />

Muskiet: Nicht viel. Es war ein<br />

Nachtflug, ich war fünf Jahre alt<br />

und schlief sofort ein. Als ich in<br />

Amsterdam aufwachte, war ich<br />

so enttäuscht, den Flug verschlafen<br />

zu haben, dass ich alle möglichen<br />

Andenken daran mitnahm:<br />

die Kotztüten, Servietten, Sicherheitskarten<br />

...<br />

<strong>ZEIT</strong>: ... weil Sie den Flug nachholen<br />

wollten, den Sie verpasst<br />

hatten?<br />

Muskiet: Wahrscheinlich. Von da<br />

an malte ich nur noch Flugzeuge, baute Modellflieger,<br />

hängte mir Poster von Boeings an die<br />

Wand und ging mit 14 Jahren regelmäßig in die<br />

Büros der Fluggesellschaften, um mir neue Sticker,<br />

Flugpläne oder Broschüren abzuholen. Ich wusste:<br />

Eines Tages würde ich an Bord eines Flugzeuges<br />

arbeiten – und zwar als Steward. Schon mit 15<br />

jobbte ich dann jeden Sommer freudig für eine<br />

Reinigungsfirma, die Flugzeuge säuberte.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und wann ging Ihr Flugbegleiter-Traum<br />

in Erfüllung?<br />

Muskiet: Mit 21 Jahren durfte ich nach einer<br />

fünfmonatigen Unterweisung zum ersten Mal in<br />

Uniform fliegen. Es war Flug KL 235 nach München.<br />

Eine DC 9 am 9. Februar 1987 – einer der<br />

glücklichsten Momente meines Lebens.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Viele, die den gleichen »Traumjob« haben<br />

wie Sie, versuchen sich heute bessere Arbeitsbedingungen<br />

zu erstreiken. Hat der Beruf an Attraktivität<br />

eingebüßt?<br />

Muskiet: Nicht für mich. Heute werden zwar<br />

mehr Passagiere befördert als vor 25 Jahren, und<br />

wir müssen alle härter arbeiten. Aber ich fühle<br />

mich immer noch am richtigen Platz.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Welches wäre der richtige Platz für Ihre<br />

Sammlung? Ein Museum?<br />

Muskiet: Einen Ausstellungsort kann ich mir<br />

nicht leisten. Im Moment ist alles in meiner<br />

Vierzimmerwohnung in Amsterdam verstaut.<br />

In der nahen Zukunft würde ich gern ein Coffee-Table-Buch<br />

herausgeben, für das Models in<br />

meinen Uniformen fotografiert werden. Fünf<br />

Verleger haben mich kontaktiert, aber bisher ist<br />

jedes Projekt an zu hohen Produktionskosten<br />

gescheitert.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Hand aufs Herz: Wenn Sie allein sind mit<br />

ihren Uniformen, ziehen Sie sich dann manchmal<br />

eine an?<br />

Muskiet: Als ich in den 80er Jahren von einer<br />

Freundin meiner Mutter die allererste Uniform<br />

geschenkt bekam, ein KLM-Outfit aus den Siebzigern,<br />

da habe ich die mal anprobiert. Aber das<br />

war’s. Ich bin 1,89 Meter groß, die Uniformen<br />

sind viel zu klein. Ich würde doch ziemlich blöd<br />

darin aussehen.<br />

Interview: ULF LIPPITZ<br />

Air New<br />

Zealand,<br />

Neuseeland<br />

(1992–2006)<br />

Foto: Cliff Muskiet


REISEN<br />

Ein Stück vom Himmel<br />

Seit vielen Jahrzehnten reisen Juden in die Schweizer Alpen. Doch von den koscheren Hotels ist nur eines geblieben,<br />

das Metropol in Arosa. Jeder Gast sei ein Gottesgeschenk, sagen seine Besitzer, die Levins VON PAULA SCHEIDT<br />

Zur Abendessenszeit sind die gedeckten<br />

Tische im Hotel Metropol unbesetzt,<br />

nur an einem löffelt ein älterer Herr mit<br />

grauen Schläfenlocken und Kippa auf<br />

dem Kopf bedächtig seine Suppe. Ab<br />

und zu hebt der einsame Gast den Blick und betrachtet<br />

die Alpengipfel, die sich vor der Fensterfront<br />

erheben. Die Kellnerin beobachtet ihn aus<br />

einiger Entfernung; als er den Löffel ablegt, kommt<br />

sie, räumt das Suppenschälchen ab und bringt den<br />

Hauptgang: Rinderbraten, Nudeln und Erbsen-<br />

Karotten-Gemüse. Der Gast kann nicht sehen, dass<br />

das Fleisch von einem geschächteten Tier stammt<br />

und im richtigen Topf zubereitet wurde. Aber er<br />

kann sich darauf verlassen, deshalb ist er hier.<br />

Weder der Hauptgang noch die Vorspeise oder<br />

das Dessert, ein Stück Apfelkuchen, enthalten Milchprodukte.<br />

Orthodoxe Juden müssen Milch und<br />

Fleisch zu getrennten Mahlzeiten essen, und das<br />

Metropol ist ein jüdisches Hotel. In der Küche verwenden<br />

die Angestellten unterschiedliches Geschirr<br />

für milchige und fleischige Speisen. Es gibt kein<br />

Schweinefleisch. Und der Wein ist koscher, was unter<br />

anderem bedeutet, dass die Trauben erst im vierten<br />

Jahr nach der Pflanzung geerntet und alle Geräte<br />

unter der Aufsicht eines Rabbiners gesäubert wurden.<br />

Marcel Levin, Besitzer des Hotels, mit dichtem<br />

grauem Bart, Nadelstreifenanzug und Kippa auf dem<br />

Kopf, macht einen Rundgang durch seinen leeren<br />

Speisesaal. Die Vorhänge sind von der Sonne ausgeblichen,<br />

von den Fensterrahmen bröckelt an einigen<br />

Stellen die Lackierung. Er begrüßt seinen einzigen<br />

Gast mit Händedruck. Der möchte wissen, wie lange<br />

denn die Saison dauern werde in diesem Jahr. Herr<br />

Levin seufzt und antwortet in einer Mischung aus<br />

Iwrit und Hochdeutsch: »Früher wussten wir immer,<br />

wie viele Gäste wir erwarten und wie lange sie bleiben.<br />

Heute ist jeder einzelne Gast ein Geschenk Gottes.«<br />

Der andere nickt, er weiß, wovon die Rede ist. Seit<br />

vier Generationen macht seine Familie hier jedes Jahr<br />

Ferien, sie reisen von Jerusalem an. In den 1980er<br />

Jahren gab es noch sechs koschere Hotels in den<br />

Schweizer Alpen, doch nach und nach haben fast alle<br />

den Kampf um die jüdischen Gäste verloren: das<br />

Silberhorn in Grindelwald, das Edelweiß in St. Moritz,<br />

das Palace in Scuols. Heute ist das Metropol in<br />

Arosa das einzige, das noch übrig ist. Aber auch zu<br />

den Levins kommen von Jahr zu Jahr weniger Gäste.<br />

Viele haben finanzielle Gründe. Sie entscheiden<br />

sich lieber für eine Ferienwohnung, seit einige Vermieter<br />

begonnen haben, sich auf die Wünsche jüdisch-orthodoxer<br />

Gäste einzustellen. Die Eigentümer<br />

schalten am Freitagabend etwa den Bewegungsmelder<br />

vor dem Haus aus, weil Juden am Sabbat keine elektrischen<br />

Geräte betätigen dürfen. In einer Wohnung<br />

können fünf Personen zu einem Preis übernachten,<br />

den im Metropol eine einzige bezahlt. Wenn die<br />

Wohnung in der Nähe des Hotels liegt, können die<br />

Urlauber trotzdem noch zum Essen, Beten und<br />

Freunde treffen dorthin gehen.<br />

Die größere Bedrohung für das Metropol aber<br />

ist eine andere. Seit der schwache Euro manchen<br />

Touristen einen Bogen um die Schweiz machen<br />

lässt, stehen einige Hotels leer; nur hin und wieder<br />

werden sie für ein paar Wochen verpachtet, etwa<br />

an Pauschalreisen-Veranstalter. Seit einigen Jahren<br />

quartieren sich in der Hochsaison auch geschäftstüchtige<br />

Hoteliers aus Israel darin ein. Diese Kurzzeithoteliers<br />

müssen im Gegensatz zu den Levins<br />

weder Instandhaltungskosten für das Gebäude bezahlen<br />

noch Schweizer Sozialversicherungsbeiträge<br />

für die Angestellten oder teure Schweizer Lebensmittel.<br />

Alles, was sie brauchen, bringen sie aus dem<br />

Ausland mit, vom Suppenpulver über die Gebetsbücher<br />

bis zum Personal – und sogar die Gäste:<br />

Die Kurzzeithoteliers werben gezielt in Israel für<br />

ihr Angebot wie für ein Ferienlager.<br />

Diese Entwicklung hat inzwischen auch die Levins »Um einen Apfel ernten zu können, pflanzt man ei-<br />

erfasst: Die sechs Kinder der Familie reisen jeden nen Baum, der wächst von allein; und wenn er groß<br />

Sommer aus London, Tel Aviv und Zürich an und ist, muss man nur den Arm ausstrecken und die<br />

quartieren sich in Davos im ehemaligen Sheraton ein, Äpfel pflücken. Für eine Kartoffel muss man erst mit<br />

das heute Derby heißt. »The Levin Family invites you dem Pflug Furchen in den Acker ziehen, dann wird<br />

this Summer to join them for a High Class Kosher Ho- gesät, und wenn die Kartoffeln reif sind, muss man<br />

liday in the ****Derby Davos – Switzerland«, steht auf jede ausgraben.« Herr Levin ist der Ansicht, dass Gott<br />

der Homepage. Das Haus hat 200 Betten, mehr als absichtlich nicht nur Äpfel, sondern auch Kartoffeln<br />

doppelt so viele wie das Metropol, und einen Pool. erschaffen hat. Die Menschen sollen nicht immer den<br />

In Arosa gibt es nur ein öffentliches Bad.<br />

leichten Weg gehen, sondern auch die Mühen des<br />

Beinas Levin war es, der Vater des heutigen Hotel- Kartoffelanbaus auf sich nehmen. Vielleicht ist das<br />

besitzers, der die jüdischen Gäste ursprünglich nach Metropol sein persönlicher Kartoffelacker.<br />

Arosa holte. Anfang der 1930er Jahre kam er von Das Hotel liegt an der Hauptstraße von Arosa, die<br />

Russland nach Davos, weil er an Tuberkulose litt und<br />

die Kurorte in den Bündner Bergen für ihre heilende<br />

Wirkung weltbekannt waren. Von der Krankheit<br />

kuriert, zog er weiter nach Arosa und eröffnete das<br />

erste und einzige koschere Hotel im Ort. »Auf sanfter<br />

Höhe (...) steht das Hotel Metropol, das seit einigen<br />

Jahren in bestimmten Sommer- und Wintermonaten<br />

Treffpunkt jüdischer Menschen ist, die sich in die<br />

Berge flüchten, wo sie am schönsten sind und wo die<br />

Schneedecke noch blendend leuchtet, wenn unten<br />

bereits die Alpenrosen blühen«, schrieb die Zeitschrift<br />

Israelit im Jahr 1935. Neben der Faszination, die die<br />

Bergwelt auf viele Städter ausübt, haben die Alpen<br />

für Juden traditionell eine besondere Bedeutung: Der<br />

Fels steht in der Thora bildhaft für Gott, Gipfel symbolisieren<br />

die Berührung von Irdischem und Göttlichem.<br />

Vom Begründer der jüdischen Neoorthodoxie<br />

Samson Raphael Hirsch ist der Satz überliefert:<br />

»Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige<br />

mich fragen: Hast du meine Alpen gesehen?«<br />

Als Beinas Levin das Metropol in den 1980er<br />

Jahren seinem Sohn übergab, hatte das Hotel schon<br />

manch dunkle Zeit überstanden. In den Jahren des<br />

Nationalsozialismus machten auch viele Nazis Urlaub<br />

in den Schweizer Alpen – die Stimmung zwischen<br />

den Gästen war nicht zum Besten. Später wurden die<br />

jüdischen Urlauber ebenfalls nicht immer herzlich<br />

empfangen. Manche Leute, denen die vielen frommen<br />

Juden nicht passten, nannten das Hotel abschätzig<br />

»Arosalem«.<br />

Nachdem das Frühstücksbüfett abgeräumt ist, holt<br />

Lea Levin ihre Einkaufstasche, um ein paar Dinge im<br />

Dorf zu erledigen. Sie trägt einen dunklen, langen<br />

Rock und blickdichte Nylonstrümpfe, p wie<br />

es sich für eine fromme Jüdin gehört, ört,<br />

jedoch keine Perücke wie einige e<br />

ihrer besonders gläubigen weiblichen<br />

Gäste. Anfangs war Frau<br />

Levin nicht begeistert von der<br />

sich vom Bahnhof den Berg hinauf windet. Sie führt<br />

Idee, ihren Job als Kindergärtnerin<br />

aufzugeben, um das Hotel<br />

des Schwiegervaters mitzuübernehmen.<br />

»Gäste sind wie<br />

SCHWEIZ<br />

Grindelwald<br />

Davos<br />

AROSA Scuol<br />

Graubünden<br />

durch das Zentrum des<br />

2600-Einwohner-Dorfes,<br />

Kinder«, überredete ihr Mann<br />

St. Moritz vorbei am Supermarkt, der<br />

sie schließlich doch. Ein Satz, der<br />

Bäckerei B und dem Sportgeschäft<br />

ihr geblieben ist.<br />

– und wenn man bis zum Ende<br />

Bis zum Fotofachgeschäft sind es<br />

nur ein paar Schritte die Straße hinunter. unter.<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK<br />

50 km<br />

geht geht, dann liegt dort das »Eggahuus«,<br />

huus«, das Heimatmuseum: ein hüb-<br />

Lea Levin, die in Israel geboren ist, fragt die<br />

sches altes Chalet mit roten Fensterläden<br />

Verkäuferin in fast perfektem Schweizerdeutsch, und Blumen im Vorgarten. Hier ist alles dokumen-<br />

welche Postkartenmotive sie zur Auswahl habe. Ihre tiert, was in Arosa Bedeutung hat. Fotos von Turnver-<br />

Gäste schicken gerne Grüße nach Hause. Frau Levin einsfesten und Skirennen sind ausgestellt, antike<br />

entscheidet sich für ein Gipfelpanorama, einen Berg- Blechtöpfe und Landkarten. Nachmittags treffen sich<br />

see, eine Blumenwiese, Arosa von oben; insgesamt ein paar Einheimische im Museum zu Kaffee und<br />

bestellt sie 75 Karten. Als Nächstes betritt sie die Tal- Kuchen. Die Familie Levin? Ist nicht dabei und war<br />

station der Gondelbahn. Hier können Hotelbesitzer nie hier; und umgekehrt hat keiner der Anwesenden<br />

für ihre Gäste die Arosa-All-inclusive-Card abholen, das Metropol je betreten. Nur Renzo Semadeni, der<br />

mit der man verschiedene Vergünstigungen bekommt. Dorfhistoriker, hat dort mal ein Glas Wein getrunken,<br />

Lea Levin nimmt 200 Karten mit. Ob sie die braucht, aus geschäftlichen Gründen. Als Kind ist er mit Mar-<br />

ist ungewiss.<br />

cel Levin zur Schule gegangen. Der und seine Ge-<br />

Es gibt ein Gleichnis, das Marcel Levin seinen schwister waren die Einzigen, die am Samstag, dem<br />

Gästen gern erzählt, das Gleichnis vom Apfel und der Sabbat, ihren Schulranzen nicht tragen durften, das<br />

Kartoffel. »Worin besteht der Unterschied zwischen machten dann die Schulkameraden für sie. Semadeni<br />

den beiden?«, fragt er und gibt selbst die Antwort: holt dicke Chroniken aus dem Regal und blättert<br />

ÖSTER- ÖSTER-<br />

REICH REICH<br />

ITALIEN ITALIEN<br />

darin. Ein einziger Satz erwähnt die Ankunft von<br />

Marcel Levins Vater im Ort, mehr ist nicht zu finden<br />

über die Familie oder das Hotel. »Es ist, als ob es<br />

dieses Thema hier einfach nicht gibt«, sagt Semadeni.<br />

Nachmittags zieht Marcel Levin sich einen Fahrradhelm<br />

über die Kippa und Bikerhandschuhe an,<br />

steigt auf sein silberfarbenes Mountainbike und radelt<br />

einen der vielen Schotterwege den Berg hinauf. Auf<br />

Höhe der Mittelstation macht er Pause, setzt sich auf<br />

eine Bank und atmet tief durch, bevor es wieder hinunter<br />

geht. Die rauschenden Bäche, das Gebimmel<br />

der Kuhglocken, die gepflegten Wanderwege: Das<br />

alles liebt er, auch wenn es von oben aussieht wie die<br />

Kulisse eines kitschigen Heimatfilms. Manchmal<br />

nimmt er auch einen seiner Gäste aus Tel Aviv, New<br />

York oder Antwerpen mit auf eine Mountainbiketour.<br />

Marcel Levin setzt darauf, dass manche Urlauber<br />

auch weiter lieber in seinem Familienhotel nächtigen<br />

als im Derby mit seinen 200 Betten: Weil die Levins<br />

einen Gast, der nachts einen Schwächeanfall bekommt,<br />

nach Chur ins Krankenhaus fahren. Weil sie<br />

suchen helfen, wenn sich ein Kind verlaufen hat. Weil<br />

ihre Angestellten jeden Gast mit Namen ansprechen.<br />

Und wenn jemand seine Mahlzeit ungesalzen essen<br />

möchte, wird das in der Küche berücksichtigt.<br />

Das moderne Kurzzeithotel der Kinder in Davos<br />

will Marcel Levin nicht als Konkurrenz betrachten:<br />

Ist doch positiv, dass die nächste Generation etwas<br />

Eigenes auf die Beine gestellt hat. Wenn man die<br />

Telefonnummer der Levins wählt, hebt neuerdings<br />

nicht mehr Frau Levins ältere Schwester den Hörer<br />

ab. Sondern eine automatische Stimme sagt am anderen<br />

Ende der Leitung: »Drücken Sie die 1 für<br />

Davos oder die 2 für Arosa.«<br />

Hotel Metropol, Poststraße, 7050 Arosa, Schweiz,<br />

Tel. 0041-81/378 81 81, www.levinarosa.com<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 61<br />

Orthodoxe Juden<br />

in der Seilbahn an<br />

der Talstation<br />

Diavolezza bei<br />

Sankt Moritz<br />

Foto: Patricia Schon & Michael Melcer/foto@melcer.de


REISEN<br />

Der Kerker in der umbrischen<br />

Kleinstadt Narni liegt drei Meter<br />

unter der Erde. Höchstens<br />

acht Quadratmeter ist die Zelle<br />

groß. Durch eine vergitterte<br />

Öffnung in der Decke gelangt Licht herein und<br />

fällt auf die Zeichen an den Wänden: Striche für<br />

abgesessene Stunden, Kreuze, geheimnisvolle<br />

Zahlenfolgen, eine aufgehende Sonne, ein abnehmender<br />

Mond. Neben der Kerkertür ist ein<br />

Satz tief in den Stein eingekerbt, die Buchstaben<br />

ziehen sich über die gesamte Länge der Wand.<br />

Offenbar wollte ihr Graveur sicherstellen, dass<br />

sie die Zeit überdauern: »Ich, Giuseppe Andrea<br />

Lombardini, wurde hier am 4. Dezember 1759<br />

eingekerkert.« Darunter ein weiteres Wort, fast<br />

unlesbar, man muss ganz nah herangehen, um<br />

es zu entziffern: »innocente«, unschuldig.<br />

»Lombardini – jahrzehntelang hat mich<br />

dieser Name verfolgt«, sagt Roberto Nini. Er<br />

hat den Kerker entdeckt, als er 19 Jahre alt<br />

war. Heute ist er 53, ein schlanker Mann,<br />

hochgewachsen und ungewöhnlich blass für<br />

einen Italiener. Das graue Haar hat er zum<br />

Seitenscheitel gekämmt. Nini redet schnell,<br />

mit heiserer Stimme. Wenn er geht, hält er<br />

den Kopf geduckt und bewegt kaum die<br />

Arme, als ob er unbemerkt bleiben wolle.<br />

Umso mehr überrascht die Entschlossenheit in<br />

seinen Worten, als er sagt: »Lombardinis Geschichte<br />

musste ans Licht.«<br />

Gut eine Stunde braucht der Zug von Rom<br />

nach Narni. Die meisten Touristen fahren vorbei<br />

und ahnen nichts von den kulturellen Schätzen<br />

der Stadt, die sich auf einem Hügel erhebt: Einst<br />

stand hier eine der größten Brücken, die die Römer<br />

je gebaut haben, die Ponte d’Augusto. Einer<br />

ihrer ehemals vier Bögen ragt noch immer empor<br />

aus dem Nera, ein kolossales Tor von 30 Metern<br />

Höhe. Der jahrtausendealte Aquädukt, der unterirdisch<br />

die Stadt durchzieht, ist begehbar, man<br />

kann hinabsteigen und durch die Wasserleitung<br />

spazieren. Und ganz oben auf der Hügelkuppe<br />

thront die Festung Albornoz – im Mittelalter ein<br />

Bollwerk päpstlicher Macht.<br />

Am Ortsrand steht eine mächtige Dominikanerkirche.<br />

Nur wenige Meter entfernt davon<br />

fällt eine Schlucht steil ab in die Tiefe; auf der<br />

anderen Seite erheben sich die Felszähne des<br />

Apennin, und alte Klöster ragen aus den bewaldeten<br />

Gebirgshängen. »Auch hier oben<br />

stand mal ein Kloster«, sagt Nini und deutet<br />

auf ein paar überwachsene Mauerreste hinter<br />

der Kirche: »Päpste und Kardinäle kamen auf<br />

ihren Reisen darin unter.«<br />

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude<br />

zerstört, ein Gärtner baute später zwischen den<br />

Trümmern Gemüse an. Nini kann sich noch erinnern,<br />

wie er und seine Freunde an einem Nachmittag<br />

im Mai 1979 an einer der Steinmauern<br />

das Abseilen übten. Damals war er der Anführer<br />

einer Gruppe Jugendlicher, die sich banda del<br />

buco, die Höhlenbande, nannte. Kein Brunnen,<br />

kein Schacht in Narni war vor ihnen sicher.<br />

»Du Elender!«, schrie ihn der Gärtner an,<br />

als Nini bei seinen Übungen auf ein Gemüsebeet<br />

fiel und den Salat zertrampelte. Als der alte<br />

Mann jedoch von den Kletterkünsten der Jungen<br />

erfuhr, erzählte er ihnen von einem Schatz,<br />

der unter den Trümmern vergraben sein sollte.<br />

Er führte sie zum einzigen intakten Raum der<br />

Klosterruine – eine unterirdische Kammer im<br />

Nachbargarten, bei den Gandolfis. Die Familie<br />

nutzte sie als Lagerraum. An der hinteren<br />

Wand befand sich eine zugemauerte Tür. Nini<br />

und seine Freunde brannten darauf, die Mauer<br />

einzuschlagen, doch die Gandolfis verboten es.<br />

Zu gefährlich, sagten sie. Nini lächelt und zieht<br />

Schultern und Augenbrauen hoch.<br />

Seine Freunde und er, erzählt er, hätten den<br />

Corsa all’Anello abgewartet, Narnis bedeutendstes<br />

Stadtfest. Der ganze Ort war an jenem<br />

Abend auf der Straße, Trommlergruppen zogen<br />

durch die Stadt, niemand hörte, wie die sechs mit<br />

Axt und Hammer die Mauer einschlugen. Ganz in<br />

der Nähe waren sie erst kurz zuvor bei einer ihrer<br />

Expeditionen auf eine unterirdische Kirche gestoßen.<br />

Doch der Raum, den sie nun fanden, übertraf<br />

all ihre Erwartungen.<br />

Die Aufregung ist Nini immer noch anzuhören,<br />

wenn er Touristen heute seine Entdeckung zeigt. Nach<br />

der eingeschlagenen Türe folgt ein enger Gang – dann<br />

ist man da: An den Wänden des Gewölbes brennen<br />

Fackeln, auf dem Boden stehen Kopien mittelalterlicher<br />

Foltergeräte, eine Streckbank, eine Daumenschraube.<br />

Von der Decke hängt ein Strick, mit dem<br />

die Arme der Gefangenen ruck artig in die Höhe gerissen<br />

wurden. Die Gräuelwerkzeuge hat Nini nachträglich<br />

hergebracht. Damals, im Frühjahr 1979, war<br />

der Saal leer, und die Jungen wussten nichts über<br />

seine Geschichte. »Aber wir fanden Knochen«, sagt<br />

Nini. Und hinter einer Holztüre, die von dem Raum<br />

wegführt, den Kerker. An der Wand gegenüber von<br />

Lombardinis Namen entdeckten sie außerdem die<br />

Inschrift »S. Uffizio« – der Palazzo del Sant’Uffizio,<br />

das Gebäude der In qui si tionszentrale im Vatikan.<br />

Gegen Mitte des 16. Jahrhunderts hatte die In quisi<br />

tion in Italien an Schärfe zugenommen. Luther, dem<br />

Reformator, liefen die Menschen in Scharen zu, der<br />

Papst musste handeln – und gründete die Heilige Römische<br />

und Universale Inquisition mit zwölf Kardinälen<br />

an der Führungsspitze. Diese sollten über die<br />

reine Lehre des Katholizismus wachen. Stellvertreter<br />

wurden in die Provinz entsandt. Bald waren Nord-<br />

und Mittelitalien von einem feinmaschigen Netz an<br />

In qui si tions ge rich ten überzogen.<br />

»Was genau geschah hier unten 1759 mit Lombardini?<br />

Das haben wir uns damals gefragt«, sagt<br />

Nini im flackernden Licht der Fackeln. »Hatte hier<br />

im Verborgenen etwa eines der lokalen In qui si-<br />

Henit amet aliquam commy nostrud<br />

magna feugue facilla feugiam<br />

volorUdit que nusamus cipita<br />

andit fugitatenim remod est aut<br />

aut alique maionseque quibus<br />

aut everumet etur? Qui odiaectae<br />

ea nimaio voluptatem net<br />

laceptatiat qui a voluptam et, ate<br />

Der Gefangene von Narni<br />

Giuseppe Lombardini war ein Opfer der Inquisition. Drei Jahrzehnte lang hat der Historiker Roberto Nini<br />

den Fall erforscht. Heute zeigt er Touristen den Kerker in der umbrischen Hügelstadt VON JULIA REICHARDT<br />

tionsgerichte getagt?« Priester und Henker, die über<br />

Ketzer, Ehebrecher und Gotteslästerer richteten<br />

und Abtrünnige so lange quälten, bis sie mit letzter<br />

Kraft abschworen? Der Gedanke schien zu unheimlich,<br />

um wahr zu sein. »Wem immer wir unsere<br />

Vermutungen erzählten: Die Leute hielten uns<br />

für verrückt«, sagt Nini. »Einige glaubten sogar, wir<br />

hätten die Zeichen selbst in die Wände geritzt.«<br />

Nach dem Kerkerdunkel blendet draußen grell das<br />

Tageslicht. Der Ort liegt verschlafen in der Sonne; nur<br />

ein paar dreirädrige Kleintransporter rasen durch die<br />

Gassen. Wie Rapunzelzöpfe hängen Efeuranken<br />

von mittelalterlichen Türmen.<br />

Statt Souvenirs stehen Pasta tüten<br />

und Haarfärbemittel in den<br />

Schaufenstern. Von den Fassaden<br />

flattern die Wimpel vom<br />

vergangenen Stadtfest. In den<br />

Cafés sitzen alte Männer in<br />

Unterhemden, mit weit über<br />

den Bauch gezogenen Hosen.<br />

An der Piazza dei Priori,<br />

einem von Palazzi umgebenen<br />

Platz im Zentrum, liegt die Bibliothek.<br />

Im Lesesaal schlägt Nini<br />

ein in Leder gebundenes Buch auf: Er<br />

will die ersten Indizien zeigen, die er<br />

Orvieto<br />

Perugia<br />

UMBRIEN RIEN<br />

NARNI<br />

Nera<br />

damals für seine These fand. Der Band enthält<br />

Narnis Magistratsbeschlüsse vom Anfang des 18.<br />

Jahrhunderts. »Mittwoch, 17. April 1726:«, steht<br />

auf Seite 65 mit schwarzer Tinte in lateinischer<br />

Sprache, »Domenico Sciabocco wurde von der Heiligen<br />

In qui si tion wegen illegaler Heirat in den Kerker<br />

von S. Maria Maggiore gesperrt.« Santa Maria<br />

Maggiore: So hieß, das hatte er inzwischen herausgefunden,<br />

die unterirdische Kapelle neben dem<br />

Kerker. Damit war bewiesen: Auch in Narni hatte<br />

die In qui si tion gewütet.<br />

Terni<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK<br />

20 km<br />

Für viele Hobbyforscher wäre die Suche nach<br />

diesem Fund zu Ende gewesen. Für Nini aber fing sie<br />

erst richtig an. »Ich hatte das Verlies entdeckt«, sagt<br />

er. »Und der Name an der Wand, Giuseppe Andrea<br />

Lombardini, ließ mich nicht mehr los.« Seinetwegen<br />

studierte er Archäologie und mittelalterliche Geschichte,<br />

gründete später den Verein Narni Sotterranea,<br />

Unterirdisches Narni. Mit Spendengeldern ließ er die<br />

Kerkerräume restaurieren. Mehrfach beantragte Nini<br />

auch eine Forschungserlaubnis für das Archiv im Palazzo<br />

del Sant’Uffizio in Rom, wo 4500 Aktenbündel<br />

in 27 Sälen lagern, ein halbes Jahrtausend<br />

In qui si tion. Doch der Vatikan schwieg.<br />

Erst im Jahr 2006 nahm die Recherche<br />

eine unverhoffte Wendung.<br />

Ein Archivar, der an Ninis<br />

Spoleto<br />

ROM<br />

LATIUM M<br />

Kerkerführung teilgenommen<br />

hatte, verschaffte ihm die lang<br />

ersehnte Forschungserlaubnis<br />

für das In qui si tions archiv. Einen<br />

Monat lang pendelte Nini<br />

zwischen Narni und Rom, jede<br />

freie Minute verbrachte er mit<br />

Protokollen über Verhörmethoden<br />

und Foltertechniken, Urteilen<br />

gegen Ketzer, andere Abtrünnige und<br />

Juden, überall suchte er nach Lombardi-<br />

ni. Zahllose Einzelschicksale lagen vor ihm ausgebreitet,<br />

akribisch aufgezeichnete Gräueltaten, die<br />

im Namen der Kirche begangen wurden. »Irgendwann<br />

bin ich dann auf einen Grundriss der Inquisitionskammern<br />

gestoßen, die ich in Narni entdeckt hatte.«<br />

Jeder Raum war beschriftet: das Verhörzimmer, in<br />

dem heute die Folterwerkzeuge stehen, die unterirdische<br />

Kirche, der Kerker ... und noch ein zweites Verlies:<br />

Die zugemauerte Türöffnung, hinter der es lag,<br />

hatten Nini und seine Freunde bereits zu durchbrechen<br />

versucht – sich aber aus dem Staub gemacht, als<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 63<br />

sie die erschrockenen Stimmen der Gandolfis durch<br />

die Wand gehört hatten. Rosita Gandolfi, 72, wusste<br />

damals nicht, dass es ein ehemaliger Kerker war, in<br />

dem sie ihr Schlafzimmer eingerichtet hatte.<br />

»Im Fe bru ar 2006«, erzählt Roberto Nini, »saß<br />

ich wieder im Inquisitionsarchiv über Prozessakten<br />

von 1760.« Er schlug das Namensverzeichnis auf,<br />

glitt mit dem Finger über die Liste – erstarrte. »Auf<br />

der Mitte der Seite las ich den Namen: Giuseppe<br />

Andrea Lombardini.« Er hatte ihn gefunden. Und<br />

auch den Grund für die Inhaftierung: Lombardini<br />

war selbst Leiter des In qui si tions ge fäng nis ses von<br />

Spoleto gewesen. Er war ertappt worden, als er versuchte,<br />

einen Häftling zu befreien, der ihn in die<br />

Gedankenwelt der Freimaurer eingewiesen hatte.<br />

Wenn Roberto Nini heute auf der Pritsche hockt,<br />

die er in Lombardinis Kerker gestellt hat, gleitet sein<br />

Blick etwas ruhiger über die Kreuze, Zahlenfolgen,<br />

Sonnen und Monde an den Wänden als früher. Nicht<br />

nur Lombardinis Geschichte, auch ein paar Zeichen<br />

hat er inzwischen entschlüsselt. Sie wurden mit einer<br />

Mischung aus Kalk und Urin aufgetragen. »70 Prozent<br />

der Gravuren«, glaubt Nini, »stammen von Lombardini.<br />

Es sind Geheimzeichen der Freimaurer.«<br />

Es sind auch die letzten Spuren des Mannes, der<br />

ihn fast 30 Jahre lang beschäftigt hat: Nini weiß nur,<br />

dass Lombardini nach etwa drei Monaten Haft auf<br />

dem Marktplatz als Ketzer zur Schau gestellt, vom<br />

Volk verhöhnt und ins Exil getrieben wurde. Mehr<br />

war nicht herauszufinden. Nini hält die Hände gefaltet.<br />

Er sagt, er empfinde es als seine Aufgabe, Lombardinis<br />

Geschichte weiterzuerzählen. »Mein halbes<br />

Leben lang hat er mich begleitet«, sagt er und richtet<br />

dabei seinen Blick auf den Boden. »Lombardini ist<br />

wie ein Bruder für mich.« Hier unten im Kerker könne<br />

er ihn manchmal sogar spüren, direkt neben sich.<br />

www.narnisotterranea.it<br />

Narni wird<br />

überragt von der<br />

Festung Albornoz.<br />

Unten: In diesem<br />

Kerker saß<br />

Giuseppe<br />

Lombardini 1759<br />

drei Monate lang<br />

in Haft<br />

Fotos: Marco Santarelli


Foto: Eccles/Delius Klasing Verlag<br />

64 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> REISEN<br />

Die Briten Cee und David Eccles<br />

halten seit über 35 Jahren dem<br />

VW-Bulli die Treue<br />

Lektionen, die<br />

das Campen lehrt<br />

Unser freilufterprobter Autor BJØRN ERIK SASS sucht in drei neuen<br />

Büchern nach Tipps für erfolgreiches Urlauben in der Natur<br />

Zum nahenden Ende der Campingsaison<br />

kann ich melden: Endlich doch etwas<br />

verstanden über das Leben im Freien.<br />

Das habe ich vor allem der Literatur zu<br />

verdanken. Und das kam so: Einmal in<br />

diesem Sommer, da gehen mir der Beton, der Lärm<br />

und die Massen in der Stadt fürchterlich auf die<br />

Nerven. Also lade ich den Kofferraum voll Draußenzeug<br />

und suche einen Platz im Freien. Meine<br />

engere soziale Umgebung findet sich nach meinem<br />

Aufruf zum Camping sämtlich in dringende Verpflichtungen<br />

eingebunden, leider, ehrlich. Ich fahre<br />

allein hinaus und nehme stattdessen einige Bücher<br />

mit, die in den vergangenen zwölf Monaten zum<br />

Thema Camping erschienen sind.<br />

Ich beginne, meinen Abendreis im Blechnapf<br />

zwischen den Knien, mit dem handlichsten Werk:<br />

Das Vorzelt zur Hölle – ist ja schon mal ein sagenhaft<br />

guter Titel. Tommy Krappweis, unter anderem Erfinder<br />

von Bernd das Brot, beschreibt darin, Wie ich<br />

die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte. Wie<br />

er als Kind am liebsten zu Hause auf dem Sofa lesen<br />

und Pumuckl-Kassetten hören wollte. Stattdessen<br />

musste er Sommerferien für Sommerferien mit der<br />

Familie im VW-Bus nach »Egal, es ist überall heiß<br />

und scheiße«-Land fahren. Sein Vater mag Strände<br />

ohne Sand und Plätze ohne Klo und selbst Seeigelstacheln<br />

in den Füßen, denn es zeigt ihm, dass er<br />

wirklich im Urlaub ist. Krappweis hasst das alles.<br />

Das erinnert mich an unsere Familienurlaube in<br />

den Siebzigern. Wir fuhren mit dem Wohnwagen<br />

nach Südfrankreich. Rumpelten immer ohne Pause<br />

durch, immer auf denselben Campingplatz. Spätestens<br />

ab Lyon übergaben sich reisekrank meine Mutter<br />

rechts hinaus, meine Schwester links hinaus und<br />

unser erschöpfungsschaumschnauziger Hund auf<br />

meinen Schoß. Angekommen und das Lager aufgebaut,<br />

steckte sich mein Vater eine Pfeife an, schwärmte<br />

von der glatten Fahrt, holte sich am Imbiss Muscheln<br />

mit Pommes, war also glücklich, und die Familie<br />

ging im Caravan auf Rekonvaleszenz.<br />

Daran muss ich denken, allein an diesem Sommerabend<br />

dort draußen. Und dann wird mir klar:<br />

Viele Campingkinder werden später Campingväter.<br />

Auch ich bin mit meinen Kindern campen gegangen.<br />

Nicht im Wohnwagen, ich wollte sie nicht einengen.<br />

Ich schaute mir mit ihnen Filme wie Der letzte Mohikaner<br />

an. Nach dem Abspann rasierte ich uns<br />

Mohawk-Frisuren und strich uns Farbe ins Gesicht.<br />

Wir nahmen Wurfbeile und Bogen und Käsestullen,<br />

gingen in den Wald, stellten die besten Szenen des<br />

Films nach und schliefen unter einem Ästedach. Ich<br />

fand es großartig. Mein Sohn nicht. Er nahm mir<br />

seine neue Frisur übel, fand unsere Attacken auf die<br />

Waldspaziergänger albern und wollte nach Hause.<br />

Und das ist nun die beängstigende Lehre aus Das<br />

Vorzelt zur Hölle: Bilde ich mir heute ein, für Angehörige<br />

meines Haushaltes ein tolles Campingevent zu<br />

kreieren, wird es mir in vielen Jahren vielleicht als<br />

zorniges »J’accuse!« um die Ohren gehauen. Um meine<br />

Stimmung aufzuhellen, nehme ich als Nächstes<br />

Campingküche – fantasievoll kochen auf kleinem Raum<br />

zur Hand. Ein rundweg schönes Buch. Zwar handelt<br />

es ebenfalls vom Camping, doch gibt es auf all den<br />

Bildern nur eine einzige Dreiviertelhose und kein einziges<br />

Nackensteak zu sehen. Stattdessen viele süße<br />

Kinder; sie schlagen Purzelbäume im Sand und sammeln<br />

Blümchen für einen Sommerblütensalat.<br />

Frauen in den Schlafsack kochen? Mit<br />

dem richtigen Rezept könnte es klappen<br />

Die Menschen in diesem Buch wohnen in einem<br />

putzigen Eriba-Puck-Caravan, mit Kräuterkasten am<br />

Ausstellfenster. Gehen sie in den Wald, hocken sie in<br />

einem Steilwandzelt ohne Boden und Moskitonetz.<br />

Zeltete ich so, die Mücken würden mich binnen eines<br />

Ferientages auslutschen. Weil diese Menschen aber,<br />

schwingt mir als Botschaft aus den Fotos entgegen, so<br />

leckere Sachen essen und sich mit so vielen schönen<br />

Dingen umgeben, sind sie von stachelabwehrender<br />

Immunkraft. Seifert will mit diesem Buch »beweisen,<br />

dass sich das Kochen beim Campen trotz erschwerter<br />

Bedingungen nicht auf Spaghetti mit Tomatensoße,<br />

Würstchen und Kartoffelsalat oder die ewigen<br />

Pommes vom Imbiss beschränken muss«. Die Rezepte<br />

sind in Sektionen für den Strand, den Hinterhof,<br />

den See, den Wald und den Winter gegliedert. Symbole<br />

zeigen, wann ich Topf, Pfanne oder beides brauche.<br />

Die nötige Ausrüstung wurde klein gehalten.<br />

Empfindliche Menschen wie ich reagieren auf all<br />

diese Perfektion zunächst verschüchtert. Das ist natürlich<br />

meine Schuld, die Autorin weiß ja nicht, von<br />

wie weit entfernt sie mich in ihr Leckerschmecker-<br />

Camping-Land abholen muss. Einmal war eine<br />

Freundin meiner Vorstellung von Campingessen<br />

während einer langen Reise durch die USA ausgeliefert.<br />

Ich kochte. Reis. Heute mit Tomaten, morgen<br />

mit Bohnen, übermorgen mit Mais. Nach einiger<br />

Zeit gewöhnte sich diese Freundin an, vor dem<br />

Abendessen eine Runde spazieren zu fahren. Wenn<br />

sie zurückkam, hatte sie meist doch keinen Appetit.<br />

Sie nahm aber nicht ab. Eines Abends setzte ich den<br />

Reis auf und ging spazieren. Gleich außerhalb des<br />

Campingplatzes sah ich unser Auto. Es stand vor<br />

einem Imbiss. Meine Freundin aß eine Pizza. Wir<br />

stritten. Sie behauptete irgendwann sogar, mein Reis<br />

sei nicht lecker. Wir reisten getrennt weiter.<br />

Daher also komme ich und sehe die Zi tro nen tarte<br />

auf Seite 66 der Campingküche und denke: Um Himmels<br />

willen, soll ich denn noch einen Backofen mitschleppen?<br />

Ist dann aber doch nur reine Anrührware.<br />

Kann man eine Frau in den Schlafsack kochen? In<br />

diesem Buch steht jedenfalls, wie es gehen könnte.<br />

Und im nächsten, in welchem Unterschlupf sich<br />

der Schlafsack noch besser machen würde: Für ihr<br />

Mit dem Bulli durch die Welt haben David und Cee<br />

Eccles Fotos und Geschichten von VW-Bussen, ihren<br />

Besitzern und Reisen gesammelt. Viele bildhübsche<br />

Fahrzeuge sind darunter: makellos eingerichtet, Vorhänge<br />

vor den Fenstern, nirgends ein Riss in der Innenverkleidung,<br />

nicht ein Schmorfleck von zu heiß<br />

abgestellten Töpfen auf den Küchenarbeitsplatten.<br />

Es muss wunderschön sein, in einem solchen Puppenstubentraum<br />

zu campen, am liebsten zusammen mit<br />

den Mädels vom Immenhof auf einer Pony-Koppel.<br />

Sollte unser blitzsauberes Abenteuer von Dauer sein,<br />

brauchte so ein Bus noch einen Anhänger: In dem<br />

führen dann Putzfrau, Inneneinrichterin und Kfz-<br />

Meisterin mit.<br />

Es gibt aber auch die Menschen, die tatsächlich<br />

aufbrechen. Von hier durch Afrika. Von dort nach<br />

Indien und Südamerika und immer weiter. Monate-<br />

und jahrelang. Da wird nicht geschraubt und geschweißt<br />

und lackiert, um für VW-Bus-Vereinstreffen<br />

auf gut gemähter Wiese kataloggetreu auszusehen,<br />

sondern allein, um weiterzukommen. Ein Foto zeigt<br />

einen Bulli auf einer anatolischen Schotterpiste: Viel<br />

mehr Lust aufs Draußensein passt nicht in ein Bild.<br />

Tommy Krappweis: Das Vorzelt zur Hölle. Wie<br />

ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte.<br />

Knaur Verlag, München <strong>2012</strong>; 272 S., 8,99 €<br />

Claudia Seifert, Julia Hoersch, Nelly Mager:<br />

Campingküche: Fantasievoll kochen auf kleinem<br />

Raum. AT Verlag, Aarau <strong>2012</strong>; 160 S., 24,90 €<br />

David und Cee Eccles: Mit dem Bulli durch<br />

die Welt: Der VW-Bus und seine Fans.<br />

Delius Klasing Verlag, Bielefeld 2011; 176 S., 19,90 €


CHANCENSCHULE<br />

HOCHSCHULE<br />

BERUF<br />

Der »Anti-Sarrazin«<br />

Der Pädagoge Paul Schwarz versucht den Deutschen etwas beizubringen – mit Filmen über Schule VON FRIEDERIKE LÜBKE<br />

Wenn Paul Schwarz über sich<br />

spricht, dann benutzt er gerne<br />

einen Begriff, den er als Auszeichnung<br />

empfindet. Vor einem<br />

Jahr zeigte er im Stuttgarter<br />

Rathaus einen Film über Migranten. Danach<br />

befand eine Zuschauerin: »Sie sind ja ein richtiger<br />

Anti-Sarrazin.« Das Gegenteil von Thilo Sarrazin<br />

und seinen Thesen über Migrantenkinder – das<br />

trifft es, dachte Schwarz.<br />

Paul Schwarz ist Pädagoge, doch er wechselte<br />

von der Schule zum Fernsehen. Seit mehr als<br />

20 Jahren produziert er Filme über Bildung, insgesamt<br />

über 120, so viele wie kaum jemand sonst<br />

in Deutschland. 2007 bekam er dafür das Bundesverdienstkreuz<br />

am Bande. Dreimal waren seine<br />

Filme für den Grimme-Preis nominiert, darunter<br />

der ARD-Dreiteiler »Fremd und doch vertraut«.<br />

Aber bekannt wie Sarrazin ist er nicht.<br />

Schwarz glaubt, das liege an den Medien. »Ein<br />

türkischer U-Bahn-Schläger macht Schlagzeilen.<br />

Ein türkischer Arzt nicht«, sagt er. Gerade um<br />

solche Menschen geht es aber in seinen jüngsten<br />

Filmen. Bildung ist sein Thema, Erfolge zeigt er<br />

am liebsten. Oberstes Prinzip: Mut machen. Zeigen:<br />

Es geht doch.<br />

Paul Schwarz ist 68. Das weiße Haar fällt ihm<br />

lang über die Ohren. Er könnte aufhören zu arbeiten,<br />

aber er will nicht. Wenn Sarrazin schreibt,<br />

dass ungebildete Eltern mit großer Wahrscheinlichkeit<br />

ungebildete Kinder haben, gibt Schwarz<br />

ihm im Prinzip recht. Auch er sieht das häufig.<br />

Der Sohn des Arztes wird wahrscheinlich studieren.<br />

Der Sohn der Putzfrau nicht. Nur glaubt<br />

Schwarz, dass das nicht an den Eltern liegt. Seiner<br />

Ansicht nach scheitern Kinder am dreigliedrigen<br />

Schulsystem und nicht selten auch an Vorurteilen.<br />

Er hat Ärztinnen und Rechtsanwälte getroffen,<br />

die zuerst auf die Hauptschule geschickt<br />

wurden, »nur weil ihre Eltern Türken waren«. So<br />

etwas ärgert ihn. Vielleicht auch wegen seiner eigenen<br />

Geschichte.<br />

In Japan hat er unterrichtet,<br />

heute filmt er in der ganzen Welt<br />

Sein Vater fiel im Krieg, seine Mutter hatte wenig<br />

Geld. »Kleine Verhältnisse« nennt Schwarz das.<br />

Erst auf der Abendschule machte er das Abitur,<br />

studierte und wurde Lehrer. Insgesamt zehn Jahre<br />

lang hat er unterrichtet. Ende der siebziger<br />

Jahre ging er mit seiner Frau nach Japan und<br />

lehrte Deutsch an der Universität. Ende der achtziger<br />

Jahre verbrachte er mit ihr noch einmal vier<br />

Jahre als Dozent in Argentinien. »Ich kenne die<br />

Welt so ’n bisschen«, sagt er heute. Zurück in<br />

Deutschland, betreute er Sendungen über guten<br />

Unterricht und wurde vom Lehrer zum Beobachter<br />

der Lernkultur.<br />

Dabei stieß er auf einen Widerspruch: Im<br />

Land der Dichter und Denker hat Schule einen<br />

schlechten Stand. Einmal drehte Schwarz in einem<br />

internationalen Physikkurs in Göttingen.<br />

Horst Köhler, damals Bundespräsident, besuchte<br />

den Unterricht und setzte sich zu den Schülern.<br />

»In Physik war ich nie gut«, sagte der Bundespräsident.<br />

Koketterie vielleicht, aber Schwarz fällt so<br />

etwas auf: Prominente, die mit schlechten Noten<br />

prahlen. Wettermoderatoren, die es als gute<br />

Nachricht bringen, wenn die Schule ausfällt.<br />

Wer es zu etwas gebracht hat, behauptet, dass es<br />

nicht an der Schule lag. »Keiner will ein Streber<br />

sein«, sagt Schwarz. Alle fänden Bildung wichtig,<br />

aber in den Massenmedien tauche sie kaum auf.<br />

»Wann lief der letzte Film über Schule, in dem es<br />

nicht um einen Amoklauf ging?«, fragt er. »Wann<br />

ging es in einer Talkshow mal um Bildung?«<br />

Er bemerkt das auch, weil es ihn selbst betrifft.<br />

In den letzten Jahren war er viel im Auftrag<br />

staatlicher oder privater Bildungseinrichtungen<br />

unterwegs. Das Interesse der Sender aber hat<br />

nachgelassen. Für neue Filmideen muss er Sponsoren<br />

suchen.<br />

»Paul Schwarz ist jemand, der dranbleibt«,<br />

sagt der Pädagoge und Schulreformer Heinz<br />

Klippert. Die beiden sind auf einer Wellenlänge,<br />

seit 20 Jahren kennen sie sich, immer wieder arbeiten<br />

sie zusammen. Wenn Schwarz über die<br />

Bildungschancen von Migranten berichte, geschehe<br />

das »aus innerem Antrieb und persönlichem<br />

Anliegen«, glaubt Klippert. Er hat erlebt,<br />

wie Schwarz mit Politikern diskutiert. »Da legt er<br />

den Finger in die Wunde. Er ist unerbittlich,<br />

wenn sich ihre Ansprüche nicht mit der Realität<br />

decken.« Gleichzeitig sei Schwarz pragmatisch.<br />

Es gehe ihm um normale Schulen, nicht um einzelne<br />

Leuchtturmprojekte.<br />

»Die Schüler sind nicht faul<br />

und die Lehrer nicht dumm«<br />

Schwarz hat sich ein Bild gemacht und wird nicht<br />

müde, zu wiederholen, was ihm wichtig ist. Er<br />

wünscht sich auch in Deutschland eine Schule<br />

für alle und langes gemeinsames Lernen. Er zitiert<br />

den ehemaligen UN-Sonderberichterstatter<br />

für das Recht auf Bildung, der ihm sagte: »Die<br />

deutsche Schule teilt, sie führt nicht zusammen.«<br />

Er wünscht sich, dass die Bildungsforscher und<br />

Pädagogikprofessoren mehr Mitsprache in der<br />

Politik einfordern. Er selbst muss nicht dozieren,<br />

er kann die Bilder wirken lassen. Seine Filme<br />

sollen Politikern einen Anstoß geben, indem sie<br />

zeigen, was schon gut läuft.<br />

Im Gegensatz zum Unterrichten ist Filmemachen<br />

Teamarbeit. Schwarz recherchiert, schreibt<br />

das Drehbuch, führt die Interviews und entscheidet<br />

über den Aufbau. Filmen und Schneiden<br />

übernehmen Kameraleute und Cutter. »Mit der<br />

Kamera kenne ich mich nicht aus«, sagt er freimütig,<br />

»Das beste Bild findet der Kameramann.«<br />

Dominanz ist nicht seine Sache. »Genügsam und<br />

sehr gelassen« sei Schwarz, bescheinigt ihm Jens-<br />

Ove Heckel, der ihn letztes Jahr bei einem<br />

schwierigen Dreh erlebt hat. Gemeinsam waren<br />

sie in Dschibuti, am Horn von Afrika. Heckel<br />

leitete dort Umweltbildungs-Workshops für<br />

Grundschullehrer, Schwarz machte einen Film<br />

darüber. Anstrengend war für beide auch eine anschließende<br />

mehrtägige Exkursion in den entlegenen<br />

Forêt du Day, besonders weil die Straßen<br />

dorthin und die Unterkunft sehr bescheiden waren.<br />

Aber Schwarz mache so etwas mit.<br />

Für seine Filme ist er viel unterwegs, von Afrika<br />

bis Schweden. Ständig fallen ihm Erlebnisse<br />

aus anderen Ländern ein. Er hat gesehen, wie sich<br />

Schüler in Japan für ihre Schule einsetzen. Es<br />

läuft Polkamusik von Strauß, und die Jugendlichen<br />

fegen die Flure. »Undenkbar bei uns«, sagt<br />

Schwarz. Er hat gesehen, wie anschaulich Schüler<br />

in Schweden lernen, wie gut das Schulessen in<br />

Finnland ist. »Diese Länder lobt man, aber man<br />

lernt nicht von ihnen«, sagt er. Ein Lehrer in<br />

Skandinavien erklärte ihm: »Ihr Deutschen habt<br />

die Reformpädagogik erfunden, wir haben sie umgesetzt.«<br />

Dabei sei nicht alles schlecht in Deutschland,<br />

findet Paul Schwarz. Deshalb sagt er auch Sätze wie:<br />

»Die Schüler sind nicht faul und die Lehrer nicht<br />

dumm« und: »Multikulti ist nicht gescheitert.«<br />

Es ist für Schwarz ein Dilemma. Einerseits ärgert<br />

er sich über das deutsche Schulsystem, er findet in<br />

anderen Ländern bessere Beispiele – andererseits<br />

aber will er die Schule nicht dauernd kritisieren, wie<br />

das so viele tun. Er versucht es im Guten. Wäre das<br />

deutsche Bildungswesen ein Kind in seiner Klasse,<br />

er hätte es noch nicht aufgegeben. Er lobt den Schüler<br />

Deutschland, damit er sich vielleicht noch ein<br />

bisschen mehr anstrengt.<br />

S. 73 BERUF<br />

S. 87 LESERBRIEFE<br />

S. 88 <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> DER LESER<br />

Dank Internet und 3-D-Druckern werden<br />

Ingenieure zu Erfindern, die keine Industrie<br />

zur Produktentwicklung brauchen ab S. 77 STELLENMARKT<br />

2005 war Schwarz für das Auswärtige Amt in Afghanistan.<br />

Sein Film zeigt ein Schulhaus, in dem<br />

sich die Mädchen drängen. Ihre Schuhe sind staubig.<br />

Das Klassenzimmer ist mehr Verschlag als<br />

Raum, unterrichtet wird bis abends um sieben.<br />

Trotzdem lernen die Schülerinnen eifrig. Wenn<br />

Schwarz sich diesen Film ansieht, ist er immer noch<br />

beeindruckt. »Die Mädchen dort«, sagt er, »können<br />

alles erreichen, wenn man sie lässt.« In Berlin hat er<br />

vor Kurzem Hauptschüler gefragt, was sie werden<br />

wollen. »Hartz IV«, haben sie zu ihm gesagt. Paul<br />

Schwarz bleibt noch viel zu tun.<br />

www.zeit.de/audio<br />

Paul Schwarz (Mitte) war<br />

früher Lehrer, jetzt dreht er<br />

Filme über Bildung, hier in<br />

einer Realschule in Landau<br />

Foto: Markus Hintzen für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.markus-hintzen.com<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 69<br />

BILDUNGSPOLITIK<br />

Letzter Mann<br />

Die CDU stellt nur noch einen<br />

Kultusminister<br />

Vor Kurzem hat Bundesbildungsministerin<br />

Annette Schavan angekündigt, nicht mehr als<br />

stellvertretende CDU-Vorsitzende zu kandidieren.<br />

Jetzt sei der richtige Zeitpunkt, sich aus<br />

der Parteiführung zurückzuziehen, sagte sie<br />

zur Begründung, weil auf dem vergangenen<br />

Bundesparteitag der CDU mit der Modernisierung<br />

der Bildungspolitik eines ihrer Kernanliegen<br />

verwirklicht worden sei.<br />

Verlässt sie also ein gut bestelltes Haus?<br />

Tatsächlich hat sich ihre Partei vom dreigliedrigen<br />

Schulsystem verabschiedet, tritt für<br />

frühkindliche Bildung und Ganztagsschulen<br />

ein. Das ist vernünftig, wenn auch – oder gerade<br />

weil – damit die Grenzen zur Schulpolitik<br />

von SPD und Grünen verschwimmen.<br />

Da aber die inhaltlichen Unterschiede<br />

zwischen den Parteien schwinden, muss man<br />

mit Persönlichkeiten punkten. Und da ist die<br />

Bilanz der CDU unterirdisch. Als Schavan im<br />

Jahr 2005 Bundesministerin wurde, waren<br />

sieben Schulminister – darunter die von Baden-Württemberg,<br />

Hessen und Nordrhein-<br />

Westfalen – Mitglied der CDU. Doch diese<br />

Gestaltungsmacht wurde nicht genutzt, und<br />

Jahr um Jahr wurde es einer weniger.<br />

Nun ist der Niedersachse Bernd Althusmann<br />

der einzige Kultusminister mit CDU-<br />

Parteibuch. Am 17. Januar 2013 sind in seinem<br />

Bundesland Wahlen ... Vielleicht ist jetzt<br />

der Zeitpunkt für die CDU, sich einmal richtig<br />

Sorgen um ihre künftige Bildungspolitik<br />

zu machen. THOMAS KERSTAN<br />

MEHR CHANCEN:<br />

Neu am Kiosk:<br />

<strong>ZEIT</strong> CAMPUS<br />

Wie Studenten<br />

schummeln und warum<br />

es so schwierig ist, sie<br />

davon abzubringen<br />

Im Netz:<br />

Wo studieren? Welche Hochschule in einem<br />

Fach führt, verrät das CHE-Hochschulranking<br />

www.zeit.de/hochschulranking


70 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

70 in einer Klasse<br />

Ägypten fehlt<br />

eine Schulrevolution<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Herr Mager, mehr als ein Drittel der<br />

Ägypter sind Analphabeten, »Bildung für alle« ist<br />

eine zentrale Forderung der Demokratie-Bewegung.<br />

Was läuft an den Schulen schief?<br />

Wolfgang Mager: Das ägyptische Schulsystem leidet<br />

vor allem am hohen Bevölkerungswachstum.<br />

In den Klassen sitzen 60, 70 Kinder. Es findet ausschließlich<br />

Frontalunterricht statt, moderne Methoden<br />

wie »Selbstorganisiertes Lernen« sind<br />

kaum möglich. Deshalb schicken Ärzte, Militärs<br />

und Unternehmer ihre Kinder auf Privatschulen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Verdienen auch die Lehrer zu wenig?<br />

Mager: Seit der Revolution bekommen die Lehrer<br />

wenigstens in Kairo und Alexandria an staatlichen<br />

Schulen mehr Geld. Aber 750 ägyptische Pfund,<br />

also etwa 100 Euro, sind zum Leben natürlich zu<br />

wenig. Zum Vergleich: Ein Kilo Fleisch kostet<br />

etwa 80 Pfund. Die meisten leben von Nachhilfe –<br />

das ist eine richtige Industrie. Leider verlassen sich<br />

viele Kinder darauf und sind im Unterricht nur<br />

noch physisch anwesend. Mit Hausaufgabenbetreuung<br />

haben wir an unserer Schule versucht,<br />

dem entgegenzuwirken, aber viele Eltern schicken<br />

ihre Kinder trotzdem zur Nachhilfe.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie finanzieren Sie Ihre Lehrer?<br />

Mager: Ein Viertel sind entsandte Lehrkräfte, die<br />

zu den in Deutschland üblichen Tarifen bezahlt<br />

werden. Unsere ägyptischen Lehrer finanzieren wir<br />

über das Schulgeld. Sie verdienen etwa sechs Mal<br />

mehr als die Lehrer an staatlichen Schulen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie qualifiziert sind die ägyptischen Lehrer?<br />

Mager: Die Arbeitslosigkeit ist groß. Deshalb bekomme<br />

ich auch Initiativbewerbungen, die noch<br />

nie mit Schule zu tun hatten. In Ägypten gibt es<br />

zwar ein Lehramtsstudium, aber kein Referendariat,<br />

und bei Weitem nicht jeder Lehrer einer staatlichen<br />

Schule hat ein Lehramtsstudium absolviert.<br />

Ich achte aber darauf, dass<br />

die Lehrer wenigstens Erfahrung<br />

mit Kindern gesammelt<br />

und ihre Unterrichtsfächer<br />

studiert haben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie teuer ist es, auf<br />

Ihre Schule zu gehen?<br />

Wolfgang Mager<br />

leitet eine<br />

Deutsche<br />

Auslandsschule<br />

in Alexandria<br />

Mager: Wir verlangen etwa<br />

1900 Euro im Jahr und gehören<br />

damit zu den günstigen<br />

Privatschulen. Von der<br />

Zentralstelle für Auslandsschulwesen<br />

in Deutschland<br />

sind wir gehalten, keine Ge-<br />

winne zu erwirtschaften und auch Kindern aus<br />

finanziell schwachen Familien einen Besuch zu ermöglichen.<br />

Das entspricht auch dem Grundsatz<br />

unseres katholischen Trägers, dem Orden der<br />

Borromäerinnen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Welche Auswirkungen wird es für das Schulsystem<br />

und für Ihre Schule haben, wenn jetzt die<br />

Muslimbrüder regieren?<br />

Mager: Es ist noch viel zu früh, um das wirklich<br />

sagen zu können. Vermutlich wird das Militär weiterhin<br />

auf gute Bildung in den eigenen Reihen<br />

achten und seine Privilegien nicht so leicht aufgeben.<br />

Wir haben bei uns 85 Prozent Muslime, der<br />

Rest sind koptische Christen. An unserer Schule<br />

funktioniert das Miteinander. Allerdings ist eine<br />

unserer Schülerinnen bei dem Anschlag auf die<br />

koptische Kirche im vergangenen Jahr ums Leben<br />

gekommen. Seit der Revolution gibt es auch immer<br />

wieder viele Gerüchte, die Ängste schüren.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Was meinen Sie damit?<br />

Mager: Einmal habe ich die Schule geschlossen,<br />

weil angeblich der Bahnhof brannte. Als ich später<br />

dort vorbeifuhr, war gar nichts passiert. Seitdem<br />

habe ich ein Netzwerk aus sicheren Informanten<br />

an kritischen Orten aufgebaut. An den Wahltagen<br />

war die Angst bei einigen so groß, dass wir zum<br />

Teil keinen Unterricht gemacht haben.<br />

Die Fragen stellte GABRIELE MEISTER<br />

Gehirnwäsche<br />

Wirtschaftsverbände und Gewerkschaftsstiftungen versorgen Lehrer mit Unterrichtsmaterial. Sieht so Aufklärung aus? VON SEBASTIAN KRETZ<br />

Mitbestimmung stört, Umverteilung<br />

bremst, der Sozialstaat ufert<br />

aus – höchste Zeit, mehr Marktwirtschaft<br />

zu wagen! So einfach ist<br />

das; am besten lernen es die Kinder<br />

schon in der Schule. Und wenn Kultusminister<br />

und Schulbuchverlage das anders sehen, bringt<br />

man es den Schülern einfach selbst bei.<br />

»Man«, das sind deutsche Unternehmen und Wirtschaftsverbände,<br />

die versuchen, Lobbyarbeit schon<br />

bei Schülern zu betreiben, möglichst direkt und ungefiltert.<br />

So sponsern sie Schulen mit ihren Produkten<br />

oder schicken Mitarbeiter in die Klassenzimmer, die<br />

– scheinbar neutral – aus der Praxis berichten.<br />

Es gibt aber auch einen diskreteren Weg, den Kapitalismus<br />

an den Schüler zu bringen. Seit einigen<br />

Jahren machen wirtschaftsnahe Institute dem Schulbuch<br />

Konkurrenz – mit eigenen, unterrichtsfertig<br />

aufbereiteten Broschüren zu Themen wie Mitbestimmung,<br />

Globalisierung oder Gerechtigkeit. Besonders<br />

eifrig sind dabei das Kölner Institut der deutschen<br />

Wirtschaft (IW), unter anderem vom Bund der<br />

deutschen Industrie finanziert, und das Institut für<br />

ökonomische Bildung (IÖB) der Universität Oldenburg,<br />

das mit dem Handelsblatt und wechselnden<br />

Partnern wie dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag<br />

zusammenarbeitet. »Der Kampf um<br />

die Köpfe der Kinder hat begonnen«, sagt Tim Engartner,<br />

Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften<br />

an der Universität Frankfurt. Denn während der<br />

Satz des Pythagoras unabänderlich gilt, behandeln<br />

Fächer wie Sozialkunde offene Fragen: Welche ist die<br />

beste Staatsform? Wie sieht die ideale Wirtschaftsordnung<br />

aus? Was ist gerecht? »In diesen Fächern wird<br />

die geistig-moralische Grundhaltung der Schüler<br />

geprägt«, sagt Engartner.<br />

In der politischen Bildung gibt es deshalb eine Art<br />

Grundgesetz, auf das sich 1976 alle Parteien und<br />

Konfessionen geeinigt haben. Dieser sogenannte<br />

Beutelsbacher Konsens soll verhindern, dass Regierungen,<br />

Schulbuchverlage oder Lehrer das Klassenzimmer<br />

missbrauchen, um eigene politische Ansichten<br />

auszusäen. Der Konsens verpflichtet Lehrer unter<br />

anderem auf folgende Grundsätze: Sie müssen das<br />

Überwältigungsverbot achten, dürfen also Schülern<br />

nicht ihre Meinung aufzwingen, sollen vielmehr verschiedene<br />

Standpunkte neutral vermitteln und die<br />

Schüler ermuntern, sich ein eigenes Bild zu machen.<br />

Wenn Themen in der Gesellschaft kontrovers diskutiert<br />

werden, müssen sie unterschiedliche Meinungen<br />

abbilden, dürfen also nicht einseitig unterrichten.<br />

»Die Schüler sollen wirtschaftspolitisch<br />

eingenordet werden«<br />

Doch während die meisten Bundesländer offizielle<br />

Schulbücher erst nach gründlicher Prüfung zulassen,<br />

gibt es für privat hergestelltes und verbreitetes Material<br />

keine Qualitätskontrolle. Den Lehrern steht es<br />

frei, nach eigenem Ermessen ergänzendes Material zu<br />

verwenden.<br />

Die Frage ist: Sind Heftreihen wie Handelsblatt<br />

macht Schule von IÖB und Verlagsgruppe Handelsblatt<br />

(die zur Dieter von Holtzbrinck Medien GmbH<br />

gehört, die auch 50 Prozent am Zeitverlag hält) oder<br />

Thema Wirtschaft (IW) eine achtbare Ergänzung der<br />

bestehenden Schulbücher, aktuell und ausgewogen?<br />

Oder sind sie das Deckmäntelchen, unter dem eine<br />

wirtschaftsliberale Weltanschauung in die Klassenzimmer<br />

huscht – und in die Köpfe der Schüler?<br />

»Solche Broschüren missachten die Prinzipien des<br />

Beutelsbacher Konsenses«, sagt Jeannette Klauza vom<br />

Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Die Hefte<br />

höben einseitig die Vorzüge eines schlanken Staats<br />

hervor und stellten das Sozialsystem als überfordert<br />

dar, ohne die Gegenposition abzubilden. »Die Schüler<br />

sollen wirtschaftspolitisch eingenordet werden.«<br />

Hans Kaminski, der Direktor des IÖB, bestreitet,<br />

dass seine Veröffentlichungen eine neoliberale Schlagseite<br />

haben. »Wir berücksichtigen selbstverständlich<br />

SCHULE<br />

CHANCEN<br />

den Beutelsbacher Konsens. Unser Ziel ist es, gemeinsame<br />

und unterschiedliche Interessen deutlich zu<br />

machen und didaktisch ausgewogen zu informieren.«<br />

Tatsächlich kommen etwa im Heft Unsere Wirtschaftsordnung<br />

sowohl Befürworter als auch Kritiker der<br />

freien Marktwirtschaft zu Wort. Allerdings ist für<br />

Kommentare, die eine »überzogene Umverteilungspolitik«<br />

und einen »ausufernden Sozialstaat« geißeln,<br />

Platz auf vier Seiten. Dem mäßigen Rang, den<br />

Deutschland bei der sozialen Gerechtigkeit im internationalen<br />

Vergleich einnimmt, müssen dagegen<br />

17 Zeilen genügen – ohne einen Hinweis auf mögliche<br />

Ursachen oder Lösungen.<br />

Das Kölner IW beschäftigt sich in einem Thema<br />

Wirtschaft von 2005, das das IW auf seiner Website<br />

anbietet, mit Mitbestimmung. Mehrfach geht es<br />

gegen »ideologisch eingestellte Betriebsräte«, die<br />

»unbestritten« in der Lage seien, »Betriebsabläufe<br />

empfindlich zu stören«. Als wertvoll bezeichnen die<br />

Autoren die Arbeit eines Betriebsrats nur dann, wenn<br />

sie dem »wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens<br />

dient« und »die Beteiligten nicht im Traum daran<br />

denken, Punkt für Punkt die Paragraphen des Betriebsverfassungsgesetzes<br />

umzusetzen«.<br />

Die offiziellen Schulbücher sind oft<br />

veraltet, für neue fehlt Geld<br />

Die zuständige Redakteurin des IW, Irina Berenfeld,<br />

möchte sich zum Inhalt der Mitbestimmungsbroschüre<br />

nicht äußern; sie habe diese nicht verantwortet.<br />

Neuere Hefte seien jedoch »so neutral und ausgewogen<br />

wie möglich«. Vollkommen objektiv könne ein<br />

Text aber nie sein. »Wenn es also zu kleinen Verzerrungen<br />

kommt, sind diese eher ungewollt.«<br />

In einem weiteren IW-Heft von 2011 verwirft der<br />

Autor die Ansichten von »Otto und Lieschen Normalverbraucher«<br />

und lässt dann die »Ökonomen« zu Wort<br />

kommen, die sich offenbar allesamt einig sind, dass<br />

»ein hoher Kündigungsschutz (...) ein Hindernis« sei<br />

– die These bleibt unwidersprochen.<br />

Ob und wie Lehrer die Broschüren im Unterricht<br />

verwenden, dazu gibt es keine Studien. »Ein<br />

ausgebildeter Wirtschaftslehrer kann solche Materialien<br />

sichten, bewerten und gezielt einsetzen«, sagt<br />

Didaktiker Engartner. Allerdings mangele es oft an<br />

Fachlehrern. Zudem sind die offiziellen Schulbücher<br />

oftmals veraltet, für neue fehlt das Geld. Wollen<br />

Lehrer ihren Schülern etwa Finanzkrise oder<br />

Euro-Rettung erklären, müssen sie improvisieren.<br />

Oder zu den kostenlosen Broschüren samt vorbereiteten<br />

Fragestellungen und Übungen greifen. Die<br />

IÖB-Reihe »Handelsblatt macht Schule« wird nach<br />

eigenen Angaben Lehrern ausschließlich auf Anforderung<br />

zugeschickt – die Gesamtauflage des erfolgreichsten<br />

Hefts liegt derzeit bei 35 000 Stück.<br />

Auch die Kritiker des Kapitalismus versuchen,<br />

ihren Standpunkt mit kostenlosem Material an den<br />

Schüler zu bringen. An Einseitigkeit stehen sie dabei<br />

ihren Gegenspielern aus der Wirtschaft in<br />

nichts nach. Die globalisierungskritische Organisation<br />

Attac wettert in einem ihrer Hefte gegen »radikale<br />

Privatisierung« und macht Werbung für eine<br />

eigene Kampagne gegen Energiekonzerne. Die<br />

Hans-Böckler-Stiftung des DGB ignoriert in ihrem<br />

Heft zur Mitbestimmung mögliche Nachteile so<br />

entschlossen wie das IW die Vorteile.<br />

»Wenn Lehrer das Thema mit Heften des IW<br />

behandeln, werden sie es in der Regel nicht noch<br />

einmal mit Materialien der Hans-Böckler-Stiftung<br />

unterrichten«, sagt Engartner. »Eine am Beutelsbacher<br />

Konsens ausgerichtete Darstellung findet nicht<br />

statt. Das ist ein didaktisches Desaster.« Ohnehin<br />

kämpfen die Kontrahenten mit ungleichen Mitteln:<br />

So setzte die Böckler-Stiftung in sechs Jahren<br />

insgesamt 18 000 ihrer Hefte ab, während das IW<br />

jährlich allein 8000 Exemplare von Thema Wirtschaft<br />

druckt. Attac hat 2008 ganz aufgehört, neue<br />

»Bildungsbausteine« zu produzieren – den Globalisierungskritikern<br />

fehlt das Geld.<br />

Abb.: Beck für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.schneeschnee.de; Foto: privat


CHANCEN HOCHSCHULE<br />

Globuli-<br />

Akademie<br />

Über die Gründung privater Hochschulen<br />

erlangen Pseudowissenschaften<br />

höhere Weihen VON BERND KRAMER<br />

In diesen Tagen ist die Freude in Traunstein<br />

groß. Die 18 000-Einwohner-Stadt in<br />

Oberbayern bekommt bald eine eigene<br />

Hochschule. Bloß was für eine? Im Ort soll<br />

die erste europäische Hochschule für Homöopathie<br />

eröffnen, getragen von der European<br />

Union of Homoeopathy, einem Lobbyverband<br />

der Alternativmedizin aus Freiburg. Die ersten<br />

Studenten werden im kommenden Jahr erwartet.<br />

Eines Tages sollen sie als Homöopathen mit<br />

Bache lor- und Mastergrad abschließen. Über das<br />

genaue Konzept hüllen sich die Hochschulgründer<br />

noch in Schweigen. Die Lokalpolitik ist dafür<br />

umso begeisterter: Einstimmig begrüßte der<br />

Kreisausschuss das Vorhaben. Landrat Hermann<br />

Steinmaßl sieht in der Homöopathie-Hochschule<br />

gar einen »wichtigen Baustein für die Bildung<br />

und die medizinische Versorgung im Landkreis«.<br />

Kritik? Fehlanzeige.<br />

Es wirkt wie ein Schildbürgerstreich: Was die<br />

Wissenschaft als wirkungsloses Therapieverfahren<br />

ad acta gelegt hat, blüht in der bayerischen<br />

Provinz wieder auf. Unzählige Studien zeigen,<br />

dass homöopathische Mittel nicht besser helfen<br />

als ein Placebo. Mit privatem Geld lässt sich um<br />

ein spekulatives Verfahren herum aber offenbar<br />

ohne großen Widerstand eine Hochschule bauen.<br />

Wie kann das sein?<br />

Der Traunsteiner Fall zeigt eine Entwicklung,<br />

die sich auch andernorts abzeichnet. Die Zahl<br />

der privaten Hochschulen ist in den vergangenen<br />

Jahren förmlich explodiert und hat sich in den<br />

letzten zehn Jahren verdoppelt. 2000 boten erst<br />

47 Privathochschulen ihre Dienste auf dem<br />

deutschen Markt an. Jetzt sind es schon 108. Die<br />

privaten machen damit inzwischen rund ein<br />

Viertel aller Hochschulen aus. Der Wissenschaftsrat,<br />

das wichtigste Beratungsgremium der<br />

Politik in Fragen von Forschung und Lehre, sieht<br />

die Entwicklung positiv: Die privaten Anbieter<br />

böten oft Beispiele für die »erfolgreiche Akademisierung<br />

bisher nicht akademischer Berufe«,<br />

vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich,<br />

wo sie erste Studiengänge für angehende Erzieher<br />

oder Krankenpfleger schaffen und damit oft zu<br />

Vorreitern werden. Einer Studie zufolge, die der<br />

Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft<br />

und die Unternehmensberatung McKinsey 2010<br />

vorlegten, locken die Privathochschulen mit der<br />

Aufwertung früherer Ausbildungsberufe gerade<br />

die Bevölkerungsschichten in die Hörsäle, die<br />

bislang nicht studierten. Doch diese Akademisierung<br />

hat Schattenseiten: Private Hochschulen<br />

lehren auffällig oft wissenschaftlich fragwürdige<br />

Inhalte – ohne dass sie bislang allzu viel zu befürchten<br />

hätten.<br />

Eine inhaltliche Prüfung des<br />

Angebots findet nicht statt<br />

Die Berliner Steinbeis-Hochschule bietet beispielsweise<br />

Studiengänge in Komplementärmedizin an,<br />

ebenso wie die Fresenius-Hochschule in Idstein und<br />

die Berliner Hochschule für Gesundheit und Sport.<br />

An der anthroposophischen Alanus-Hochschule in<br />

Alfter bei Bonn kann man sogar einen Bachelor in<br />

Eurythmie machen. »Was sich im staatlichen System<br />

nicht unterbringen lässt, schmuggelt man in<br />

privat organisierte Hochschulen hinein«, kritisiert<br />

Martin Mahner von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen<br />

Untersuchung von Parawissenschaften.<br />

Nach den wilden Gründerjahren haben sich die<br />

Kultusminister im Jahr 2004 darauf verständigt,<br />

dass neue Privathochschulen vom Wissenschaftsrat<br />

begutachtet werden sollen, ehe sie eine staatliche<br />

Anerkennung erhalten. Diese sogenannte institutionelle<br />

Akkreditierung privater Hochschulen solle<br />

»möglichst vor Betriebsaufnahme, aber spätestens<br />

vor der endgültigen Anerkennung durch die Länder«<br />

geschehen, so die Empfehlung der Kul tusminis<br />

ter kon fe renz. Im Akkreditierungsverfahren<br />

prüfen Experten des Wissenschaftsrates das Konzept,<br />

die Finanzen, das Personal, Betreuungsrelationen<br />

und Lehrpläne; sie besuchen die Hochschulen<br />

und begutachten Raumausstattung und<br />

die Bestände der Bibliotheken. Der Wissenschaftsrat<br />

bezeichnet die institutionelle Akkreditierung<br />

als »Verfahren der Qualitätssicherung, das<br />

klären soll, ob eine Hochschuleinrichtung in der<br />

Lage ist, Leistungen in Lehre und Forschung zu<br />

erbringen, die anerkannten wissenschaftlichen<br />

Maßstäben entsprechen«.<br />

Studium für Alternativmediziner? In Traunstein soll eine Hochschule für Homöopathie entstehen<br />

Geprüft wird in der Tat ziemlich viel – bloß<br />

bemängeln Kritiker, dass im Akkreditierungsverfahren<br />

lediglich formale Aspekte im Vordergrund<br />

stünden. »Eine inhaltliche Prüfung im ei gentlichen<br />

Sinne findet kaum statt«, sagt Matthias<br />

Jaroch, Sprecher des Deutschen Hochschulverbandes.<br />

»Die Akkreditierung ist weitgehend eine<br />

formale Kontrolle. Man kann sich natürlich fragen,<br />

was der Sinn des Ganzen ist. Da wird ein<br />

Siegel vergeben, das eigentlich nichts aussagt.«<br />

Auch die Hochschulforscherin Margret Bülow-<br />

Schramm von der Uni Hamburg bemängelt, im<br />

Akkreditierungsprozess sei die »Fachlichkeit generell<br />

unterbelichtet«.<br />

Bislang hat der Wissenschaftsrat erst einen Teil<br />

der Privathochschulen geprüft. 58 Einrichtungen<br />

hat er sein Okay gegeben, lediglich acht Hochschulen<br />

bekamen die Akkreditierung nicht.<br />

Einer der wenigen Fälle, in denen der Wissenschaftsrat<br />

aus inhaltlichen Zweifeln einem<br />

Angebot die Akkreditierung verweigerte, ist die<br />

anthroposophische Freie Hochschule Mannheim,<br />

die Bachelor- und Mastergrade in Waldorfpädagogik<br />

vergeben wollte. Das Urteil des<br />

Wissenschaftsrates fiel hart aus: Das Institut erreiche<br />

auf »einer grundsätzlichen Ebene nicht<br />

die für eine Hochschule erforderliche Wissenschaftlichkeit«,<br />

schrieben die Gutachter in ihrer<br />

Entscheidung aus dem Januar 2011. »Dies betrifft<br />

die Vielfalt methodischer Ansätze und den<br />

Anspruch, den in den Erziehungswissenschaften<br />

üblichen Standards gerecht zu werden.<br />

Ohne eine solche Klärung besteht jedoch die<br />

Gefahr, eine spezifische, weltanschaulich geprägte<br />

Pädagogik im Sinne einer außer wissenschaft<br />

lichen Erziehungslehre zur Grundlage einer<br />

Hochschuleinrichtung zu machen.« Im<br />

Klartext: Waldorfpädagogik ohne ein Minimum<br />

an erziehungswissenschaftlicher Grundbildung<br />

ist akademischer Weihen nicht würdig.<br />

Die Freie Hochschule Mannheim nennt sich<br />

seither »Akademie für Waldorfpädagogik« – was<br />

akademisch klingt, es aber nicht ist. Im Gegensatz<br />

zu »Hochschule« ist die Bezeichnung »Akademie«<br />

nicht geschützt. Den Bachelorstudiengang<br />

gibt es nach wie vor: Mit einem Trick wird<br />

»Die Mediziner sind am schnellsten«<br />

Wann gründen Absolventen eine Familie? Ein Interview mit der Hochschulforscherin Gesche Brandt<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: In Ihrer Studie, die diese Woche erscheint,<br />

haben Sie untersucht, wie Hochschulabsolventen<br />

Berufstätigkeit und die Gründung<br />

einer Familie vereinbaren. Wann bekommen<br />

denn die meisten Absolventen das erste Kind?<br />

Gesche Brandt: Die wenigsten bekommen gleich<br />

nach dem Studium Kinder, mit zunehmendem<br />

Abstand vom Abschluss steigt die Anzahl der Eltern.<br />

Wir haben rund 5400 Absolventen des<br />

Jahrgangs 1997 befragt, zu verschiedenen Zeitpunkten.<br />

Ein Jahr nach dem Studium haben 13<br />

Prozent der Frauen ein Kind, nach fünf Jahren<br />

37 Prozent und nach zehn Jahren haben 62 Prozent<br />

der Absolventinnen Kinder.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Bleiben Akademikerinnen eher kinderlos<br />

als andere Frauen?<br />

Brandt: Der Anteil kinderloser Frauen ist bei<br />

Hochschulabsolventinnen etwas größer als in anderen<br />

Bildungs- oder Berufsgruppen. Man kann<br />

aber nicht sagen, dass 40 Prozent ohne Kinder<br />

bleiben, rund die Hälfte der bisher kinderlosen<br />

Absolventinnen möchte noch Kinder bekommen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Gibt es Unterschiede bei den verschiedenen<br />

Fachrichtungen? Bekommen Biologen eher<br />

Kinder als zum Beispiel Informatiker?<br />

Brandt: Es gibt tatsächlich Unterschiede zwischen<br />

den Fachrichtungen. Bei den Absolventen<br />

von Medizin, Psychologie, Pädagogik und Sozialwesen<br />

wird jeder zweite bereits in den ersten fünf<br />

Jahren nach dem Studium Mutter<br />

oder Vater. Andere Hochschulabsolventen,<br />

für die es länger<br />

dauert, sich beruflich zu etablieren,<br />

zögern das Kinderkriegen<br />

hinaus. Juristen und Naturwissenschaftler<br />

sind meistens noch<br />

fünf Jahre nach Studienende kin-<br />

derlos. Die männlichen Mediziner<br />

sind am schnellsten: Sie bekommen<br />

häufiger und früher als<br />

alle anderen Absolventen Kinder.<br />

Vermutlich leben sie häufiger als<br />

andere in traditionellen Beziehungen,<br />

in denen die Partnerinnen<br />

sich ums Kind kümmern.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sind die Männer allgemein im Vorteil?<br />

Brandt: Für Männer lassen sich keine beruflichen<br />

Nachteile erkennen, wenn sie Vater werden. Bei<br />

den Frauen hingegen gehen Kinder und Karriere<br />

selten miteinander einher.<br />

Gesche Brandt ist<br />

wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin beim HIS-<br />

Institut für Hochschulforschung<br />

und beschäftigt<br />

sich mit Absolventen<br />

<strong>ZEIT</strong>: Hängt der berufliche Erfolg der Frauen<br />

also auch davon ab, ob sie Kinder bekommen<br />

oder nicht?<br />

Brandt: Absolventinnen mit Kindern sind auf<br />

jeden Fall seltener in leitenden<br />

beruflichen Positionen und haben<br />

geringere Durchschnittseinkommen<br />

als Väter oder auch als<br />

kinderlose Absolventinnen. Das<br />

hängt auch damit zusammen,<br />

dass Mütter häufig in Teilzeit beschäftigt<br />

sind. Nur vier Prozent<br />

der von uns befragten Männer<br />

mit Kindern arbeiten in Teilzeit.<br />

Bei den Müttern sind es 61 Prozent.<br />

Wenn Frauen die Karriere<br />

wichtig ist, bekommen sie unserer<br />

Studie zufolge seltener Kinder<br />

als Frauen, denen Familie wichtig<br />

ist. Das liegt wahrscheinlich daran,<br />

dass sie das Kinderkriegen aufschieben wollen<br />

bis zu dem Zeitpunkt, wo sie sich beruflich<br />

etabliert haben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Laut Ihrer Studie steigt aber auch etwa ein<br />

Viertel der Mütter nur kurz aus dem Beruf aus<br />

das Votum umschifft. Ihre Dozenten hat die ehemalige<br />

Freie Hochschule Mannheim an die<br />

ebenfalls anthroposophische Alanus-Hochschule<br />

in Nordrhein-Westfalen angedockt; sie geben<br />

per Franchisevertrag Unterricht für die Mannheimer<br />

Studenten und bereiten sie auf die Prüfungen<br />

der Alanus-Hochschule vor. Da die Alanus-Hochschule<br />

in Nordrhein-Westfalen anerkannt<br />

ist, ist dieses Vorgehen in Baden-Württemberg<br />

rechtens. Ähnlich wird sich wohl auch<br />

die Traunsteiner Hochschule für Homöopathie<br />

durch den bildungsföderalen Wirrwarr schlagen.<br />

Ein Weiterbildungsinstitut für Heilpraktiker<br />

dürfte sich nämlich nicht ohne Weiteres als<br />

Hochschule bezeichnen.<br />

Eine Hochschule nimmt<br />

die nächste Huckepack<br />

Gerade in Bayern sind die formalen Hürden für<br />

eine Gründung hoch: Das Land verlangt unter<br />

anderem, dass für die Lehre überwiegend hauptberufliche<br />

Fachkräfte eingesetzt werden, die Zugangsvoraussetzungen<br />

müssen die gleichen sein<br />

wie an einer öffentlichen Hochschule, und es<br />

müssen mehrere Studiengänge angeboten werden.<br />

Es sei denn, eine Hochschule, die sich andernorts<br />

etablieren konnte, nimmt die neue<br />

Einrichtung huckepack: Ein solcher Partner soll<br />

in Traunstein die homöopathiefreundliche Steinbeis-Hochschule<br />

aus Berlin werden. Ist eine<br />

Hochschule bereits in einem anderen Bundesland<br />

anerkannt, kann sie auch in Bayern Lehrangebote<br />

machen – ohne dass noch einmal neu<br />

geprüft werden muss, ob ihre Vorlesungen und<br />

Seminare tatsächlich wissenschaftlichen Ansprüchen<br />

genügen.<br />

Auf diese Weise bietet beispielsweise schon jetzt<br />

die Berliner Hochschule für Gesundheit und Sport<br />

in Ismaning den Studiengang Komplementärmedizin<br />

an. »Wenn eine Hochschule bereits in einem<br />

anderen Bundesland oder EU-Staat anerkannt ist<br />

und hier einen Standort aufmacht, können wir das<br />

nicht einfach untersagen«, erklärt eine Sprecherin<br />

des Wissenschaftsministeriums. »Selbst wenn es uns<br />

nicht gefällt.«<br />

und ist danach wieder in Vollzeit tätig. Was können<br />

die Gründe dafür sein?<br />

Brandt: Bei diesen Frauen hat die Berufstätigkeit<br />

einen hohen Stellenwert. Für sie kommen Teilzeitstellen<br />

weniger infrage. Außerdem ist ein Teil dieser<br />

Frauen selbstständig, wodurch sie Kinder und<br />

Beruf zeitlich besser vereinbaren können. Und<br />

diese Frauen beziehen häufig auch ihren Partner<br />

stärker in die Kinderbetreuung ein – wenngleich<br />

auch in diesen Fällen die Männer nur selten die<br />

Hauptverantwortung für die Kinder tragen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Können Sie aus Ihrer Studie ablesen, wann<br />

der beste Zeitpunkt fürs Kinderkriegen ist, um<br />

den beruflichen Wiedereinstieg zu schaffen?<br />

Brandt: Das ist sehr individuell und hängt auch<br />

davon ab, inwieweit der Partner sich in die Betreuung<br />

einbringen kann oder möchte. Aber sicherlich<br />

ist es hilfreich, nach dem Studium erst<br />

einmal eine Weile berufstätig zu sein. Für den<br />

Wiedereinstieg ist es von Vorteil, wenn die Frau<br />

sich vor der Familiengründung beruflich etabliert<br />

hat, um so gesichert wieder einsteigen zu<br />

können.<br />

Interview: ANIKA KRELLER<br />

Fotos: Peter Dazeley/Getty Images (o:); D. Ausserhofer (r.); privat (2)<br />

»<br />

»<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 71<br />

STUDENTEN ERKLÄREN IHRE WELT<br />

Hast du Ideen, wie sich Professorinnen<br />

und Professoren mit ihrem Expertenwissen<br />

mehr Gehör in der Politik<br />

verschaffen können?«<br />

… fragt:<br />

Jörg Hacker, Präsident<br />

der Leopoldina<br />

Zumindest nicht so, wie es zuletzt einige Experten<br />

anlässlich der Euro-Krise getan haben: Ihr<br />

offener Brief kam schlicht zu spät. Ich frage mich<br />

aber generell, ob Professoren überhaupt realitätsnahe<br />

Ratschläge geben können. Schließlich hängt<br />

ihre Karriere heute vor allem von der Zahl möglichst<br />

komplizierter Veröffentlichungen in Fachzeitschriften<br />

mit entsprechend begrenzter Leserschaft<br />

ab. Vielleicht wäre deshalb ein Vermittler<br />

zwischen Professoren, Politikern und Bürgern eine<br />

Lösung – ein Botschafter zwischen abstrakter Wissenschaftswelt<br />

und schnelllebigem Politikalltag.<br />

Kein einfacher Pressesprecher also, sondern vielmehr<br />

ein neutraler Ombudsmann als Übersetzer<br />

und Vermittler. Er müsste dafür sorgen, dass wichtige<br />

Forschungsergebnisse verständlich erklärt und<br />

publik gemacht würden. Mithilfe solcher Ansprechpartner<br />

würde Expertenwissen eher da landen,<br />

wo es hingehört: in der Realität.«<br />

… antwortet:<br />

Henrike Junge, 22 Jahre,<br />

die an der Uni Tübingen<br />

Internationale VWL studiert<br />

NACKTE ZAHLEN<br />

13<br />

... Prozent der befragten Westdeutschen zwischen<br />

16 und 24 wollen zum Studium nach Ostdeutschland<br />

ziehen. Das ergab eine Umfrage<br />

der Hochschulinitiative Neue Bundesländer.<br />

TIPPS UND TERMINE<br />

»Master Materialchemie«<br />

An der Universität des Saarlandes gibt es<br />

vom Wintersemester an den viersemestrigen<br />

Masterstudiengang Materialchemie. Er<br />

richtet sich an Absolventen der Fächer Chemie<br />

und Materialwissenschaften. Die Materialwissenschaftler<br />

erlernen die Grundoperationen<br />

der chemischen Synthese, während<br />

Chemiker die Betrachtung von Materialien<br />

und deren Eigenschaften aus einem werkstoffwissenschaftlichen<br />

Blickwinkel kennenlernen.<br />

Bewerbung bis zum 31. August.<br />

www.uni-saarland.de/materialchemie<br />

Deutscher Schulpreis<br />

Die Bosch-Stiftung zeichnet Schulen aus,<br />

die Kreativität und Lust an Leistung fördern,<br />

Lebensfreude und Lebensmut stärken<br />

und zu Fairness und Verantwortung erziehen.<br />

Bis zum 15. Oktober können sich alle<br />

deutschen Schulen bewerben – berufliche<br />

Schulen dann, wenn sie allgemeinbildende<br />

Abschlüsse vergeben und als Vollzeitschule<br />

organisiert sind. Der Hauptpreis beträgt<br />

100 000 Euro. Fünf weitere Preise von je<br />

25 000 Euro werden vergeben, alle anderen<br />

nominierten Schulen erhalten 2000 Euro.<br />

http://schulpreis.bosch-stiftung.de<br />

Berichtigung<br />

Auf Seite 79 der <strong>ZEIT</strong> Nr. 37 im Artikel Mission:<br />

Europa ist uns leider ein Fehler unterlaufen. Im<br />

dritten Absatz muss es heißen: »250 Interviewmitschnitte«,<br />

und nicht 25. Wir bitten um Entschuldigung.


BERUF Spezial:<br />

Die Top Ten der<br />

Open-Source-Maschinen<br />

5<br />

Die Ackerfräse<br />

ergänzt den Traktor.<br />

Sie pflügt und<br />

lockert den Boden<br />

Baukasten für<br />

Aussteiger<br />

Die Maschinen auf dieser Seite sind Teil<br />

des zurzeit wohl ehrgeizigsten Projekts der<br />

kollaborativen, offenen Hardwareentwicklung.<br />

In den USA hat der junge<br />

Physiker Marcin Jakubowski dazu aufgerufen,<br />

gemeinsam ein Global Village Construction<br />

Set zu entwickeln – einen Do-ityourself-Maschinenpark<br />

aus 50 Geräten,<br />

die man braucht, um in einer kleinen<br />

Gemeinschaft nachhaltig, aber mit modernem<br />

Komfort zu leben. Traktor, Generator,<br />

Ziegelpresse und Ackerfräse sind bereits<br />

fertig, von weiteren Maschinen gibt es Prototypen.<br />

Die Idee dahinter: Viele Industriemaschinen<br />

sind inzwischen zu<br />

kompliziert und deshalb gerade für Menschen<br />

in armen Ländern zu teuer. Das von<br />

Jakubowski schon 2003 gegründete Netzwerk<br />

Open Source Ecology (OSE) hat deshalb<br />

durchaus auch einen politischen Anspruch.<br />

Jakubowski lebt auf einer Farm in<br />

Missouri, wo Interessierte an der Entwicklung<br />

der Maschinen mitwirken können.<br />

Mitarbeit ist auch in Deutschland möglich,<br />

www.opensourceecology.de AW<br />

Ein 3-D-Drucker druckt<br />

Prototypen und Ersatzteile<br />

Der Generator<br />

mit Motor und<br />

hydraulischer<br />

Pumpe ist vielseitig<br />

einsetzbar<br />

6<br />

Ein Windrad sichert die<br />

Energieversorgung vor Ort<br />

Ingenieure und Techniker<br />

Ingenieure bauen Brücken oder verankern<br />

Windräder im Meer (siehe Seite 74 und 75).<br />

Und ihre Arbeitswelt verändert sich<br />

Manchmal gerät die Revolution<br />

ganz plötzlich ins<br />

Stocken. »Irgendwie ist<br />

hier ein Schalter kaputt«,<br />

sagt Alexander Speckmann,<br />

Maschinenbau-<br />

Student an der Fachhochschule<br />

Köln. »Dann geht die Düse zu weit<br />

runter oder bleibt stehen. Aber an guten Tagen<br />

stellt er sehr filigrane Teile her.« Das unscheinbare<br />

Gerät mit dem defekten Schalter ist ein 3-D-<br />

Drucker. Er schmilzt Plastik und modelliert daraus<br />

Schicht für Schicht kleine Skulpturen. So<br />

werden aus Grafiken am Bildschirm dreidimensionale<br />

Objekte. Unter Ingenieuren haben solche<br />

Drucker eine Revolution ausgelöst, die die Art,<br />

wie Entwickler forschen und arbeiten, grundlegend<br />

verändern könnte.<br />

Alexander Speckmann hat sich seinen 3-D-<br />

Drucker auf einem Workshop selbst zusammengebaut.<br />

Auch wenn das Gerät manchmal noch<br />

etwas störrisch ist, stellt er das Herzstück der<br />

»Dingfabrik« in Köln dar. In einem alten Industriegebäude,<br />

zwischen Werbeagenturen und Designerbüros,<br />

haben der 28 Jahre alte Speckmann<br />

und seine Mitstreiter einen kleinen Maschinenpark<br />

zusammengetragen: Klassische Werkzeuge<br />

wie Sägen und Hämmer hängen neben einem<br />

computergesteuerten Lasercutter, einer CNC-<br />

Fräse und dem 3-D-Drucker – einem Gerät, das<br />

sich früher nur die Entwicklungsabteilungen<br />

großer Konzerne leisten konnten. Heute kosten<br />

Einsteigergeräte wie das Modell Reprap, das in<br />

der Dingfabrik läuft, nur rund 500 Euro und<br />

lassen sich einfach im Internet bestellen. Außerdem<br />

kann der Reprap sich zum Teil selbst reproduzieren,<br />

indem er seine eigenen Bauteile einfach<br />

ausdruckt.<br />

All das ermutigt Erfinder, viel auszuprobieren.<br />

Wer eine gute Idee hat, setzt sich an einen<br />

Computer, schnappt sich einen Lötkolben und<br />

baut los. »Alle helfen sich gegenseitig, das ist die<br />

Grundidee«, sagt Speckmann. Will jemand zum<br />

Beispiel eine computergesteuerte Lampe bauen,<br />

die sich nach einiger Zeit selbst abschaltet, hat<br />

aber keine Ahnung vom Programmieren, findet<br />

er in der Dingfabrik schnell einen Informatiker,<br />

der ihm hilft.<br />

Offene Hightech-Werkstätten wie die Dingfabrik,<br />

in denen Ingenieure, Techniker und Hobbybastler<br />

gemeinsam an Entwicklungen arbeiten,<br />

könnten zu neuen kreativen Zentren werden.<br />

Was dort passiert, könnte sogar die traditionellen<br />

Strukturen der Industrie mächtig ins Wanken<br />

bringen. Das britische Wirtschaftsmagazin Economist<br />

sieht bereits die dritte industrielle Revolution<br />

heraufziehen, die das Ende der Massenpro-<br />

7<br />

duktion einläutet. Für Ingenieure verspricht der<br />

Umbruch goldene Zeiten. »Man braucht inzwischen<br />

kein ganzes Unternehmen mehr, um seine<br />

Ideen zu verwirklichen«, sagt Holm Friebe,<br />

Trendforscher am Zukunftsinstitut in Kelkheim,<br />

einem Thinktank. »Es reichen zwei Freunde und<br />

ein Laptop.«<br />

An der RWTH Aachen hat man diese Entwicklung<br />

früh erkannt: Schon 2009 gründete<br />

Informatikprofessor Jan Borchers in Aachen das<br />

erste Fablab Deutschlands. Die Abkürzung steht<br />

für fabrication laboratory, ein Fertigungslabor.<br />

»Unsere Ingenieurstudenten entwickeln hier ihre<br />

Prototypen«, sagt René Bohne, der das Fab-lab<br />

organisiert. »Jedes Objekt, das man sich vorstellen<br />

kann, kann man jetzt auch bauen.« Statt wie<br />

früher einen Prototypen mühsam aus Holz und<br />

Leim zu fertigen, können Ingenieure ihre Erfindungen<br />

nun mal eben ausdrucken. Das geht<br />

schneller und ist billiger.<br />

Die Entwicklungsarbeit fin-<br />

det ausschließlich am Computer<br />

mit sogenannten CAD-Programmen<br />

statt, einer speziellen<br />

Designsoftware. Auch gute<br />

CAD-Programme kosteten vor<br />

ein paar Jahren noch mehrere<br />

hundert Euro, inzwischen gibt<br />

es brauchbare Programme gratis<br />

im Internet.<br />

Der große Vorteil des digitalen<br />

Erfindens: Auf Internetseiten<br />

wie Thingiverse.com, einer<br />

Art kostenlosem iTunes-<br />

Store für 3-D-Drucker, sind tausende CAD-Dateien<br />

archiviert, mit denen man den eigenen<br />

3-D-Drucker füttern kann. »So kann ich Standardbauteile,<br />

die andere entwickelt haben, einfach<br />

herunterladen und ausdrucken«, sagt Maschinenbaustudent<br />

Alexander Speckmann. »Das<br />

beschleunigt den Entwicklungsprozess enorm,<br />

weil ich nicht jeden Schritt noch einmal selbst<br />

machen muss.«<br />

Außerdem kann man seine CAD-Datei<br />

schnell per E-Mail an Forscherkollegen senden,<br />

damit die einen Blick darauf werfen. Oder man<br />

lädt die Datei gleich in ein Technikforum hoch,<br />

wo Ingenieure, Elektrotechniker und Informatiker<br />

aus der ganzen Welt die neuen Ideen kritisch<br />

begutachten und diskutieren.<br />

Ähnlich wie im Online-Lexikon Wikipedia,<br />

bei dem die Nutzer ihre Artikel gegenseitig korrigieren,<br />

werden die technischen Entwürfe in den<br />

Foren immer weiter verbessert. Der Reprap-Drucker<br />

in der Dingfabrik ist selbst so ein Open-<br />

Source-Projekt, das von Hobbybastlern immer<br />

weiter entwickelt wird.<br />

Ein Brennschneidtisch hilft<br />

bei der Metallverarbeitung<br />

Die Ziegelpresse<br />

verarbeitet Lehm zu<br />

Mauersteinen. Sie<br />

schafft 16 pro Minute<br />

Offene<br />

Baustelle<br />

Die Open-Source-Kultur im Internet und billige 3-D-Drucker revolutionieren die Art,<br />

wie Ingenieure neue Produkte entwickeln VON MALTE BUHSE<br />

Auf Knopfdruck<br />

Statt mühsam einen<br />

Prototypen aus Holz<br />

zu leimen, können<br />

Ingenieure ihre<br />

digitalen Entwürfe<br />

mal eben in Plastik<br />

ausdrucken<br />

8<br />

Eine Baggerschaufel f passt<br />

als Zubehör auf den Traktor<br />

In der Software-Entwicklung heißt dieses<br />

Prinzip Open Source, weil dabei der Quellcode<br />

eines Programms ins Internet gestellt wird und<br />

von jedem mit Programmierkenntnissen gelesen,<br />

verändert und ergänzt werden kann. Open-<br />

Source-Programme wie der Internetbrowser Firefox,<br />

das Bürosoftware-Paket Open Office oder<br />

das Betriebssystem Linux sind inzwischen weit<br />

verbreitet und können es mit den teuren Varianten<br />

aus den Programmierabteilungen etablierter<br />

Hersteller wie Microsoft aufnehmen.<br />

Aus Open Source wurde bei Ingenieuren<br />

Open Design, offenes Entwerfen. Und das ist<br />

längst über Hobbykeller-Niveau hinaus, wie die<br />

amerikanische Firma Local Motors beweist. Sie<br />

hat das erste Open-Source-Auto der Welt gebaut:<br />

Mehr als 2000 Entwickler aus der ganzen Welt<br />

arbeiteten mehre Jahre an dem Modell Rally<br />

Fighter. Die Designentwürfe standen die ganze<br />

Zeit frei im Internet, jeder<br />

konnte Verbesserungsvorschlä-<br />

ge machen. Als ein fahrtüchtiges<br />

Konzept stand, bauten professionelle<br />

Autobauer das Fahrzeug<br />

zusammen. Sogar das US-<br />

Militär glaubt an die schöpferische<br />

Kraft der Masse und gab<br />

bei der Local-Motors-Community<br />

einen Prototypen für<br />

ein Wüstenfahrzeug in Auftrag,<br />

der nun von den Armee-Ingenieuren<br />

weiterentwickelt wird.<br />

Als Nächstes will Local Motors<br />

ein spezielles Auto für Pizzadienste<br />

bauen. Wer eine gute Idee hat, kann mitmachen<br />

und auf der Internetseite der Firma Vorschläge<br />

einreichen.<br />

Damit wird die Denkweise der Ingenieure revolutioniert.<br />

Statt auf Geheimhaltung und Patente<br />

setzen sie auf Offenheit und Zusammenarbeit.<br />

Doch je erfolgreicher die Erfindungen der Open-<br />

Design-Ingenieure werden, desto schwieriger wird<br />

es, den idealistischen Grundgedanken von der<br />

freien Forschung beizubehalten. Wenn Produkte<br />

sich plötzlich gut verkaufen, stellt sich die Frage,<br />

wem das verdiente Geld gehört. Bei Tausenden<br />

Ko-Entwicklern, die über das Internet an den Entwürfen<br />

mitgearbeitet haben, ist es unmöglich, faire<br />

Anteile zu berechnen. Meistens kassiert daher<br />

derjenige, der die Chance am Schopf packt und<br />

das Produkt auf den Markt bringt.<br />

Ingenieure finden im Internet nicht nur digitale<br />

Baupläne und Gleichgesinnte mit spannenden<br />

Ideen, sondern auch zahlreiche Möglichkeiten,<br />

wie sie ihre Entwürfe zur Marktreife<br />

bringen können. Auf Crowdfunding-Seiten wie<br />

kickstarter.com können sie um Investoren wer-<br />

9<br />

Eine Sägemühle mit zwei<br />

Sägeblättern liefert Bauholz<br />

10<br />

20. September <strong>2012</strong><br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

Der Traktor hat<br />

Allradantrieb und bis zu<br />

200 PS. Er ist robust<br />

und leicht zu reparieren<br />

73<br />

ben, die für Produktion und Vertrieb Geld geben.<br />

Über Portale wie alibaba.com lassen sich<br />

günstig Fabrikkapazitäten in Asien anmieten,<br />

wenn das Produkt reif für die Serienproduktion<br />

ist. Oder man versucht es bei Unternehmen wie<br />

dem amerikanische Quirky: Auf der Website<br />

können Entwickler ihre Ideen hochladen und<br />

andere Nutzer darüber abstimmen lassen. Die<br />

beliebtesten Entwürfe bringen die Quirky-Mit-<br />

arbeiter in den Laden, die Erfinder bekommen<br />

30 Prozent des Verkaufserlöses.<br />

So haben auch Ideen eine Chance, die sich<br />

unter den Regeln der klassischen Massenproduktion<br />

nicht durchsetzen würden. »Innovationen<br />

hängen nicht mehr von der Entscheidung<br />

des CEOs ab«, sagt Zukunftsforscher Holm Friebe.<br />

Stattdessen entscheiden nun die Verbraucher<br />

selbst, was sie haben wollen. »Dabei entstehen<br />

Produkte mit mehr Gesellschaftsrelevanz«, glaubt<br />

Alexander Speckmann. »Dinge, die nicht unbedingt<br />

große Gewinne abwerfen müssen.« Auf der<br />

Quirky-Website sind das bislang vor allem kleine<br />

praktische Helfer für den Alltag wie Clips, die<br />

den Kabelsalat am Rechner beseitigen, oder Kleiderbügel,<br />

die verhindern, dass das Lieblingsstück<br />

im Schrank verknittert.<br />

Doch auch individuell angefertigte Einzelteile<br />

für einen exklusiven Kundenkreis können per<br />

3-D-Drucker rentabel produziert werden. Denn<br />

hochwertige Geräte produzieren nicht nur Prototypen,<br />

sondern lassen sich auch als Fertigungsmaschine<br />

einsetzen. Weil sie deutlich billiger sind<br />

als komplette Maschinenstraßen mit Industrierobotern,<br />

wie sie in klassischen Fabriken stehen,<br />

und auch das Material oft günstig ist, lohnen sich<br />

beim 3-D-Druck auch kleine Stückzahlen.<br />

Deshalb kommen in die Dingfabrik nicht nur<br />

Ingenieure und Techniker. Eine Modedesignerin<br />

hat die Maschinen benutzt, um ein Kleid zu entwerfen,<br />

Künstler arbeiten dort an Skulpturen.<br />

Eine kreative Spielwiese will Alexander Speckmann<br />

aber vor allem den Ingenieurstudenten<br />

bieten. Denn zum ungezwungenen Rumprobieren<br />

komme man im Studium viel zu selten, sagt<br />

er. »Viele Studenten nehmen sich im vollgepackten<br />

Stundenplan nicht mehr die Zeit, nach rechts<br />

und links zu schauen.« Das können sie in der<br />

Dingfabrik und in anderen Fablabs, die es inzwischen<br />

in einigen größeren Städten gibt.<br />

In Zukunft könnten 3-D-Drucker sogar zu<br />

Hause am Schreibtisch stehen, zusammen mit<br />

3-D-Scannern, die wie ein Replikator funktionieren:<br />

Stellt man etwa eine Tasse in den Scanner,<br />

erstellt der Drucker ein perfektes Abbild aus Plastik.<br />

Irgendwann, vermuten Ingenieure, wird man<br />

einen Lichtschalter einfach zu Hause ausdrucken<br />

können, wenn der alte kaputtgeht.<br />

Ein Backofen und 40 weitere<br />

Maschinen sind noch geplant<br />

Alle Abbildungen: Open Source Ecology


Illustration: Anne Gerdes für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong><br />

74 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

100 Jahre sollten sie halten<br />

Aber viele Brücken sind dem heutigen Verkehr nicht mehr gewachsen. Dann sind die Rechenkünste von Bauingenieuren gefragt VON CHRISTINE BÖHRINGER<br />

Wenn Gunnar Schönherr über<br />

neue Brücken fährt, dann fühlt er<br />

sich manchmal wie im Himmel:<br />

Auf dem Viadukt von Millau<br />

etwa, der längsten Schrägseilbrücke<br />

der Welt, hat man, sobald sich tief unten im<br />

südfranzösischen Tal des Flusses Tarn der Nebel<br />

staut, den Eindruck, man gleite auf den Wolken.<br />

Sind die Brücken jedoch alt, kehrt Schönherr ganz<br />

schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück:<br />

Automatisch scannt er die Bauwerke nach<br />

Schwachstellen ab. Ist eine Brücke für Laster über<br />

30 Tonnen gesperrt, muss er gar nicht erst weiter<br />

schauen. Dann weiß er: Sie ist noch verkehrssicher,<br />

aber marode – und die ihr verbleibenden Tage sind<br />

längst gezählt.<br />

Gunnar Schönherr, 33, ist Bauingenieur. Er<br />

konstruiert neue Brücken – und er berechnet, wie<br />

lange die alten noch halten werden. Rund 120 000<br />

Brücken gibt es in Deutschland, allein 37 000 verbinden<br />

Bundesstraßen und Autobahnen, die meisten<br />

wurden zwischen Mitte der sechziger und Mitte<br />

der achtziger Jahre errichtet. »Eigentlich wurden<br />

sie für die nächsten hundert Jahre gebaut«, sagt<br />

Gunnar Schönherr. Doch damals, bei ihrer Planung,<br />

legte man die meisten von ihnen für viel geringere<br />

Lasten aus, als sie heute tragen müssen.<br />

Denn eines hatte man nicht mit einkalkuliert: Es<br />

gibt mehr Verkehr als früher, besonders der Schwerverkehr<br />

hat überproportional stark zugenommen.<br />

Weil aber 40-Tonner auf Dauer die Substanz zermürben,<br />

werden die Brücken von Ingenieuren alle<br />

drei Jahre einer kleineren und alle sechs Jahre einer<br />

großen Prüfung unterzogen.<br />

Zwanzig Brücken hat Gunnar Schönherr, der<br />

2008 nach seinem Abschluss an der TU Berlin bei<br />

einem Planungsbüro einstieg, bislang gemeinsam<br />

mit Kollegen besichtigt. An das erste Mal kann er<br />

sich noch gut erinnern: die Zoobrücke in Köln,<br />

259 Meter Spannweite, fertiggestellt 1966, überquert<br />

von täglich 125 000 Fahrzeugen, getragen<br />

von zwei Stahlhohlkästen. Um alle Bauteile zu begutachten,<br />

muss man schwindelfrei sein und sich<br />

auf eine Art Laufsteg direkt unter der Fahrbahn<br />

hoch über dem Rhein stellen. »Brücken werden aus<br />

Beton und Stahl gebaut, weil Beton besonders gut<br />

Spannungen durch Druck aufnehmen kann. Stahl<br />

kann das auch, aber noch besser Spannungen durch<br />

Zug.« Sehen die Ingenieure bei ihrer Besichtigung<br />

Rost, ist das kein Problem – die Stellen können<br />

ausgebessert werden. Sehen sie hingegen Risse, ist<br />

das Material ermüdet, der Zug oder Druck zu groß.<br />

Dass bei einer Brücke etwas nicht stimmt, merken<br />

dann auch die Autofahrer: Ist plötzlich in beide<br />

Richtungen eine Fahrbahn für Lastwagen gesperrt<br />

oder sollen jetzt alle statt 50 Stundenkilometer nur<br />

noch 30 fahren, ist das der Versuch, die Brücke zu<br />

schonen, um dadurch ihre Lebensdauer zu verlängern.<br />

Im Hintergrund arbeiten die Ingenieure fieberhaft:<br />

»Wir ermitteln bei jeder beschädigten<br />

Brücke, wie lange man sie noch nutzen kann«, erklärt<br />

Schönherr. »Anhand der alten Pläne und der<br />

Verkehrsstatistik können wir dann zum Beispiel<br />

sagen: Die Last kann die Brücke noch 100 000 Mal<br />

tragen, dann ist Schluss. Das ist wie bei einer Büroklammer:<br />

Wenn man sie zu oft biegt, bricht sie irgendwann<br />

entzwei.« Es werden Überholverbote,<br />

Geschwindigkeits- und Gewichtsbeschränkungen<br />

eingeführt – und es wird versucht, die Brücke zu<br />

verstärken. Allein im vergangenen Jahr stellte der<br />

Bund 674 Millionen Euro für solche Sanierungen<br />

bereit. Hilft auch das nichts, kommen irgendwann<br />

die Abrissbagger – wie bei der Köhlbrandbrücke in<br />

Hamburg. Sie führt durch den Hafen und soll bald<br />

durch eine neue ersetzt werden.<br />

Die passende Lösung für eine Brücke zu finden<br />

ist für Schönherr oft »richtige Detektivarbeit«.<br />

Doch genau die mag er. Wurde die Brücke etwa<br />

falsch konstruiert? Oder ist sie dem aktuellen Verkehr<br />

nicht mehr gewachsen? Schon während seiner<br />

kaufmännischen Lehre bei einem Baubetreuer wurde<br />

er neugierig auf Materialien und wollte wissen,<br />

warum sich Stahl im Beton befindet, Gebäude<br />

überhaupt stehen bleiben und wofür man welche<br />

Baustoffe braucht. Er begann zu studieren – und<br />

spezialisierte sich auf Brücken. »Anders als bei Häusern<br />

ist ihre Konstruktion den Ingenieuren vorbehalten.<br />

Ich sehe, was ich tue, und trage dazu bei, die<br />

Infrastruktur aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.«<br />

Das beste Anschauungsbeispiel fand<br />

Schönherr in der Heimat: In seiner Studienzeit wurde<br />

die Rügenbrücke zwischen das Festland und die<br />

Insel gesetzt. Ein 4,1 Kilometer langes, spektakuläres<br />

Werk aus 180 000 Tonnen Beton und 22 000<br />

Tonnen Stahl. Alle zwei Wochen fuhr Schönherr<br />

hin und beobachtete, wie Pfeiler aus dem Strelasund<br />

und Pylonen in den Himmel wuchsen. »Die Rügenbrücke<br />

vereint alles, was der Brückenbau bietet,<br />

da hätte ich am liebsten mitgewerkelt.«<br />

Wenn Schönherr selbst Brücken konstruiert,<br />

tut er das hingegen noch in anderen Dimensionen:<br />

Er hat bislang fünf Fußgänger- und Straßenbrücken<br />

entworfen, alle nicht mehr als 60 Meter lang.<br />

»Man fängt klein an«, sagt Schönherr. Und doch<br />

ist es auch hier nicht anders als bei den Großen:<br />

Ein Anfangs- und ein Endpunkt müssen so wirt-<br />

SPEZIAL: INGENIEURE UND TECHNIKER<br />

schaftlich wie möglich miteinander verbunden<br />

werden. Was dazwischen liegt, soll gut aussehen,<br />

in die Landschaft passen – und halten. Drei Monate<br />

vergehen von der ersten Idee bis zur Berechnung,<br />

diese schafft der Bauingenieur dann in vier<br />

Wochen. Steht die Brücke schließlich, erlebt<br />

Schönherr immer wieder einen Aha-Effekt und ist<br />

von dem, was aus seiner Zeichnung wurde, begeistert:<br />

»Eine Brücke ist wie ein eigenes Baby«,<br />

sagt er – und das wird, wenn alles glatt geht, mindestens<br />

100 Jahre alt.<br />

»Ein Drittel ist grauenvoll«<br />

Ein 50 Jahre alter Ingenieur sagt, wie es ist, heute noch einmal zu studieren<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Sie sind 50 Jahre alt, Diplom-Ingenieur<br />

und Vater von drei Kindern. Warum machen Sie<br />

jetzt noch einen Master of Engineering?<br />

Stephan Fischer: Ich wollte in der Mitte des Arbeitslebens<br />

noch mal neuen Input bekommen und<br />

mein Wissen auffrischen. Mittlerweile studiere ich<br />

seit anderthalb Jahren, das heißt im vierten und<br />

letzten Semester, und habe viel Spaß an den Fächern,<br />

die ich in meinem ersten Studium nicht<br />

gemacht habe. Manche gab es damals noch gar<br />

nicht, zum Beispiel Baumanagement. Das hat sich<br />

in den letzten Jahren sehr entwickelt. Auch Brandschutz<br />

gehört dazu.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie haben ein Ingenieurbüro. Wie schaffen<br />

Sie das Studium nebenher?<br />

Fischer: Ich betreibe mein Büro nicht in Vollzeit<br />

und stimme die Termine mit den Vorlesungen<br />

ab. Als die Kinder noch klein waren, habe ich<br />

einen Deal mit meiner Frau gemacht, der beinhaltete,<br />

dass sie als Lehrerin voll in den Beruf<br />

einstieg. Mittlerweile sind unsere Kinder aber<br />

groß. Ich kann mich jetzt also auf den Master<br />

konzentrieren.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie unterscheidet sich das heutige Ingenieursstudium<br />

vom damaligen?<br />

Fischer: Früher wurde zwar mehr Praxis vermittelt,<br />

es war aber noch verschulter. Man musste<br />

einfach einen Katalog an Vorlesungen abarbeiten,<br />

Scheine holen, Haken dran. Was früher Vorlesung<br />

hieß, heißt heute Modul. Im Master können<br />

wir jetzt je nach Interesse aus etwa 25 Modulen<br />

wählen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Finden Sie, das Masterstudium bereitet die<br />

Studenten genügend auf den Arbeitsalltag vor?<br />

Fischer: Zum Teil. Ein Drittel der Dozenten<br />

macht mit den Studenten Projekte, in denen sie<br />

mit realistischen Problemen konfrontiert werden.<br />

Ein weiteres Drittel der Dozenten macht ganz ordentliche<br />

Arbeit. Und bei einem Drittel ist es<br />

grauenvoll. An denen sind Pädagogik und Didaktik<br />

vorbeigegangen. Die geben einem die Formeln,<br />

und in der Klausur muss man dann nur Zahlen<br />

einsetzen und runterrechnen. In der Praxis aber<br />

kommt der Kunde mit einem statischen oder baurechtlichen<br />

Problem, und ich muss eine Lösung<br />

dafür finden. Darauf sollten die Studenten vorbereitet<br />

werden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Viele behaupten, der Dipl.-Ing. sei der bessere<br />

Abschluss gewesen. Wie sehen Sie das?<br />

Fischer: Als ich anfing, erneut zu studieren, dachte<br />

ich, mein Diplomstudium würde mir anerkannt<br />

werden. Es hieß ja, der Bachelor sei weniger wert<br />

als ein Fachhochschuldiplom. Stattdessen sagte<br />

man mir bei der Anmeldung für den Master, ich<br />

könne froh sein, dass ich nicht noch ein paar<br />

Credits nachholen müsse. Denn das In ge nieurstu<br />

dium ging bei mir damals offiziell nur über<br />

fünfeinhalb Semester, der Bachelor aber hat sechs<br />

Semester. Trotzdem denke ich, dass der Bachelor<br />

allein nicht erstrebenswert ist. Er ist sehr verschult.<br />

Man sollte immer noch den Master machen,<br />

dadurch kommt man auf eine ganz andere<br />

Wissensebene.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wissen Sie schon, was Sie nach dem Studium<br />

machen?<br />

Fischer: Ich bin jetzt seit 15 Jahren selbstständig<br />

und habe noch mal etwa 15 Jahre Berufsleben vor<br />

mir. Ich kann mir vorstellen, nach dem Studium<br />

noch einmal bei einer Firma anzufangen. Vielleicht<br />

werde ich aber auch Lehrer für Mathe und<br />

Physik. Das geht in Hessen als Quereinsteiger. Es<br />

gefällt mir, jungen Menschen etwas beizubringen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Bringen Sie Ihren jungen Kommilitonen<br />

auch manchmal etwas bei?<br />

Fischer: Es ist schon so, dass ich immer mal Mails<br />

von Kommilitonen bekomme, die mich fragen, ob<br />

ich über eine Rechnung schauen kann oder was<br />

ich zu einer Lösung sage. Ich antworte gerne, denn<br />

wenn ich etwas erklären kann, heißt das, ich habe<br />

es verstanden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Widersprechen Sie den Dozenten auch mal?<br />

Fischer: Gelegentlich schon. Einmal hat der Professor<br />

eine Aufgabe zum Thema Bauablaufstörung<br />

ausgeteilt. Die Informationen waren unvollständig,<br />

auf dieser Basis hätte man als Ingenieur nicht<br />

anfangen können zu arbeiten. Das habe ich dann<br />

auch gesagt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und gehen Sie mit Ihren Kommilitonen<br />

auf Studentenpartys?<br />

Fischer: Auf einer großen Party war ich noch<br />

nicht, aber wir waren mal zusammen in der Kneipe,<br />

um das Semester nach den letzten Klausuren<br />

gemeinsam ausklingen zu lassen. Am Anfang war<br />

das für meine Kommilitonen, glaube ich, ein bisschen<br />

komisch: so ein alter Typ, der da rumsitzt.<br />

Vom Alter her könnten sie meine Kinder sein, zuerst<br />

haben sie mich gesiezt. Jetzt ist das ein ganz<br />

natürlicher Umgang miteinander. Ich frage sie<br />

auch manchmal nach den Unterlagen, wenn ich<br />

mal nicht da sein konnte. Ich bin einer von denen<br />

geworden.<br />

Stephan Fischer, 50, studiert Konstruktiver<br />

Ingenieurbau/Baumanagement an<br />

der Hochschule RheinMain in Wiesbaden<br />

Interview: ANIKA KRELLER<br />

CHANCEN


CHANCEN<br />

In Halle B4 auf der Schiffbaumesse SMM in<br />

den Hamburger Messehallen liegen in diesem<br />

Jahr Freud und Leid nah beieinander:<br />

Nach einer endgültigen After-Work-Party<br />

sieht es am Biertresen der Werftengruppe<br />

P+S aus; Ende August haben die Werften in Stralsund<br />

und Wolgast Insolvenz angemeldet. Am<br />

Messestand direkt nebenan dagegen präsentiert die<br />

Werftengruppe Nordic Yards in einem Glaskasten<br />

das Modell ihres neuesten Großauftrags: Neben<br />

Umspannplattformen für Offshore-Windparks<br />

baut die Werft nun auch ein Wartungsschiff zur<br />

Reparatur und Versorgung.<br />

Schon im Frühjahr hat Nordic Yards mit Sitz in<br />

Wismar die Personalressourcen mit den neuen<br />

Vorhaben abgeglichen. Ergebnis: Bis zum Ende<br />

des Jahres fehlen 100 Leute, darunter 60 Ingenieure.<br />

Man könnte meinen, dass eifriges Werben notwendig<br />

ist, um diese Lücke zu füllen. Doch Personalleiter<br />

Björn Cleven schüttelt den Kopf: »Wir<br />

haben die klassischen Kanäle genutzt – die üblichen<br />

Internetplattformen wie Stepstone, vor allem<br />

aber Anzeigen in der regionalen Presse.«<br />

Schon Ende Juni lagen 300 Bewerbungen auf<br />

dem Tisch, vier Monate später sind bereits drei<br />

Viertel der Stellen besetzt, zu großen Teilen von<br />

Mecklenburgern, die woanders gearbeitet haben<br />

und zurück wollen an die Küste. Nur fünf Facharbeiter<br />

fehlen noch, bei den Ingenieuren ist es<br />

nicht ganz so leicht: 20 muss Cleven noch finden.<br />

Auch deshalb ist er auf der Schiffbaumesse in<br />

Hamburg. Er wolle die Ingenieurslücke nicht<br />

kleinreden, meint Cleven. »Aber dass es ein bisschen<br />

schwerer ist, die passenden Spezialisten zu<br />

finden, ist kein Zeichen mangelnden Nachwuchses,<br />

sondern liegt an der neuen Disziplin.«<br />

Das Wort »Offshore« ist auch an den Messeständen<br />

omnipräsent. Viele Werften,<br />

gerade die deutschen, die mit den<br />

Riesendocks in Asien nicht<br />

mehr mithalten können, sehen<br />

in dem neuen Markt<br />

ihre Chance. Nicht ohne<br />

Grund: Allein vor der<br />

deutschen Küste sind<br />

neben den 72 bestehenden<br />

448 Windkraftan-<br />

TIPPS UND TERMINE<br />

Wettbewerb für effiziente Technologien<br />

Für den Innovation Award der internationalen<br />

Altran-Stiftung können sich Einzelpersonen,<br />

Teams, Forschungsinstitute und Unternehmen<br />

bewerben. »Sustainovation – der Schlüssel zu<br />

einer immer besseren Eco-Effizienz« zeichnet<br />

Ideen aus, welche die Welt ein wenig besser<br />

machen könnten. Dabei stehen Effizienzfortschritte<br />

bei Technologien im Vordergrund. Der<br />

Gewinner darf seine Idee umsetzen. Der Bewerbungsschluss<br />

ist am 31. Oktober.<br />

www.de.altran-foundation.org<br />

Stipendien für Auslandspraktika<br />

Junge Berufstätige, Absolventen und Studierende<br />

mit einer technischen oder kaufmännischen<br />

Hochschulbildung können sich bis zum<br />

30. September für das Heinz Nixdorf Programm<br />

bewerben. Die Deutsche Gesellschaft<br />

für Internationale Zusammenarbeit bietet den<br />

Teilnehmern sechsmonatige Praktika in acht<br />

asiatischen Ländern, um deren Wirtschafts-<br />

und Bildungssysteme kennenzulernen.<br />

Sprachkurse in Deutschland und im Zielland<br />

sowie interkulturelle Seminare bereiten auf<br />

das Praktikum vor. Von der Heinz Nixdorf<br />

Stiftung gibt es Stipendien für die Lebenshaltungskosten<br />

während des Aufenthaltes.<br />

www.giz.de/hnp<br />

Elektrotechnik neu ausgerichtet<br />

Studieninteressierten mit Spaß an der Entwicklung<br />

technischer Komponenten sowie am Aufbau,<br />

Betrieb und Marketing technischer Kommunikationssysteme<br />

bietet die FH Frankfurt<br />

am Main zum Wintersemester den neuen Bachelorstudiengang<br />

»Elektrotechnik und Kommunikationstechnik«<br />

an. In sieben Semestern<br />

soll er das gesamte Spektrum der Kommunikationstechnik<br />

vom Komponentendesign bis zur<br />

Systemintegration vermitteln. Außerdem absolvieren<br />

die Studenten ein einsemestriges Berufspraktikum.<br />

Vor Beginn des Studiums muss<br />

ein Praktikum im MINT-Bereich von acht<br />

Wochen absolviert werden. Als Vorpraktikum<br />

werden Berufsabschlüsse in Metall- und Elektroberufen<br />

sowie als Technischer Zeichner anerkannt.<br />

Einschreibungen bis zum 8. Oktober.<br />

http://tinyurl.com/9krrasw<br />

Technologie- und Innovationsmanagement<br />

Interdisziplinäre Profis, die über ein solides<br />

technisches Wissen verfügen und gleichzeitig<br />

SPEZIAL: INGENIEURE UND TECHNIKER<br />

»Ein Riesenarbeitsmarkt«<br />

Für den Bau von Off shore-Plattformen sind Qualitätsmanager sehr gefragt VON ALEXANDRA WERDES<br />

lagen im Bau. 8235 weitere wurden<br />

bereits genehmigt. Das beflügelt<br />

nicht nur die Hersteller von Windrädern,<br />

sondern auch eine ganze<br />

Zuliefererindustrie. »Es ist irre, wie<br />

weit man da den Bogen spannen<br />

kann«, sagt York Ilgner der beim Verein<br />

Deutscher Ingenieure (VDI) den n<br />

Arbeitskreis Schiffbau und Schiffs-<br />

technik leitet. »Das ist ein Riesenarr-<br />

beitsmarkt.«<br />

Wie baut man die Plattform? Wie<br />

bringt man sie vor die Küste, wie errichichtet und gründet man sie?<br />

Jede Menge Ingenieure und Techniker niker<br />

werden auch benötigt, um all die Anlagen nlagen<br />

am Laufen zu halten. »Mit viel Wartungsrtungsaufwand ist schon deshalb zu rechnen, nen, weil<br />

die Erfahrung fehlt«, sagt Björn Cleven. even. »In<br />

Deutschland wurde der Offshore-Bereich ereich bisbislang eher stiefmütterlich behandelt. Wir haben<br />

kein Öl und kein Gas, da haben die e Niederländer<br />

und die Engländer einen Vorsprung.« rsprung.«<br />

Dafür mischen aber auch Konkurrenzländer enzländer<br />

wie Korea und China noch nicht mit. t.<br />

»Dass wir hier Neuland betreten, ist bei der<br />

Personalsuche unser Hauptargument«, ent«, sagt<br />

Cleven. Er sei selbst überrascht, wie viele junge<br />

Leute sich begeistern lassen von den enerneuerbaren Energien und gerne irgendwo womitarbeiten, wo man die Welt verbessern ern kann.<br />

»Der Pioniergeist motiviert viele«, sagt gt Cleven.<br />

Offenbar nehme man den Werften auch wieder<br />

ab, dass sie Perspektiven bieten können. können.<br />

»Als Offshore kam, ging es vielen n Werften<br />

schlecht«, sagt York Ilgner vom Verein ein Deutscher<br />

Ingenieure. »Viele haben sich mit<br />

günstigen Angeboten darauf arauf gegestürzt und dann den Aufwand<br />

völlig unterschätzt, t, vor alallem was die Qualitätssicherung<br />

angeht.« ht.«<br />

Im klassischen lassischen<br />

Schiffbau können<br />

sich Werften, en, KunKunden und Behörden<br />

an den deutschen deutschen<br />

Sucht Experten:<br />

Björn Cleven,<br />

Personalleiter bei<br />

Nordic Yards<br />

die komplexen Instrumente des Technologie-<br />

und Innovationsmanagements beherrschen:<br />

Die will die FH Brandenburg mit ihrem Masterstudium<br />

»Technologie- und Innovationsmanagement«<br />

ausbilden. Für das kommende<br />

Wintersemester stehen noch ein paar Studienplätze<br />

zur Verfügung. Schnellentschlossene<br />

können sich bis zum 30. September bewerben.<br />

www.tim-master.de<br />

Neuer Master »Energieeffizienz<br />

technischer Systeme«<br />

Die FH Brandenburg startet zum Wintersemester<br />

den neuen Masterstudiengang »Energieeffizienz<br />

technischer Systeme«. Er vermittelt<br />

Absolventen aller technischen und naturwissenschaftlichen<br />

Fachrichtungen weiterbildende<br />

Kenntnisse auf dem Gebiet der Energieeffizienz.<br />

Der Masterabschluss qualifiziert<br />

für vielfältige Aufgaben in der Energie- und<br />

Umwelttechnik, Verkehrswesen, Verfahrenstechnik,<br />

Gebäudetechnik, Automatisierungstechnik<br />

sowie Informations- und Kommunikationstechnik.<br />

Die Einschreibung ist bis 30.<br />

September möglich.<br />

www.fh-brandenburg.de/bewerben.html<br />

Verlängerte Fristen in Erfurt<br />

Die FH Erfurt hat die Bewerbungsfristen fürs<br />

Wintersemester in einigen Studiengängen bis<br />

zum 28. September verlängert. Kurzentschlossene<br />

können sich daher noch für einen Studienplatz<br />

in den folgenden Bachelorstudiengängen<br />

bewerben: Angewandte Informatik, Bauingenieurwesen,<br />

Eisenbahnwesen, Gartenbau,<br />

Gebäude- und Energietechnik, Landschaftsarchitektur,<br />

Verkehrsinformatik, Wirtschaftsingenieur<br />

Gebäude- und Energietechnik und<br />

Wirtschaftsingenieur Verkehr, Transport und<br />

Logistik sowie in den Masterstudiengängen Intelligente<br />

Verkehrssysteme, Landschaftsarchitektur<br />

sowie Materialfluss und Logistik.<br />

www.fh-erfurt.de/fhe/studieninteressierte/bewerbung-co<br />

Deutsch-amerikanischer Master<br />

Die Hochschule Ulm und das amerikanische<br />

Rose-Hulman Institute of Technology bieten<br />

den Masterstudiengang »Systems Engineering<br />

and Management« künftig gemeinsam an. Er<br />

kann dann mit einer internationalen Ausrichtung<br />

studiert werden.<br />

www.hs-ulm.de/graduateschool<br />

Schiffbaustandardhalten,<br />

im Offshore-Windanlagenbau<br />

fehlen<br />

solche solche Standards, es<br />

gibt gibt auch noch kaum<br />

Vorschriften. »Jede einzelne<br />

Schweißnaht muss dokumentiert<br />

und geröntgt werden«, werden«,<br />

sagt Ilgner. Deshalb zählen vor allem<br />

auch Schweißfachingenieure und<br />

die Leute fürs fürs Qualitätsmanagement zu<br />

den Experten, die ganz besonders gefragt sind.<br />

»Inzwischen haben alle verstanden, dass es<br />

dabei nicht lediglich um einfachen Stahlbau<br />

geht, und bezeichnen das als Schiffbau, was<br />

wir wir hier tun«, sagt der Mann von Nordic Yards,<br />

Björn Cleven.<br />

Für Wehmut nach den vergangenen Zeiten<br />

bleibt bleibt da kein Raum.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 75<br />

Bauteil einer<br />

Offshore-Plattform<br />

Fotos [M]: Andreas Herzau für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.andreasherzau.de


76 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

So läuft’s rund<br />

Beim DIN-Institut sorgen Ingenieure dafür, dass ein Teil zum anderen passt VON THOMAS RÖBKE<br />

Gerade neulich hat Juliane Jung sich<br />

wieder geärgert: »Ich repariere<br />

mein Fahrrad, und die Ventile passen<br />

nicht – weil sie nicht genormt<br />

sind.« Ausgerechnet. Damit uns<br />

allen solcher Ärger erspart bleibt, arbeitet die<br />

28-Jährige im Norm aus schuss »Sport- und Freizeitgeräte«<br />

beim DIN, dem Deutschen Institut für<br />

Normung in Berlin. Seit Kurzem entwickelt sie<br />

mit ihren Kollegen eine Norm »für Fahrradabstellanlagen<br />

und Fahrradparksysteme – auch Fahrradständer<br />

genannt«. Am Anfang stehen grundsätzliche<br />

Überlegungen: »Das Fahrrad darf beim Einstellen<br />

nicht zerkratzen, zu den anderen Rädern<br />

muss genug Platz sein, die Lenker müssen aneinander<br />

vorbei passen.« Es folgen viele Ausschusssitzungen,<br />

und am Ende stehen eine oder mehrere<br />

Normen, die zu den bereits bestehenden mehr als<br />

30 000 hinzukommen.<br />

Dabei ist die Normung kein Selbstzweck, sondern<br />

ein nützliches Instrument, das der deutschen<br />

Industrie jährlich 16 bis 20 Milliarden<br />

Euro einspart, weil sie nicht für unterschiedliche<br />

Märkte unterschiedliche Produkte herstellen<br />

muss. Und mit dem sie nicht selten den Maßstab<br />

setzt – so basieren zwei Drittel des internationalen<br />

Normenwerks im Maschinenbau auf deutschen<br />

Industrienormen.<br />

Beim DIN arbeiten Akademiker aus allen<br />

Sparten der Wirtschaft: Maschinenbau, Elektrotechnik,<br />

Bauwesen, Medizintechnik; Naturwissenschaftler<br />

aller Art. Juliane Jung entschied sich<br />

für das sechssemestrige Bachelorstudium Sport<br />

und Technik in Magdeburg. »Ich wollte nie ganz<br />

in der Sportwissenschaft arbeiten, nicht im Fitnessstudio<br />

und auch nicht als Lehrerin. Lieber in<br />

einem Unternehmen.« Das Studienfach »Normen<br />

und Design« führte sie an das Thema heran, ein<br />

Stellenaushang des DIN an ihrer Fakultät weckte<br />

das Interesse an ihrem heutigen Arbeitgeber:<br />

»Obwohl ich zuerst die gleichen Vorurteile hatte<br />

wie die meisten, die das DIN nicht näher kennen:<br />

Ich hielt es für eine verstaubte Behörde.« Tatsächlich<br />

ist das DIN ein gemeinnütziger, privater<br />

Verein. Im Februar 2007 fing Jung beim DIN<br />

an. Bereut hat sie es nie: »Ich habe immer wieder<br />

mit neuen Themen zu tun, und kein Projekt<br />

gleicht dem anderen.«<br />

Auch Bernd Reinmüller ist DINler aus Überzeugung.<br />

»Neue Projekte, neue Produkte, neue<br />

Prüfverfahren – langweilig wird es nie«, sagt er.<br />

Der 49-jährige Diplomingenieur der Chemie leitet<br />

seit 23 Jahren die Normenausschüsse für Beschichtungsstoffe<br />

und Beschichtungen sowie für<br />

Pigmente und Füllstoffe. Die Warnung seines<br />

Professors habe sich bestätigt: »Wer sich einmal<br />

mit Lack befasst, der bleibt daran kleben.« Eine<br />

gewisse Detailverliebtheit (»aber auch nicht zu<br />

extrem«) sollte man für die Normungsarbeit<br />

schon mitbringen, meint Reinmüller. Erklärungsbedürftig<br />

sei sein Job unter Nichtfachleuten noch<br />

immer: »Ich sage dann: DIN ist dazu da, dass<br />

Sachen zusammenpassen.«<br />

Ein Beispiel für eine gelungene Normung zum<br />

Nutzen aller Beteiligten ist der GSM-Standard bei<br />

Mobiltelefonen: Hätten sich die Hersteller nicht<br />

auf eine Schnittstelle geeinigt, über die sich die<br />

Handys jenseits der Grenze automatisch in ein<br />

anderes europäisches Netz einwählen, gäbe es<br />

heute vielleicht 30 verschiedene Mobilfunkkonzeptionen,<br />

und die Geräte hätten nicht die heutige<br />

Marktverbreitung.<br />

Was eine Norm ist und wie sie entsteht – auch<br />

dafür gibt es eine Norm: die DIN 820. Die 400<br />

Institutsmitarbeiter sind auf 71 Normenausschüsse<br />

verteilt – von Lebensmitteln und Wälzlagern<br />

bis zu Rundstahlketten und Metallfedern.<br />

Sie beraten mit Vertretern aus der Industrie über<br />

neue Normen oder die Änderung von alten. »Das<br />

Vor- und Nachbereiten von Sitzungen macht den<br />

größten Teil der Arbeit aus«, sagt Jung. Entschieden<br />

wird im Konsensverfahren. Wer nicht in der<br />

Runde der Experten war, kann im öffentlichen<br />

Einspruchsverfahren seine Einwände äußern.<br />

Vom Antrag bis zur fertigen Norm m<br />

vergehen so im Schnitt drei Jahre. Für ür<br />

besonders eilige Normen gibt es ein<br />

Schnellverfahren, das zwischen zwei wei<br />

und zwölf Monate dauert.<br />

Gerade das Konsensverfahren findet findet<br />

Juliane Jung spannend, »weil man unterschiedliche<br />

Interessen auf einen gemeinsameinsamen Nenner bringen muss. Da ist manchmal<br />

diplomatisches Geschick gefragt oder er strategi- strategisches<br />

Agieren.« Noch ist die DIN-Welt N-Welt eine<br />

Männerwelt: »Ich bin oft die einzige e Frau in den<br />

Sitzungen. Aber das ist okay für mich«, h«, sagt Jung.<br />

Und wenn eine Norm nach vielen Monaten harter<br />

Verhandlung endlich verabschiedet det wird – ist<br />

das dann ein befriedigendes Gefühl? Bernd Reinmüller<br />

holt tief Luft. »Ja!«, ruft er aus us tiefster Seele.<br />

»Hinter jeder Norm steckt sehr r viel Arbeit,<br />

mitunter ist der Konsensprozess sehr ehr mühsam.<br />

Und wenn man die Norm dann veröffentlicht<br />

hat, ist das schon ein sehr schönes Gefühl.«<br />

Genormt wird nicht um des Normens rmens willen,<br />

denn nur Normen von allgemeinem em Interesse<br />

spielen das Geld des Normungsprozesses zesses wieder<br />

herein. Jeder Bürger kann eine Norm m beantragen.<br />

Das DIN prüft dann, ob für diese Norm tatsächlich<br />

ein Bedarf besteht, und lädt die e potenziellen<br />

Interessengruppen zur Mitarbeit ein. Andere Nor- Normen<br />

werden dadurch angestoßen, dass der Staat<br />

gesetzliche Anforderungen erlässt – etwa für Wärmedämmung<br />

an Gebäuden oder Emissionsgrenzwerte<br />

im Automobilbereich – und die technische<br />

Umsetzung in die Hände der Wirtschaft legt. Jede<br />

Norm wird alle fünf Jahre überprüft, ob sie noch<br />

gebraucht wird und ob sie noch dem Stand der<br />

Technik entspricht – gegebenenfalls wird sie zurückgezogen<br />

oder überarbeitet. Zusammen mit<br />

den neuen Normen werden jedes Jahr mehr als<br />

2000 Dokumente verändert oder neu erstellt. Zunehmend<br />

wichtiger werden Normen für Dienstleistungen<br />

– so gibt es europaweite Ausschreibungen<br />

für den öffentlichen Personenverkehr oder<br />

SPEZIAL: INGENIEURE UND TECHNIKER<br />

CHANCEN<br />

Umzugsfirmen,<br />

die<br />

ihre Leistungen<br />

in mehreren<br />

Ländern anbieten<br />

und die daher für den<br />

Verbraucher transparent werden<br />

müssen. Noch ist der Anteil<br />

aber gering und liegt vielleicht bei einem<br />

Prozent.<br />

Getagt wird durchaus auch mal vor Ort und<br />

auf europäischer Ebene: »Unser Ausschuss kommt Nicht jedes Ventil passt in<br />

viel mit dem französischen Normungsinstitut in<br />

jeden Fahrradschlauch:<br />

Paris zusammen«, erzählt Jung. »Wir planen unse-<br />

Eine neue DIN-Norm<br />

re Sitzungen auch schon mal anlässlich von Fahr-<br />

könnte Abhilfe schaffen<br />

radmessen, dann sind sowieso alle Experten vor<br />

Ort.« Seit sie beim DIN arbeitet, geht Juliane<br />

Jung »mit Sicherheit mit offeneren Augen durch<br />

die Welt. Ich sehe: Ah, hier ist schon etwas genormt,<br />

oder entdecke im Schwimmbad: Hier<br />

hätten sie etwas anderes einbauen müssen, das ist<br />

jetzt nicht normgerecht.« Ihr nächstes Projekt<br />

zeichnet sich übrigens auch schon ab: »Leichtathletikgeräte.<br />

Man glaubt es kaum, aber die<br />

waren bisher überhaupt nicht genormt, damit<br />

fangen wir gerade erst an.«<br />

Foto [M]: colourbox


<strong>ZEIT</strong> DER LESER S.88<br />

LESERBRIEFE<br />

AKTUELL ZUR <strong>ZEIT</strong> NR. 38<br />

Endlich<br />

Martin Hecht: »Die Stadt,<br />

das Bier und der Hass«<br />

Vielen Dank, dass Sie in Ihrem Artikel<br />

Zusammenhänge herausgearbeitet haben,<br />

die in München auch aus meiner<br />

Perspektive bisher nicht zur Sprache gekommen<br />

sind.<br />

Ich bin gebürtige Münchnerin und<br />

habe an einem Münchner Gymnasium<br />

1997 mit den Leistungskursen Geschichte-Sozialkunde<br />

und Deutsch Abitur<br />

gemacht. In meiner schulischen<br />

Laufbahn wurde der Nationalsozialismus<br />

sehr ausführlich in vielen Schulfächern<br />

(Geschichte, Deutsch, Kunst,<br />

Religion) thematisiert. Es ging viel um<br />

die historischen Ereignisse in ihrer zeitlichen<br />

Reihenfolge und die Mentalität<br />

der Deutschen zwischen Kaiserzeit und<br />

Drittem Reich. Ich erinnere mich besonders<br />

an das Herausstellen von<br />

»preu ßischer Obrigkeitshörigkeit« und<br />

dem Drang aller Deutschen nach »starker<br />

Führung«.<br />

Was im Münchner Curriculum völlig<br />

fehlte, war die Diskussion, warum ausgerechnet<br />

unsere Stadt zur »Hauptstadt<br />

der Bewegung« wurde. Ließ sich Hitler<br />

nur zufällig hier nieder, oder bot ihm<br />

München die beste Kombination von<br />

Mentalität, Infrastruktur und Kapital<br />

für sein Vorhaben?<br />

Dass diese Fragen nicht schon längst<br />

Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses<br />

Münchens mit der NS-Zeit sind,<br />

ist eine verpasste Chance. Das geplante<br />

NS-Dokumentationszentrum wird nur<br />

eine echte Bereicherung sein, wenn es<br />

mutig genug ist, sich dieser »neuen«<br />

Frage anzunehmen, und sich auch das<br />

Ziel setzt, die Stammtische von Vilshofen<br />

bis ins Hofbräuhaus zur Diskussion<br />

anzuregen.<br />

Wo ist die Grenze zwischen gesundem<br />

Traditionsbewusstsein, ausgeprägter<br />

Identität, humoristischem Derb lecken<br />

und Wirtshausmentalität mit Gefahrenpotenzial?<br />

Wann muss man als Einzelner<br />

im Stammtisch-Diskurs Zivilcourage<br />

aufbringen, um gefährlichem<br />

Unsinn Einhalt zu gebieten, oder – auf<br />

Bayerisch gesagt – »auch mal auf den<br />

Tisch haun«?<br />

Diese Fragen sind über die Grenzen<br />

Münchens hinaus relevant. Ein ehrlicher<br />

Blick auf München anno 1923<br />

kann dabei nur helfen.<br />

Claudia Urschbach, München<br />

Pin-up-<br />

Parade<br />

»Mode in Topform«<br />

<strong>ZEIT</strong>MAGAZIN NR. 37<br />

Nie waren die Silhouetten in der Mode<br />

so vielfältig? Vielleicht, aber auf Ihre<br />

Fotostrecke trifft das nicht zu. Weniger<br />

originell und geschmackloser hätte sie<br />

kaum geraten können. Eine junge, dünne,<br />

blonde Frau räkelt sich wenig bekleidet<br />

in eindeutigen Posen und verfügt<br />

über nur einen Gesichtsausdruck – dessen<br />

Übersetzung sich hier verbietet. Den<br />

Tiefpunkt bildet die Parodie eines sich<br />

anbietenden Zimmermädchens.<br />

Finden Sie das witzig? Glauben Sie,<br />

dass Ihre LeserInnen, zum nicht geringen<br />

Teil selbstbewusste und gebildete<br />

Frauen, darüber lachen können? Ich<br />

kann nur hoffen, dass es in Ihrer Redaktion<br />

zumindest erbitterte Diskussionen<br />

darüber gegeben hat, ob das<br />

<strong>ZEIT</strong>magazin das geeignete Medium<br />

für eine Pin-up-Strecke darstellt. Schade,<br />

dass der interessante und informative<br />

Artikel daneben dann ausgesprochen<br />

zynisch wirkt.<br />

Daniela Halbfas, Bremen<br />

Ihre Zuschriften erreichen uns am<br />

schnellsten unter der Mail-Adresse:<br />

leserbriefe@zeit.de<br />

Beilagenhinweis<br />

Die heutige Ausgabe enthält in Teilauflagen<br />

Prospekte folgender Unternehmen:<br />

Hamburg Marketing GmbH,<br />

22305 Hamburg; Hamburger Sparkasse<br />

AG, 20537 Hamburg; Innovation<br />

Norway, 20355 Hamburg; Inpact media<br />

GmbH, 10115 Berlin; OXO Media<br />

Verlag, 20359 Hamburg; Süddeutsche<br />

Zeitung GmbH, 81677 München<br />

Zum Titelthema: »Philosophen entdecken das Gefühl«, <strong>ZEIT</strong> NR. 37<br />

Ich bin ja so verdorben<br />

Streitgespräch zwischen Manfred Spitzer und Peter Vorderer: »Macht uns der Computer dumm?« <strong>ZEIT</strong> NR. 37<br />

Immer schon haben die Älteren am<br />

besten gewusst, was für die Jungen<br />

nicht gut ist: Selbstbefriedigung zum<br />

Beispiel, vorehelicher Sex sowie Jazz-<br />

oder Rockmusik.<br />

Meiner Großmutter, Jahrgang 1905,<br />

haben die Eltern das Lesen verboten:<br />

Es mache dumm und halte von wichtigen<br />

Tätigkeiten ab. Wichtig waren<br />

Handarbeiten und Kochen. Zum Glück<br />

war meine Großmutter eigensinnig und<br />

hat sich das Lesen nicht verbieten lassen,<br />

sonst hätte ich, Kind der fünfziger<br />

Jahre, vermutlich weder das Abitur<br />

gemacht noch ein Studium abgeschlossen.<br />

Muss ich noch sagen, was ich von<br />

Herrn Spitzers steilen Bestseller-Thesen<br />

halte?<br />

Anne Verfürth, Düsseldorf<br />

Was Spitzer in seiner Ballerspiel- und<br />

Verblödungspolemik verkennt, ist die<br />

Notwendigkeit, Kinder an die zweckmäßige<br />

Nutzung digitaler Medien heranzuführen,<br />

und der Nutzen, den<br />

Schüler durch die digitale Vernetzung<br />

schon während ihrer Schullaufbahn<br />

haben. Neben Softwareanwendungen<br />

und Webdiensten wie Geogebra oder<br />

Wolfram Alpha stellt allein die Möglichkeit,<br />

sich mit Mitschülern über das<br />

Internet fachlich auszutauschen und<br />

sich in der »großen Gruppe« zu helfen,<br />

also gemeinsam zu lernen, wie das in<br />

der analogen Welt kaum vorstellbar<br />

Man solle die Lehrer in Ruhe (arbeiten)<br />

lassen, weil sie bei ihren Schülern ja<br />

doch ganz passable Ergebnisse bewirkt<br />

haben, schreiben Sie.<br />

Das finde ich auch. Eine Frage habe<br />

ich aber. Sie haben eine Gruppe von<br />

Lehrern (und ihre Schüler) ganz besonders<br />

in Ruhe gelassen und deshalb<br />

überhaupt nicht erwähnt: die Grundschullehrer<br />

(die meistens ja Grundschullehrerinnen<br />

sind). Ich habe nicht<br />

ganz verstanden, warum. Vielleicht,<br />

weil deutsche Grundschulkinder im<br />

internationalen Vergleich (IGLK) so-<br />

wäre, einen Vorteil dar. Wer bei Eltern<br />

eine Sucht- und Verblödungshysterie<br />

auslöst, tut damit vielen Kindern keinen<br />

Gefallen, sondern beraubt sie der<br />

Möglichkeit, unter angemessener Kontrolle<br />

ein eigenes Gespür für den Nutzen<br />

der digitalen Medien zu entwickeln.<br />

Marius Wegener, Aachen<br />

Die Wirkung klassischer Computer und<br />

Taschenrechner ist gewiss vergleichbar: Es<br />

wird das behalten, was gebraucht wird,<br />

das andere kann man ja nachschlagen<br />

oder berechnen lassen.<br />

Ein Beispiel: Mir half ein Abiturient bei<br />

der Gartenarbeit. Stundenlohn 8 Euro.<br />

Abrechnung nach 12 Stunden. Er errechnet<br />

86 Euro. Ich: »Prima, da spare ich<br />

10 Euro!« Er: »Wieso?« Wir ermitteln<br />

gemeinsam: 12x8=96. Das nächste Mal<br />

fallen 13 Stunden an. Er erinnert sich an<br />

12x8=96 und will nun 96+8 rechnen.<br />

Aber da ist der Hunderterübergang im<br />

Wege! Mittlerweile studiert er.<br />

Ludwig Kellner, Baden-Baden<br />

Das Thema ist für viele Menschen für<br />

ihr privates, erzieherisches, aber auch<br />

berufliches Umfeld von großem Interesse.<br />

Ich habe mich auf die Lektüre<br />

regelrecht gefreut. Was ich zu lesen bekommen<br />

habe, ist das zänkische Gespräch<br />

zweier »Experten«, die sich auf<br />

dem Niveau einer RTL-Talkshow<br />

nicht einmal die Mühe geben, eine gemeinsame<br />

Ebene zu finden, die einem<br />

wieso schon zu Pisa-Zeiten deutlich<br />

besser abgeschnitten haben als die in<br />

Pisa getesteten 15-Jährigen?<br />

Oder weil Grundschulen und ihre<br />

Lehrkräfte nicht so wichtig sind (sowieso<br />

alles Frauen, die so ein bisschen mit<br />

kleinen Kindern rumspielen, was soll<br />

daran denn Arbeit sein)?<br />

Oder weil Hamburger Kinder ihre<br />

Schullaufbahn gleich mit dem Gymnasium<br />

anfangen? Hier in NRW müssen<br />

die Grundlagen für die Schulbildung<br />

noch in vier Jahren Grundschule gelegt<br />

werden und, ganz ehrlich, das ist nicht<br />

Leser von Nutzen sein könnte. Absolut<br />

enttäuschend.<br />

Dieter Schöneborn, Buxtehude<br />

Nachdem ich die Positionen des Herrn<br />

Spitzer verinnerlicht hatte, überkam<br />

mich eine große Besorgnis. Blicke ich<br />

zurück auf mein Leben, das fast ein<br />

Vierteljahrhundert währt, wachsen<br />

meine Sorgen.<br />

Mit neun bekam ich einen Gameboy,<br />

den ich ausgiebig bediente, später eine<br />

Playstation, einen ersten Fernseher mit<br />

vierzehn. Meine Familie leistete sich<br />

zu diesem Zeitpunkt einen Internetanschluss,<br />

die Tarife waren noch hoch,<br />

ich durfte nur sonntags in die Weiten<br />

des Netzes aufbrechen. Ich nutzte jede<br />

Minute, jede Sekunde, um meine ersten<br />

eigenen Webseiten zu gestalten, um<br />

mich in Chats und Foren mit Freunden<br />

auszutauschen.<br />

Ein oder zwei Jahre später bekam ich<br />

einen eigenen Computer samt Internetflatrate.<br />

Ich verbrachte Stunden in den<br />

digitalen Welten, hatte dort Freunde,<br />

denen ich nie begegnen sollte. Wir waren<br />

uns nah, wir vertrauten einander;<br />

ich bin nie enttäuscht worden. Doch,<br />

einmal, als ich mich digital verliebte –<br />

wie im wahren Leben, oder?<br />

Alleine oder mit Freunden »durchzechte«<br />

ich so manche Nacht mit exzessiven<br />

Spielen. Neben den geliebten Strategiespielen<br />

standen auch Ballerspiele auf<br />

dem Programm: Droidwars, ein Brow-<br />

Eine deutsche Einheitskirche – wozu denn?<br />

Aufruf zur Einheit: »Ökumene jetzt – Wir sind eine Kirche!« <strong>ZEIT</strong> NR. 37<br />

Der Tonfall kommt einem bekannt vor:<br />

Vor bald 195 Jahren, am 27. September<br />

1817, er geht eine Kabinettsorder Friedrich<br />

Wilhelms III., in der er zu einer<br />

»wahrhaft religiösen Vereinigung der<br />

beiden, nur noch durch äußere Unterschiede<br />

getrennten protestantischen<br />

Kirchen« aufruft. Offenbar waren dem<br />

preußischen König die erheblichen Unterschiede<br />

im Abendmahlsverständnis<br />

der Lutheraner und der Reformierten<br />

nicht besonders wichtig. Er war die<br />

Streitereien leid, wollte Ruhe haben<br />

und eine Kirche unter sich, die die Untertanen<br />

eint.<br />

Heute sind es wieder vor allem Politiker,<br />

die in dem Aufruf »Ökumene jetzt«<br />

feststellen, dass es unter den Christen<br />

eigentlich nur »einen Glauben« gebe<br />

und es auch heute nur äußere und für<br />

das wirkliche Leben in der »Mitte der<br />

Kirche« letztlich irrelevante Unterschiede<br />

seien, die einer Einheit im Wege<br />

stünden. Über Fachfragen sollten sich<br />

die Kirchenleitungen einigen.<br />

Aber wie sähe eine solche politisch herbeigeforderte<br />

Einheit aus? Wir Christen<br />

sind uns nicht einig, wer oder was die<br />

Kirche, ein Bischof, ein Priester, die<br />

Ehe ist. Wir sind uns nicht einig, wie<br />

(und ob ohne oder auch mit oder durch<br />

Menschen oder die Kirche) Gott in der<br />

Welt konkret handelt, liebt, vergibt.<br />

Wir sind uns nicht einig, ob oder wie<br />

wir miteinander das Leben der Ungeborenen<br />

und der Alten schützen sollen,<br />

und in Gender-Zeiten bröckelt unsere<br />

Einigkeit darüber, was ein Mann und<br />

was eine Frau ist.<br />

Wir können nicht gemeinsam für die<br />

Toten beten, und wir können miteinander<br />

die Toten auch nicht für uns beten<br />

lassen, weil wir uns nicht einig sind,<br />

ob sie jetzt schon bei Gott leben. Wir<br />

sind uns nicht einig, was wir mit Amen<br />

meinen, wenn uns jemand ein Stück<br />

Brot reicht und uns sagt, das sei der<br />

Leib Christi.<br />

Natürlich können wir all das für unwichtig<br />

oder äußerlich erklären. Wir<br />

können behaupten, dass das alles Randthemen<br />

seien und dass die, für die diese<br />

Dinge fundamental zum Leben und<br />

Zeugnis der Christen in unserem Land<br />

gehören, Fundamentalisten seien. Das<br />

alles können wir tun. Aber dann müssen<br />

wir uns nicht wundern, wenn eine<br />

solche Neuauflage einer deutschen Einheitskirche<br />

nicht mehr Heilsrelevantes<br />

zum Leben der Menschen zu sagen hat<br />

als die CDU.<br />

Der preußische König hätte sicher seinen<br />

Friedrich Wilhelm unter den Aufruf<br />

gesetzt, aber mit der Einheit, die der<br />

gekreuzigte König meint, hat er gar<br />

nichts zu tun.<br />

Fra’ Dr. Georg Lengerke, Leiter des<br />

Geistlichen Zentrums der Malteser,<br />

Ehreshoven<br />

so einfach, wie Sie vielleicht denken,<br />

denn viele Sechsjährige können echt<br />

noch nicht viel, vor allem noch nicht so<br />

viel Deutsch.<br />

Aber auch Zuhören, Schnürsenkel<br />

binden, Mengen bis zehn erfassen,<br />

Laute hören und unterscheiden, tun,<br />

was eine Lehrerin ihnen sagt und<br />

zeigt, sich konzentrieren, sich etwas<br />

merken – bei vielen Kindern ist das<br />

noch nicht besonders weit gediehen<br />

und muss ihnen – wie gesagt, jedenfalls<br />

in Nordrhein-Westfalen – erst<br />

mal beigebracht werden.<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 87<br />

sergame, dessen wesentliche Komponenten<br />

Wörter, Zahlen und Zeit sind.<br />

Sieben Monate lang zog mich das Spiel<br />

in seinen Bann, dann hörte ich auf, zugunsten<br />

Sozialer Netzwerke. Wenn<br />

man all die Wörter, die ich über Instant<br />

Messenger, in Chats und Sozialen Netzwerken<br />

mit Freunden und Fremden<br />

gewechselt habe, zu Büchern zusammenfasst<br />

und sie ins Bord stellt, würden<br />

daneben Spitzers Werke vermutlich<br />

nicht einmal die Hälfte des Platzes<br />

brauchen.<br />

Ich muss mir also ein schlechtes Zeugnis<br />

ausstellen.<br />

Wer bin ich nur? Ein sehr passabler Lehramtsstudent<br />

der Germanistik und Geschichte.<br />

Ein Naturliebhaber und Imker.<br />

Ein Freund der Bücher und Gespräche.<br />

Ein Verehrer des auf Papier oder digitalen<br />

Seiten geschriebenen Wortes, das ich<br />

mit meinen Liebsten wechsle. Ein<br />

Mensch, der dem Web 2.0, den Computerspielen<br />

und dem Fernsehen die<br />

Gefolgschaft aufgekündigt hat, weil sich<br />

all das im privaten Leben als überflüssig<br />

erwiesen hat – wie die Bravo nach der<br />

Pubertät manches Jugendlichen.<br />

Ich bin ganz und gar verdorben.<br />

In zwei Wochen schreibe ich eine Examensarbeit<br />

über das Thema »Blended<br />

Learning«. Es wird um den Einsatz von<br />

digitalen Medien in Lehr-Lern-Prozessen<br />

gehen. Ich bin froh, diese Arbeit nicht<br />

Herrn Spitzer vorlegen zu müssen.<br />

Julian Klein, 24 Jahre, Aachen<br />

Ein Aufstand mit Günther Jauch und<br />

Richard von Weizsäcker? Das funktioniert<br />

sicher nicht. Ein Aufstand wird<br />

normalerweise gegen etwas geführt.<br />

Gegen Diktatoren oder politische Systeme.<br />

Soll dieser Aufstand gegen die<br />

Trennung verschiedener christlicher<br />

Gruppierungen und damit für ein einziges<br />

Christentum geführt werden?<br />

Ökumene zu verwirklichen ist viel problematischer,<br />

als die Europäische Union<br />

harmonisch zu gestalten. Sollte man<br />

nicht einmal darüber nachdenken, die<br />

Auswüchse religiösen Wahnsinns zu beenden?<br />

Von fundamentalistischen Islamisten<br />

bis zu den Kreationisten.<br />

Was mit dem Internationalen Gerichtshof<br />

in Den Haag gelungen ist, sollte<br />

auf dieser Ebene auch bei der Bekämpfung<br />

von Ideologien angestrebt werden.<br />

Die Ökumene ist mit einem »Aufstand«<br />

kräftig überfordert.<br />

Hermann Goldkamp, Braunschweig<br />

Hamburger Kinder starten wohl gleich im Gymnasium<br />

Thomas Kerstan: »Lasst sie in Ruhe!« <strong>ZEIT</strong> NR. 37<br />

Und das dauert. Bei manchen ziemlich<br />

lange, und die werden immer mehr und<br />

die anderen immer weniger.<br />

Ach ja, und »die Integration behinderter<br />

Kinder bewerkstelligen« müssen die<br />

Grundschullehrer hier in NRW auch,<br />

manche schon seit Jahren, manche erst<br />

seit Kurzem.<br />

Also, wie gesagt, warum Sie die Grundschullehrer<br />

jetzt so total in Ruhe gelassen<br />

haben, habe ich dann doch nicht<br />

verstanden. Obwohl das ja bestimmt<br />

nett gemeint war von Ihnen.<br />

Sibylle Clement, Bonn<br />

Aus N<br />

37<br />

o :<br />

6. September <strong>2012</strong><br />

Kampfbegriff<br />

Kerstin Bund: »Generation<br />

Erblast« <strong>ZEIT</strong> NR. 37<br />

Es ist richtig, dass Kerstin Bund daran<br />

erinnert, dass die Politik vergangener<br />

Jahrzehnte den künftigen Generationen<br />

in vielerlei Hinsicht Hypotheken auferlegt<br />

hat. Das muss gestoppt werden, und<br />

insofern will ich ihr zustimmen. Allerdings<br />

spricht sie nicht für mich, wenn sie<br />

in der aktuellen Debatte eine zentrale<br />

Konfliktlinie zwischen heutigen und zukünftigen<br />

Generationen zieht. Als jetzt<br />

32-jähriger werdender Vater möchte ich<br />

nicht in einer Gesellschaft leben, die einen<br />

solchen Gegensatz zum Kampfbegriff<br />

der Politik erhebt; es gibt wichtigere.<br />

Es ist Frau Bund sicher nicht zu unterstellen,<br />

aber ich möchte nicht, dass eine<br />

Debatte über Generationengerechtigkeit<br />

die viel wesentlichere, generationenübergreifende<br />

Debatte über die generellen<br />

Ungerechtigkeiten zwischen den<br />

Vermögenden und den Nichtvermögenden<br />

verdeckt. Es reicht schon, dass<br />

heute über »faule Griechen« statt über<br />

zügellose Banken und renditegierige<br />

Vermögende diskutiert wird ...<br />

Tim Schöning, Diepholz<br />

Sie haben einen wichtigen Aspekt vergessen.<br />

Die junge Generation erbt nicht<br />

nur Schulden in Billionenhöhe, sondern<br />

auch Vermögen in Billionenhöhe. Leider<br />

ist dieses Erbe sehr ungleich verteilt, und<br />

diese Ungleichheit wird tendenziell zunehmen,<br />

weil die Generation der Älteren<br />

es nicht schafft, eine gerechte Vermögensverteilung<br />

herbeizuführen.<br />

Anne Dominitzki, Ober-Olm<br />

Kerstin Bund hat mir aus der Seele gesprochen!<br />

Schön, dass sich mal jemand<br />

traut, auf der Titelseite zu schreiben:<br />

»Die Demokratie passt sich der Demografie<br />

an ... Die Alten sind bald in der<br />

Mehrheit. Die Herrschaft der Alten<br />

über die Jungen wäre aber die Herrschaft<br />

derer, die nicht mehr arbeiten,<br />

über die, die arbeiten.« Genau diese<br />

Entwicklung macht mir als 25-jährigem<br />

Vollzeit Arbeitendem Angst!<br />

Cornelia Ullmann, per E-Mail<br />

Sie erwähnen nicht, dass wir berufsständische<br />

Versorgungssysteme haben<br />

und die Beamten nicht in die Sozialversicherung<br />

einzahlen. Warum will die<br />

Politik das Rentenniveau drastisch absenken,<br />

ohne dass die Beamtenpensionen<br />

angetastet werden?<br />

Die »reichste« Elterngeneration kommt<br />

dadurch zustande, dass alle Regierungen<br />

seit 1949 die Gewinne/Vermögen<br />

nicht genügend besteuerten. Auch von<br />

Verlagen wie dem Zeitverlag.<br />

Wenn alle Erwerbstätigen in eine gemeinsame<br />

Sozialversicherung einzahlen<br />

und der Millionär eben auch nur eine<br />

Basisrente erhält, weil er vorsorgen<br />

kann: Dann wäre genug Geld da.<br />

Hubert Laufer, Gütersloh<br />

Mann!<br />

Nadine Ahr: »Wohnung in<br />

bester Krisenlage« <strong>ZEIT</strong> NR. 37<br />

Ich lese die <strong>ZEIT</strong> sehr gerne, doch<br />

manchmal muss ich mich auch sehr<br />

über sie ärgern. Sobald es in der <strong>ZEIT</strong><br />

um Politik geht, gibt es keine Frauen<br />

mehr. It’s a man’s world.<br />

Da geht es in der Europa-Serie um spanische<br />

Polizisten, einen griechischen<br />

Schmuckhändler, zwei italienische Kioskbetreiber<br />

und einen deutschen Makler.<br />

Was ist los? Sind keine Frauen von der<br />

Krise betroffen? Polizistinnen, Händlerinnen,<br />

Maklerinnen? Keine Erwähnung in<br />

den Artikeln. Nicht mal in der Serie.<br />

Genauso bei Bernd Ulrich, ein guter,<br />

langer Beitrag über das aktuelle Verhältnis<br />

der Deutschen zum Holocaust.<br />

Ein Botschafter, ein Museumsdirektor,<br />

ein Schriftsteller, ein Journalist. Keine<br />

Frauen: weder in Deutschland noch in<br />

Israel. Es sagt viel darüber aus, wie beiläufig<br />

es geschieht. Hätte in den Serien<br />

nicht eine Frau Platz gehabt? Eine einzige<br />

Quotenfrau?<br />

Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Frauen<br />

tragen die Hälfte des Himmels«. Diese<br />

Hälfte würde ich auch gerne in der <strong>ZEIT</strong><br />

und vor allem in der Politik lesen.<br />

Eli Schmid, Bad Tölz


Leserbriefe siehe Seite 87<br />

Liebe <strong>ZEIT</strong>-Leserinnen<br />

und -Leser, in dieser<br />

Ausgabe endet unsere<br />

Sommer-Serie »Internationale<br />

Küche«. Die<br />

»Sohlenfi lets«, »Meerärsche«<br />

und »Mundtäschchen«,<br />

die Sie auf<br />

den Speisekarten rund<br />

um die Welt entdeckt<br />

haben, waren einfach<br />

köstlich! Und wenn<br />

Ihnen der Abschied<br />

von der Reisesaison<br />

genauso schwerfällt<br />

wie uns, dann<br />

schicken Sie künftig<br />

einfach originelle<br />

Urlaubsandenken für<br />

unsere Rubrik<br />

»Mein Ding«! HOF<br />

Mein<br />

Wort-Schatz<br />

Ich mag das Wort nächtigen. Was<br />

für eine Breite an Möglichkeiten<br />

enthält es: das Obdachlosenquartier<br />

im Eingang eines Geschäftes,<br />

das Wachen vor einer Kaserne sowie<br />

die kuschelige oder auch schlaflose<br />

Nacht mit einer Bettgefährtin.<br />

Ulrich Fest, Emden<br />

Wenn man bei uns ein Nickerchen<br />

machen wollte, hieß es: »Ich nehme<br />

noch eine Mütze voll Schlaf.« Und<br />

nach einem langen Tag sagte meine<br />

Mutter zu uns Kindern: »Heute<br />

werdet ihr so tief schlafen, dass ein<br />

Auge das andere nicht sieht.«<br />

Karl-Heinz Becker,<br />

Jettingen, Baden-Württemberg<br />

»Ich mache mich dann schon mal<br />

bett(geh)fein«, kündige ich am<br />

Abend gerne an. Wobei dieses<br />

nostalgisch klingende Wort neben<br />

dem Anziehen eines (nicht mal<br />

feinen) Schlafanzuges auch die<br />

Routine im Badezimmer (Zähne<br />

putzen, Kontaktlinsen reinigen)<br />

umfasst. Der Duden gibt keine<br />

Info, die Suchergebnisse im Internet<br />

sind überschaubar. Umso wichtiger,<br />

dieses Wort nicht in Vergessenheit<br />

geraten zu lassen.<br />

Jan Wagemester, Braunschweig<br />

Manchmal scheint es, als ob Anstrengung<br />

nur noch negativ wahrgenommen<br />

wird. Ich will das<br />

Burn-out in unserer hektischen<br />

Zeit nicht kleinreden, aber wie<br />

schön ist es, nach getaner Arbeit<br />

wohlig ermattet zu sein. Diese<br />

Momente wunschloser Zufriedenheit<br />

und meditativer Leere sind das<br />

pure Glück. Falls Sie das nächste<br />

Mal einer fragt: »Na, bist du auch<br />

so kaputt?«, wäre es doch toll, wenn<br />

Sie antworten könnten: »Nein, nur<br />

ein wenig ermattet.«<br />

Thorsten Faust,<br />

Leingarten, Baden-Württemberg<br />

Schicken Sie Ihre Beiträge für<br />

»Die <strong>ZEIT</strong> der Leser« bitte an:<br />

leser@zeit.de<br />

oder an<br />

Redaktion <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>,<br />

»Die <strong>ZEIT</strong> der Leser«,<br />

20079 Hamburg<br />

Die Redaktion behält sich die<br />

Auswahl, eine Kürzung und die<br />

übliche redaktionelle Bearbeitung<br />

der Bei träge vor. Mit der Einsendung<br />

eines Beitrags erklären<br />

Sie sich damit einverstanden, dass<br />

der Beitrag in der <strong>ZEIT</strong>, im Internet<br />

unter www.zeit.de/zeit-der-leser<br />

und auch in einem <strong>ZEIT</strong>-der-<br />

Leser-Buch (Sammlung von<br />

Leserbei trägen) veröffentlicht<br />

werden kann<br />

1999 <strong>2012</strong><br />

Diese beiden Fotos wurden in der Nähe unserer<br />

Lieblingsbadestelle an der Nordsee bei Lüttmoorsiel<br />

aufgenommen.<br />

Das linke Bild entstand im Februar 1999 auf einem<br />

winterlichen Spaziergang. Gut ausgerüstet<br />

mit heißem Kakao und Keksen legten mein Mann<br />

Hauke und unsere Tochter Sirka mit unserer Hün-<br />

EIN GEDICHT!<br />

Klassische Lyrik, neu verfasst<br />

Das Fräulein stand<br />

im Parke<br />

(Nach Heinrich Heine, »Das Fräulein stand am Meere«)<br />

Das Fräulein stand im Parke<br />

Und seufzte lang und schwer,<br />

Es rührte sie so arge<br />

Der Blattfall ringsumher.<br />

Mein Fräulein! sein Sie munter,<br />

Das ist ein altes Stück;<br />

Im Herbst, da fallen sie runter<br />

Und kommen im Frühling zurück.<br />

Elsa Zettelmann, Köln<br />

STRASSENBILD<br />

Eigentümlich<br />

Dieses Foto habe ich vor einiger Zeit auf einem Friedhof in<br />

Berlin gemacht. Es lebe das Privateigentum!<br />

Doris Nienhüser, Haltern am See<br />

!<br />

Zeitsprung<br />

din Nala, die damals etwa neun Monate alt war,<br />

eine Verschnaufpause oben auf dem Deich ein.<br />

Das rechte Bild habe ich in diesem Jahr fotografiert.<br />

Inzwischen sind mehr als dreizehn Jahre ins<br />

Land gegangen. Unsere Tochter ist inzwischen erwachsen,<br />

Herrchen und Hund sind etwas ergraut.<br />

An diesem stürmischen Sommertag <strong>2012</strong> war es nicht<br />

Internationale Küche<br />

Auf Mallorca bot ein Chinarestaurant auf<br />

einer Holztafel seine »Speialitäten« an. Ich war<br />

zwar nicht dort zu Gast, möchte aber zugunsten<br />

des Kochs annehmen, dass seine<br />

Speisen S bekömmlicher waren, als es<br />

die d Tafel vermuten ließ ...<br />

Margret M Dick, Dülmen<br />

Man M muss gar nicht so weit fahren,<br />

auch hierzulande ist der Fehlerteufel<br />

unterwegs. So fand ich in meiner<br />

Heimatstadt Osnabrück bei<br />

den Weintagen eines Restaurants<br />

den »falschen Wein des Monats«<br />

für 12,50 Euro. Die Frage, ob ich<br />

mit Falschgeld des Monats bezah-<br />

Wiedergefunden:<br />

Umschlag<br />

auf Umwegen<br />

Beim Durchsehen alter Unterlagen fand<br />

ich diesen Briefumschlag aus dem Jahr<br />

1972. Damals gab es kein Internet und<br />

kaum Kopierer, daher bat man die Autoren<br />

einer wissenschaftlichen Veröf-<br />

fentlichung um einen Nachdruck, indem mman man<br />

ihnen vorgedruckte Postkarten schickte: »I would greatly appreciate receiving a reprint ...«<br />

Leider vergaß ich damals, die betreffende Karte mit dem Institutsstempel zu versehen.<br />

Der angeschriebene Kollege in Israel hatte deshalb nur den Poststempel und meine Unterschrift<br />

als Anhaltspunkt. Mit grenzenlosem Vertrauen in die Fähigkeiten der Post schnitt<br />

er beides aus der Karte aus, klebte es auf seinen Brief und fügte Germany hinzu. In der<br />

Hauptpost Gießen muss es manches Kopfschütteln gegeben haben, aber auch sportlichen<br />

Ehrgeiz. Nach einigen Umwegen erreichte mich der Umschlag.<br />

VIELEN DANK, LIEBE BUNDESPOST!<br />

Albrecht Grimm, Nottuln, Nordrhein-Westfalen<br />

Die Kritzelei der Woche<br />

Während die Kinder die letzten Ferientage bei Oma und Opa verbringen, habe ich<br />

aufgeräumt – und auf der Schreibtischunterlage meiner achtjährigen Tochter Birte<br />

diese Kritzelei gefunden. Entstanden ist sie in vielen Stunden des CD-Hörens, Vorsich-hin-Träumens,<br />

Sich-vor-Schularbeiten-Drückens ...<br />

Susanne Kremer, Stuttgart<br />

einfach, Nala zum Stillhalten zu bewegen: Der Wind<br />

brauste über den Deich, und die Kekse drohten wegzufliegen.<br />

Dennoch hatten wir viel Spaß – nach dem<br />

Fototermin setzten wir die Kakaopause allerdings in<br />

einer windstilleren Ecke fort.<br />

Jutta Hogrefe-Feddersen, Bredstedt, Schleswig-Holstein<br />

len darf, wurde allerdings leider mit Nein<br />

beantwortet.<br />

Christian Heinecke, Osnabrück<br />

Kleine Taverne auf Rhodos mit Blick auf den<br />

Sonnenuntergang. Auf der dreisprachigen<br />

Speisekarte wurden »Gigantes« (Normalerweise<br />

dicke weiße Bohnen in Tomatensoße)<br />

angeboten. Die englische Übersetzung lautete<br />

»Lion Beans« – deren Existenz sich jedoch<br />

auch nachträglich in keinem der üblichen<br />

Nachschlagewerke erhärten ließ. Noch skurriler<br />

dann die Weiterübersetzung ins Deutsche:<br />

»Löwen Bienen«! ... Lecker!<br />

Benno Remling, Düsseldorf<br />

ALLTAGSKUNST<br />

20. September <strong>2012</strong><br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 88<br />

Was mein<br />

LEBEN<br />

reicher macht<br />

Das Citrusbäumchen auf meiner<br />

Terrasse. Es steht in voller Blüte und<br />

verströmt einen betörenden Duft.<br />

Beate van Oel, Berlin<br />

Seit April lebe und arbeite ich auf<br />

Mallorca. Und mein Liebster macht<br />

Überstunden, damit er mich jeden<br />

Monat für ein paar Tage besuchen<br />

kann. Jan, ich liebe dich!<br />

Claudia Hein, Costa de los Pinos<br />

Nachts um halb drei Uhr von unserem<br />

Dreijährigen geweckt zu werden:<br />

»Ich muss Pipi.« Den Sohnemann<br />

schlaftrunken auf die Toilette<br />

zu setzen und mir während des Pinkelns<br />

von ihm ins Ohr flüstern zu<br />

lassen: »Papi, ich hab dich lieb.«<br />

Karsten Stanberger, Recklinghausen<br />

Ich lebe allein mit César, meinem<br />

14-jährigen Sohn. Sein Vater<br />

wohnt in Frankreich. Phasenweise<br />

fürchte ich, manches falsch gemacht<br />

zu haben – gerade, wenn<br />

das Vokabular meines Sohnes nur<br />

aus »Digger!«, »Scheiße« und<br />

»Chill, Mama!« zu bestehen<br />

scheint. Gestern jedoch hörte ich<br />

ihn durch die geöffnete Tür zu einer<br />

seiner Wüstenrennmäuse im<br />

Terrarium sagen: »Na, Mäuschen,<br />

soll Papa César dich mal hochnehmen?«<br />

Da dachte ich gerührt:<br />

Ach, das wird schon ...<br />

Barbara Hintze-Maurin, Hamburg<br />

Das spontane nächtliche Treffen auf<br />

unserer Terrasse, um mucksmäuschenstill<br />

vier Igelkinder bei ihren<br />

ersten Streifzügen durch unseren<br />

Garten zu beobachten.<br />

Sigrid Heuer,<br />

Vallendar, Rheinland-Pfalz<br />

Meine Psychoanalyse – begonnen in<br />

der Not, häufig anstrengend, immer<br />

wieder beglückend und heilsam,<br />

wenn sich innere Räume auftun und<br />

gemeinsam verstehbar wird, weshalb<br />

ich so bin, wie ich nun mal bin.<br />

Paula Kleeblum, Freiburg<br />

Neu in Wien. Auf dem Weg zur<br />

Arbeit – und in Eile – wollte ich<br />

gerade in die U-Bahn hechten, als<br />

die automatische Bandstimme<br />

mit »Zug fährt ab« drohte. Resigniert<br />

trat ich zurück, um nicht<br />

zwischen den sich schließenden<br />

Türhälften zermalmt zu werden.<br />

Da schallte aus dem Lautsprecher<br />

die ungeduldig-freundliche Stimme<br />

der Fahrerin quer über den gesamten<br />

Bahnsteig: »Na, Schatzerl,<br />

wooos iiiis?« Mit einem Lächeln<br />

stieg ich ein.<br />

Brigitte Gläser, Wien<br />

Kürzlich war ich in meiner Heimatstadt<br />

Wismar und begleitete meinen<br />

Freund auf eine seiner Gewölbeführungen<br />

in der Sankt-Nikolai-Kirche.<br />

Dabei zeigt er Touristen die Backsteingotik-Kathedrale.<br />

Auf seine<br />

Eingangsfrage, ob jemand unter<br />

Zeitdruck stehe, fragte ein kleiner<br />

Junge zurück: »Was ist das?« Er<br />

erntete einige Lacher, aber eigentlich<br />

ist es beruhigend, dass dieses Wort<br />

für ihn noch keine Bedeutung hat!<br />

Wiebke Neelsen, Erfurt<br />

Meine erste Türkischstunde im<br />

Café Neruda: Immer wieder kommen<br />

türkische Gäste vorbei, begrüßen<br />

meinen Lehrer Fikret und<br />

mich, loben und verbessern mich:<br />

Integration hautnah.<br />

Barbara Lutz, Augsburg<br />

Nach einem kurzen, aber wunderschönen<br />

Urlaubsbesuch bei der<br />

Familie meiner Freundin sitze ich<br />

im Zug zurück aus Sylt. Ich lese<br />

und döse ein wenig vor mich hin.<br />

Alle Herausforderungen des neuen<br />

Schuljahres scheinen mit einem Mal<br />

weniger schwierig.<br />

Tim Bosch, Nittel, Rheinland-Pfalz<br />

Ich bin früh morgens zu Fuß unterwegs,<br />

um etwas zu erledigen. Es ist<br />

alles noch ganz ruhig. Nur ein Bauarbeiter<br />

ist auf dem eingerüsteten<br />

Kirchturm zugange. Plötzlich schallt<br />

Highway to Hell vom Turm.<br />

Angelika Schmaus,<br />

Schliersee, Bayern


Dirk@work<br />

Nr. <strong>39</strong> 20. 9. <strong>2012</strong><br />

Von Kindern lernen, Seite 24 24


Ein deutscher Superstar in Amerika –<br />

unterwegs mit dem Basketballspieler Dirk Nowitzki


INHALT NR. <strong>39</strong> Alles, was in diesem Heft passiert<br />

32<br />

Der Traum der<br />

Popsängerin Lykke Li<br />

34<br />

Israelis reden über ihren<br />

Militärdienst<br />

6 Harald Martenstein über die Farbe von Eiern und über Geschlechtertheorien<br />

7 Auch das gehört ins Tagebuch: Alleine schlafen<br />

8 Wer in Köln lebt, hat allen Grund, heiter zu sein<br />

10 Wer wissen will, wo die Hipster leben, erfährt es in der Deutschlandkarte<br />

11 Die große PR-Offensive des englischen Königshauses<br />

12 Der Schriftsteller Thomas Pletzinger über seine Begegnungen mit Dirk Nowitzki<br />

44 Unser Stilkolumnist joggt regelmäßig – aber was hat er dabei an?<br />

45 Einmal rund um den Starnberger See nimmt der Chef vom Dienst lieber das Auto<br />

46 Der Wochenmarkt singt ein Lob auf die indische Küche<br />

48 Auch eine Frage der Liebe: Wer darf bestimmen, woran der Sohn glauben soll?<br />

50 Die Stichfrage ist diesmal so was von süß<br />

54 Gesine Schwans Rettung waren ihr Glaube und die Psychoanalyse<br />

Und so sieht unser Zeichner Ahoi Polloi die Welt<br />

Titelfotos Pari Dukovic Fotos Inhalt Nadine Elfenbein; Andreas Herzau; KLAX-Kinderkunstgalerie<br />

24<br />

Was wir von Kindern<br />

lernen können<br />

5


Die Firma Ferrero macht Werbung für sogenannte Über raschungs eier<br />

aus Schokolade, die speziell für Mädchen gemacht sind. Diese Eier<br />

sind schweinchenrosa verpackt. Die Werbung ist eine einzige Orgie in<br />

Rosa. Erwartungsgemäß gab es Proteste, weil mit der Farbe Rosa ja auf<br />

billigste Weise historisch überholte Geschlechterklischees bedient werden.<br />

Mäd chen eier rosa, Büb chen eier hellblau – provozierender geht es<br />

kaum. Ich vermute stark, dass die Werbeagentur feministische Proteste<br />

einkalkuliert hat. Ein Aufreger-Ei, das politische Debatten in intellektuellen<br />

Milieus anstößt, ist aus kaufmännischer Sicht weit besser als<br />

ein Konsens-Ei, über das von CSU bis Linkspartei alle sich einig sind.<br />

Eine Kulturwissenschaftlerin hat mir erklärt, dass noch<br />

im 19. Jahrhundert die Farbe Rosa für die Kleidung von Knaben<br />

verwendet wurde und die Farbe Blau für Mädchen. Das ist alles nur<br />

Kultur, sagte die Kulturwissenschaftlerin. Wenn sich die Gesellschaft<br />

morgen darüber kulturell verständigt, dass Grün die Mädchenfarbe<br />

ist und Gelb die Bübchenfarbe, und wenn sich alle daran<br />

halten, dann ziehen die Mädchen sich übermorgen lindgrüne<br />

Trachtenjanker an. Und überübermorgen gibt es dann Proteste dagegen.<br />

Proteste sind auch Kultur.<br />

Jeder, der mal Jungen und Mädchen hat aufwachsen sehen,<br />

weiß, dass sie irgendwann anfangen, sich auf extrem klischeehafte<br />

Weise wie Jungen und Mädchen aufzuführen. Als mein Sohn klein<br />

war, hat meine Oma ihm oft Puppen geschenkt. Er wollte aber mit<br />

Autos spielen. Ich glaube nicht an die Verschwörungstheorie. Die Verschwörungstheorie<br />

lautet, dass all diese Verhaltensweisen auf unbewusste<br />

Manipulation durch die Erwachsenen zurückzuführen sind.<br />

Mädchen und Jungen möchten einfach ihre Identität finden. Wenn<br />

6<br />

HARALD MARTENSTEIN<br />

Über Geschlechtertheorien:<br />

»Ein Aufreger-Ei ist besser als ein Konsens-Ei«<br />

man der Natur ihren Lauf lässt, kommen am Ende verschiedene Geschlechter<br />

heraus, die sich, trotz vieler Gemeinsamkeiten, in ein paar<br />

Punkten unterschiedlich verhalten.<br />

Ich frage mich, was daran schlecht sein soll und wieso man<br />

es ändern will. Ein Einheitsgender, die Mauen oder die Fränner oder<br />

wie immer das dann heißt, so was wäre doch total langweilig. Frauen<br />

und Männer in klischeehaften Situationen – ich bin dafür. Bei den<br />

Schnecken gibt es das Gegenteil ja bereits, Schnecken haben alle ein<br />

Einheitsgeschlecht. Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich dagegen<br />

kämpfen, dass die Schnecke in unserer Gesellschaft das neue Rollenmodell<br />

wird. Rumschleimen, Salat essen, überall zu spät kommen und<br />

ein einziges Geschlecht haben, ich toleriere das, ich kann damit umgehen,<br />

aber es soll bitte nicht Pflicht werden.<br />

Ich möchte etwas Privates enthüllen. Meine Oma hat auch<br />

mir oft Puppen geschenkt. Ich weiß nicht, wieso. Sie war nicht auf dem<br />

Gender-Trip, sie hat nicht Judith Butler gelesen, sie war lediglich ein<br />

bisschen unkonventionell. Einen nicht unwesentlichen Teil meiner<br />

Kindheit habe ich folglich damit verbracht, Puppen an- und auszuziehen.<br />

Das hat Spaß gemacht, auch wenn ich dadurch falsche Vorstellungen<br />

von der weiblichen Anatomie bekommen habe. Puppen sind in<br />

dieser Hinsicht ein bisschen unrealistisch, was Jungen, die mit Puppen<br />

spielen, leider nicht immer gleich wissen. Und? Am Ende der Puppenspielerei<br />

bin ich vermutlich der gleiche Typ geworden, der ich sowieso<br />

bin, ein Typ, der es völlig egal findet, ob Mädchen rosa Eier essen oder<br />

giftgrüne Eier oder gar keine Eier, ein Typ, der nicht daran glaubt, dass<br />

man mithilfe von Erziehung Menschen in andere Menschen verwandeln<br />

kann, mehr noch, ein Typ, der genau dies gut findet.<br />

Zu hören unter www.zeit.de/audio Illustration Fengel


TAGEBUCH EINER JUNGEN FRAU<br />

Emeric und ich haben uns dieses Frühjahr getrennt, nach vier Jahren.<br />

Ich war mir sicher gewesen, dass wir für immer zusammenbleiben würden,<br />

aber ich begreife gerade, dass auf dieser Welt nichts sicher ist. Die<br />

Unsicherheit ist ein großer Teil ihres Charmes, so furchteinflößend das<br />

sein mag. Was ich auch gerade lerne, ist die Kunst, allein zu schlafen. Es<br />

ist ein langsamer Prozess. Montagnacht bin ich aufgewacht, weil jemand<br />

an meine Wohnungstür klopfte, aber weil ich zu viel Angst hatte,<br />

sie zu öffnen, blieb ich im Bett. Am Dienstag bin ich aufgewacht und<br />

war mir sicher, dass das Kissen neben mir das Gesicht eines Mannes ist.<br />

ALLEIN SCHLAFEN<br />

Mittwochnacht fiel ein Bild von der Wand. Donnerstagnacht hatte ich<br />

so schlimme Migräne, dass ich gar nicht schlafen konnte, bis ich mich<br />

übergab und vor Schmerzen ohnmächtig wurde. Und dann gibt es<br />

noch die normalen Nächte, in denen ich kaum einschlafen kann, weil<br />

mein Kopf voller Gedanken ist und mein Bett leer.<br />

Die schwedische Fotografin Lina Scheynius, Jahrgang 1981,<br />

lebt in London. Sie arbeitet für internationale Magazine – und führt<br />

in diesem Jahr für uns Tagebuch<br />

7


Die <strong>ZEIT</strong>magazin n En Entdeckungen der Woche<br />

Die einen schwören ren<br />

auf »Ritter Sport«,<br />

andere essen lieber<br />

SCHOKOLADE<br />

in Fischform von<br />

Rococo Chocolates<br />

aus London<br />

Wer in Köln diese<br />

FAHRENDE<br />

ESPRESSOBAR<br />

der Kaffeerösterei<br />

Van Dyck sieht:<br />

Hand heben.<br />

Dann hält sie an<br />

H E I T E R B I S G L Ü C K L I C H<br />

Diese hier ruft in freudiger Erwartung: Bis morgen! Von Papermash<br />

Sagen Sie es mit einer PARTYGIRLANDE.<br />

»Reden und sich gleichzeitig<br />

bewegen. Das war echt schwer«<br />

RYAN LOCHTE, mehrfacher Olympiasieger im Schwimmen,<br />

über seinen Gastauftritt in der US-Fernsehserie »90210«<br />

Das ist Greta Garbo, fotografiert von Cecil Beaton.<br />

Ein BILDBAND mit seinen imposanten Porträts ist gerade bei ei<br />

Schirmer/Mosel erschienen: »The Essential Cecil Beaton«<br />

100 %<br />

Die neue Ausgabe des<br />

MAGAZINS »032c«<br />

aus Berlin hat kein<br />

geringeres Ziel, als die<br />

Welt zu verstehen<br />

Die Di schönsten<br />

LEDER LE JACKEN<br />

gibt es beim Label<br />

Muubaa: ohne<br />

Biker-Attitüde,<br />

schmal geschnitten,<br />

heitere Farben<br />

Gummistiefel gibt<br />

es jetzt als SEIFE –<br />

bei Scottish Fine Soaps<br />

(sie haben auch<br />

Ballerinas aus Seife)<br />

Fotos Papermash; Rococo Chocolates; Muuba; Sarah Beckhoff; Espressizy;<br />

The Cecil Beaton Archive / Schirmer / Mosel; Scottish Fine Soaps


Deutschlandkarte HIPSTER-VIERTEL<br />

Hamburg<br />

Wilhelmsburg:<br />

Vogelhüttendeich,<br />

Stübenplatz<br />

St. Pauli:<br />

Simon-von-Utrecht-Straße,<br />

Paul-Roosen-Straße,<br />

Wohlwillstraße,<br />

Thadenstraße,<br />

Karolinenviertel,<br />

Gegend um Sternschanze<br />

und Schulterblatt<br />

Altona:<br />

Gegend im Straßendreieck<br />

Holstenstraße, Königstraße,<br />

Max-Brauer-Allee<br />

Düsseldorf<br />

Flingern:<br />

Ackerstraße<br />

Köln<br />

Belgisches<br />

Viertel:<br />

Brüsseler Platz<br />

Ehrenfeld:<br />

rund um die<br />

Körnerstraße<br />

Frankfurt<br />

Bahnhofsviertel:<br />

zwischen<br />

Münchener Straße<br />

und Kaiserstraße<br />

Sachsenhausen:<br />

Brückenstraße<br />

und Wallstraße<br />

Innenstadt:<br />

Willy-Brandt-Platz<br />

und Bethmannstraße<br />

Altstadt:<br />

Schöne Aussicht<br />

10<br />

Stuttgart<br />

Mitte:<br />

Geißstraße und<br />

Heusteigviertel<br />

Das Buch Hipster, herausgegeben von dem<br />

amerikanischen Essayisten Mark Greif, zählt<br />

Hipster-Viertel in amerikanischen Städten<br />

auf. Wir fragten uns, wie weit das Hipstertum<br />

von Amerika aus in die deutsche Provinz vorgedrungen<br />

ist, auch deshalb, weil viele Berlin-<br />

Touristen aus deutschen Kleinstädten die bekannten<br />

Hipster-Accessoires tragen (dicke<br />

Stadtviertel, denen eine hohe Hipster-Dichte nachgesagt wird<br />

Brille, Bart, Jutetasche). Wir telefonierten mit<br />

Stadtmagazinen und ausgehfreudigen Freunden<br />

im ganzen Land und fragten: Welche<br />

Hipster-Viertel habt ihr so? Wenn die Gegenfrage<br />

hieß: »Was meint ihr damit?«, strichen<br />

wir die Stadt von der Karte. Das schien uns<br />

wissenschaftlich korrekt zu sein. Andere Städte<br />

vermeldeten In- oder Studentenviertel.<br />

Berlin<br />

Neukölln:<br />

Weserstraße<br />

und Weichselstraße<br />

Mitte:<br />

Tostraße,<br />

Münzstraße,<br />

Brunnenstraße<br />

Kreuzberg:<br />

rund um die<br />

Oranienstraße<br />

Schöneberg:<br />

Potsdamer<br />

Straße<br />

Leipzig<br />

Plagwitz:<br />

Zschochersche Straße,<br />

Karl-Heine-Straße und<br />

Sachsenbrücke<br />

München<br />

Gärtnerplatzviertel<br />

Glockenbachviertel:<br />

Fraunhoferstraße<br />

Dreimühlenviertel:<br />

Ehrengutstraße und<br />

Dreimühlenstraße<br />

Westend:<br />

Schwanthalerstraße,<br />

Theresienhöhe und<br />

Gollierstraße<br />

Aber ein Student ist noch lange kein Hipster,<br />

und in ist ja auch eher ein Wort von früher.<br />

Hipster mag es überall geben, Hipster-Viertel<br />

aber nur in acht Städten, das ist das Ergebnis<br />

unserer Befragung. Zum Hipstertum gehört,<br />

nicht gerne in Hipster-Vierteln zu wohnen,<br />

weshalb diese Karte nur von begrenzter Haltbarkeit<br />

sein dürfte. Matthias Stolz<br />

Illustration Jörg Block Recherche Friederike Milbradt


Für Mitglieder<br />

des Königshauses<br />

ist es unmöglich,<br />

sich zu verstecken<br />

London, im September. Vor Kurzem ist<br />

Prinz Harry nackt beim Strip-Billard in<br />

Las Vegas fotografiert worden. Zum Glück<br />

sind in der PR-Zentrale des Palastes seit<br />

einigen Jahren Profis am Werk. Sie wissen,<br />

dass man peinliche Geschichten nur auf<br />

eine Weise vergessen machen kann: durch<br />

neue Bilder. Über die Diskussionen, die<br />

der Bilderflut der letzten Tage vorangingen,<br />

können wir nur spekulieren:<br />

Praktikant: »Wie wär’s mit Harry in Afghanistan?<br />

In Uniform? Keine Frau weit<br />

und breit, nur Sonne und Sand.«<br />

PR-Guru: »Gut gedacht, James, aber dann<br />

wird es heißen, wir hätten ihn aus PR-<br />

Gründen in den Krieg geschickt.«<br />

Praktikant: »Vielleicht könnte er in Las Vegas<br />

was von Abschiedsparty gerufen haben.«<br />

PR-Guru: »Du bist dein Geld wert, James.«<br />

Praktikant: »Könnte Kate nicht auch ein<br />

Foto liefern? Oben ohne oder so?<br />

PR-Guru: »Vergiss es. Ist unrealistisch.«<br />

Praktikant: »Schon vergessen.«<br />

PR-Guru: »Prinz Andrew bietet seit Jahren<br />

an, sich von einem Wolkenkratzer abzuseilen.«<br />

Praktikant: »Hm ...«<br />

PR-Guru: »Egal, wir können wirklich jedes<br />

Bild gebrauchen.«<br />

Praktikant: »Und wie begründen wir es?«<br />

PR-Guru: »Charity.«<br />

Foto Nicky Loh / Getty Images<br />

Gesellschaftskritik<br />

Über PR-Strategien<br />

Praktikant: »Sekunde, Sir. Hier kommt<br />

gerade eine Mail rein. Monty ist tot.«<br />

PR-Guru: »Wer?«<br />

Praktikant: »Einer der Hunde der Queen,<br />

Sir.«<br />

PR-Guru: »Das ist ja fürchterlich. Jag die<br />

Meldung raus, James!«<br />

Tippt: Trauerfall im Buckingham-Palast:<br />

Monty, eines der Corgi-Hündchen der<br />

Queen, ist gestorben. Der Hund hinterlässt<br />

seine Geschwister Willow und Holly<br />

sowie zwei Dorgis, Candy und Vulcan ...<br />

PR-Guru: »Stopp, das reicht an Tiernamen,<br />

James. Wir sind ja kein Zoo. Gott,<br />

was für ein Unsinn.«<br />

Wenige Tage später.<br />

Praktikant: »Sie haben angebissen, Sir.«<br />

PR-Guru: »Wer?«<br />

Praktikant: »Äh, die Taliban.«<br />

Liest vor: »›Wir haben unsere Kommandanten<br />

angewiesen, alles zu tun, um Harry<br />

zu eliminieren‹, sagte Taliban-Sprecher<br />

Mudschahid. Die Taliban hätten einen<br />

Plan ausgearbeitet, erklärte er.«<br />

PR-Guru: »Steht da was von Vegas?«<br />

Praktikant: »Kein Wort, Sir.«<br />

PR-Guru: »Mission accomplished, James.«<br />

Praktikant: »Oh Gott, hier kommt schon<br />

die nächste Meldung: Kate topless!«<br />

PR-Guru: »Wir brauchen neue Bilder,<br />

James!« Heike Faller<br />

11


12<br />

Eine andere Liga<br />

Von<br />

THOMAS PLETZINGER<br />

Fotos<br />

PARI DUKOVIC


Die Arena der Dallas Mavericks, Nowitzkis<br />

Arbeitsplatz – und er selbst nach einem Spiel<br />

Dirk Nowitzki ist in Deutschland ein Superstar –<br />

in den USA aber ist er »Saint Dirk«.<br />

Der Schriftsteller Thomas Pletzinger hat ihn getroffen<br />

13


MANCHMAL GIBT einem der Zufall Antworten, ehe man<br />

seine Fragen gestellt hat. Der Taxifahrer, der mich vom Flughafen Dallas<br />

zum Hotel bringen soll, heißt Haile, ist Mitte vierzig und stammt<br />

aus Eritrea. Er glaubt an Gott, Großzügigkeit und Dirk Nowitzki.<br />

Haile trägt ein blaues T-Shirt mit Nowitzkis 41. Sein Taxi riecht nach<br />

Süßholz, an seinem Rückspiegel baumelt ein Rosenkranz aus blau-weißen<br />

Plastikperlen, die Farben der Dallas Mave ricks. Auf seinem Armaturenbrett<br />

klebt eine elfenbeinerne Plakette, der heilige Christophorus,<br />

Schutzpatron der Autofahrer. Direkt daneben: eine goldgerahmte Autogrammkarte<br />

von Dirk Nowitzki mit langen Haaren und Stirnband.<br />

Nowitzki ist der Grund, warum ich nach Dallas gekommen bin,<br />

aber davon weiß der Taxifahrer nichts, als er »Saint Dirk« sagt und<br />

lächelt, »savior of Dallas basketball«. Der Verkehr ist dickflüssig, die<br />

Sonne steht steil auf dem Asphalt, die Klimaanlage des Taxis jammert.<br />

Haile hupt und jubelt und reicht mir Lakritz. Warum ich nach<br />

Dallas gekommen sei, fragt er. Ich sei hier, um Dirk Nowitzki zu<br />

treffen, erkläre ich und nicke Richtung Armaturenbrett, Richtung<br />

blau-weißer Rosenkranz, es seien ja jetzt Play-offs. Haile dreht sich in<br />

voller Fahrt um und starrt mich fassungslos an. »You’re meeting Dirk?<br />

Are you fucking joking?«<br />

Wie viele andere habe auch ich einmal von einer Basketballkarriere<br />

geträumt. Die Träumerei aufgegeben habe ich 1994, als man zum<br />

ersten Mal Gerüchte von einem talentierten Spargeltarzan aus Würzburg<br />

hörte, 16 Jahre alt, knapp zwei Meter groß, sehr beweglich und<br />

mit exzellentem Wurf. In den Turnhallen erzählte man sich, dass er das<br />

Zeug zum besten Spieler Deutschlands habe. Ein paar Jahre später sah<br />

ich Nowitzki dann zum ersten Mal spielen, Brandt Hagen gegen<br />

Würzburg, es muss 1998 gewesen sein. Das Spiel war nicht ausverkauft.<br />

Nowitzki war jetzt 2,13 Meter und musste sich schon damals<br />

nicht mehr an die Rollen und Regeln halten, an die man in Deutschland<br />

glaubte: Große und schwere Spieler unter den Korb, kleine und<br />

schnelle nach außen. Nowitzki konnte alles. Er war groß, schnell und<br />

clever, er konnte von überall werfen und treffen, er dribbelte und fand<br />

seine freien Mitspieler – er beherrschte das Spiel auf allen Ebenen.<br />

14<br />

Dallas-Mavericks-Fans im American Airlines<br />

Center, »the house that Dirk built«<br />

Nowitzki schien die Struktur des Spiels besser lesen zu können, er<br />

schien schneller zu denken. Er war anders als alle anderen Basketballspieler,<br />

die wir damals kannten. Mein altes Team gewann das Spiel<br />

gegen Würzburg, doch wir hatten die Zukunft des Spiels gesehen.<br />

Basketball hat mich nie in Ruhe gelassen. Ich liebe das Spiel, das<br />

ich nur noch selten spiele. Ich bin Enthusiast, in seltenen Momenten<br />

bin ich Fan. Wenn ich Basketballspiele sehe, ist da eine melancholische<br />

Begeisterung, eine freudige Nostalgie, eine angenehme Trauer um die<br />

Dinge, die einmal möglich schienen, aber nie geschehen sind. Solche<br />

wie mich gibt es viele: Nostalgiker und Statistikliebhaber, theoretische<br />

Sportler. Dirk Nowitzki ist unser Stellvertreter. Er ist alles, was wir<br />

niemals geworden sind. Nur viel, viel besser.<br />

In Deutschland ist Dirk Nowitzki bekannter als das Spiel, das er<br />

spielt. Er ist berühmt, weil er berühmt ist. Seit Jahren wirbt er für eine<br />

Bank und eine Sportmarke. Er sitzt bei Wetten, dass..?. In den USA ist<br />

Nowitzki ein echter Superstar. Er gehört zu den absolut Besten einer<br />

uramerikanischen Sportart. Die eigenen Fans lieben Nowitzki, die<br />

gegnerischen fürchten ihn. Zu Recht. Journalisten und Kulturwissenschaftler<br />

schreiben über das Faszinosum Nowitzki. Angela Merkel<br />

empfängt ihn im Kanzleramt, Barack Obama empfängt ihn im Weißen<br />

Haus. Nowitzki ist der beste Europäer, der jemals das Spiel gespielt<br />

hat. Er ist der beste weiße Basketballer seiner Zeit. Er war wertvollster<br />

Spieler der Finalserie, Fahnenträger bei Olympia, Allstar,<br />

NBA-Champion. Sein Spiel hält dem immensen Sportwissen Amerikas<br />

stand – statistisch, taktisch und historisch. Mehr noch: Nowitzki<br />

hat ein amerikanisches Spiel grundlegend verändert, er hat es revolutioniert.<br />

Basketball nach Nowitzki ist anders als Basketball vor ihm:<br />

beweglicher, variabler, weniger erwartbar, feiner, raffinierter.<br />

Ich bin in Dallas, um von Nowitzkis Bedeutung und den Gründen<br />

dafür zu erzählen. Es gibt unfassbar viele Texte zu Nowitzki, es<br />

gibt Biografien, es gibt Hunderte Interviews und Porträts. Dirk Nowitzki<br />

steht in der Gala, im Goldenen Blatt und in der Super Illu. Die<br />

Geschichte, die erzählt wird, ist immer ähnlich: Ein Junge aus Würzburg<br />

wird allen Widerständen und Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz


einer der besten Basketballer der Welt. Mit der Hilfe eines verschroben-genialischen<br />

Mentors geht er unkonventionelle Wege,<br />

trainiert in der Zurückgezogenheit einer oberfränkischen Schulturnhalle<br />

und erreicht schließlich sein großes Ziel. Es ist eine<br />

Legende, eine Heldengeschichte mit verzeihbaren Scharten.<br />

Und ich bin hier, um etwas Neues zu erzählen.<br />

Helden müssen sich schützen. Das System Nowitzki ist ein<br />

geschlossenes. Dirk und ich haben zwar gemeinsame Freunde<br />

– Mithat Demirel, seinen Zimmergenossen bei der Nationalmannschaft,<br />

und Rekordnationalspieler Patrick Femerling –,<br />

aber es gibt ungeschriebene Gesetze, und Nowitzkis Mannschafts<br />

kame ra den würden sich eher ihre Wurfhand abhacken,<br />

als seine Telefonnummer zu verraten. Es blieben die offiziellen<br />

Wege. Wenn ich erst mal in Dallas bin, so habe ich gehofft, wird<br />

das eine zum anderen führen. Die Pressechefin der Mavericks<br />

hat mir ein Interview mit ihm zugesagt. Zehn Minuten nach<br />

dem Spiel. Heute Abend.<br />

Ich habe mir Fragen notiert: nach seinen Ritualen. Nach<br />

der Langeweile des Lebens als Profisportler. Der Bedeutung<br />

seiner Hautfarbe für seine Berühmtheit, der Bedeutung von<br />

Rasse im Sport. Ob ihn manchmal Geldsorgen plagen (die Sorge,<br />

was man mit knapp zwanzig Millionen Dollar pro Jahr anfangen<br />

soll). Wie man vierzehn Jahre lang die Kon zen tra tion bei<br />

der Arbeit so unfassbar hoch hält. Ob Basketball ihm immer<br />

noch Spaß bereitet. Ob man für andere Prominente Sympathie<br />

empfindet (oder nur dasselbe Leid teilt). Ob er zur Motivation<br />

wirklich Joseph Conrads Taifun liest. Wie er seine Position in<br />

der Basketballgeschichte sieht. Wann der erste Paparazzo vor<br />

seiner Tür aufgetaucht ist. Was man denkt, wenn die Bild Polizeifotos<br />

der Exfreundin druckt oder wenn sämtliche Zeitungen<br />

über die Steuerangelegenheiten seines Mentors Holger Geschwindner<br />

berichten. Ob er so bodenständig ist, wie alle sagen.<br />

Wie oft er das alles verflucht. Was ihn am meisten schmerzt.<br />

Wem man vertrauen kann. Was echt ist und was falsch.<br />

Jetzt rase ich mit einem Taxi durch Dallas, und Haile beantwortet<br />

mir sämtliche Fragen mit Enthusiasmus. Er hat den<br />

Highway verlassen und fährt auf Schleichwegen zum American<br />

Airlines Center: Wohngebiete, Industriebrachen, Kakteen, ein<br />

ausgetrocknetes Flussbett. Parkplätze, Hochhäuser, Parkplätze.<br />

Haile weiß alles über Dirk. Wir hauen uns die großen<br />

Momente seiner Karriere um die Ohren: Haile erzählt von Indianapolis<br />

2002, Deutschlands Weltmeisterschaftsbronze, diesem<br />

unerwarteten Erfolg. Nowitzki wurde zum wertvollsten<br />

Spieler des Turniers gewählt. Ich erzähle vom Europameisterschaftsfinale<br />

2005 und wie das Publikum in der Belgrad-Arena<br />

kurz vor Ende des verlorenen Finales gegen die Griechen geschlossen<br />

aufstand und minutenlang applaudierte, als Nowitzki<br />

ausgewechselt wurde. Oder Dirk nach der verlorenen Meisterschaft<br />

2006: wie er in den Katakomben verschwindet, die Hände<br />

über dem Kopf, als habe er gerade einen Schlag in den Magen<br />

bekommen, als ringe er um Luft. Dirk Nowitzki hat in den<br />

letzten vierzehn Jahren für etliche solcher Augenblicke gesorgt.<br />

»Here we are«, sagt Haile und parkt an der Victory Lane.<br />

»The house that Dirk built.«<br />

Ein riesiges Banner zieht sich über das Eingangsportal der<br />

Arena, darauf ein brüllender Dirk und der Play-off-Schlachtruf<br />

der Mave ricks: Dallas is all in. Haile lacht sein gläubiges Lachen:<br />

»Welcome to the church of Nowitzki.« Er ist sich sicher,<br />

dass Dirk heute gewinnen wird. Er rechnet fest mit ihm. Und<br />

mir wird klar, dass ich nicht nur für ein Interview nach Dallas<br />

geflogen bin: Ich will Zeuge einer Heldentat werden. Haile öffnet<br />

mir die Tür und gibt mir seine Karte. »Ein Freund von Dirk<br />

ist ein Freund von mir«, sagt er. »Ruf mich an.«<br />

Die Plaza vor dem American Airlines Center ist bis auf ein<br />

paar Lieferwagen leer, die Sonne brennt, wie die texanische Sonne<br />

eben brennt. Vor einem klimatisierten Fanshop warten zehn,<br />

fünfzehn Verkäufer auf Kundschaft. Alle tragen blaue T-Shirts<br />

mit dem Play-off-Slogan. Eine freundliche Dame mit einem se-<br />

15


niorenblau toupierten Haarhelm führt mir das komplette Nowitzki-<br />

Sortiment vor: Es gibt Nowitzki-Trikots, -Hosen, -Hemden, es gibt<br />

Stirnbänder, Rucksäcke, Pantoffeln und Schlafanzüge, Becher, Schlüsselbänder,<br />

Base caps, Wollmützen, Panamahüte. Es gibt Dirk-Nowitzki-<br />

Bierkrüge. Außer mir ist nur noch ein Kunde hier. Er trägt ein grünes<br />

Polohemd und fotografiert zwei verloren wirkende Trikots von Nowitzkis<br />

Mannschaftskamerad Yi Jianlian. Der Mann im grünen Polohemd<br />

ist Pari Dukovic, der Fotograf dieser Geschichte. Pari sieht aus, wie<br />

man sich einen Fotografen vorstellt, drei Kameras um den Hals, eine<br />

Tasche voller Filmrollen. »This Dirk-guy is famous, right?«, sagt er<br />

und macht ein paar Bilder von Dirk-Mülleimern. Pari ist kein Sportfotograf<br />

und kennt sich mit Basketball nicht aus. Aber er will nah ran.<br />

Meist fotografiere er Mode, Politiker, Burlesque-Künstler, sagt er, am<br />

meisten interessiere ihn aber, was hinter den Bühnen passiere. Die<br />

grobkörnigen Geschichten von leuchtenden Menschen. Mich auch,<br />

sage ich. Wir geben uns die Hand, wir arbeiten jetzt zu zweit.<br />

Auf Monitoren laufen die Highlights der Meistersaison. Dirk<br />

wirft und trifft. Die Mave ricks schalten zuerst Portland aus, dann das<br />

junge Team der Oklahoma City Thunder, dann die Los Angeles Lakers<br />

mit Über-Star Kobe Bryant und schließlich die Miami Heat. Dirk<br />

verschleißt seine Verteidiger reihenweise. Gegen kleine Gegenspieler<br />

wirft er, gegen große spielt er seine Beweglichkeit aus, er ist in allen<br />

Belangen überlegen. Er hält dem Druck stand, er wächst mit ihm.<br />

Nichts hilft gegen seine Dominanz. »Außerirdisch!« – »Ridirkulous!«<br />

Immer wieder sieht man seinen einbeinigen Sprungwurf im Rückwärtsfallen,<br />

den fl a m in go fa d e - a w a y, der von keinem Gegenspieler<br />

der Welt zu verteidigen ist. Nowitzki spielt mit Fieber und gerissener<br />

Sehne im Finger. Man sieht ihn mit dem Meisterpokal, man sieht ihn<br />

mit der Trophäe für den besten Spieler der Finalserie. Das war vor einem<br />

Jahr, erkläre ich Pari, der den Bildschirm fotografiert, jetzt sind<br />

wieder Play-offs, die Mavericks spielen mit einer anderen Mannschaft<br />

und haben die ersten beiden Spiele verloren. Ein Jahr verändert alles.<br />

16<br />

»Welcome to the church of Dirk«:<br />

Nowitzki hat Dallas verändert<br />

Die Parkplätze füllen sich, die Halle wird geöffnet, und als das<br />

Spiel beginnt, stehe ich mitten in einer unfasslichen Begeisterung für<br />

Dirk, Dirk, immer wieder Dirk, aber schon im ersten Viertel lässt das<br />

Spiel selbst die Luft aus der perfekten Inszenierung. Es läuft nicht<br />

rund, auch nicht bei Nowitzki. Ich bin zu müde, um die komplexe<br />

taktische Textur dieses Spiels zu begreifen, aber ich sehe, dass die<br />

Mave ricks verlieren. Dirk wird ausgewechselt. Die zweite Halbzeit verbringe<br />

ich in der Pressebox unter dem Hallendach und sehe das Spiel<br />

außer Reichweite geraten. Die Mave ricks und ich finden keinen Zugang<br />

zum Spiel. Ich höre das frenetische Tippen der amerikanischen<br />

Journalisten um mich herum, notiere Spielstände, und als ich wieder<br />

aufsehe, ist das Spiel vorbei und verloren, 79 : 95.<br />

Pari und ich sitzen im Presseraum und warten auf Dirk, der nach<br />

jedem wichtigen Spiel vor die Journalisten treten muss. Aus dem Interview<br />

werde heute leider nichts mehr, sagt mir die Pressesprecherin,<br />

nicht nach so einer Niederlage, aber ich hätte 25, vielleicht 30 Sekunden<br />

nach der Pressekonferenz, um mich vorzustellen. Nowitzki beantwortet<br />

sämtliche Fragen in sichtlich angestrengter Höflichkeit, und als<br />

er den Presseraum frustriert verlässt, renne ich hinterher und stelle ihm<br />

im Gang – ohne mich vorzustellen – eine Frage, die zu dämlich ist, um<br />

sie hier aufzuschreiben. Nowitzki sieht mich entgeistert an, sammelt<br />

sich aber sofort wieder und unterschreibt den Basketball eines kleinen<br />

Jungen. »Good night, buddy«, sagt er. Dann ist er verschwunden.<br />

Zwei Tage später stehen die Mave ricks mit dem Rücken zur<br />

Wand – wenn sie verlieren, sind sie raus. Am frühen Morgen laufe ich<br />

zur Arena. Dirks Gesicht an der Hallenfront sieht entschlossener aus<br />

als noch vor zwei Tagen, ausgeschlafener. Unser Treffen wurde mittlerweile<br />

fünf Mal verschoben. Dirk brauche seine Kon zen tra tion,<br />

wird uns gesagt. Stattdessen spreche ich mit Busfahrern, Ticketverkäufern<br />

und Betrunkenen (jeder hier nennt ihn Dirk, mit ö). Es ist<br />

immer dasselbe: Dirk ist unglaublich, Dirk ist nett, Dirk ist einer von<br />

uns. Das Securitypersonal grüßt auf Deutsch.


Am Morgen des entscheidenden Spieltags ist Donnie Nelson<br />

unser Ersatz für Dirk. Nelson ist General Manager der<br />

Mave ricks und hat Nowitzki 1998 nach Dallas geholt. Er sitzt<br />

in seinem Büro zwischen Papierstapeln, Pokalen und Erinnerungsfotos<br />

und kommt sofort zur Sache. Ungefragt erzählt er,<br />

wie fürchterlich Dirks erstes Jahr hier war. Pfiffe von den Zuschauern,<br />

Schmähungen in den Zeitungen, ligaweiter Spott.<br />

Nelson lehnt sich zurück, er sieht an den Wänden entlang, an<br />

den Sports Illustrated-Titelseiten und Mannschaftsbildern, an<br />

den Pokalen. Plötzlich wirft er völlig ansatzlos ein glitzerndes<br />

Ding in meine Richtung. Nur mit Glück fange ich das Teil.<br />

Nelsons Lachen ist lauter als erwartet. Ich halte einen Meisterring<br />

der Mave ricks in der Hand, Gold und Diamanten, 50 000<br />

Dollar pro Stück. »Ein Test«, sagt Nelson, ich hätte gute Hände.<br />

Was Dirk denn nun wirklich für Dallas bedeutet? Nelson<br />

überlegt keine Sekunde: »Dirk hat Dallas verändert, ökonomisch<br />

und kulturell. Die Mentalität. Er verdient ein Denkmal,<br />

ganz einfach.« Donnie Nelson ist für einen kurzen Moment<br />

ernst. »Mehrere«, sagt er, »Dirk verdient mehrere Denkmäler.«<br />

Als wir die Kabine betreten, befiehlt mir Nelson, mich auf<br />

Dirks Platz zu setzen, auf Dirks riesigen Ledersessel, zwischen<br />

Dirks Socken und Schuhe. Er nimmt sein Trikot mit der 41<br />

vom Bügel und überreicht es mir feierlich. Es ist das Trikot, das<br />

Dirk heute Abend tragen wird. Dirk Nowitzkis Trikot, denke<br />

ich, überrascht von meiner eigenen Feierlichkeit.<br />

Nachmittags dann Holger Geschwindner bei Starbucks:<br />

mad professor, Genie im Flanellhemd, rätselhafter Querkopf,<br />

Entdecker Nowitzkis, Mentor, Freund und – wenn es so etwas<br />

gibt – sein Schöpfer. Vor ihm eine leere Kaffeetasse. Das Spiel<br />

heute Abend scheint ihn nicht nervös zu machen. Er sei hier,<br />

um Dirks Wurf zu korrigieren, wenn nötig. Seit Jahren benutzen<br />

sie ihre eingespielten Zeichen, »höher werfen« und »Finger<br />

auseinander«. Er sei hier, um auf seinem Platz zu sein, wenn<br />

Dirk ihn braucht.<br />

Wenn man sich mit Holger Geschwindner unterhält, ahnt<br />

man, warum Nowitzki schon so lange auf allerhöchstem Niveau<br />

spielt. Man ahnt es, aber man weiß es nicht. Er hat den jugendlichen<br />

Dirk unter seine Fittiche genommen und einen Sieben-<br />

Stufen-Plan zur Erschaffung dessen entwickelt, was Dirk heute<br />

ist. Geschwindners Methode ist ein Komplettpaket aus Mathematik,<br />

Psychologie, Bildung, Disziplin und plausiblem Aberwitz.<br />

Geschwindner war der Kapitän der Olympiamannschaft<br />

1972, hat Physik und Mathematik studiert und wohnt auf einem<br />

Schloss bei Bamberg.<br />

In Gesprächen klappt er bisweilen seinen Rechner auf.<br />

Auf dem Bildschirm bewegt sich dann ein Strichmännchen mit<br />

Dirk Nowitzkis genauen Körperproportionen. Die Winkel-<br />

und Kurvenberechnungen zeigen, wie der ideale Wurf aussieht.<br />

Es geht darum, in welchem Winkel Nowitzki werfen muss, damit<br />

er auch dann trifft, wenn er Fehler macht. Geschwindner<br />

spricht von Basketball als Jazz, von Till Brönner in der Turnhalle,<br />

von Faulkner und Froschsprüngen. Manchmal hält Geschwindner<br />

mitten im Gespräch inne, sieht ins Leere und<br />

schreibt sich einen Gedanken in sein Notizbuch.<br />

Geschwindner fordert einen heraus und will herausgefordert<br />

werden. Er ist sich nicht sicher, ob man über Nowitzki angemessen<br />

schreiben kann. Ob es schon passende Worte gibt für<br />

das, was Dirk seit Jahren tut. Man müsse da eine eigene Sprache<br />

entwickeln. Geschwindner vergleicht Dirk mit einem Extrembergsteiger<br />

und dessen körperlichen und mentalen Anforderungen,<br />

die zu erfassen konventionelle Sätze nicht ausreichen.<br />

»Wenn man mal auf einem Sechstausender war, weiß man, was<br />

das Hirn da veranstaltet«, sagt er. »Das zu beschreiben ist<br />

schwierig. Dirk befindet sich seit Jahren in sehr großen Höhen.<br />

Wer solche Erfahrungen macht, dem fehlen oft die Worte, und<br />

umgekehrt: Worte ohne Erfahrung sind meist zu wenig.«<br />

Ich sehe mich um. Die Kulisse ist beeindruckend und surreal,<br />

Kameras auf dem Spielfeld, alle sechs Ebenen plus Presse-<br />

17


und Promiboxen sind ausverkauft, geschminkte Dekolletés, das Star-<br />

Spangled Banner, dann das Two-Minute-Warning. Dallas is all in.<br />

Kurz vor dem Sprungball sehe ich Paris grünes Polohemd zwischen<br />

den Spielern herumschwirren. Die Mave ricks spielen, um die Saison<br />

und ihre Ehre zu retten, und er macht Bilder aus allernächster Nähe.<br />

Heute läuft alles über Dirk. Die Halle trägt Blau, sie schwenkt<br />

blaue Handtücher. Sie raunt, wenn er den Ball bekommt, sie brüllt,<br />

wenn er gefoult wird. Die Mavericks isolieren ihn und geben ihm den<br />

Ball, und er wird der Verantwortung gerecht. Er kann ausblenden, dass<br />

die Welt ihn beobachtet. Er liefert ein richtig gutes Spiel ab. Zu Beginn<br />

des letzten Viertels führen die Mavericks mit dreizehn Punkten,<br />

81 : 68, aber dann brechen die Dämme. Oklahoma holt Punkt um<br />

Punkt auf, und kurz vor Schluss gehen sie in Führung. Die Halle wirkt<br />

geschockt. Als Dirk eine halbe Minute vor Schluss per Freiwurf seine<br />

Punkte 33 und 34 erzielt, als der Hallensprecher ein letztes »Dööörk«<br />

durch die Halle ruft und die Uhr unaufhörlich auf das Ende der Saison<br />

zuläuft, wird es still und stiller. Es reicht nicht, Dallas scheidet aus.<br />

Auf dem Weg in die Kabine dann wieder Dirks Pose: die Arme<br />

erhoben, als müsse er sich von den Schlägen erholen. Die Presse folgt<br />

den Spielern in die Kabine, es herrscht betretenes Schweigen. Keine<br />

Fotos, keine Autogrammanfragen. Die Spieler kommen einer nach<br />

dem anderen aus der Dusche, die Pressemeute umkreist sie und stellt<br />

ihre tristen Fragen. Die Spieler tragen Handtücher mit Gummizug<br />

und ihrer Trikotnummer um die Hüften, die Meute treibt von einem<br />

zum anderen durch die Kabine. Als Dirk aus der Dusche kommt, ein<br />

gebückter Held, beißt das Rudel zu. Alle Kameras und Mikrofone auf<br />

Dirk, man kann ihn nicht sehen, aber sein Handtuch fliegt und landet<br />

im Dreckwäschetrog in der Kabinenmitte.<br />

Am Morgen die letzten Gespräche vor der Sommerpause. Die<br />

Mavericks haben das wichtigste Spiel des Jahres verloren. Trainer, Manager<br />

und Spieler treten ein letztes Mal vor die Presse, es liegt Wehmut<br />

in der Luft. Nowitzki antwortet höflich, aber ein paar Fragen klingen<br />

dringlich, als könne er die Lage noch ändern. Auch Kritik ist dabei.<br />

Dann arbeitet sich Dirk Nowitzki die Treppe hoch, ein trauriger Hei-<br />

18<br />

land in T-Shirt und Flipflops. Die Journalisten sehen ihm nach, »here<br />

goes another year of Dirk«, sagt einer.<br />

Aus der Nähe kann man Erleichterung und Erschöpfung in<br />

seinem Gesicht nicht unterscheiden. Dirk Nowitzki sitzt in der Teeküche<br />

der Mave ricks und redet, jetzt hat er Zeit. Gestern Abend hat<br />

er noch Basketball auf Weltniveau gespielt, jetzt ist Sommer. Kurz<br />

seufzt er, die Fragen der Journalisten nach seinen Knien, seinem Alter,<br />

dem Scheitern, seinem Karriereende hallen nach. »Ich mache das<br />

jetzt schon lange genug«, sagt er. »Ein paar von denen muss man<br />

runterkochen, ich gebe da kein Material.« Jemand bringt Wasser, wir<br />

wechseln ins Deutsche. Niemand hört zu. Was er gestern Abend<br />

noch gemacht habe, frage ich. »Gestern Abend habe ich mir Fast<br />

Food reingezogen«, sagt er. Er grinst. Während der Saison isst er kein<br />

rotes Fleisch, trinkt keinen Alkohol und hält sich an Fisch und<br />

Huhn. »Normalerweise wären wir weggegangen. Aber das gestern<br />

kam so schnell und abrupt, ich war einfach nicht in der Lage, noch<br />

Leute zu sehen. Also burger, fries und milkshake. Dann habe ich<br />

noch das andere Spiel gesehen, Spurs gegen Utah.«<br />

Dirk Nowitzki macht Pausen, seine Antworten sind ehrlich, aber<br />

er ist sich immer bewusst, was er zu sagen hat und welche Anekdote<br />

bei welchem Frage stel ler funktioniert. Er sagt: »Interviews und Fotoshoots<br />

und Werbedrehs sind jetzt nicht meine Lieblingsdinge.« Und:<br />

»Wenn ich in ein Restaurant gehe und alle applaudieren, ist mir das<br />

immer noch peinlich.« Wir sprechen über seine Gegensätze, über Texas<br />

und Würzburg, seine neue und seine alte Welt, wo immer noch<br />

vieles so ist wie früher, »es gibt noch den Edeka und das Sonnenstudio«.<br />

Er wohnt tatsächlich noch bei seinen Eltern, erst nach der Meisterschaft<br />

haben sie das Bad umgebaut, sodass er sich jetzt beim Zähneputzen<br />

nicht mehr bücken muss. Wir reden und reden, und<br />

irgendwann kommt die Pressefrau und ruft ihn zum nächsten Termin.<br />

Im Hintergrund hört man seine Mannschaftskollegen krakeelen, es<br />

wird ein Abschiedsbier getrunken.<br />

Um Nowitzkis Bedeutung zu verstehen, muss man weite Kreise<br />

ziehen. Ende August treffe ich Wolf Lepenies, den Soziologen, His-<br />

Der Aufwärmraum der Dallas Mavericks<br />

in den Katakomben der riesigen Arena


toriker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Berlin<br />

ist nur halb so heiß wie Dallas, aber die Fenster des Wissenschaftskollegs<br />

in Grunewald stehen sperrangelweit offen. Hinter der Villa<br />

steht ein Basketballkorb.<br />

Lepenies, Jahrgang 41, hat als junger Mann für Rot-Weiß Koblenz<br />

gespielt, Punkterekord 48 Punkte. Wie Basketball richtig zu lesen<br />

und zu verstehen ist, hat ihm der Über-Ethnologe Clifford Geertz<br />

bei den Spielen der Prince ton Tigers beigebracht. Er hat in New York<br />

Bill Bradley und die 72er-Mannschaft der Knicks bewundert, Willis<br />

Reed, Earl Monroe und Walt Frazier.<br />

Wolf Lepenies weiß also, wovon er spricht, wenn er über Basketball<br />

spricht. Er ist ein kluger, begeisterungsfähiger Mann, wir geraten<br />

direkt in enthusiastische Fachsimpelei. Lepenies erzählt, wie er Nowitzki<br />

und Geschwindner einmal beim Training zugesehen habe, 75<br />

Minuten Würfe ohne Unterlass, beeindruckend, allerbeste Schematik!<br />

»Geschwindner ist im tollsten Sinne verrückt, mir imponiert sein<br />

Denken vom Maximum her«, sagt er. »Wo unsereiner vom Durchschnitt<br />

her denkt, sind die beiden gnadenlos. Sieben Treffer von zehn<br />

Würfen heißt für sie: drei Fehlwürfe. Sie wollen zehn Treffer.«<br />

Die Meisterschaft hat Lepenies nachts am Computer verfolgt,<br />

beim letzten Spiel hat er sogar kurz vor Schluss seine Frau geweckt –<br />

das habe sie einfach sehen müssen. Danach hat er über Nowitzki geschrieben.<br />

Für Lepenies ist er weit mehr als ein Star: »Nowitzki hat<br />

Größe«, sagt er, das sei etwas grundsätzlich anderes. Lepenies bringt<br />

Pierre Bourdieu in Anschlag. Nowitzki habe ein beeindruckendes kulturelles<br />

und soziales Kapital, er sieht ihn in einer Reihe mit Fritz Walter,<br />

Max Schmeling, Uwe Seeler und Franz Beckenbauer. Ihre Niederlagen<br />

lassen uns trauern, ihre Siege empfinden wir als Gerechtigkeit.<br />

Das Gespräch treibt von Nowitzkis Größe zu seiner Bodenständigkeit,<br />

zu Begriffen wie Ehrlichkeit, Inszenierung und Authentizität<br />

– und plötzlich analysieren wir Nowitzkis Hochzeitsfoto, als wäre es<br />

Jan van Eycks Arnolfini-Hochzeit, den Schnitt des Anzugs, den de-<br />

Nowitzki gibt nach dem Spiel Interviews; das<br />

Einlaufen in die Halle vor dem Spiel (rechts)<br />

zenten Schmuck der Braut. »Vielleicht geht das jetzt zu weit bei Nowitzki«,<br />

sagt Wolf Lepenies und lacht, »aber dieses Bild ist kein Starfoto,<br />

es ist nicht nur Style. Man ahnt einen Kern, an dem man nicht<br />

rühren kann. Das ist diffus, aber da ist irgendetwas, das ›richtig‹ ist.<br />

Lauter. So etwas ist selten: Lauterkeit.« Lepenies sieht aus dem Fenster<br />

auf den Basketballkorb. Er denkt nach, er lächelt, er kehrt zum<br />

Thema zurück. »Dirk Nowitzki«, sagt Lepenies, »ist eine unserer ganz<br />

großen Sportgeschichten.«<br />

Anfang September rase ich wieder zu einer Halle, diesmal fährt<br />

Nowitzki. Wir sind auf dem Weg zum Training, morgens um neun,<br />

die Strecke vom Haus seiner Eltern zur Trainingshalle in Rattelsdorf<br />

kennt er im Schlaf, er fährt sie schon mehr als sein halbes Leben lang.<br />

»Seit achtzehn Jahren machen wir das jetzt«, sagt er, seit achtzehn Jahren<br />

fährt er von Würzburg nach Rattelsdorf, A 7, A 70. Hier ist er auf<br />

Händen durch die Halle gelaufen, auf Kästen gesprungen und herunter,<br />

zwei, zweieinhalb Stunden am Stück. »Wir haben früher trainiert<br />

wie die alten Russen.« Jetzt ist alles dosierter und routinierter. Er habe<br />

seine Lehren aus dem letzten Jahr gezogen und den Sommer durchtrainiert,<br />

»bisschen gerannt« sei er, um die Spannung zu halten. »Selbst<br />

wenn ich Pause mache, kann ich nicht mehr auf null runterfahren.« Er<br />

merke sein Alter, sagt er. »Man bezahlt dafür.«<br />

Dirk sortiert seinen Sommer. Er zählt an den Knöcheln seiner<br />

Hand ab, welcher Monat wie viele Tage hatte, er lacht, die Erinnerung<br />

an die letzten Monate scheint ihm zu gefallen. Seit unserem Treffen ist<br />

viel passiert. Zunächst Dallas, weil seine Frau in der Galerie arbeiten<br />

musste. Schon eine Woche nach dem Ausscheiden war er wieder im<br />

Kraftraum. Anfang Juli dann Feier in Kenia. Trauung in Dallas. Fest in<br />

der Karibik. Werbedreh auf Mallorca. Neues Visum. Besuch in Würzburg.<br />

»Bisschen Wimbledon geguckt«, sagt er und meint damit nicht,<br />

dass er den Fernseher angeschaltet hat.<br />

Kenia sei großartig gewesen, sagt Nowitzki. Er habe sein Telefon<br />

nur sehr selten angefasst, das endgültige Auseinanderbrechen seiner<br />

21


Meistermannschaft habe er deshalb nur durch Zufall mitbekommen.<br />

Nur wenn er reception hatte. Nowitzki stockt kurz, manchmal schleichen<br />

sich englische Brocken in sein Deutsch, aber er macht sich noch<br />

die Mühe, das zu korrigieren: Empfang! Bei Empfang hat er erfahren,<br />

dass sein Spielmacher Jason Kidd, sein Adjutant Jason Terry und sein<br />

bester Freund Brian Cardinal nicht zurückkommen werden. Aber<br />

nach vierzehn Jahren in der Liga scheint er solche Dinge ganz nüchtern<br />

zu sehen. Letzte Saison ist letzte Saison, jetzt trainiert er für das<br />

nächste Jahr. Jetzt geht wieder alles von vorne los. Wenn er über Sport<br />

redet, klingt Nowitzki manchmal wie eine Maschine. Er fährt schnell<br />

und ruhig, der Wagen riecht neu, die Strecke ist alt.<br />

Vor den Fenstern wird es Herbst, wir rauschen zwischen Pappelreihen<br />

und Gladiolenfeldern entlang, ein Hauch von Gold liegt über<br />

den Hügeln. Dirk spricht von der jungen britischen Kunst, die seine<br />

Frau ausstellt und die er manchmal nicht verstehe, vom Fliegen, das<br />

wie Busfahren sei, von den Feierlichkeiten des Sommers. Wir schweigen<br />

kurz. Jetzt wäre es an der Zeit, die konkreten Fragen zu stellen, die<br />

ich mir zurechtgelegt habe, denke ich, aber ich lasse die Gelegenheit<br />

ungenutzt verstreichen. Ich bleibe Beifahrer, wir unterhalten uns gut.<br />

»Wir haben während Olympia geheiratet«, sagt Dirk, »wir haben Bolt<br />

und Basketball verpasst.«<br />

Kurz hinter dem Ortsschild Rattelsdorf biegt Nowitzki ab und<br />

parkt vor einer Turnhalle, wie es sie überall in Deutschland gibt. Jetzt<br />

am Vormittag ist der Parkplatz fast leer, ein paar Fahrräder, ein einzelner<br />

Pkw. Eine Frau mit Hund und Zigarette nickt uns zu. Keine Kameras,<br />

niemand. »Ich habe diesen Sommer fast drei Monate keinen<br />

Ball in der Hand gehabt«, sagt Dirk und nimmt einen völlig abgewetzten<br />

Lederball aus dem Kofferraum. »Das Teil ist elf Jahre alt, ich<br />

habe seit 2001 jeden Sommer damit trainiert.«<br />

Als wir das Spielfeld betreten, ist Geschwindner längst da. Kunststoffboden,<br />

kein Parkett. Er trainiert ein paar Zwölf- und Dreizehnjährige,<br />

zwei Väter sehen zu. Die Jungs drehen genau die Pirouetten,<br />

machen genau die Ausfallschritte, wirbeln den Ball genauso um ihren<br />

Körper, wie man es von Nowitzki kennt. Bei einigen sieht das wie<br />

22<br />

Stolpern aus, bei anderen ist es ein Tanz. »Wickel«, ruft Geschwindner,<br />

»Innendrehung«, die Anfänge einer Sprache, die er und Nowitzki<br />

seit Jahren sprechen. Die Jungs bemühen sich, Dirk zu ignorieren, als<br />

er seine Schuhe schnürt, aber als er mit staksigen Schritten das Spielfeld<br />

betritt und langsam zu werfen beginnt, wird es still in der Halle.<br />

Die Jungs sehen ihm zu, man sieht ihre Gedanken rasen. Ich notiere<br />

das Wort »andächtig«. Nowitzki wirft und wirft und trifft die ersten<br />

21 Würfe. Wir alle zählen mit.<br />

Wenn Nowitzki und Geschwindner trainieren, herrscht Schweigen.<br />

Die beiden haben diese Laufwege und Übungen in den letzten<br />

Jahren, Jahrzehnten so oft absolviert, dass fast keine Worte nötig sind.<br />

Ein Rennpferd und sein Trainer. Dirk wirft, Holger passt. Holger<br />

nickt, Dirk versteht. Wir beobachten ein Ritual, das Geräusch des<br />

ur alten Basketballs ist ein Mantra, swish, swish, immer wieder. Dirk<br />

wird schneller und schneller, springt höher, trifft besser, die Kon zentra<br />

tion füllt die Halle.<br />

Keiner von uns ist jemals so gut gewesen, und keiner von uns<br />

wird es jemals werden.<br />

Die Wahrheit über Dirk Nowitzki liegt in seinem Kofferraum:<br />

der ur alte Basketball, millionenfach geworfen und gedribbelt, fast<br />

schwarz vor Schweiß und Hallenstaub. Wenn man diesen Ball in den<br />

Händen hat, wird einem klar, warum Dirk Nowitzki ein so unfassbar<br />

guter Basketballspieler geworden ist.<br />

Dirk Nowitzki hat alles, was andere Spieler zum Aufhören, zur<br />

Sta gna tion verleitet: Geld, Ruhm, Auszeichnungen. Interviews, Interviews,<br />

Interviews. »Aber diese Sachen haben mich nie interessiert«,<br />

sagt er, und wenn man ihn trainieren sieht, glaubt man ihm. Man<br />

glaubt der Geschichte vom bescheidenen Superstar, man glaubt an<br />

Bodenständigkeit, an Kon zen tra tion, man glaubt an die Kraft der<br />

Normalität, sogar an Gerechtigkeit. Die Jungs in den Turnhallen<br />

wollen werden wie er. »Ich wollte immer Basketballspieler sein«, sagt<br />

er, »einer der besten.«<br />

Wahrscheinlich muss ich gar nichts Neues über Dirk Nowitzki<br />

sagen: Er ist wie wir. Nur viel, viel besser.<br />

zeitmagazin<br />

nr . <strong>39</strong><br />

Vor einem Play-off-Spiel versammeln sich<br />

die Mannschaftskollegen um Nowitzki


24<br />

STEFAN KLEINS WISSENSCHAFTSGESPRÄCHE<br />

Folge 20<br />

»Schon Einjährige<br />

betreiben Statistik«<br />

Kreativ, wach, neugierig: Für die Entwicklungspsychologin<br />

Alison Gopnik sind Kinder Genies und Vorbilder<br />

Auch für Farben haben Kinder viel Gefühl: »Krokodil« von Oda, 5 Jahre


IHREN WEG vom Kind zum Erwachsenen<br />

sehen die meisten Menschen als Fortschritt,<br />

für Alison Gopnik ist es auch die Geschichte<br />

eines Verlusts. Sie vergleicht Kinder<br />

mit Schmetterlingen, aus denen Raupen werden<br />

– wo unser Verstand einst das Fliegen beherrschte,<br />

krabbelt er heute auf dem Boden<br />

dahin. Was ist mit uns geschehen? Seit drei<br />

Jahrzehnten spürt die amerikanische Entwicklungspsychologin<br />

Gopnik dem kindlichen<br />

Denken nach. Ratschläge für Eltern, Lehrer<br />

oder auch für die Vorstände, die ihr 2010 auf<br />

dem Davoser Weltwirtschaftsforum zuhörten,<br />

sieht sie allerdings nur als Nebenprodukt ihrer<br />

Forschung. Sie will das menschliche Leben als<br />

Ganzes verstehen: An der University of California<br />

in Berkeley hat sie je eine Professur für<br />

Psychologie und Philosophie. Wir treffen uns<br />

in ihrem alten Holzhaus, einen Steinwurf vom<br />

Campus entfernt. Seit dem Auszug ihrer drei<br />

Söhne sei es ungewohnt still hier, sagt Gopnik.<br />

Für den Nachmittag ist der Besuch des vier<br />

Monate alten ersten Enkelsohns angekündigt.<br />

Frau Gopnik, möchten Sie wieder ein<br />

Kind sein?<br />

Ich hatte eine sehr erfüllte Kindheit. Und eine<br />

Woche lang würde ich gerne die Welt noch<br />

einmal durch die Augen einer Dreijährigen<br />

sehen. Das würde meine Arbeit erleichtern.<br />

Stefan Klein,<br />

geboren 1965, ist Biophysiker. Der<br />

Wissen schaft sautor hat den Bestseller<br />

»Die Glücksformel« geschrieben, der<br />

jetzt als erweiterte Neuausgabe erscheint.<br />

In seinem Buch »Der Sinn des Gebens«,<br />

erschienen im S. Fischer Verlag, untersuchte<br />

Klein den Ursprung von Gut und Böse<br />

Alison Gopnik,<br />

geboren 1955, ist Entwicklungspsychologin.<br />

In ihren Untersuchungen hat sie sich<br />

intensiv mit dem Lernverhalten von Kindern<br />

beschäftigt. Zuletzt erschien von ihr auf<br />

Deutsch »Kleine Philosophen: Was wir von<br />

unseren Kindern über Liebe, Wahrheit<br />

und den Sinn des Lebens lernen können«<br />

Aber auf Dauer? Ich glaube nicht, dass ich<br />

diese intensiven Gefühle aushalten könnte.<br />

Stellen Sie sich vor, Sie erleben zum ersten<br />

Mal Paris, sind dabei von einer unglücklichen<br />

Liebesaffäre gequält, haben außerdem gerade<br />

eine Schachtel Gauloises weggeraucht und<br />

drei Espressi getrunken – so ist es, ein Baby zu<br />

sein. Wir können das aus Hirnuntersuchungen<br />

schließen. Mir kommt dieser Zustand<br />

ziemlich anstrengend vor.<br />

Wieso nennen Sie eine Dreijährige Baby?<br />

Ein Baby ist für mich jeder mit Pausbäckchen<br />

und einer drolligen Aussprache – also alle<br />

unter fünf. Im Englischen gibt es für diese<br />

Lebensphase kein eigenes Wort.<br />

Auf Deutsch sagen wir Kleinkind.<br />

Da ist Ihre Sprache im Vorteil. Andererseits<br />

trifft »Baby« unsere Empfindungen für diese<br />

kleinen Wesen sehr gut – unsere besondere<br />

Zuneigung, unsere Sorge um sie. Darum nennen<br />

wir ja auch Erwachsene, die wir besonders<br />

zärtlich lieben, Baby.<br />

Mein zweijähriger Sohn und meine vierjährige<br />

Tochter wären darüber empört! Als<br />

Baby bezeichnen sie abfällig jedes Kind,<br />

das auch nur ein halbes Jahr jünger ist als<br />

sie selbst.<br />

Sicher. Viele der beliebtesten Kindergeschichten<br />

handeln von der Sehnsucht, ohne Erwachsene<br />

allein durch die Welt zu gehen.<br />

Wie Pippi Langstrumpf oder Mogli im<br />

Dschungel.<br />

Sie wollen unabhängig sein, ihrer Kindheit<br />

entfliehen. Erst als Erwachsene leisten wir uns<br />

den Luxus, diese Zeit zu verklären.<br />

Dabei können wir nicht einmal mehr in<br />

unserer Vorstellung dorthin gelangen,<br />

schreiben Sie: Kinder und Erwachsene<br />

seien so verschieden, als gäbe es zwei Erscheinungsformen<br />

der Art Mensch. Wie<br />

kommen Sie darauf?<br />

Viele halten Kinder für fehlerhafte Erwachsene.<br />

So sehen es Lehrer, Hirnforscher, Philosophen.<br />

Selbst Jean Piaget, der große Pionier<br />

der Entwicklungspsychologie, der als Erster<br />

den kindlichen Verstand ernst nahm, beschrieb<br />

vor allem ihre Defekte – nicht das,<br />

was Kinder uns voraushaben. Weit wahrscheinlicher<br />

ist es allerdings, dass die Natur in<br />

jeder Lebensphase bestimmte Schwächen als<br />

Preis für besondere Stärken in Kauf nimmt.<br />

Daher die Unterschiede. Raupen sind auch<br />

keine Schmetterlinge mit Mängeln.<br />

Unsere Kinder ähneln uns immerhin.<br />

Äußerlich. Aber warum macht Entwicklungspsychologie<br />

so viel Spaß? Weil es keine Marsmenschen<br />

gibt. Das Nächstbeste, wenn Sie<br />

eine fremdartige Intelligenz untersuchen wollen,<br />

sind diese Wesen mit kleinen Körpern<br />

und großen Köpfen. Bei einem Zweijährigen<br />

ist buchstäblich alles anders, als man es vermutet.<br />

Und diese Aliens kontrollieren uns –<br />

oft ohne dass wir es merken.<br />

Überraschenderweise behaupten Sie, dass<br />

Kinder bewusster seien als Erwachsene.<br />

Was genau meinen Sie damit?<br />

Nach Ansicht der Philosophen gibt es verschiedene<br />

Arten von Bewusstsein – eine<br />

Aufmerksamkeit für den eigenen inneren<br />

Zustand und eine für die Außenwelt. Das<br />

Erste ist das, was Descartes mit seinem »Ich<br />

denke, also bin ich« im Sinn hatte. Wer sich<br />

allerdings ganz seinen Gedanken und Gefühlen<br />

hingibt, blendet die Umgebung vollständig<br />

aus. Wenn ich in meine Arbeit vertieft<br />

war, machten sich meine Kinder einen<br />

Spaß daraus, Dinge zu rufen wie: »Mama,<br />

da ist ein Puma im Garten!« Dann freuten<br />

sie sich, von mir »Geht in Ordnung, Schatz«<br />

zu hören. Ich hatte gar nicht wahrgenommen,<br />

was sie erzählten.<br />

Die sprichwörtliche Geistesabwesenheit<br />

des Professors.<br />

Dennoch halten wir dies für die höchste Form<br />

von Bewusstsein. Oder aber man ist im Gegenteil<br />

völlig von seiner Umwelt gebannt und<br />

verzichtet dafür auf das innere Geschwätz und<br />

die Beschäftigung mit sich selbst. Das tun Babys.<br />

Ist das nun mehr oder weniger Bewusstsein?<br />

Ich glaube, es handelt sich zumindest um<br />

einen Zustand größerer Wachheit.<br />

Im Zoo entdeckt meine vierjährige Tochter<br />

jedes noch so perfekt getarnte Reptil.<br />

Ihre achtjährige, etwas verträumte Schwester<br />

dagegen sieht nur ein leeres Terrarium.<br />

Vielleicht liegt es nicht am unter schiedlichen<br />

Charakter der beiden Mädchen,<br />

sondern an ihrem Alter.<br />

Dass die Kleinen mehr erkennen, zeigen<br />

nicht nur Experimente – auch ein Kaufhausdetektiv<br />

erzählte es mir. Er überwacht<br />

sein Geschäft von einem Balkon aus, wo<br />

kein Erwachsener ihn wahrnimmt. Doch<br />

die Kinder unter fünf winken ihm zu. Hier<br />

haben Sie ein Beispiel dafür, wie viel Kinder<br />

uns lehren können. Leider denkt der typische<br />

Philosoph noch immer allein im Lehnstuhl<br />

über seinen Geist nach. Dabei entgeht<br />

ihm der Reichtum an Bewusstseinszuständen<br />

in anderen Wesen.<br />

Nur wollen die meisten Menschen vor allem<br />

etwas über sich selbst erfahren. Wenn<br />

aber Kinder ganz anders als Erwachsene<br />

wahrnehmen, denken und fühlen, können<br />

sie dann wirklich dazu beitragen, die Rätsel<br />

unseres Geistes zu lösen?<br />

Biologen erkennen zunehmend, dass man einen<br />

Organismus nur verstehen kann, wenn<br />

man die Phasen seiner Entwicklung kennt.<br />

Ich glaube, für unseren Geist gilt dasselbe.<br />

Wie viel Kenntnis der Welt ist uns angeboren?<br />

Was mussten wir erst lernen? Woher kommt<br />

unser moralisches Empfinden? Solche Fragen<br />

lassen sich nur beantworten, wenn wir unsere<br />

Kindheit verstehen.<br />

Die Frage, ob es so etwas gibt wie angeborenes<br />

Wissen, ist uralt. Schon die Philosophen<br />

der griechischen Antike dachten darüber<br />

nach.<br />

Inzwischen ist klar, dass Babys wahre Meister<br />

darin sind, Zusammenhänge zu erschließen.<br />

Schon Einjährige betreiben so etwas wie eine<br />

unbewusste Statistik: Sie können häufige von<br />

seltenen Ereignissen unterscheiden und daraus<br />

Regeln ableiten. Und Dreijährige haben<br />

bereits eine Vorstellung von Ursache und<br />

26 Foto Daniel Schumann


»Frosch fängt Fliege« von Sarah, 6 Jahre<br />

27


Wirkung. Die gewinnen sie, indem sie mit<br />

allem, was sie in die Finger bekommen, herumspielen.<br />

Demnach wäre kein Wissen angeboren –<br />

wohl aber wären es Regeln, wie wir Erfahrungen<br />

ordnen. Was immer uns begegnet,<br />

versuchen wir in ein unbewusstes Schema<br />

von Wahrscheinlichkeiten, Ursache und<br />

Wirkung zu pressen. Was nicht in den<br />

Rahmen passt, bleibt uns verborgen: Immanuel<br />

Kant hat im 17. Jahrhundert genau<br />

das vermutet.<br />

Ja, aber die Kategorien sind nicht starr. Ein<br />

neun Monate altes Baby versteht Wahrscheinlichkeiten<br />

anders als mit 18 Monaten oder als<br />

ein Erwachsener. Im Grunde erforschen Kinder<br />

die Welt, wie Wissenschaftler es tun: Ihre<br />

Theorien verändern sich ständig.<br />

Sehr tröstlich, zu wissen, dass wir einem<br />

Forschungsprojekt beiwohnen, wenn die<br />

Kinder wieder einmal das Haus verwüsten.<br />

Aber konnten Sie als Mutter dreier<br />

Jungen aus solch philosophischer Warte<br />

die Ruhe bewahren?<br />

28<br />

Ich bin sowieso geistesabwesend und desorganisiert.<br />

Das machte es leicht, mit kleinen<br />

Kindern zu leben, während ich gleichzeitig<br />

meine wissenschaftliche Karriere voranzubringen<br />

versuchte. Ich fand das Chaos um<br />

mich herum ganz natürlich. Deutschen mag<br />

das schwererfallen.<br />

Nun ja.<br />

Ein Vorurteil, ich weiß. Aber tatsächlich ist<br />

das Spiel der Kinder höchst rational. Wir<br />

wissen heute, dass ein wenig Unordnung oft<br />

zu besseren Lernergebnissen führt als planvolles<br />

Vorgehen. Wildes Herumprobieren<br />

bewährt sich umso besser, je weniger man<br />

über ein Problem weiß. Kinder und Wissenschaftler<br />

werden dadurch schneller klug als<br />

mit durchdachten Experimenten. Darum<br />

ähnelt der Verstand in den ersten Jahren einer<br />

Laterne – er beleuchtet alles, was ihm<br />

begegnet. Sein einziges Ziel ist es, möglichst<br />

viel über die Welt herauszufinden. Später<br />

dagegen, wenn wir Ergebnisse bringen müssen,<br />

ist die Aufmerksamkeit wie ein Scheinwerfer<br />

gebündelt.<br />

»Feuerdrache« von Leopold, 7 Jahre<br />

Mich erinnert die kindliche Denkweise an<br />

Leonardo da Vinci, der sich von Malerei<br />

über Wasserbau bis hin zur Konstruktion<br />

von Flugmaschinen stets mit einem Dutzend<br />

vertrackter Probleme gleichzeitig<br />

befasste – allerdings die wenigsten seiner<br />

Erkenntnisse praktisch umsetzen konnte.<br />

Steckt in jedem Kind ein Leonardo?<br />

Unbedingt. Wir hören heute andauernd, wie<br />

wichtig es sei, Kinder Konzentration zu lehren.<br />

Allerdings geht Impulskontrolle auf<br />

Kosten der Kreativität. Wir wissen das aus<br />

Untersuchungen an Jazzmusikern. Beim Improvisieren<br />

funktionieren deren Gehirne ganz<br />

anders als beim Spielen vom Blatt: Die Zentren,<br />

die die Aufmerksamkeit fokussieren,<br />

sind heruntergeregelt. Menschen konnten<br />

nur deswegen so viel entdecken, weil ihr Verstand<br />

in der Kindheit diese lange unkontrollierte<br />

Phase durchläuft.<br />

Wann verlieren wir den weiten Blick auf<br />

die Welt?<br />

Das beginnt mit etwa fünf Jahren. Nicht zufällig<br />

ist das meist die Zeit der Einschulung.


Im Klassenzimmer werden die Kinder<br />

auf zielgerichtetes Denken trainiert.<br />

Über Leonardo sagt man oft, er sei ein<br />

Genie gewesen, obwohl er kaum vier<br />

Jahre lang die Schule besuchte und nicht<br />

einmal das Bruchrechnen lernte. Aber<br />

möglicherweise war genau das sein<br />

Glück – er konnte sich sein kindliches<br />

Denken erhalten!<br />

Ich habe ein paarmal in Forschungszentren<br />

vor hochrangigen Physikern geredet. Ich<br />

erklärte ihnen, dass Wissenschaftler große<br />

Kinder sind.<br />

Wie fanden die Physiker das?<br />

Sie stimmten zu. Aber natürlich kann nicht<br />

jeder ein Peter Pan sein. Wir brauchen auch<br />

Menschen, die zielorientiert denken.<br />

Allerdings gibt unsere Kultur den Ergebnissen<br />

Vorrang. Mir scheint, dass<br />

mehr wildes kindliches Denken wohltuend<br />

und sogar nützlich sein könnte.<br />

Nicht um die Zielstrebigkeit zu ersetzen,<br />

sondern um sie zu ergänzen.<br />

Nur müssen sich die meisten Erwachsenen<br />

sehr anstrengen, das Laternenbewusstsein<br />

zu erreichen. Bestimmte Formen der Meditation<br />

können es fördern. Reisen, auf denen<br />

wir ziellos Entdeckungen machen, auch<br />

Sabbatjahre. Kinder dagegen befinden sich<br />

ganz natürlich in diesem Zustand.<br />

Wenn wir ihnen den nicht austreiben.<br />

Darum hege ich gegenüber der sogenannten<br />

Frühförderung auch gemischte Gefühle.<br />

Sie kann viel Gutes bei Kindern bewirken,<br />

die zu Hause wenig Anregung<br />

bekommen. Doch der gegenwärtige Druck<br />

auf die Kindergärten, Unterricht anzubieten,<br />

ist gefährlich.<br />

Meist geht er von Eltern aus, die ihren<br />

Nachwuchs schon vor dem ersten Schultag<br />

lesen oder akzentfrei Mandarin sprechen<br />

hören wollen.<br />

Eine New Yorker Mutter hat kürzlich eine<br />

Vorschule verklagt. Sie fand, dass ihre<br />

Dreijährige dort zu viel spielte und nicht<br />

genug auf das College vorbereitet wurde!<br />

Und dann wundern wir Professoren uns<br />

über Studenten, die hart arbeiten – aber<br />

leider nur über das nachdenken, was in der<br />

Prüfung abgefragt wird. Nun, genau diese<br />

jungen Leute haben wir uns ausgesucht.<br />

Besser würden wir Jugendliche begünstigen,<br />

die uns erklären, dass sie in einer<br />

wichtigen Prüfung leider durchgefallen<br />

sind, weil sie in der Nacht zuvor bis zum<br />

Morgengrauen über den Sinn des Lebens<br />

diskutiert haben. Denn das ist die Haltung,<br />

die Philosophie und Wissenschaft<br />

hervorgebracht hat.<br />

Ironischerweise bewirken viele ehrgeizige<br />

Eltern genau das Gegenteil von dem, was<br />

sie wollen – eigentlich möchten sie ja<br />

kluge Kinder.<br />

So ist es. Kinder haben ein erstaunliches<br />

Sensorium dafür, ob Erwachsene eine Sache<br />

nur tun, um sie zu belehren. In einer<br />

Serie von Experimenten probierte meine<br />

Kollegin Laura Schulz vor den Augen ei-<br />

ner Gruppe von Vierjährigen an einem<br />

ziemlich komplizierten elektronischen<br />

Spielzeug herum. Allein gelassen, fanden<br />

die Kinder bald selbst alles heraus, was<br />

dieses Ding konnte. Anderen Jungen und<br />

Mädchen gleichen Alters zeigte Schulz<br />

gezielt ein paar Funktionen des Spielzeugs.<br />

Doch als sie ging, wiederholten<br />

diese Kinder nur das wenige, was sie ihnen<br />

vorgeführt hatte.<br />

Was die Kinder im Spiel lernen, lässt<br />

sich weder vorhersehen noch kontrollieren.<br />

Offenbar mangelt es den ehrgeizigen<br />

Eltern an Vertrauen in die Lernfähig<br />

keit ihrer Kleinen.<br />

Das Problem liegt noch tiefer: Früher war<br />

es selbstverständlich, den Umgang mit Kindern<br />

an seinen Geschwistern, Cousins und<br />

Nichten zu üben. Doch die Großfamilie ist<br />

dahin. So sind wir vermutlich die erste Generation<br />

von Eltern, die intensiver mit Kindern<br />

zu tun haben, wenn sie selbst welche<br />

in die Welt setzen. Das erzeugt eine gewaltige<br />

Verunsicherung. Hingegen ist uns das<br />

zielstrebige Handeln aus der Ausbildung<br />

und aus dem Beruf sehr vertraut. Dieses<br />

Modell versuchen wir nun auf das Familienleben<br />

zu übertragen.<br />

Und scheitern ...<br />

... weil Erziehung eben keine zielorientierte<br />

Tätigkeit ist.<br />

Wirklich? Ich will schon, dass meine<br />

Kinder den Weg in ein erfülltes Erwachsenenleben<br />

finden – auch wenn ich<br />

nicht weiß, was das für sie genau heißt.<br />

Eben. Trotzdem quälen sich gerade Mittelschichteltern<br />

mit Fragen wie: Tue ich<br />

das Richtige? Was kommt dabei heraus?<br />

Was wird er mit 30 seinem Psychotherapeuten<br />

erzählen? Dabei kommt es oft gar<br />

nicht so sehr darauf an, was wir unseren<br />

Kindern beibringen. Entscheidend ist<br />

vielmehr, ihnen einen geschützten Raum<br />

zu geben, in dem sie selbst ihre Erkundungen<br />

machen können. Der andere Weg<br />

ist also, zu erleben, was es bedeutet, ein<br />

Kind zu sein – und zu verstehen, was das<br />

Kind jetzt braucht ...<br />

... was uns die Entwicklungspsychologie<br />

leider auch nicht verrät. Denn Sie und<br />

Ihre Kollegen beschreiben die Fiktion<br />

eines durchschnittlichen Kindes von<br />

drei oder fünf Jahren – wo doch in<br />

Wirklichkeit jedes seine eigene Persönlichkeit<br />

hat.<br />

Wir verstehen noch nicht, woher die Unterschiede<br />

kommen. Ich vermute, dass<br />

sich bestimmte Neigungen der Kinder<br />

mit der Zeit von selbst immer weiter verstärken.<br />

Am Anfang können winzige, beispielsweise<br />

genetisch bedingte Abweichungen<br />

stehen – ein Kind macht lieber<br />

weiträumigere, ein anderes etwas feinere<br />

Bewegungen. Die Kinder wählen sich<br />

dann selbst eine Umgebung, die diesem<br />

Naturell entspricht.<br />

So wird der eine im Fußball, der andere<br />

im Zeichnen immer besser.


Und die Reaktionen der Eltern und Erzieher<br />

verstärken diese Vorlieben weiter. Auch viele<br />

Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen<br />

lassen sich so erklären.<br />

Ich gestehe, dass ich Frauen ausgesprochen<br />

anziehend finde, wenn sie mit Schlagbohrmaschinen<br />

hantieren. Aber trotz aller Bemühungen<br />

haben mir meine Töchter nie<br />

die Freude gemacht, sich für Technik zu interessieren.<br />

Mein Sohn hingegen geriet<br />

schon mit einem Jahr in Erregung, sobald er<br />

mich zu einem Schraubenzieher greifen sah.<br />

Gerade für Eltern, die Geschlechterrollen<br />

durchbrechen wollen, ist es oft zum Verzweifeln.<br />

Dass Testosteron Männer zu Elektrowerkzeugen<br />

hinziehen könnte, ist natürlich<br />

absurd. Sehr wohl aber kann dieses Hormon<br />

in Jungen einen Hang zu ausladenden Bewegungen<br />

bewirken. Papa ist dann für sie interessanter,<br />

wenn er werkelt, als am Schreibtisch.<br />

Und indem der Kleine das imitiert und selbst<br />

immer geschickter mit Werkzeugen umgeht,<br />

verstärkt sich der anfänglich kleine Unterschied<br />

zu seinen Schwestern.<br />

30<br />

»Besuch für die Kuh« von Rosa, 6 Jahre<br />

Demnach wäre es grundsätzlich unmöglich,<br />

den Einfluss der Gene von dem der<br />

Umwelt zu trennen.<br />

Weil Menschen ihre Umwelt ständig verändern,<br />

können wir nie wissen, welchen Effekt<br />

bestimmte Anlagen haben. Ein anderes gutes<br />

Beispiel ist die Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung<br />

ADHS ...<br />

... das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom.<br />

Hunderttausende Kinder in<br />

Deutschland bekommen dagegen täglich<br />

Ritalin.<br />

ADHS hat genetische Ursachen. Doch für<br />

unsere fernen Vorfahren spielten sie überhaupt<br />

keine Rolle. Wenn überhaupt, dann<br />

waren hyperaktive Menschen bessere Jäger.<br />

Aber wenn Sie Kinder mit diesen Anlagen in<br />

eine Schule setzen, haben Sie ein Problem.<br />

Und schon spricht man von einer genetisch<br />

bedingten Krankheit. Dabei gibt es die Umgebung<br />

Klassenzimmer, in der ADHS erst<br />

auftritt, gerade einmal seit 100 Jahren.<br />

Ritalin gibt uns die Möglichkeit, diese<br />

Kinder der Schule anzupassen.<br />

Vor allem ihren Eltern. Denn die kommen<br />

eindeutig mit hyperaktiven Kindern unter<br />

Ritalin besser zurecht. Hingegen fehlt bisher<br />

der Nachweis, dass sich dieses Medikament<br />

positiver auf den Schul erfolg auswirkt als beispielsweise<br />

eine Verhaltenstherapie.<br />

Andererseits kann ich Eltern verstehen,<br />

die ihrem Kind die Pille verschreiben<br />

lassen, weil sie fürchten, dass ein völlig<br />

unkonzentriertes Kind in der Schule für<br />

immer den Anschluss verliert.<br />

Nur schlucken hier in den USA schon Dreijährige<br />

Ritalin – das ist Wahnsinn. Doch gewiss<br />

gibt es Fälle, in denen man zu jedem<br />

Mittel greifen muss.<br />

Zumal die Eltern auch keine unendliche<br />

Kapazität haben, ihr Kind zu unterstützen.<br />

Schon unter normalen Umständen<br />

brauchen Kinder oft mehr, als wir ihnen<br />

geben können. Das ist für mich die<br />

schmerzliche Seite daran, Vater zu sein.<br />

Elternschaft stellt uns im Alltag vor einige der<br />

tiefsten moralischen Dilemmata, die es überhaupt<br />

gibt. Auch dies macht unser Verhältnis


zu Kindern philosophisch so interessant. In<br />

keiner anderen menschlichen Beziehung<br />

sorgen wir auch nur annähernd so viel für<br />

den anderen. Ich liebe meinen Mann und<br />

versuche, ihm eine gute Ehefrau zu sein.<br />

Also koche ich für ihn und höre ihm zu.<br />

Aber wenn ich nur das für ein Baby tun<br />

würde, wäre es Kindesmisshandlung. Dabei<br />

bemerken die Kinder unsere Opfer nicht<br />

einmal. Wenn sie die ständige Fürsorge als<br />

etwas Besonderes wahrnehmen, ist das sogar<br />

ein Alarmsignal.<br />

Daher dieses Gefühl, dass wir als Mütter<br />

und Väter nie gut genug sind, dass wir<br />

unserem Kind immer noch etwas mehr<br />

schulden. Verlangt Elternschaft Unmögliches<br />

von uns?<br />

Jemanden, der so viel für Fremde tut wie<br />

wir alle für unsere Kinder, würde man einen<br />

Heiligen nennen ...<br />

... aufgrund seiner Selbstlosigkeit, nicht<br />

weil er Wunder vollbringt.<br />

Sicher, ich bin eine jüdische Atheistin. Allerdings<br />

glaube ich, das Leben mit einem<br />

Dreijährigen ist tatsächlich ein schneller<br />

Weg, ein gewisses Maß an Heiligkeit zu<br />

erreichen.<br />

Ich spüre davon an mir nicht viel.<br />

Das tun selbst große Heilige selten. Was die<br />

Schuldgefühle angeht: Für gute Amerikaner<br />

gehört es sich nicht, welche zu haben.<br />

Ich allerdings fürchte, dass sie eine völlig<br />

angemessene Reaktion auf unsere enorme<br />

Verantwortung als Eltern sind.<br />

Feministinnen werden von solchen Gedanken<br />

wenig angetan sein. Jahrzehntelang<br />

haben die Frauen zu lernen versucht,<br />

sich nicht immer nur in den<br />

Dienst anderer zu stellen – und jetzt<br />

kommen Sie mit angemessenen Schuldgefühlen<br />

und Heiligkeit!<br />

Feminismus hat zwei Seiten: Neben dem<br />

Kampf gegen die Unterdrückung ging es<br />

immer auch darum, die weiblichen Erfahrungen<br />

ernst zu nehmen. Frauen haben ja<br />

nicht die letzten 10 000 Jahre lang Däumchen<br />

gedreht, sie haben die ganze Erdbevölkerung<br />

großgezogen. Die Einsichten, die sie<br />

dabei gewannen, sind genauso wertvoll wie<br />

die Überlieferung der meist alleinstehenden<br />

männlichen Philosophen und Theologen.<br />

Genau darum habe ich meinen Ausflug in<br />

die Entwicklungspsychologie gemacht: Ich<br />

wollte helfen, der Philosophie eine Sichtweise<br />

zu öffnen, für die sie zu lange blind<br />

war. Es entsprach mir – als Älteste von sechs<br />

Geschwistern habe ich in meinem ganzen<br />

Leben nur drei Jahre verbracht, ohne mich<br />

um kleine Kinder zu kümmern.<br />

Welche Frage trieb Sie um, dass Sie eine<br />

Antwort in der Philosophie suchten?<br />

Woher unsere Weltkenntnis kommt. Gemessen<br />

daran, wie wenig Informationen<br />

wir über die Sinne erhalten, wissen wir unglaublich<br />

viel. Das ist für mich noch immer<br />

das Rätsel aller Rätsel. Schon Platon wunderte<br />

sich darüber. Ich las ihn zum ersten<br />

Mal mit zehn Jahren.<br />

Haben Sie ihn verstanden?<br />

Meine Eltern hätten nie gesagt, dass wir<br />

Kinder einen Philosophen nicht verstehen<br />

können. Sie gaben uns jedes Buch, weil sie<br />

vernünftigerweise dachten, dass wir die uns<br />

zugänglichen Teile schon heraussuchen<br />

würden. Übrigens haben mir viele Philosophen<br />

erzählt, dass sie in diesem Alter oder<br />

etwas später mit Platon anfingen.<br />

Weil er so wundervoll und anschaulich<br />

schreibt.<br />

Und zwischen dem achten und zehnten<br />

Lebensjahr beginnen Kinder typischerweise,<br />

theologische Fragen zu stellen. Etwa:<br />

»Wie ist alles entstanden?« Wie Untersuchungen<br />

zeigen, machen sie sich solche<br />

Gedanken sogar, wenn sie in einer atheistischen<br />

Umgebung aufwachsen.<br />

Ja, selbst unsere Berliner Kinder fragen<br />

nach Gott. Allerdings erscheint mir Ihr<br />

Beispiel nicht besonders theologisch.<br />

Aber die Antworten, die Kinder spontan<br />

darauf geben, sind es. Etwa: »Jemand<br />

muss das Universum gemacht haben.« Sie<br />

folgen aus einer natürlichen Entwicklung.<br />

Schon dreijährige Babys fragen sich sehr<br />

grundsätzliche Dinge. Etwa wollen sie<br />

wissen, was im Kopf eines anderen Menschen<br />

vorgeht und warum er tut, was er<br />

tut. So ist es normal, dass Kinder im Lauf<br />

der Zeit immer umfassendere Erklärungen<br />

suchen – bis sie irgendwann überlegen,<br />

ob vielleicht die ganze Welt einen<br />

Zweck haben könnte.<br />

Ich weiß, dass ich mir solche Fragen gegen<br />

Ende meiner Grundschulzeit stellte.<br />

Aber mir fehlt jede Erinnerung, wie es<br />

dazu kam. Die eigene Kindheit kommt<br />

mir vor wie ein Traum nach dem Erwachen:<br />

Einige Szenen ziehen wir mühsam<br />

aus dem Gedächtnis hervor. Aber je weiter<br />

wir zurückgehen, umso mehr liegt im<br />

Dunkel. Als wäre der ganze Reichtum der<br />

frühen Jahre für immer verloren.<br />

Wir wissen nicht einmal, warum es so ist.<br />

Wahrscheinlich haben Kinder unter vier<br />

Jahren kein Verständnis dafür, dass sie durch<br />

die Zeit wandern – dass ihr Ich der Vergangenheit<br />

und jenes der Gegenwart Teil derselben<br />

Geschichte sind. Darum können sie<br />

kaum bleibende Erinnerungen anlegen.<br />

Hat es Sie nie traurig gestimmt, zu erleben,<br />

wie schnell eine Kindheit vergeht?<br />

Doch. In Japan gibt es den wunderbaren<br />

Begriff aaware. Er meint die ganz besondere<br />

Schönheit des Flüchtigen: der Kirschblüte<br />

etwa oder des ersten Schnees. Wer sie<br />

genießen will, muss sich hingeben – und<br />

leidenschaftlich lieben, was er weder kontrollieren<br />

noch festhalten kann.<br />

Stefan Klein führt für das <strong>ZEIT</strong>magazin<br />

regelmäßig Gespräche mit<br />

Wissenschaftlern über die großen Fragen.<br />

Zuletzt erschienen »Altern« (Nr. 16/12)<br />

und »Freundschaft« (Nr. 5/12)<br />

Wir danken der KLAX-Kinderkunstgalerie aus Berlin


Ich habe einen Traum


Lykke Li<br />

»Wir krochen durch Erdtunnel, kletterten über Felsen und wollten einen Berg besteigen«<br />

funden hatte, wollte ich nicht mehr weitermachen. Aber man lernt<br />

bei so einer Arbeit, dass die Menschen sich gegenseitig helfen müssen.<br />

Ein großes Problem in unserer Kultur ist ja, das wir unsere<br />

Alten allein lassen. In einem Altersheim lernt man vor allem, dass<br />

das Leben sehr kurz ist. Und dass es daher wichtig ist, sich rechtzeitig<br />

um die Verwirklichung der eigenen Träume zu kümmern.<br />

Ehrlich gesagt, fühle ich mich jetzt schon manchmal<br />

sehr alt, weil ich so viel Schlaf brauche wie ein Rentner und immer<br />

nur ins Bett will. Manchmal wünsche ich mir, total dumm<br />

zu sein, um mir nicht mehr so oft den Kopf zu zerbrechen über<br />

Gott und Welt. Aber dann hätte ich vielleicht auch nur noch<br />

langweilige Träume.<br />

Lykke Li,<br />

26, heißt mit bürgerlichem Namen Li Lykke Timotej Svensson<br />

Zachrisson und ist eine schwedische Musikerin. In Deutschland<br />

wurde sie in den vergangenen Monaten durch den Hit »I Follow<br />

Rivers« bekannt, der im Juli Platz 1 der Single-Charts erreichte<br />

treten. Aber zu einer Weltkarriere hat es dann doch nicht gereicht.<br />

Trotzdem habe ich die Hoffnung bis heute nicht aufgegeben. Ich<br />

bin ja noch jung, da kann noch viel passieren. Andererseits habe<br />

ich Angst davor, alt zu werden. Das scheint mir ein Albtraum zu<br />

sein. Ein kurzes, schnelles, aufregendes Leben würde ich einem<br />

öden und langen vorziehen.<br />

Bevor ich Musikerin wurde, habe ich ein halbes Jahr in<br />

einem Altersheim gearbeitet. Ich habe dort vollgepinkelte Windeln<br />

gewechselt, schmutzige Bettlaken ausgetauscht und gewaschen,<br />

alte Menschen geduscht und für sie gekocht. Ich habe also alles<br />

gemacht, was so anfiel. Am Abend war ich dann immer völlig zerstört.<br />

Es war harte Arbeit, aber ich brauchte das Geld. Noch anstrengender<br />

als die Arbeit war es, so viele einsame Menschen zu<br />

sehen, die niemanden mehr hatten. Ich betreute zehn von ihnen.<br />

Glücklich waren nur die Leute, die Alzheimer hatten und nicht<br />

mehr viel merkten. Da war eine alte Frau, mit der ich mich etwas<br />

angefreundet hatte. Eine ehemalige Friseurin. Die sagte immer:<br />

Kindchen, du musst hier weg, du solltest Filmstar werden. Nachdem<br />

ich einen sterbenden alten Mann in seinem Blut liegend ge-<br />

Bevor ich schlafen gehe, überlege ich mir immer, wovon ich träumen<br />

möchte. Alle meine Träume sind sehr intensiv, psychedelisch.<br />

Oft beginnen sie gruselig. Neulich irrte ich mit einem merkwürdigen,<br />

mir unbekannten Mann durch einen finsteren Wald. Wir<br />

krochen durch Erdtunnel, kletterten über Felsen und wollten einen<br />

Berg besteigen. Bei solchen Träumen stehe ich manchmal<br />

neben mir und freue mich darüber, was ich da gerade wieder Aufregendes<br />

träume. Ich merke also, dass ich träume, was die psychedelische<br />

Wirkung noch erhöht. Manchmal werde ich dann allerdings<br />

auch traurig, weil ich weiß, dass der Traum leider bald zu<br />

Ende sein wird, spätestens, wenn wir die Bergspitze erreichen.<br />

Wenn ich aus einem wilden Traum erwache, bin ich immer traurig.<br />

Oft notiere ich mir dann, was passiert ist. Alle Songs, die ich<br />

schreibe, sind von meinen Träumen beeinflusst.<br />

Musiker zu sein ist dagegen kein Traum, sondern<br />

nüchterne Realität. Das ist meine Arbeit, mit der ich meinen Lebensunterhalt<br />

finanziere. Wären meine Kindheitsträume wahr<br />

geworden, wäre ich nämlich ein Filmstar geworden. So wie Gena<br />

Rowlands. Als Kind bin ich oft mit unserem Schultheater aufge-<br />

33 Aufgezeichnet von Christoph Dallach Foto Nadine Elfenbein Zu hören unter www.zeit.de/audio


34<br />

Von<br />

JÖRG LAU<br />

Fotos<br />

ANDREAS HERZAU<br />

Strategie der Verunsicherung: Immer neue Checkpoints werden in Hebron errichtet.<br />

In der ehemaligen Hauptstraße sind alle Läden geschlossen und verschweißt (rechts)


Für Israel, gegen die Besatzung: Junge Israelis brechen<br />

das Schweigen über ihren Militärdienst<br />

TAPFERKEIT VOR<br />

DEM FREUND<br />

35


WENN JEHUDA SCHAUL die jungen<br />

Soldaten der israelischen Armee in He bron<br />

sieht, kommen die Erinnerungen wieder zurück.<br />

Jehuda, ein bärenhafter 29-Jähriger mit<br />

Vollbart, war auch einmal hier eingesetzt. Er<br />

hat in dieser Stadt Dinge erlebt, die er bis heute<br />

nicht loswird: »Ich glaubte zu wissen, wer<br />

ich bin, was gut und was böse ist und wofür<br />

ich stehe. Nach 14 Monaten He bron war<br />

nichts davon übrig. Als hätte man alles, was<br />

ich war, durch einen Schredder geschoben.«<br />

Ein Besuch in He bron ist für Jehuda<br />

immer auch eine Suche nach dem verlorenen<br />

Selbst. Es ist ein herrlicher Morgen. Wir gehen<br />

durch das Viertel Bab al-Khan im Herzen<br />

der Altstadt. Palästinenser dürfen hier nur<br />

eine Seite der Straße benutzen, hinter einer<br />

Betonbarriere. Die Straßen der alten Kasbah<br />

sind leer, die Geschäfte versiegelt und lange<br />

schon aufgegeben. Das Herz He brons ist abgestorben.<br />

Dies ist eine Geisterstadt, belebt<br />

nur von den Soldaten, die in kleinen Gruppen<br />

patrouillieren. Alles normal, wird es nach<br />

diesem Tag in den Lageberichten heißen.<br />

Mit dieser Normalität kann Jehuda sich<br />

nicht abfinden. Er und ein paar Freunde haben<br />

nach ihrem Militärdienst eine Gruppe<br />

gegründet, die sich auf Hebräisch Schowrim<br />

Schtika nennt, auf Englisch Breaking the Si-<br />

36<br />

In Hebron ist der Nahostkonflikt wie unter einem Brennglas zu beobachten:<br />

Blick von der israelisch besetzten Zone in Hebron auf den palästinensischen Teil<br />

lence – »Das Schweigen brechen«. Sie haben<br />

einen Kampf begonnen, der fast aussichtslos<br />

scheint, einen Kampf gegen die Sachzwänge<br />

der Realpolitik und die Trägheit des Herzens<br />

nach 45 Jahren der Besatzung.<br />

Jehuda und seine Freunde vermeiden<br />

abgedroschene Formeln wie »Zwei staa tenlösung«<br />

und »Friedensprozess«, die das Publikum<br />

nicht nur in Israel mittlerweile in<br />

Sekunden schlaf versetzen. Sie haben etwas<br />

Interessanteres, aber auch Schwierigeres zu<br />

bieten: die Erfahrung der Soldaten, die die<br />

Besatzung am Laufen halten. Den Blick vom<br />

Checkpoint aus, durch das Visier des Gewehrs,<br />

das Westjordanland im grünen Licht<br />

eines Nachtsichtgeräts.<br />

Soldaten sprechen über ihren Dienst:<br />

Das ist überall heikel, umso mehr aber in Israel,<br />

dessen Existenzrecht immer noch infrage<br />

gestellt wird. Ohne Bereitschaft zur Selbstverteidigung<br />

gäbe es den jüdischen Staat längst<br />

nicht mehr. Die Armee ist auch heute noch die<br />

wichtigste In sti tu tion im Land. Sie hat es gegründet,<br />

sie erhält es, sie bewahrt die zionistischen<br />

Werte, sie macht Juden aus aller Welt zu<br />

Israelis. Erwachsen werden, Soldat werden,<br />

Bürger werden, das ist alles eins, wenn die<br />

18-jährigen Männer für drei Jahre und die<br />

Frauen für 21 Monate eingezogen werden.<br />

Die Aktivisten von Breaking the Silence waren<br />

alle in He bron eingesetzt. Wie Jehuda ist<br />

auch die Geschäftsführerin Dana Golan,<br />

ebenfalls 29 Jahre alt, hier geprägt worden.<br />

Die beiden sind zusammen mit dem 33-jährigen<br />

Michael Manekin der harte Kern der<br />

Gruppe. »Die Menschen in diesem Land«, so<br />

beschreibt Dana Golan ihre Mission, »müssen<br />

sich klarmachen, was sie ihren Söhnen und<br />

Töchtern antun, die in der Besatzung dienen.<br />

Viele wollen lieber nicht genau wissen, was<br />

der Preis für das Besatzungsregime ist, was wir<br />

dort tun – und was das uns antut.«<br />

Als Jehuda anfing, im Sommer 2001,<br />

trug er voller Stolz die olivgrüne Uniform. Es<br />

tobte die Zweite Intifada, ein blutiger Aufstand,<br />

der innerhalb von fünf Jahren 1036<br />

Israelis und 3592 Palästinenser das Leben<br />

kosten sollte. Jehudas Brigade hatte die Aufgabe,<br />

die jüdischen Siedler der Stadt vor den<br />

Angriffen von Palästinensern zu schützen.<br />

Hebron ist für Juden und Muslime ein<br />

heiliger Ort. Die Gräber von Abraham, Isaak<br />

und Jakob, Sara, Rebekka und Lea werden<br />

seit biblischer Zeit hier verehrt. Für diese<br />

Stadt, einen der am längsten ununterbrochen<br />

bewohnten Flecken der Erde, ist das Heilige<br />

immer wieder zum Fluch geworden. Weil<br />

Abraham auch im Islam als Ur vater und erster


»Ich kann es mir nicht erlauben, ein Gewissen zu haben«,<br />

hat diese junge Soldatin auf ihren Arm tätowieren lassen<br />

37


Prophet gilt, tobt ein jahrhundertelanger<br />

Kampf um die Erinnerung, der immer wieder<br />

zu Pogromen und Massakern geführt<br />

hat. 1929 fielen 67 Juden einem Massenmord<br />

zum Opfer, 1994 erschoss der Siedler<br />

Baruch Goldstein 29 betende Muslime. In<br />

He bron ist der Nahostkonflikt wie unter<br />

einem Brennglas zu beobachten.<br />

Einige jüdische Siedlungen, das ist das<br />

Besondere, liegen in der früher arabisch<br />

dominierten Altstadt He brons. Die Siedlerbewegung<br />

hat hier angefangen. Nach Israels<br />

Sieg im Sechstagekrieg von 1967 wurde<br />

He bron als Teil des Westjordanlands<br />

von israelischen Truppen besetzt. Bald begannen<br />

National-Religiöse, im Zentrum<br />

der Stadt Häuser zu besetzen. Eine Gruppe<br />

um den Rabbiner Mosche Lewinger mietete<br />

sich in einem Hotel für eine Pessach-<br />

Feier ein und blieb. Die Armee rückte an,<br />

um die Siedler abzusichern. So ging es<br />

immer wieder in He bron: Checkpoints<br />

wurden errichtet, Straßen gesperrt. Die<br />

palästinensische Bevölkerung verließ infolgedessen<br />

das Zentrum zu Tausenden,<br />

und He bron wurde durch den Oslo-Vertrag<br />

von 1994 eine geteilte Stadt: In »H1«<br />

sind die Palästinenser für die Sicher heit<br />

verantwortlich, in »H2« – dem alten Stadtkern<br />

– die Israelis. Allerdings versuchten<br />

die Siedler immer wieder, in palästinensisches<br />

Ter ri to rium vorzudringen.<br />

Jehuda wurde Zeuge einer solchen<br />

Aktion. Eines Tages zu Beginn von Jehudas<br />

Dienstzeit hatte sich eine Gruppe jüdischer<br />

Siedlerfrauen mit ihren Kindern<br />

nach Abu Sneina aufgemacht, einem arabischen<br />

Stadtteil He brons. Das war lebensgefährlich.<br />

Aus diesem Quartier heraus war<br />

einige Wochen zuvor ein zehn Monate altes<br />

israelisches Baby von einem arabischen<br />

Heckenschützen erschossen worden. Es<br />

wimmelte in Abu Sneina von Militanten.<br />

Die Siedlerfrauen wollten in dem arabischen<br />

Viertel einen Stützpunkt errichten.<br />

Die Armee, so ihr Kalkül, musste ihnen<br />

folgen, um sie zu schützen. Wenn es ihnen<br />

gelänge, sich festzusetzen, wäre ein weiteres<br />

Stück biblischen Bodens befreit. Es wurde<br />

Alarm ausgelöst, und Jehudas Kampfgruppe<br />

bekam den Auftrag, die Frauen aus Abu<br />

Sneina herauszuholen und in die sichere<br />

Zone zurückzugeleiten. Nach Abschluss der<br />

Aktion bildeten die Soldaten einen Ring um<br />

die Siedlung, um die Frauen daran zu hindern,<br />

wieder loszuziehen. »Da ging das Geschrei<br />

los«, erinnert er sich: »Ihr seid Nazi-<br />

Soldaten, die Juden ins Ghetto einsperren!<br />

Hey, Nazi, hier ist eine Schwangere. Schlag<br />

sie doch, dann wird sie eine Fehlgeburt haben,<br />

und es gibt einen Juden weniger!«<br />

Von anderen Juden, für die man gerade<br />

sein Leben riskiert hatte, Nazi genannt<br />

zu werden war ein Schock. Die Armee war<br />

in He bron, um Juden vor Arabern zu beschützen.<br />

Aber hier musste man oft genug<br />

die Araber vor den Juden schützen – und<br />

He brons Juden vor sich selbst.<br />

Jehuda Schaul hat die Gruppe<br />

Breaking the Silence gegründet<br />

Jehuda stammt selbst aus einer ultraorthodoxen<br />

Familie. Er hat sich aus dieser Welt<br />

gelöst, betrachtet sich aber weiter als gläubig,<br />

ernährt sich koscher und hält den Sabbat<br />

ein. Seine Entscheidung, zur Armee zu<br />

gehen – statt, wie es damals gesetzlich erlaubt<br />

war, als Ultraorthodoxer vom Privileg<br />

der Befreiung vom Wehrdienst Gebrauch<br />

zu machen –, fiel gegen den Willen der Familie:<br />

»Ich sah es als patriotische Pflicht.«<br />

Für die Siedler He brons, musste er erkennen,<br />

war er als Soldat nur ein Mittel<br />

zum Zweck in ihrem Kampf um den heiligen<br />

Boden. Doch um diese Menschen zu<br />

schützen, hat er Dinge getan, die er sich vor<br />

He bron nicht hätte vorstellen können.<br />

Einer seiner ersten Einsätze bestand<br />

darin, aus einem Posten hoch über der<br />

Stadt ein Granatmaschinengewehr zu bedienen.<br />

Aus dem arabischen Viertel waren<br />

immer wieder die Siedlungen beschossen<br />

worden. Also wurde befohlen, zurückzuschießen:<br />

»Es ist unmöglich, mit einem<br />

Granatmaschinengewehr präzise zu treffen.<br />

In einem 15-Meter-Radius vom Zielpunkt<br />

tötet es alles. Jetzt sollte ich diese Waffe in<br />

einer dicht besiedelten Stadt abfeuern. Ich<br />

habe geschossen und gebetet, dass ich keine<br />

Unschuldigen treffe.« Die ersten Tage waren<br />

schrecklich, aber bald gewöhnte er sich<br />

daran: »Nach einer Weile war es dann die<br />

Attraktion des Tages, wenn man endlich<br />

zurückschießen konnte.«<br />

Doch irgendwann begann Jehuda mit<br />

dem Gedanken der nachträglichen Dienstverweigerung<br />

zu spielen, was eine Gefängnisstrafe<br />

zur Folge gehabt hätte. Er hat es<br />

nach einem Gespräch mit seinem Kommandeur<br />

nicht getan, sondern sich sogar<br />

zum Offizierskurs angemeldet. Gerade<br />

Leute wie er müssten dabeibleiben, wurde


Dana Golan war stolz, Soldatin zu sein.<br />

Das ist sie heute nicht mehr<br />

ihm gesagt. Er könne Dinge verändern und<br />

Exzesse verhindern. Heute hält er das für<br />

eine Lebenslüge: »Nicht individuelles Fehlverhalten<br />

war das Problem, sondern das<br />

System der Besatzung.«<br />

Wie Jehuda haben auch Dana und<br />

die anderen von Breaking the Silence ihren<br />

Dienst ordnungsgemäß beendet. Es<br />

herrschte schließlich ein Krieg, in dem der<br />

Gegner barbarische Methoden anwandte:<br />

Selbstmordanschläge auf Cafés und Reisebusse<br />

in Israel waren damals Alltag.<br />

Erst nachdem sie aus der Armee entlassen<br />

waren, setzte das Erschrecken über<br />

die eigene Ver rohung ein. Jahre später noch<br />

stehen viele der Soldaten wie neben sich.<br />

Dana Golan ist seit drei Jahren Geschäftsführerin<br />

der Gruppe. Wir besuchen<br />

sie im Jerusalemer Stadtteil Talpiot. Das<br />

Büro liegt in einem Industriegebiet. Vier<br />

schmucklose Zimmer mit Teeküche, ein<br />

Konferenzraum, Ikea-Möbel. Dana könnte<br />

man mit ihrer modischen Sonnenbrille und<br />

ihren langen braunen Haaren für eine typische<br />

Tel Aviver Israelin halten: unbeschwert,<br />

eher unpolitisch. Und vielleicht wäre sie<br />

ohne He bron auch so geworden. Sie<br />

kommt, anders als Jehuda, aus einer säkularen<br />

zionistischen Familie, die an das Militär<br />

glaubte. Als sie für den Dienst in den besetzten<br />

Gebieten eingeteilt wurde, war sie<br />

stolz: »Sie schicken dich in die Frontstadt,<br />

weil du zu den Harten gehörst«, dachte sie.<br />

Bei der ersten Hausdurchsuchung<br />

brennt sich ihr der Wandschmuck ins Gedächtnis<br />

ein: »Ich sehe ein Poster von der<br />

Al-Aksa-Moschee in Jerusalem und ein Bild<br />

Saddam Husseins, und da wird mir klar:<br />

Ich bin tatsächlich in einem palästinensischen<br />

Haus. Der nächste Gedanke: Komisch,<br />

ich war noch nie bei Palästinensern<br />

zu Hause. Jetzt stehe ich um zwei Uhr<br />

nachts mit einem MG in einem He bro ner<br />

Haus, und alle haben Angst vor mir.«<br />

Die Kameraden stellen alles auf den<br />

Kopf, man sucht Waffen. Stattdessen finden<br />

sie die Pornosammlung des Familienvaters.<br />

»Mir ist es unendlich peinlich. Ich<br />

schäme mich. Dann kommt der Befehl, ich<br />

soll die Frauen im Haus filzen.« Dana<br />

klopft die Frauen ab: »Beine auseinander,<br />

Hände an die Wand. Ich fasse sie überall<br />

an, auch an den Brüsten. Sie lassen es geschehen.<br />

Sie haben Angst. Dabei schaut der<br />

kleine Sohn zu mir herüber, und ich sehe<br />

den Hass in seinen Augen. In diesem Moment<br />

konnte ich ihn verstehen.«<br />

Sich plötzlich im Blick des anderen<br />

erkennen zu müssen kann Folgen haben.<br />

Michael Manekins Schlüs sel erleb nis begann<br />

mit einem Scherz. Man hatte dem<br />

Kommandeur der Patrouille, einem großen,<br />

rundlichen Mann, statt regulärer<br />

Tarnfarbe giftgrüne Schminke gegeben.<br />

Weil die Farbe im Dunkeln aufgelegt wurde,<br />

hatte er es nicht bemerkt. Man hämmert<br />

an die Tür eines palästinensischen<br />

Hauses, die Tür wird geöffnet, der Kommandeur<br />

stürmt voran und brüllt »Hände<br />

hoch, keine Bewegung!«: »Die ganze Familie<br />

lacht bei seinem Anblick, und ein Kind<br />

ruft: ›Shrek! Shrek!‹ Wir lachen auch, und<br />

schließlich lacht selbst der Kommandeur,<br />

der in einem Spiegel erkennt, dass er wirklich<br />

aussieht wie das Ungeheuer aus dem<br />

Film. Mein Gott, denke ich, sie kennen<br />

Shrek! Und sie haben Humor, diese Palästinenser.<br />

Sie haben mich zum Lachen gebracht.<br />

Sie leben in der gleichen amerikanisierten<br />

Popwelt wie wir. Der nächste<br />

Gedanke: Was hast du bloß gedacht, wie<br />

die sind? In dem Moment fiel meine Soldatenwelt<br />

in sich zusammen. Ich hatte oft<br />

erlebt, dass sich Kinder bei unserem Anblick<br />

vor Angst in die Hose machen. Das<br />

hat mir nicht so viel ausgemacht wie dieses<br />

Lachen über Shrek.«<br />

Noam Chajut, der mit Jehuda zu den<br />

Gründern von Breaking the Silence gehört,<br />

trifft uns in Tel Aviv, im Café Henrietta am<br />

zentralen Busbahnhof. Der 32-Jährige mit<br />

schütterem blonden Haar ist für die Videodokumentation<br />

der Soldatenerfahrungen<br />

zuständig. Nach dem Militär hat er Biologie<br />

studiert und ist heute Bioingenieur.<br />

Seine freundliche und offene Art kann eine<br />

große Wut kaum verdecken.<br />

Noam war Offizier im Westjordanland<br />

und in Gaza. Seine Groß eltern waren<br />

vor dem Zweiten Weltkrieg aus der Ukraine<br />

und Polen eingewandert. Alle verbliebenen<br />

Verwandten in Europa wurden von den<br />

Deutschen ermordet. Noam wollte immer<br />

schon Offizier werden. Er kam zu einer<br />

Eliteeinheit, die während der Zweiten Intifada<br />

überall im Westjordanland kämpfte.<br />

Wie Jehuda war auch er später in Hebron<br />

eingesetzt: »Es hieß immer, wir bekämpfen<br />

den Terrorismus. Aber dort bedeu-


tete das, ein Volk unter Kontrolle zu halten.<br />

Mit dem Gewehr in der Hand bist du als<br />

20-Jähriger plötzlich Herr über Leben und<br />

Tod. Auch wenn du anders sein willst, ein guter<br />

Soldat, merkst du bald, dass es dein Daseinszweck<br />

ist, die Palästinenser deine Macht<br />

spüren zu lassen, damit sie sich nicht erheben.<br />

Unsere Parole war: Brennt ihnen ins Bewusstsein,<br />

dass es sich nicht lohnt zu kämpfen.«<br />

In den drei Jahren beim Militär, sagt er,<br />

»war die Erzeugung von Unsicherheit mein<br />

Beruf«. Das bedeutete nächtliche Hausdurchsuchungen;<br />

stetig wechselnde Checkpoints,<br />

Verhaftungen ganzer Dorfgemeinschaften,<br />

Zerstörung von Häusern, laute Patrouillen<br />

mitten in der Nacht: »Niemand sollte sich sicher<br />

fühlen. Einmal wurden mit Panzern<br />

ganze Reihen von palästinensischen Autos<br />

plattgemacht. Ein andermal haben wir am<br />

Checkpoint alle Autoschlüssel einkassiert,<br />

weil jemand keine Papiere hatte. Die Unberechenbarkeit<br />

– und manchmal Sinnlosigkeit<br />

– der Maßnahmen war Absicht. Jeden kann<br />

es jederzeit treffen, das war unsere Botschaft.<br />

Und am Wochenende fragen deine Eltern zu<br />

Hause, wie es dir geht, und du sagst: ›Gut,<br />

alles klar.‹ Du willst nicht über das reden, was<br />

du in den Gebieten gemacht hast. Was sollen<br />

sie denn anfangen mit deinen Geschichten?«<br />

Die Initiative will zeigen, was die Besatzung bedeutet – auch mit Führungen in den Hügeln<br />

von Hebron. Rechts eine Soldatin vor einem israelischen Wandgemälde<br />

Aber war der Kampf gegen den Terrorismus<br />

nicht erfolgreich? »So kann man das sehen«,<br />

sagt Noam. »Aber die Leute sollten wissen,<br />

wie teuer ihre Sicherheit erkauft wird.«<br />

Jehuda, Dana, Michael und Noam sind<br />

weder Defätisten noch Ver räter. Breaking the<br />

Silence ist ein Versuch von Exsoldaten, die<br />

Armee vor dem Missbrauch durch die Politik<br />

zu retten. Und wer die Armee retten will, der<br />

meint in Israel eigentlich das Land selbst. Pathetischer<br />

gesagt: dessen Seele, die durch die<br />

Besatzung korrumpiert zu werden droht.<br />

Mehr als sieben Jahre liegt Jehudas<br />

Wehrdienst jetzt zurück, doch jede Woche<br />

fährt er wieder nach He bron, oft sogar mehrmals:<br />

»Manchmal sage ich mir: Jehuda, du<br />

hast die Armee eigentlich nie verlassen. Du<br />

bist irgendwie immer noch im Dienst.«<br />

Es begann damit, dass er zusammen mit<br />

Noam Chajut die Fotos sammelte, die sie bei<br />

ihren Einsätzen mit Handys und Digicams<br />

gemacht hatten. Bilder von palästinensischen<br />

Wohnungen, von Gefangenen, von Straßensperren.<br />

Sie zeigten die Bilder einem professionellen<br />

Fotografen, der ihnen half, eine Ausstellung<br />

in Tel Aviv zu organisieren.<br />

Das war im Sommer 2004, wenige Monate<br />

nach Jehudas Entlassung, und der Titel<br />

lautete Breaking the Silence. Die Ausstellung<br />

war gut besucht. Die Soldaten erklärten ihre<br />

eigenen Bilder. Viele Eltern von Soldaten kamen.<br />

In der zweiten Woche tauchte auch Jehudas<br />

Vater auf. Nach dem Rundgang wandte<br />

er sich schockiert an seinen Sohn: »Jehuda,<br />

so etwas hast du getan?« Der Vater ging ohne<br />

ein weiteres Wort. Eine Woche später besuchte<br />

er Jehuda und gestand: »Ich verstehe, warum<br />

du tust, was du tust.«<br />

Nach der Ausstellung begann Jehuda mit<br />

Freunden, Zeugenaussagen von Soldaten auf<br />

Band aufzunehmen. Sie sprachen Bekannte<br />

an, die wiederum ihre Freunde mitbrachten.<br />

Mittlerweile sind so über 800 Aussagen dokumentiert.<br />

In diesen Tagen erscheint eine Auswahl<br />

auf Deutsch: Das Buch Breaking the<br />

Silence. Israelische Soldaten berichten von<br />

ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten<br />

(Econ-Verlag) enthält Berichte von Misshandlungen,<br />

gezielten Tötungen, mutwilliger<br />

Zerstörung. Aber seine Sprengkraft liegt nicht<br />

in den drastischen Schilderungen, sondern<br />

darin, dass es einen Einblick in den seelischen<br />

Zustand der Besatzer bietet.<br />

Je mehr Zeugnisse die Veteranen sammelten,<br />

umso deutlicher zeichneten sich<br />

Muster ab, die der offiziellen Version widersprachen,<br />

dass es sich um bedauerliche Einzelfälle<br />

handelte. Es entstand das Bild einer<br />

41


systematischen und auf Dauer angelegten<br />

Politik der Einschüchterung und Kontrolle,<br />

die das Geflecht des alltäglichen Lebens der<br />

Palästinenser zerstört. Jehuda beschreibt seine<br />

Lernkurve so: »Wir waren mit der Haltung<br />

in die Armee gegangen, dass wir es<br />

besser machen wollten. Heute sehe ich das<br />

als Teil des Problems: die Idee, dass es eine<br />

menschliche, anständige, korrekte Besatzung<br />

geben kann, trägt dazu bei, dass alles<br />

immer so weitergeht.«<br />

Die Veröffentlichung der Zeugnisse hat<br />

Breaking the Silence zu einem führenden Akteur<br />

der israelischen Friedensbewegung gemacht.<br />

Gegenreaktionen konnten nicht ausbleiben.<br />

Regierungsnahe Leitartikler und<br />

Thinktanks versuchen die Gruppe als Antizionisten<br />

in Diensten des Auslands zu diskreditieren,<br />

als unpatriotische Linke. In Israel<br />

scheidet die Frage, ob man Besatzung und<br />

Siedlungspolitik kritisiert oder verteidigt,<br />

Links und Rechts. Und die Linken stehen<br />

zurzeit auf verlorenem Posten. Es gibt keine<br />

Friedensverhandlungen mehr. Die Zweistaatenlösung<br />

ist zur leeren Phrase geworden.<br />

Man hat beiderseits den Glauben an einen<br />

Frieden durch Verhandlungen verloren. Die<br />

Palästinenser haben erleben müssen, dass die<br />

Siedlungen in den letzten 17 Jahren – also seit<br />

42<br />

»Es gibt keine Heiligkeit in einer besetzten Stadt« steht auf dem T-Shirt (rechts),<br />

das gilt auch für Hebron, das einem Geisterort gleicht<br />

dem Oslo-Abkommen, das die Rückabwicklung<br />

der Besatzung vorsah – um das Zweieinhalbfache<br />

gewachsen sind, auf nun fast<br />

300 000 Bewohner. Die Israelis hingegen haben<br />

zweimal erlebt, dass Rückzüge der Armee<br />

– 2000 aus dem Libanon und 2005 aus Gaza<br />

– mit einem Hagel von Raketen durch Hisbollah<br />

und Hamas beantwortet wurden.<br />

Was nutzt es da, sich den unangenehmen<br />

Zeugnissen der Exsoldaten auszusetzen?<br />

Die »besetzten Gebiete« verschwinden mittlerweile<br />

fast vollständig hinter Mauern und<br />

Zäunen, die Terroristen draußen halten und<br />

peinliche Anblicke der palästinensischen Realität<br />

vermeiden helfen. Jehuda versucht darum<br />

neuerdings, möglichst viele Menschen in<br />

die besetzten Gebiete zu bringen, damit sie<br />

mit eigenen Augen sehen können, was Besatzung<br />

bedeutet. Breaking the Silence organisiert<br />

Touren nach He bron, die man auf der<br />

Web site buchen kann. An die 10 000 Teilnehmer<br />

waren schon dabei, ein Drittel von<br />

ihnen junge Israelis vor der Einberufung.<br />

Der kritische Okkupationstourismus ist<br />

der Regierung nicht genehm. Anfang des Jahres<br />

wurde eine von Jehudas He bron-Touren<br />

mit Schulkindern polizeilich verboten. Der<br />

Erziehungsminister erklärte, er wolle mit eigens<br />

organisierten Touren dafür sorgen, dass<br />

alle Schulkinder nach He bron kommen, um<br />

ihre Verbundenheit mit der »ewigen Wiege<br />

der jüdischen Nation« zu stärken. Die Kinder<br />

werden viel über Abraham und Rachel hören,<br />

aber wenig über Extremisten wie Mosche Lewinger<br />

und Baruch Goldstein.<br />

Die Knesset berät eine Gesetzesvorlage,<br />

die Gruppen wie Breaking the Silence von<br />

ausländischen Finanzierungsquellen abschneiden<br />

soll. Etwa die Hälfte des Etats von<br />

umgerechnet 650 000 Euro erhalten die Aktivisten<br />

von europäischen Gebern – darunter<br />

kirchliche und entwicklungspolitische Stiftungen<br />

wie Misereor, aber auch die britische<br />

Botschaft und die EU-Delegation. Israels<br />

Regierung betrachtet diese Unterstützung<br />

als Einmischung in die inneren Angelegenheiten<br />

des Landes.<br />

Jehuda nimmt das sportlich: »Irgendwas<br />

machen wir richtig, wenn die so auf uns losgehen.«<br />

Dabei sind die Veteranen mit ihrer<br />

schonungslosen Selbst erfor schung die beste<br />

Werbung, die man sich für Israel und seine<br />

Armee vorstellen kann. Welches andere Land<br />

im Dauerkrieg mit seiner Umgebung leistet<br />

sich solch schneidende Selbstkritik? Undenkbar<br />

ist es nicht, dass man eines Tages in Jehudas<br />

und Danas Eigensinn eine andere Form<br />

von Patriotismus erkennt. zeitmagazin<br />

nr . <strong>39</strong>


Der Stil<br />

44<br />

Damit kann man endlich schön schnell sein: Die EA7 »C-Cube Corsa« von Giorgio Armani, 165 Euro<br />

Foto Peter Langer


Echt guter<br />

Lauf<br />

Tillmann Prüfer über Joggingschuhe<br />

Ich laufe regelmäßig, ich bin gar nicht schlecht<br />

darin. Ich bin sogar einigermaßen schnell.<br />

Manchmal allerdings denke ich, dass ich deshalb<br />

so ein hohes Tempo vorlege, weil ich es schleunigst<br />

hinter mich bringen will.<br />

In Berlin ist das Laufen ja keine Angelegenheit,<br />

die man in weitläufigen Parks betreiben könnte.<br />

Man muss sich auf staubige Straßen beschränken,<br />

hastet zwischen Menschen durch, die sich<br />

gerade nicht sportlich betätigen, und fühlt sich<br />

ein bisschen wie ein schwitzender Außerirdischer.<br />

Dabei drängen sich zwei große Modethemen<br />

auf: kurze Hosen und Laufschuhe.<br />

Während der Sneaker sich immer weiter in Richtung<br />

eines Modeartikels verfeinert hat, wurde<br />

der Laufschuh zu einer Art Maschine. Es begann<br />

wohl in den achtziger Jahren mit dem Nike Air,<br />

einem Laufschuh, der im Fersenbereich ein<br />

sichtbares Luftkissen hatte. Fortan sahen Laufschuhe<br />

aus wie Roboterfüße aus einem Transformers-Film.<br />

Da der klassische Sneaker zum<br />

büro taug lichen Accessoire wurde, musste der<br />

Laufschuh umso vehementer unterstreichen,<br />

dass er ein Sportgerät ist: mit Dämmgummis in<br />

Neonfarben und einem Sohlenprofil, das aussehen<br />

sollte, als ob es den Boden förmlich fräße.<br />

Nun allerdings gibt es auch Laufschuhe, die modischen<br />

Aspekten genügen. Der belgische Designer<br />

Raf Simons entwirft schon seit einigen<br />

Jahren welche in Zusammenarbeit mit dem<br />

Sportschuhhersteller Asics. Große Modemarken<br />

nehmen sich des Themas an. Gerade hat Giorgio<br />

Armani mit seiner Sportmarke EA7 Laufschuhe<br />

vorgestellt, die mit einem neuen Karbon-Dämpfungssystem<br />

ausgestattet sind – dabei aber durchaus<br />

elegant aus sehen. Damit wurde sogar die italienische<br />

Olympia-Mannschaft ausgestattet. Der<br />

Laufschuh ist gewissermaßen auf dem Weg in<br />

die Mode.<br />

Neulich konnte ich ein Paar weißer Armani-Joggingschuhe<br />

ausprobieren. Ob man darin wirklich<br />

schnell ist, kann ich aber nicht sagen. Ich bin<br />

einfach ungemein entspannt gelaufen – eigentlich<br />

bin ich fast geschlendert durch die Straßen<br />

der Stadt. In den Park traut man sich damit nicht<br />

mehr, aus Angst, man könnte die Schuhe<br />

schmutzig machen.<br />

Ungelöst bleibt jetzt nur noch das Problem mit<br />

den kurzen Hosen. Vielleicht laufe ich einfach<br />

weiter, bis ich andere Beine habe.<br />

A<br />

Mark Spörrle fährt mit dem BMW ActiveHybrid 5<br />

einmal rund um den Starnberger See<br />

Seeshaupt am Südende des Starnberger Sees.<br />

Die Sonne brennt. Auf der Straße viele Eis<br />

essende junge Mütter, keine Männer. Wir<br />

wollen hier diesen BMW testen, er ist schön,<br />

schnell und ein Hybrid. Bis zu 60 km/h soll<br />

allein der Elektromotor schaffen. Klingt gut<br />

– aber etwas paradox ist das schon: Was<br />

bringt Ökotechnik bei 340 PS? Degradiert<br />

der Sechszylinder den Elektroantrieb nicht<br />

zum Gimmick für Reiche? Was liegt da näher<br />

als eine Tour um den Starnberger See; hier ist<br />

das Pro-Kopf-Einkommen am höchsten,<br />

hier glitzert das Wasser, im Hintergrund die<br />

Alpen. Und vor der Eisdiele sitzt dann doch<br />

ein Mann, der aussieht wie Hansi Hinterseer.<br />

Wir fahren in Richtung Bernried. Die Straße<br />

wird eng und kurvig, wir schleichen so, dass<br />

wir die elektrische Höchstgeschwindigkeit<br />

testen können. Schade – schon bei 40 km/h<br />

springt der Benziner bei. Wir cruisen durch<br />

Tutzing, Feldafing; Jahrhundertwendehäuser<br />

und grässliche Neubauten wech seln sich ab.<br />

Den See sehen wir nicht mehr, die Villengrundstücke<br />

sind dicht bepflanzt.<br />

Rushhour in Starnberg. Reicht das Elektroaggregat<br />

wenigstens für den zähen Stadtverkehr?<br />

Nein, aus der Ökotraum: Der Benzinmotor<br />

setzt immer zu früh ein. Weiter, zum<br />

Ostufer! Die Häuser werden kleiner, die<br />

Mark Spörrle ist stellvertretender Chef vom Dienst der <strong>ZEIT</strong><br />

Wiesen größer, es gibt Seeblick. Rechts liegt<br />

Berg, wo sie König Ludwig II. tot im Wasser<br />

fanden, links wohnte Heinz Rühmann, wieder<br />

rechts kommt Ammerland, wo Loriot<br />

lebte. Vor der Pizzeria am Münsinger Sportplatz<br />

sitzt Schauspieler Josef Bierbichler und<br />

isst. Wir fahren den Bergen entgegen, an<br />

weißbraunen Kühen vorbei, biegen ab zum<br />

See. Obwohl die Uferstraße in Ambach<br />

schmal und verboten ist, haben alle SUV-<br />

Fahrer Münchens beschlossen, herzukommen,<br />

zum Gasthof, der Josef Bierbichler<br />

gehört (kein Wunder, dass der Mann woanders<br />

isst!). Vorbei am denkmalgeschützten<br />

Kasten von 1893, den Finanzinvestor Carsten<br />

Masch meyer umbauen wollte und angeblich<br />

wieder loswerden will. Wir biegen<br />

wieder auf die Hauptstraße ein und ignorieren<br />

das Haus von Schauspieler Heiner Lauterbach.<br />

Zurück in Seeshaupt, haben wir viel<br />

mehr Sprit verbraucht, als BMW angibt,<br />

nach ein paar Hundert Kilometern wird der<br />

Schnitt bei 10 Litern liegen. Lohnt es sich,<br />

dafür ein Hybridauto zu kaufen? Darüber<br />

hätte man sich mit dem Mann unterhalten<br />

können, der aussieht wie Hansi Hinterseer<br />

und der immer noch vor der Eisdiele sitzt.<br />

Aber eine Mutter schnappt uns mit dem<br />

Kinderwagen den letzten Parkplatz weg.<br />

TECHNISCHE DATEN Motorbauart: 6-Zylinder-Benzinmotor plus Elektromotor,<br />

Systemleistung: 250 kW (340 PS), Beschleunigung (0–100 km/h): 5,9 s,<br />

Höchstgeschwindigkeit: 250 km/h, Durchschnittsverbrauch: 7 Liter,<br />

CO 2 -Emission: 163 g/km, Basispreis: 62 900 Euro<br />

Nächste Woche fährt Tillmann Prüfer mit dem Smart Electric Bike zum Zahnarzt<br />

Foto BMW AG<br />

Von<br />

nach B<br />

45


Wochenmarkt<br />

Von<br />

ELISABETH RAETHER<br />

Die kulinarische Integration von Einwanderern<br />

funktioniert in Deutschland insofern<br />

sehr gut, als die Inder, Chinesen, Türken,<br />

Griechen wie echte Deutsche das Kochen verlernen,<br />

sobald sie unser Land betreten. Die<br />

chinesische Küche, eine der besten der Welt,<br />

ist in Deutschland durch Nudelbratstationen<br />

in Bahnhöfen repräsentiert. Die Türken vergessen<br />

ihre Sultane und servieren Pressfleisch<br />

im Brot. Die üble Qualität der Einwandererküche,<br />

in der nichts Ursprüngliches mehr zu<br />

schmecken ist, sagt wahrscheinlich einiges<br />

darüber aus, wie viel Kulturunterschiede ein<br />

Land bereit ist auszuhalten.<br />

Die Inder kochen in ihren Restaurants hier<br />

ja nur Gerichte, die grundsätzlich braungelb-rotbraun<br />

sind, was sie sich in deutschen<br />

Kantinen abgeguckt haben. Aber über die<br />

indische Küche gibt es auch 800 Seiten umfassende<br />

Kochbücher. Indien von Pushpesh<br />

Pant erscheint jetzt im Edel Verlag auf<br />

46<br />

Wann kommt die Greencard für indische Gemüse-Fisch-Currys?<br />

Deutsch. Darin steht zum Beispiel, dass ein<br />

Kürbis gar nicht unbedingt zur Suppe gemacht<br />

werden muss. Man kann ihn, nach<br />

einem Einkauf beim Asiamarkt, auch gut in<br />

einem Fischcurry essen.<br />

Dafür werden zunächst Kurkuma und Limettensaft<br />

in einer Schüssel verrührt. Man reibt<br />

den Fisch damit ein und salzt ihn etwas. So<br />

zieht er 15 Minuten im Kühlschrank durch.<br />

Fischcurry mit Kürbis (für 4 Personen)<br />

1 TL gemahlene Kurkuma, 1 EL Limettensaft,<br />

Salz, 750 g festes Fischfilet (ohne Haut),<br />

1 EL Pflanzenöl, 500 g Kürbis (z. B. Hokkaido;<br />

evtl. Saisongemüse wie Mangold,<br />

Karotten usw.), 1 EL Tamarindenextrakt,<br />

1 Tomate (gehäutet), ½ TL Cayennepfeffer,<br />

½ TL Zucker, ¼ TL Garam Masala<br />

Das Laub fällt, der KÜRBIS kommt<br />

Für die Würzpaste<br />

1 großer Zweig Koriandergrün,<br />

4 grüne Chilischoten (entkernt, gehackt),<br />

2–3 cm großes Stück Ingwer (geschält, grob<br />

gehackt), 6 Knoblauchzehen (geschält)<br />

Für die Würzpaste werden alle Zutaten im<br />

Mixer fein püriert. Etwas salzen. Falls nötig,<br />

die Paste mit etwas Wasser verdünnen.<br />

Das Öl lässt man in einem tiefen Topf bei<br />

schwacher bis mittlerer Hitze heiß werden.<br />

Sanft und ohne zu bräunen, soll die Würzpaste<br />

darin unter Rühren anbraten. Jetzt kommen<br />

der in Würfel geschnittene Kürbis und<br />

das Gemüse hinzu sowie 250 ml Wasser. Aufkochen,<br />

die Hitze reduzieren und alles zugedeckt<br />

je nach Garzeit ungefähr 8 Minuten<br />

köcheln lassen. (Wer will, fügt auch vorgekochte<br />

Kichererbsen hinzu.) Tama rin denextrakt,<br />

Tomate und den Fisch dazugeben.<br />

Man gießt noch mal 250 ml Wasser nach und<br />

schmeckt mit Cayennepfeffer, Zucker und<br />

Salz ab. Zugedeckt in etwa 5 Minuten fertig<br />

garen. Mit Garam Masala bestreut servieren.<br />

Fotos Jason Lowe


Die großen Fragen der Liebe<br />

Nr.<br />

211<br />

Darf sie allein bestimmen, was der Sohn glaubt?<br />

Nuray und Gerhard haben sich in der Softwarefirma kennengelernt,<br />

in der sie beide arbeiteten. Nurays türkische Eltern und<br />

Gerhards Mutter verstehen sich gut. Nurays Mutter trägt kein<br />

Kopftuch. Gerhards Mutter hat ihren Sohn alleine aufgezogen.<br />

Sie ist mit 18 aus der Kirche ausgetreten und hat es Gerhard überlassen,<br />

ob er sich einer Konfession anschließen will. Der siebenjährige<br />

Sohn Orhan war mit Nuray zu Besuch bei den Großeltern<br />

in Izmir. Bei der Rückkehr ist er ernster als sonst. Gerhard ist<br />

sehr zornig, als er erfährt, dass Orhan jetzt beschnitten ist. »Das<br />

ist barbarisch. Ihr hättet mich fragen müssen!« – »Ich dachte,<br />

Religion ist dir egal«, sagt Nuray. »Er soll nicht der einzige Junge<br />

in meiner Familie sein, der nicht beschnitten ist!«<br />

Wolfgang Schmidbauer<br />

ist einer der bekanntesten deutschen Paartherapeuten. Sein aktuelles Buch »Partnerschaft<br />

und Babykrise« ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen<br />

Wolfgang Schmidbauer antwortet: Je nach Perspektive ist<br />

Beschneidung Körperverletzung oder ein ehrwürdiges Ritual.<br />

Nuray hat nicht verstanden oder nicht verstehen wollen, dass es<br />

Gerhard wichtig ist, einem Kind kein Ritual aufzuzwingen,<br />

vor allem keines, das nicht ganz ungefährlich ist. Aber warum<br />

hat Gerhard nicht von sich aus diese Frage angesprochen?<br />

Interessiert er sich nicht für die interkulturelle Dynamik seiner<br />

Ehe? Nachdem die Sache nicht rückgängig zu machen ist,<br />

sollte Gerhard Nurays Aktion respektieren und Orhan nicht mit<br />

seiner Abscheu vor solchen Ritualen plagen. Vielleicht kann<br />

er ein Wörtchen mitreden, wenn Orhan erwachsen ist und die<br />

Beschneidung von Gerhards Enkeln zur Debatte steht.<br />

49


Stichfrage Nr. 6<br />

Wer trägt dieses Tattoo?<br />

Sudoku<br />

50<br />

Spiele<br />

A: Der Filmemacher Michael Moore<br />

B: Der Modedesigner Marc Jacobs<br />

C: Die Schauspielerin Chloë Sevigny<br />

Lösung rechte Seite unten<br />

Lösung<br />

aus Nr. 38<br />

1<br />

9<br />

8<br />

5<br />

4<br />

2<br />

7<br />

6<br />

3<br />

4<br />

1<br />

3<br />

5<br />

7<br />

5<br />

6<br />

2<br />

3<br />

7<br />

8<br />

1<br />

9<br />

4<br />

4<br />

3<br />

7<br />

6<br />

1<br />

9<br />

8<br />

5<br />

2<br />

7<br />

4<br />

6<br />

3<br />

2<br />

1<br />

8<br />

5<br />

6<br />

9<br />

4<br />

7<br />

7<br />

4<br />

6<br />

9<br />

2<br />

1<br />

3<br />

8<br />

5<br />

2<br />

1<br />

8<br />

5<br />

9<br />

4<br />

3<br />

7<br />

2<br />

1<br />

6<br />

2<br />

8<br />

5<br />

7<br />

9<br />

4<br />

6<br />

3<br />

1<br />

6<br />

1<br />

4<br />

2<br />

8<br />

3<br />

5<br />

7<br />

9<br />

6<br />

5<br />

9<br />

1<br />

9<br />

7<br />

3<br />

1<br />

6<br />

5<br />

4<br />

2<br />

8<br />

4<br />

3<br />

Foto Tracey Renee / Retna Ltd. Sudoku Zweistein<br />

2<br />

1<br />

6<br />

8<br />

7<br />

4<br />

1<br />

8<br />

5<br />

3<br />

5<br />

1<br />

8<br />

4<br />

Füllen Sie die leeren<br />

Felder des Quadrates so<br />

aus, dass in jeder Zeile,<br />

in jeder Spalte und in<br />

jedem mit stärkeren Linien<br />

gekennzeichneten<br />

3 × 3-Kasten alle Zah -<br />

len von 1 bis 9 stehen.


Um die Ecke gedacht Nr. 2138<br />

WAAGERECHT: 7 Heißer Anwärter fürs Wappensymbol der Verfechter<br />

der Ebenmäßigkeit 11 Bauernregelgemäß: Wie der …, so das<br />

Kraut 14 Antwort auf das Sich-leisten-können-Fragezeichen 18 Trägt<br />

den Kondor im Wappen: Spaniens globale Gürtellinie 19 Wird folgen,<br />

wo sich 7-senkr. häufen 20 Innere Ursache für Mogelabstinenz 21 Der<br />

Zweck vom Sinn: so was zu verarbeiten 22 Sein Strand: Tiefstseerand 24<br />

Die … reizt uns, nicht die Stufen (Goethe) 25 Eilands Republik, gerafft<br />

26 Auftrag im Strom-Gewerbe? Last aus Energieumsetzung 27 Teil vom<br />

Eigenen, spendiert von Mutter und Vater 28 Luftqualität im 19-waager.<br />

29 Liegt in Raterhand, kommt unter den Hammer 30 Ihretwegen das<br />

fünfte Rad am Wagen 32 Abendsitte mancherorts: in der … vor der …<br />

eindösen 33 Forderung der Trainer an Bolzplatz wie Velodrom 35 Einer<br />

zum Lesen, eine zum Hören, eines zum Halten 37 Eine Schau, ein<br />

Dienst, ein Speiseplatz 38 Mann – welcher Unfug hinterlässt viel Kopfschütteln?<br />

<strong>39</strong> Sehr gebeverhalten 40 Heringsverwendung, Vetorechtausübung<br />

41 Längst zu eigener Music, passend zum Raum, gestylt<br />

Lösung von Nr. 2136<br />

Kreuzworträtsel Eckstein<br />

SENKRECHT: 1 Niederung, Seil und Münze – zusammengenommen:<br />

Schlaufuchsens Hobby 2 Urnenfüllung nach Protestwahl 3 Hast und …<br />

sind Bruder und Schwester (Sprichwort) 4 Hoch soll er leben 5 In ihrem<br />

Blatt ist der Geschmack auf Zack 6 Ekbatana – was war das noch:<br />

irgendwas mit …? 7 Ausgesät auf der schwarzen Seite der Seele 8 Wahrer<br />

Reichtum besteht nicht im Besitz, sondern im … (R. W. Emerson)<br />

9 Eine Fabrizierde blühender Wirtschaft 10 Pharao mit viel Widerhall<br />

im Namen 11 Hier ärztlicher Rat, dort zarter Pflänzchen-Hort<br />

12 Rotiert im Dienst der Halmfrisur 13 Skepsis ist, was die Opposition<br />

im Parlament. Sie ist ebenso wohltätig wie … (Schopenhauer)<br />

15 Steinerne Farbe, auch an Meer und See gern gesehen 16 Anlässe für<br />

höchste Lampenfiebergrade 17 Bildungsweggenossenverbände 22 Verderbliche<br />

Stoffe 23 Passt zu Meer und Gebirge, andererseits zu Geld und<br />

Haus 27 Sprichwörtlich: … ist leichter als bitten 31 Schwacher Leuchte<br />

leichter Kern 34 Der flüstert uns: Sei nicht <strong>39</strong>-waager., wenn’s um die<br />

21-waager. geht! 36 Doppelter Tupfer in Frankreichs Sommer<br />

WAAGERECHT: 7 BLOEDELEI 10 BRIDGE = Brücke (engl.) 14 BEAGLE Snoopy (»Peanuts«) 16 SOS-Kinderdörfer 17 RANKUENEN 19 »Streicht Rio!«<br />

und STREICHT-RIO 20 REGAL 21 STORCH in Pala-st-Orch-ester 23 ROBERT Koch 24 KUEHN 25 DOENER 27 TROPF = Infusion 28 KORNSPEICHER<br />

mit Pinscher 29 LESEN 31 NIERE-ntisch 32 Aeroporto RIMINI »Federico Fellini« 35 ENTE in Karpf-ente-ich 36 ROSMARIN 41 (Lampen-)OEL<br />

(Matth. 25,3) 42 ESA 43 GESA von Gertrud (fries.) 44 NEURONEN 45 REUE 46 ANSTELLEN 47 TYRANN (Schiller, »Bürgschaft«)<br />

SENKRECHT: 1 PLATT 2 TELE 3 Flohspiel und »jmdm. einen FLOH ins Ohr setzen« 4 WIRR 5 MIKRO(-fon) 6 BENARES, Ganges 7 BESSERUNG<br />

8 DEICHKRONE 9 EST = Einkommensteuer 10 BAI 11 DUEBEL = Teufel (plattdt.) 12 Ent-GEGEN-kommen 13 WELTREISEN 15 GROUPIES 16 »junger<br />

SCHNOESEL« 18 NORDERNEY 22 REFERATE 24 KONTEN 26 Großer Hund / Canis Maior, im Mythos der Jagdhund des ORION 30 EILEN 33 MERAN<br />

(Lied »Die Tiroler sind lustig«) 34 Sudoku: NEUN 37 MULL-windeln 38 »We ARE …« <strong>39</strong> Per + RON = Perron 40 Sonnengott INTI<br />

Lösung von Nr. 2137<br />

1 2 3 4 5 6<br />

7 8 9 10 11 12 13<br />

14 15 16 17 18<br />

19 20<br />

21 22 23 24<br />

25 26 27<br />

28 29 30 31<br />

32 33 34 35 36<br />

37 38 <strong>39</strong><br />

40 41<br />

WAAGERECHT: 7 SCHACHZUEGE 11 Bark-asse ASSE = Bark 15 LEHRPLAENE 17 Joseph v. Eichendorff, »ABSCHIED« 18 PIA in Olym-pia 19 Udo<br />

Jürgens, »PARIS« 20 LAECHELN 21 TEDEUM 22 TIER-park = Zoo 23 HEBE in Fac-hebe-ne 25 BEFINDEN 27 CHOLERIKER 29 (Wein-)LESE 31 SEHEN<br />

32 ERZ in Förd-erz-eitraum, Güt-erz-ug 34 SMS 36 BARKEEPER 38 AGATHA Christie, Miss-Marple-Romane 40 LEGUANE 41 PROMENIEREN<br />

42 ENTGLEISUNG 43 DRIN – SENKRECHT: 1 SCHIEFLAGE 2 das und die KAPPEN 3 CHARME 4 SEELE 5 UEBERLEGEN 6 KEILE 7 SEPTEMBER 8 CLAUDE<br />

Debussy, Monet 9 <strong>ZEIT</strong>-punkt, Ewigkeit 10 UNSICHER 11 ASCHE 12 SCHERZ in Geräu-scherz-ielung 13 Roxette, »SHE’s got nothing on but the radio«<br />

14 GENIESSEN 16 RA<strong>DIE</strong>RUNG 17 Nick und AARON Carter 24 BISHER 26 NEPPER 28 HEROS Herakles 30 der SKAT im Skat-spiel 31 SEE 33 Theater-<br />

RANG 35 MARIA 37 ENGE in Flasch-enge-ist 38 amour und AMUR <strong>39</strong> TIDE<br />

1<br />

3 9<br />

Lösung der Stichfrage: B – Marc Jacobs trägt das Tattoo auf dem Oberarm. Ein Buchstabe war<br />

ihm zu simpel, deswegen ließ er sich sein Initial in Form des M&M-Männchens stechen<br />

2


Schach<br />

52<br />

a b c d e f g h<br />

Vor einiger Zeit nahm ich im Oberlandesgericht Bamberg<br />

an einer Gedenkfeier für Thomas Dehler teil, den Präsidenten<br />

dieses Gerichts von 1947 bis 1949 und danach ersten<br />

Justizminister der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Vor allem durch den Festvortrag des Staatssekretärs im<br />

Justizministerium, Max Stadler, wurde mir dieser umstrittene<br />

Mann – Franke durch und durch – viel näher gebracht.<br />

Offenbar war Dehler ein »Mann der klaren Worte«,<br />

der in der Hitze des Gefechts schon einmal giftige<br />

Pfeile abschoss und dabei weder Freund noch Feind schonte,<br />

der sich aber auch stets mutig zu seiner jüdischen Frau<br />

bekannte und sich dem Nationalsozialismus widersetzte.<br />

Gleichzeitig sei er im privaten Bereich und in der Familie<br />

liebenswürdig und bescheiden gewesen und fuhr lieber mit<br />

dem eigenen Käfer statt mit der Staatslimousine vor.<br />

Und vermutlich hätte Sigmund Freud seine Freude an ihm<br />

gehabt. Als man Dehler einmal bat, in seinem Vortrag gemäßigt<br />

zu bleiben, soll er geantwortet haben: »Ach, wissen<br />

Sie, ich nehme mir ja immer das Beste vor, aber wenn ich<br />

am Rednerpult stehe, dann spricht nicht mehr ›er‹, sondern<br />

›es‹ aus mir.« Und sein Vermächtnis laut Max Stadler?<br />

»Rechtspolitik muss man mit heißem Herzen und kühlem<br />

Verstand zugleich betreiben!«<br />

So wie der Niederbayer Stadler Schach spielt.<br />

Mit welcher petite combinaison gewann dieser als Weißer<br />

am Zug gegen Alfred Eder mindestens die Dame?<br />

Lösung aus<br />

Nr. 38<br />

Wie eroberte der opferfreudige Weiße am Zug Haus und Hof<br />

von Schwarz? Nach dem Donnerschlag 1.Tg8+!! gab Schwarz<br />

auf, weil er nach 1...Kxg8 und dem Damenrückzug 2.Dg1+! Kf8<br />

3.Dg7+ Ke8 4.Dg8+ Kd7 5.Dxf7+ Kd8 6.La5+! bald matt ist<br />

Jetzt online Schach spielen unter www.zeit.de/schach<br />

8<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

Spiele<br />

Lebensgeschichte<br />

Er kam von ganz unten. Als er sieben Jahre alt war, starb seine schöne und lungenkranke<br />

Mutter, die vom Mitleid ihrer Nachbarn gelebt hatte. Sein Vater,<br />

Alkoholiker und ständig auf Arbeitssuche, übergab den Jungen seiner Halbschwester<br />

und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Die junge Frau schlug<br />

sich mühsam als Gehilfin einer Modistin durch, sie kümmerte sich nicht um<br />

den ungewollten Zögling, ließ sogar aus Zorn über ihn seine Staatsangehörigkeit<br />

annullieren. Nun war er staatenlos – bis an sein Lebensende. Der Zwölfjährige,<br />

der erst spät lesen und schreiben lernte, riss aus und vagabundierte durch<br />

eine Großstadt im Aufbruch. Schließlich landete er in einer Besserungsanstalt.<br />

Ein Pfarrer, der sich des »Wilden« annahm, erkannte seine überragende Begabung<br />

und ermutigte ihn zu einer Ausbildung. Nach einer kurzen Lehre gelang<br />

ihm der Sprung an eine renommierte Akademie. Dort fand er Freunde und<br />

Förderer, verblüffte durch seine Beobachtungsgabe und durch Proben seines<br />

Könnens. Und er fügte seinem Namen ein »n« zu. Mit seiner über alles geliebten<br />

Gefährtin aus einer der besten bürgerlichen Familien zog er aus der dunstigen<br />

Ebene in ein freundliches Hügelland, um im Kontakt mit der Natur zu<br />

arbeiten. Trotz hoher Auszeichnungen und erster Erfolge lebte das Paar oft von<br />

der Hand in den Mund. Schließlich folgte er seiner Sehnsucht nach dem besonderen<br />

Licht , der Weite und Härte alpiner Landschaften und siedelte sich in<br />

einer bäuerlichen Gemeinde an. Seine symbolisch überhöhten Szenen aus dem<br />

einfachen, naturnahen Leben brachten ihm internationale Anerkennung. Noch<br />

einmal zwangen ihn Schulden und die Furcht vor Ausweisung zum Wechsel in<br />

ein Hochtal. Er erwanderte seine neue Heimat, ging der Adlerjagd nach, zog<br />

mit seinen Utensilien an exponierte Orte und arbeitete rastlos in Wind und<br />

Wetter. Ein grandioses Projekt sollte sein Werk krönen: Mit allen Mitteln der<br />

Kunst und lebenden Zugaben wollte er für eine überwältigende Landschaft<br />

werben. Doch der Plan scheiterte an den hohen Kosten. Als er in den besten<br />

Jahren an einer Bauchfellentzündung starb, hatte der Niemand sein Lebensziel<br />

erreicht: Ruhm als Künstler und gesellschaftliche Anerkennung. Wer war’s?<br />

Lösung aus Nr. 38<br />

Oriana Fallaci (1929 bis 2006) stammte aus Florenz, lebte viel in New York, war<br />

Kriegsreporterin, Journalistin, Schriftstellerin (»Ein Mann«) und Islam-Kritikerin<br />

Logelei<br />

Luise ist sehr kontaktfreudig und hat auf ihrer Kaffeefahrt in die Eifel fünf<br />

neue Bekanntschaften gemacht. Lustigerweise hat jeder, inklusive ihrer selbst,<br />

etwas anderes gekauft, und alle kommen aus einer anderen Stadt. Wieder zu<br />

Hause, kramt sie ihr Tagebuch hervor, wo sie sich während der Fahrt Notizen<br />

gemacht hat:<br />

Der Reisebus hielt in sechs Städten, unter anderem in Ulm.<br />

Maria stieg später in den Reisebus als Walter.<br />

Die Heizdecke wurde nicht von einer Person aus Baden-Württemberg gekauft.<br />

Weder die Person aus Karlsruhe noch die aus Pirmasens kaufte eine Tischdecke.<br />

Die Person, die in Regensburg zustieg, kaufte ein Kochbuch.<br />

Roswitha kommt aus Stuttgart.<br />

Die Strümpfe wurden von einem Mann, das Beauty-Set von einer Frau gekauft.<br />

Die weiteste Anreise hatte Gunter, die kürzeste Ursula.<br />

Die Frau aus Ingolstadt kaufte eine Salatschleuder.<br />

Jetzt versucht sie sich zu erinnern, wer aus welcher Stadt kam und wer was<br />

gekauft hatte. Können Sie das für sie herausfinden?<br />

Lösung aus Nr. 38<br />

Die Vögel haben gerechnet: 2929292+4524524+1766179 = 9219995<br />

Schach Helmut Pfleger Lebensgeschichte Wolfgang Müller Logelei Zweistein


Scrabble<br />

Ein beim Scrabble häufig zu beobachtendes<br />

Phänomen ist die Ausgrenzung des Nordwestens<br />

des Spielfeldes. In der Regel geschieht<br />

das Verbauen von Anlegemöglichkeiten jedoch<br />

nicht vorsätzlich. Die hier abgebildete Konstellation<br />

stammt aus einer Partie zwischen<br />

Claudia Aumüller und mir. Nach den ersten<br />

vier Zügen MOLY, MUSIK, EUTER und<br />

MONDÄN waren die Weichen quasi schon<br />

gestellt. In der siebten Spalte ließ sich zwar<br />

noch das O auf H7 in ein Wort einbinden,<br />

jedoch nur unter Verzicht auf Belegung eines<br />

Wortprämienfeldes. Tatsächlich konnte sich<br />

kein Spieler für diese Stelle erwärmen.<br />

Obendrein erlauben auch das F auf B14 sowie<br />

das B auf D12 nur einfach zählende Züge. In<br />

derartigen Situationen ist die Taktik am<br />

Punktestand zu orientieren. Wer deutlich<br />

hinten liegt, ist gut beraten, beizeiten eine Eröffnung<br />

zu wagen.<br />

Mein Glück war, dass ich den Abstand – trotz<br />

semiattraktiver Buchstabenkombination – auf<br />

einen Schlag gehörig verkürzen konnte. Wie?<br />

Dreifacher Wortwert<br />

Doppelter Wortwert<br />

Dreifacher Buchstabenwert<br />

Doppelter Buchstabenwert<br />

Lösung aus Nr. 38<br />

Mit der ESELIN auf 11H-11M kamen wir auf<br />

exakt 30 Punkte<br />

Es gelten nur Wörter, die im Duden, »Die<br />

deutsche Rechtschreibung«, 25. Auflage,<br />

verzeichnet sind, sowie deren Beugungsformen.<br />

Die Scrabble-Regeln finden Sie im<br />

Internet unter www.scrabble.de<br />

Impressum<br />

Im nächsten Heft<br />

Seelenlose Inhalte, Quotendruck, keine<br />

Ideen und überall nur Talkshows – wie gut ist<br />

das deutsche Fernsehen eigentlich?<br />

Die Wahrheit lautet: Besser als sein Ruf<br />

Unterwegs im Vatikan mit dem Künstler<br />

Christoph Brech<br />

Diese Woche in der iPad-App »<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>«:<br />

Breaking the Silence: Israelische Soldaten<br />

brechen ihr Schweigen über ihre Erlebnisse als<br />

Wehrpflichtige – auch mit Videobotschaften<br />

Scrabble Sebastian Herzog Foto Christian Grund 53<br />

1<br />

3 9<br />

Chefredakteur Christoph Amend<br />

Stellvertr. Chefredakteur Matthias Kalle<br />

Art Director Katja Kollmann<br />

Creative Director Mirko Borsche<br />

Berater Andreas Wellnitz (Bild)<br />

Textchefin Christine Meffert<br />

Redaktion Jörg Burger, Heike Faller, Ilka Piepgras,<br />

Tillmann Prüfer (Style Director), Elisabeth Raether,<br />

Jürgen von Rutenberg, Matthias Stolz<br />

Mitarbeit: Markus Ebner (Paris), Elisabeth von Thurn und<br />

Taxis (New York), Annabel Wahba<br />

Fotoredaktion Milena Carstens (verantwortlich i.V.),<br />

Michael Biedowicz<br />

Gestaltung Nina Bengtson, Jasmin Müller-Stoy,<br />

Mitarbeit: Gianna Pfeifer<br />

Autoren Marian Blasberg, Wolfgang Büscher, Carolin Emcke,<br />

Lara Fritzsche, Herlinde Koelbl, Louis Lewitan, Harald<br />

Martenstein, Paolo Pellegrin, Lina Scheynius, Wolfram<br />

Siebeck, Jana Simon, Juergen Teller, Moritz von Uslar,<br />

Günter Wallraff, Roger Willemsen<br />

Produktionsassistenz Margit Stoffels<br />

Korrektorat Mechthild Warmbier (verantwortlich)<br />

Dokumentation Mirjam Zimmer (verantwortlich)<br />

Herstellung Torsten Bastian (verantwortlich),<br />

Oliver Nagel, Frank Siemienski<br />

Druck Prinovis Ahrensburg GmbH<br />

Repro Twentyfour Seven Creative Media Services GmbH<br />

Anzeigen <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>, Matthias Weidling<br />

(Gesamtanzeigenleitung), Nathalie Senden<br />

Empfehlungsanzeigen iq media marketing,<br />

Axel Kuhlmann, Michael Zehentmeier<br />

Anzeigenpreise <strong>ZEIT</strong>magazin, Preisliste Nr. 6 vom 1. 1. <strong>2012</strong><br />

Anschrift Verlag Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,<br />

Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg;<br />

Tel.: 040/32 80-0, Fax: 040/32 71 11; E-Mail: DieZeit@zeit.de<br />

Anschrift Redaktion <strong>ZEIT</strong>magazin, Dorotheenstraße 33,<br />

10117 Berlin; Tel.: 030/59 00 48-7, Fax: 030/59 00 00 <strong>39</strong>;<br />

www.zeitmagazin.de, www.facebook.com/<strong>ZEIT</strong>magazin,<br />

E-Mail: zeitmagazin@zeit.de<br />

2


Frau Schwan, was haben Sie aus Ihren<br />

zwei vergeblichen Kandidaturen für das<br />

Amt der Bundespräsidentin gelernt?<br />

Das politische Leben ist wölfisch, man darf<br />

nicht zu vertrauensselig sein. Meine Gegner<br />

haben mich als einsame, ehrgeizige Ziege, als<br />

professoral und abgehoben beschrieben. Das<br />

sind unschöne Bezeichnungen. Viele konnten<br />

mir überhaupt nicht abnehmen, dass ich<br />

wirklich um der Demokratie willen kandidiert<br />

habe. Ich galt als Einzelkämpferin, auch<br />

weil die SPD-Spitze nicht geschlossen hinter<br />

mir stand. Um den Menschen prinzipiell zu<br />

vertrauen, muss man stark genug sein, auch<br />

solche Enttäuschungen zu verkraften. Wenn<br />

ich mich im Übrigen sehr über eine Person<br />

ärgere, sage ich mir: Ist auch ein Gotteskind,<br />

damit musst du umgehen. Dann werde ich<br />

gelassener. Ich habe aber während der Kandidatur<br />

auch überaus viel Zuwendung erlebt,<br />

viele Menschen auf der Straße bedanken sich<br />

noch heute, obwohl sie gar keinen Anlass<br />

haben, mir irgendwas ums Maul zu schmieren.<br />

Und in der SPD gab es natürlich auch<br />

große Unterstützung.<br />

Wie haben Sie die Niederlagen weggesteckt?<br />

Das Gefühl zu verlieren kannte ich aus schwierigeren<br />

Situationen, vor allem von der Krebskrankheit<br />

meines ersten Mannes, und insofern<br />

wusste ich: Das wirft dich nicht aus der Bahn.<br />

Der Tod eines nahestehenden Menschen nach<br />

drei Jahren Krankheit ist ja viel gravierender.<br />

Überdies weckt er fast immer Schuldgefühle,<br />

die man nicht steuern kann.<br />

Warum Schuldgefühle?<br />

Ich war einige Monate vor dem Tod meines<br />

Mannes in eine emotionale Distanz zu ihm<br />

geraten und habe das als einen Akt der Untreue<br />

erlebt. Nachdem ich wie eine Löwin um<br />

sein Überleben gekämpft hatte, war ich erschrocken<br />

über meine innere Unzuverlässigkeit,<br />

dabei ist Verlässlichkeit für mich ein ganz<br />

hoher Wert. Das hat mich in große Verzweiflung<br />

gestürzt. Ich konnte rein gar nichts Positives<br />

mehr sehen, alles war schwarz. Eigentlich<br />

wollte ich nur weg sein, nicht mehr leben,<br />

war ausgebrannt. Ich habe gebetet, aber gedacht,<br />

dieser Gott liebt nicht. Nach außen<br />

habe ich funktioniert, kein Mensch wäre darauf<br />

gekommen, dass ich depressiv bin, ich<br />

war Dekanin, erfolgreich, alles toll. Zu Hause<br />

habe ich geheult. Mein Sohn war damals 14<br />

Jahre, meine Tochter zwölf. Sie spürten das<br />

natürlich, auch wenn ich nie vor ihnen weinte.<br />

Ich muss ganz klar sagen: Der Glaube allei-<br />

54<br />

Das war meine Rettung<br />

»Glaube und<br />

Psychoanalyse«<br />

Gesine Schwan über das Verkraften von<br />

Niederlagen, den Sturz in tiefe<br />

Verzweiflung und ihren Heilungsweg<br />

Gesine Schwan,<br />

69, geboren in Berlin, ist Politikwissenschaftlerin<br />

und prominentes<br />

SPD-Mitglied. 2004 und 2009<br />

kandidierte sie für das Amt der<br />

Bundespräsidentin und scheiterte<br />

beide Male an Horst Köhler. Sie<br />

ist Präsidentin der Humboldt-<br />

Viadrina School of Governance in<br />

Berlin. Schwan ist verheiratet<br />

und hat zwei Kinder aus erster Ehe<br />

Herlinde Koelbl<br />

gehört neben dem Psychologen<br />

Louis Lewitan, Lara Fritzsche<br />

und Ijoma Mangold zu den<br />

Interviewern unserer Gesprächsreihe.<br />

Die renommierte Fotografin<br />

wurde in Deutschland auch<br />

durch ihre Interviews bekannt<br />

ne hätte mir nicht geholfen. Das ist mir schon<br />

wichtig, weil die Gesellschaft nach wie vor<br />

psychische Erkrankungen als Schwäche interpretiert.<br />

Man braucht professionelle Hilfe von<br />

außen. Die Verbindung von Glaube und Psychoanalyse<br />

hat mich gerettet.<br />

Hatten Sie Angst, so krank zu werden wie<br />

Ihre Mutter?<br />

Ja, das war meine Sorge. Meine Mutter war<br />

manisch-depressiv. Meine Gefühle hatten sich<br />

mit einer ganzen Reihe von anderen Problemen<br />

verknotet. Ich wollte zum Beispiel nie<br />

sehen, dass mir Menschen wehtaten, die ich<br />

lieb hatte. Man blendet das aus, und dann<br />

entsteht eine negative Hypothek, die selbstzerstörerisch<br />

werden kann. Diesen psychologischen<br />

Zusammenhang kann man nicht<br />

durch den Glauben oder durch das Lesen von<br />

Psalmen begreifen. Da spielt sich etwas ab,<br />

was man erfühlen muss. Bei der Erinnerung<br />

daran habe ich körperlich reagiert: gezittert,<br />

geweint, völlig spontan. Der Heilungsweg<br />

war für mich insgesamt aber ein schöner Weg,<br />

ich habe nie gelitten in der Analyse.<br />

Wie haben Sie sich verändert?<br />

Ich bin persönlich konfliktfähiger geworden.<br />

Als Kind hatte ich in meiner Familie die Rolle<br />

der Versöhnerin. Ich hatte immer Angst, dass<br />

alles auseinanderfliegt. Wir hatten ein Boot,<br />

und sonnabends segelten wir manchmal auf<br />

dem Tegeler See, sangen viel, auch mehrstimmig,<br />

das machte mir Freude. Aber wenn vier<br />

temperamentvolle Familienmitglieder ein<br />

Wochenende auf einem Boot verbringen,<br />

führt das fast immer zu Krach. Also habe ich,<br />

wenn es mulmig wurde, das Liederbuch auf<br />

den Schoß genommen und gesungen, alle<br />

sollten einstimmen und aufhören zu streiten,<br />

weil ich darunter sehr gelitten habe. Bis heute<br />

ist mir das Glück meiner Familie sehr wichtig.<br />

Das nächste Gala-Dinner und noch eine Auszeichnung<br />

bedeuten mir nicht so viel.<br />

Ihr Gottvertrauen ist geblieben?<br />

Es gibt auch Zweifel, aber wenn ich die Summe<br />

meines Lebens nehme, bin ich darin eher<br />

bestärkt worden. Auch in total harten Momenten<br />

wirst du getragen, du fällst nicht ins<br />

Nichts. Ich weiß, dass der Glaube, bei aller<br />

eigenen Bemühung, letztlich eine Gnade ist.<br />

In Momenten großer Bedrängnis kann man<br />

den lieben Gott schon anrufen, man sollte ihn<br />

nur nicht behelligen, wenn es einigermaßen<br />

gut geht. Aber danken darf man immer.<br />

Interview und Foto von Herlinde Koelbl

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!