Anna Karenina - eBook.de
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Lew ToLsToj<br />
AnnA<br />
KAreninA<br />
insel taschenbuch
<strong>Anna</strong> <strong>Karenina</strong> ist <strong>de</strong>r große Roman einer Liebe. Erzählt wird die Ge<br />
schichte einer verheirateten Frau, die nach langjähriger glückloser Ehe<br />
einem jungen Offizier in lei<strong>de</strong>nschaftlicher Liebe verfällt. Sie verläßt<br />
<strong>de</strong>n Ehemann und <strong>de</strong>n Sohn und wird fortan von <strong>de</strong>r Gesellschaft als<br />
Ehebrecherin ausgestoßen und gemie<strong>de</strong>n. Die Liebe, für die sie alles<br />
geopfert hat, ist das einzige, was ihr bleibt ...<br />
Lew N.Tolstoj hat mit diesem Werk einen <strong>de</strong>r berühmtesten und<br />
schönsten Romane <strong>de</strong>r Weltliteratur geschaffen.<br />
»Ein Werk dieser Art, so glücklich, so packend, so aus einem Guß, so<br />
vollen<strong>de</strong>t im Großen und Kleinen ...« Thomas Mann<br />
Lew Nikolajcwitsch Tolstoj, geboren am 9. September 1828 auf Gut<br />
Jasnaja Poljana, ist am 20. November 1910 in Astapovo gestorben.
ebook insel
Lew N. Tolstoj<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Karenina</strong><br />
Roman<br />
Herausgegeben<br />
von Gisela Drohla<br />
Insel Verlag
ebook Insel Verlag Berlin 2010<br />
© Insel Verlag Frankfurt am Main 1966<br />
Alle Rechte vorbehalten, insbeson<strong>de</strong>re das <strong>de</strong>s öff entlichen Vortrags<br />
sowie <strong>de</strong>r Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,<br />
auch einzelner Teile.<br />
Kein Teil <strong>de</strong>s Werkes darf in irgen<strong>de</strong>iner Form<br />
(durch Fotografi e, Mikrofi lm o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Verfahren)<br />
ohne schriftliche Genehmigung <strong>de</strong>s Verlages reproduziert<br />
o<strong>de</strong>r unter Verwendung elektronischer Systeme<br />
verarbeitet, vervielfältigt o<strong>de</strong>r verbreitet wer<strong>de</strong>n.<br />
Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s<br />
Umschlag: Elke Dörr<br />
www.suhrkamp.<strong>de</strong><br />
eISBN 978-3-458-74081-0
ERSTER TEIL
I<br />
Alle glücklichen Familien gleichen einan<strong>de</strong>r, je<strong>de</strong> unglückliche<br />
Familie Ist auf Ihre eigene Weise unglücklich.<br />
Im Hause Oblonskij war alles durcheinan<strong>de</strong>r. Die Frau hatte<br />
erfahren, daß ihr Mann ein Verhältnis mit einer französischen<br />
Gouvernante unterhielt, die früher bei ihnen im Haus<br />
gewesen war, und hatte ihm erklärt, sie könne nicht länger<br />
unter einem Dach mit ihm wohnen. Diese Situation dauerte<br />
nun schon drei Tage und wur<strong>de</strong> sowohl von <strong>de</strong>n Ehegatten<br />
selbst als auch von allen Familienmitglie<strong>de</strong>rn und <strong>de</strong>r Dienerschaft<br />
als eine Qual empfun<strong>de</strong>n. Sämtliche Familienmitglie<strong>de</strong>r<br />
und Hausgenossen fühlten, daß ihr Zusammenleben<br />
keinen Sinn mehr habe, und daß Leute, die sich zufällig in<br />
irgen<strong>de</strong>iner Herberge zusammenfän<strong>de</strong>n, einan<strong>de</strong>r näherstün<strong>de</strong>n<br />
als sie, die Familienmitglie<strong>de</strong>r und Hausgenossen<br />
<strong>de</strong>r Oblonskijs. Die Frau verließ ihr Zimmer nicht, <strong>de</strong>r Mann<br />
war zwei Tage nicht zu Hause gewesen. Die Kin<strong>de</strong>r liefen<br />
wie verloren im ganzen Haus umher; die englische Gouvernante<br />
hatte sich mit <strong>de</strong>r Wirtschafterin gezankt und an ihre<br />
Freundin geschrieben, ob sie ihr nicht eine an<strong>de</strong>re Stelle<br />
besorgen könne; <strong>de</strong>r Koch war schon gestern vor <strong>de</strong>m<br />
Mittagessen weggegangen; die Küchenmagd und <strong>de</strong>r Kutscher<br />
hatten gekündigt.<br />
Am dritten Tag nach <strong>de</strong>m Streit erwachte Fürst Stepan<br />
Arkadjitsch Oblonskij — Stiwa, wie er in <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
genannt wur<strong>de</strong> — zur gewohnten Stun<strong>de</strong>, das heißt um<br />
acht Uhr morgens, aber nicht im ehelichen Schlafzimmer,<br />
son<strong>de</strong>rn in seinem Arbeitszimmer auf <strong>de</strong>m Le<strong>de</strong>rsofa. Er<br />
drehte seinen wohlgenährten, gepflegten Körper auf <strong>de</strong>n<br />
Sprungfe<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Sofas herum, als wolle er noch eine ganze<br />
Weile weiterschlafen, schob die Hand unter das Kissen und<br />
drückte es fest an seine Wange; aber plötzlich fuhr er hoch,<br />
setzte sich auf und öffnete die Augen.<br />
>Ja, ja, wie war das <strong>de</strong>nn?< dachte er und versuchte, sich auf<br />
7
seinen Traum zu besinnen. >Ja, wie war das nur? Ach ja,<br />
Alabin gab ein Diner in Darmstadt. Nein, nicht in Darmstadt,<br />
son<strong>de</strong>rn irgendwo in Amerika. Ja, und Darmstadt lag<br />
in Amerika, ja, Alabin gab ein Diner auf gläsernen Tischen,<br />
und die Tische sangen »Ii mio tesoro«, nein, nicht »Ii mio<br />
tesoro«, son<strong>de</strong>rn etwas viel Schöneres, und da waren irgendwelche<br />
Likörflaschen, und die waren plötzlich FrauenJa, es war schön, sehr schön. Es waren noch<br />
sehr viele herrliche Dinge da, aber wenn man wach ist, kann<br />
man es we<strong>de</strong>r in Worte fassen noch aus<strong>de</strong>nkend Und als er<br />
<strong>de</strong>n Lichtstreif sah, <strong>de</strong>r neben <strong>de</strong>m dicken Tuch Vorhang<br />
hereindrang, richtete er sich rasch auf <strong>de</strong>m Sofa auf, tastete<br />
mit <strong>de</strong>n Füßen nach <strong>de</strong>n goldfarbenen Saffianpantoffeln, die<br />
seine Frau ihm letztes Jahr zum Geburtstag gestickt hatte,<br />
und streckte nach alter, neunjähriger Gewohnheit ohne aufzustehen<br />
die Hand nach <strong>de</strong>r Stelle aus, wo im Schlafzimmer<br />
sein Schlafrock hängen mußte. Und da fiel ihm plötzlich ein,<br />
daß und warum er nicht im Schlafzimmer, son<strong>de</strong>rn in seinem<br />
Arbeitszimmer übernachtet hatte; das Lächeln verschwand<br />
von seinem Gesicht, er runzelte die Stirn.<br />
»Ach, ach, ach! Ah!...« stöhnte er und erinnerte sich an<br />
alles, was gewesen war. Und in seiner Phantasie erschienen<br />
von neuem alle Einzelheiten <strong>de</strong>s Streites mit seiner Frau, die<br />
Ausweglosigkeit seiner Lage und, was ihn am meisten quälte,<br />
seine eigene Schuld.<br />
>Ja, sie wird und kann mir nicht verzeihen. Und das furchtbarste<br />
ist, daß ich an allem schuld bin — ich bin an allem<br />
schuld und kann doch eigentlich nichts dafür. Das ist das<br />
Tragische an <strong>de</strong>r Sache
eine riesige Birne für seine Frau in <strong>de</strong>r Hand, seine Frau nicht<br />
im Salon fand, zu seinem Erstaunen auch nicht im Arbeitszimmer,<br />
bis er sie dann im Schlafzimmer sah, <strong>de</strong>n unglückseligen<br />
Brief in <strong>de</strong>r Hand, <strong>de</strong>r alles verraten hatte.<br />
Sie, die immer besorgte, geschäftige und seiner Ansicht nach<br />
etwas beschränkte Dolly, saß mit <strong>de</strong>m Brief in <strong>de</strong>r Hand<br />
regungslos da und sah ihn mit einem Ausdruck von Entsetzen,<br />
Verzweiflung und Zorn an.<br />
»Was ist das? Was ist das?« fragte sie, auf <strong>de</strong>n Briefzeigend.<br />
Wie es oft ist, empfand Stepan Arkadjitsch bei dieser Erinnerung<br />
nicht <strong>de</strong>n Vorfall selbst als peinlich und beschämend,<br />
son<strong>de</strong>rn die Art, wie er auf die Worte seiner Frau<br />
geantwortet hatte.<br />
In diesem Moment war es ihm ergangen wie vielen Leuten,<br />
wenn sie unversehens auf einer schmählichen Tat ertappt<br />
wer<strong>de</strong>n. Er hatte es nicht verstan<strong>de</strong>n, sein Gesicht <strong>de</strong>r Lage<br />
anzupassen, in die er seiner Frau gegenüber nach <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung<br />
seiner Schuld geraten war. Statt <strong>de</strong>n Gekränkten<br />
zu spielen, zu leugnen, sich zu rechtfertigen, um Verzeihung<br />
zu bitten o<strong>de</strong>r auch einfach nur gleichgültig zu bleiben —<br />
alles wäre besser gewesen als das, was er tat —, hatte sich<br />
sein Gesicht ganz unwillkürlich (>Reflexe <strong>de</strong>s GehirnsAn allem ist nur dieses dumme Lächeln schuldAber was soll ich <strong>de</strong>nn tun? Was soll ich tun?< fragte er sich<br />
verzweifelt und fand keine Antwort.<br />
9
2<br />
Stepan Arkadjitsch war immer aufrichtig gegen sich selbst.<br />
Er war unfähig, sich selbst zu betrügen und sich einzure<strong>de</strong>n,<br />
daß er seilte Tat bereue. Er konnte jetzt nicht bereuen, daß<br />
er, ein vicrunddreißigjähriger, schöner, leicht entflammter<br />
Mann, nicht mehr in seine Frau verliebt war, die Mutter<br />
von fünf leben<strong>de</strong>n und zwei bereits gestorbenen Kin<strong>de</strong>rn,<br />
die nur ein Jahr jünger war als er selbst. Er bereute nur, daß<br />
er die Sache nicht besser vor seiner Frau geheimgehalten<br />
hatte. Aber er empfand die ganze Schwierigkeit seiner Lage<br />
und bedauerte seine Frau, die Kin<strong>de</strong>r und sich selbst. Vielleicht<br />
hätte er sich auch mehr bemüht, seine Sün<strong>de</strong>n vor<br />
seiner Frau zu verbergen, wenn er geahnt hätte, wie diese<br />
Ent<strong>de</strong>ckung auf sie wirken wür<strong>de</strong>. Klar nachgedacht hatte<br />
er über diesen Punkt allerdings nie, er hatte aber die un<strong>de</strong>utliche<br />
Vorstellung gehabt, seine Frau ahne schon längst,<br />
daß er ihr untreu sei, drücke aber ein Auge zu. Er meinte<br />
sogar, eine schon so welke, gealterte, nicht mehr schöne<br />
Frau, die nichts Beson<strong>de</strong>res an sich hatte, son<strong>de</strong>rn nur eine<br />
schlichte, gute Familienmutter war, müsse aus Gerechtigkeitsgefühl<br />
nachsichtig sein. Und nun hatte er gera<strong>de</strong> das<br />
Gegenteil erlebt.<br />
»Ach, entsetzlich! Ach, ach, ach, entsetzlich!« sagte Stepan<br />
Arkadjitsch vor sich hin, ohne daß ihm ein Ausweg einfiel.<br />
>Und wie schön war alles bisher, wie gut haben wir miteinan<strong>de</strong>r<br />
gelebt! Sie war zufrie<strong>de</strong>n und glücklich mit <strong>de</strong>n<br />
Kin<strong>de</strong>rn, ich habe sie in allem gewähren lassen, sie konnte<br />
sich mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn und mit <strong>de</strong>m Haushalt abgeben, so viel<br />
sie wollte. Freilich, daß sie in unserem Haus Gouvernante<br />
war, das ist schlecht. Sehr schlecht! Es hat immer etwas<br />
Dummes und Gemeines, wenn man <strong>de</strong>r Gouvernante seiner<br />
Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Hof macht. Aber was für eine Gouvernante sie<br />
war!< (Er erinnerte sich lebhaft an die schwarzen schelmischen<br />
Augen von Ma<strong>de</strong>moiselle Roland und an ihr Lächeln.)<br />
10
Aber solange sie bei uns im Haus war, habe ich mir ja nichts<br />
erlaubt. Das schlimmste ist, daß sie jetzt... Daß das alles<br />
auch so kommen mußte! Ach, ach, ach! Aber was in aller<br />
Welt soll ich jetzt tun?<<br />
Eine Antwort gab es darauf nicht, außer <strong>de</strong>r allgemeinen<br />
Antwort, die das Leben auf alle verwickelten und unlösbaren<br />
Fragen gibt. Diese Antwort lautet: Man muß <strong>de</strong>m<br />
Tag leben, das heißt, vergessen. Im Schlaf Vergessen suchen<br />
konnte er nicht mehr, wenigstens nicht vor <strong>de</strong>r Nacht, er<br />
konnte nicht mehr zu <strong>de</strong>m Lied zurückkehren, das die in<br />
Likörflaschen verwan<strong>de</strong>lten Frauen gesungen hatten; also<br />
mußte er im Traum <strong>de</strong>s Lebens Vergessen suchen.<br />
>Nun, man wird ja sehenWarum sagst du das? Weißt<br />
du <strong>de</strong>nn nicht, wie's steht?<<br />
11
Matwej steckte die Hän<strong>de</strong> in die jackentaschen, setzte <strong>de</strong>n<br />
einen Fuß ein wenig seitwärts und schaute seinen Herrn an,<br />
schweigend, gutmütig, mit leisem Lächeln.<br />
»Ich habe gesagt, er sollte nächsten Sonntag wie<strong>de</strong>rkommen<br />
und bis dahin Sie und sich selbst nicht unnötig bemühen«,<br />
antwortete er mit einem offenbar vorher zurechtgelegten<br />
Satz.<br />
Stepan Arkadjitsch durchschaute, daß Matwej einen Scherz<br />
machen und die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Er<br />
riß das Telegramm auf, las es, erriet einzelne <strong>de</strong>r wie üblich<br />
entstellten Wörter, und sein Gesicht strahlte.<br />
»Matwej, morgen kommt meine Schwester <strong>Anna</strong> Arkadjewna«,<br />
sagte er und hielt für einen Augenblick die dicke,<br />
fettglänzen<strong>de</strong> Hand <strong>de</strong>s Barbiers zurück, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n rosigen<br />
Streifen zwischen <strong>de</strong>m rechten und linken krausen Backenbart<br />
säuberte.<br />
»Gott sei Dank!« rief Matwej und zeigte durch diese Antwort,<br />
daß er ebensogut wie sein Herr verstand, was dieser<br />
Besuch be<strong>de</strong>utete, das heißt, daß <strong>Anna</strong> Arkadjewna, Stepan<br />
Arkadjitschs Lieblingsschwester, vielleicht eine Versöhnung<br />
zwischen Mann und Frau herbeiführen könne.<br />
»Kommt die gnädige Frau allein o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Herrn Gemahl?«<br />
fragte Matwej.<br />
Stepan Arkaditsch konnte nicht sprechen, weil <strong>de</strong>r Barbier<br />
mit seiner Oberlippe beschäftigt war, und hob einen Finger.<br />
Matwej schaute in <strong>de</strong>n Spiegel und nickte.<br />
»Allein. Soll ich oben alles herrichten lassen?«<br />
»Mel<strong>de</strong> es Darja Alexandrowna, sie wird das Nötige anordnen.«<br />
»Darja Alexandrowna?« wie<strong>de</strong>rholte Matwej zweifelnd.<br />
»Ja, mel<strong>de</strong> es ihr. Und da, nimm das Telegramm mit und gib<br />
es ihr, was sie wohl dazu sagt.«<br />
Er streckt die Fühler aus
wollte sich gera<strong>de</strong> anziehen, als Matwej mit seinen knarren<strong>de</strong>n<br />
Stiefeln langsamen Schrittes wie<strong>de</strong>r hereinkam, das<br />
Telegramm in <strong>de</strong>r Hand. Der Barbier war nicht mehr da.<br />
»Darja Alexandrowna läßt mel<strong>de</strong>n, daß sie verreist, sie<br />
sagte: >Er, das heißt Sie, soll alles machen, wie es ihm beliebte«,<br />
sagte er, nur mit <strong>de</strong>n Augen lachend, steckte die<br />
Hän<strong>de</strong> in die Taschen, neigte <strong>de</strong>n Kopf zur Seite und sah<br />
seinen Herrn an.<br />
Stepan Arkadjitsch schwieg. Dann erschien ein gutmütiges<br />
und etwas klägliches Lächeln auf seinem hübschen Gesicht.<br />
»Nun, Matwej«, sagte er und wiegte <strong>de</strong>n Kopf hin und her.<br />
»Macht nichts, gnädiger Herr, das renkt sich schon wie<strong>de</strong>r<br />
ein«, sagte Matwej.<br />
»Wirklich ?«<br />
»Ganz bestimmt.«<br />
»Meinst du? Wer ist <strong>de</strong>nn da?« fragte Stepan Arkadjitsch,<br />
als er vor <strong>de</strong>r Tür ein Kleid rascheln hörte.<br />
»Ich bin's«, sagte eine feste, angenehme Frauenstimme, und<br />
in <strong>de</strong>r Tür erschien das ernste, pockennarbige Gesicht <strong>de</strong>r<br />
alten Kin<strong>de</strong>rfrau Matrjona Filimonowna.<br />
»Nun, was gibt's, Matrjoscha?« fragte Stepan Arkadjitsch<br />
und ging zu ihr an die Tür.<br />
Obwohl Stepan Arkadjitsch seiner Frau gegenüber durchaus<br />
im Unrecht war und das auch selbst fühlte, waren fast alle<br />
im Hause auf seiner Seite, sogar die Kin<strong>de</strong>rfrau, trotz ihrer<br />
Freundschaft mit Darja Alexandrowna.<br />
»Nun, was ist?« fragte er bedrückt.<br />
»Gehen Sie noch einmal hin, gnädiger Herr, und bitten Sie<br />
um Verzeihung. Vielleicht hilft Gott. Sie quält sich sehr, es<br />
tut einem weh, wenn man das sieht, und im Haus geht alles<br />
drunter und drüber. Die Kin<strong>de</strong>r, gnädiger Herr, die Kin<strong>de</strong>r<br />
können einem leid tun. Sagen Sie, daß Sie schuld sind, gnädiger<br />
Herr. Was soll man da machen? Wenn man A gesagt<br />
hat...«<br />
»Aber sie wird mich gar nicht hereinlassen...«<br />
13
»Gehen Sie nur hin! Gott ist barmherzig, beten Sie zu Gott,<br />
gnädiger Herr, beten Sie!«<br />
»Na schön, geh nur!« sagte Stepan Arkadjitsch, plötzlich<br />
errötend. »Nun, dann hilf mir beim Anklei<strong>de</strong>n«, sagte er zu<br />
Matwej und warf entschlossen <strong>de</strong>n Schlafrock ab.<br />
Matwej hielt bereits das Hemd, von <strong>de</strong>m er etwas Unsichtbares<br />
wegblies, wie ein Kummet zum Überstreifen bereit<br />
und hüllte mit sichtlichem Vergnügen <strong>de</strong>n gepflegten<br />
Körper seines Herrn hinein.<br />
3<br />
Nach <strong>de</strong>m Anklei<strong>de</strong>n besprengte sich Stepan Arkadjitsch mit<br />
Parfüm, zupfte die Manschetten zurecht, steckte mit gewohnter<br />
Bewegung die Zigaretten, die Brieftasche, die<br />
Zündhölzer, die Uhr mit doppelter Kette und Berloques in<br />
die verschie<strong>de</strong>nen Taschen, schüttelte das Taschentuch auseinan<strong>de</strong>r<br />
und ging sauber, wohlriechend und trotz seines<br />
Unglücks gesund und frisch wiegen<strong>de</strong>n Schrittes ins Eßzimmer,<br />
wo <strong>de</strong>r Kaffee bereits auf ihn wartete und neben<br />
<strong>de</strong>m Kaffee seine Briefe und die Akten aus <strong>de</strong>m Amt.<br />
Er las die Briefe. Einer war sehr unangenehm — von einem<br />
Kaufmann, <strong>de</strong>r ein Stück Wald auf <strong>de</strong>m Gut seiner Frau<br />
kaufen wollte. Er mußte diesen Wald unbedingt verkaufen,<br />
aber bevor er mit seiner Frau nicht versöhnt war, konnte<br />
nicht die Re<strong>de</strong> davon sein. Am peinlichsten war ihm dabei,<br />
daß die Versöhnung nun auch mit pekuniären Interessen<br />
verbun<strong>de</strong>n war. Und <strong>de</strong>r Gedanke, daß es scheinen könnte,<br />
als lasse er sich von diesen Interessen leiten und als wolle er<br />
sich wegen <strong>de</strong>s Verkaufs dieses Wal<strong>de</strong>s mit seiner Frau versöhnen—dieser<br />
Gedanke erschien ihm wie eine Beleidigung.<br />
Als Stepan Arkadjitsch mit <strong>de</strong>n Briefen fertig war, zog er die<br />
Akten heran, blätterte rasch zwei Sachen durch, machte sich<br />
mit einem großen Bleistift ein paar Notizen, schob die Akten<br />
wie<strong>de</strong>r zur Seite und trank seinen Kaffee; beim Kaffeetrinken<br />
14
eitete er die noch feuchte Morgenzeitung auseinan<strong>de</strong>r und<br />
begann zu lesen.<br />
Stepan Arkadjitsch hielt und las eine liberale Zeitung, kein<br />
extremes Blatt, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r Richtung, zu <strong>de</strong>r sich die<br />
Majorität bekannte. Obwohl we<strong>de</strong>r Wissenschaft noch<br />
Kunst noch Politik Ihn son<strong>de</strong>rlich Interessierten, hielt er auf<br />
all diesen Gebieten an <strong>de</strong>n Anschauungen fest, <strong>de</strong>nen die<br />
Majorität und seine Zeltung anhing, und än<strong>de</strong>rte diese Anschauungen<br />
nur dann, wenn auch die Majorität es tat, o<strong>de</strong>r,<br />
richtiger gesagt, er än<strong>de</strong>rte sie nicht, son<strong>de</strong>rn sie än<strong>de</strong>rten<br />
sich ganz von selbst in ihm, ohne daß er es merkte.<br />
Stepan Arkadjitsch wählte sich we<strong>de</strong>r seine Richtungen noch<br />
seine Ansichten aus, sie kamen ganz von selbst zu ihm,<br />
ebenso wie er die Form seines Hutes und seines Rockes nicht<br />
auswählte, son<strong>de</strong>rn einfach das nahm, was alle trugen.<br />
Ansichten zu haben war für Ihn genauso notwendig, wie<br />
einen Hut zu besitzen, <strong>de</strong>nn er lebte in einer bestimmten<br />
gesellschaftlichen Sphäre und empfand ein gewisses Bedürfnis<br />
nach Denktätigkeit, das sich gewöhnlich in reiferen<br />
Jahren einstellt. Wenn es wirklich einen Grand gab, weshalb<br />
er die liberale Richtung <strong>de</strong>r konservativen vorzog, <strong>de</strong>r viele<br />
aus seinen Kreisen anhingen, so lag dieser Grand nicht darin,<br />
daß er die liberale Richtung vernünftiger fand, son<strong>de</strong>rn<br />
darin, daß sie seiner Art zu leben besser entsprach. Die<br />
liberale Partei behauptete, In Rußland sei alles schlecht, und<br />
Stepan Arkadjitsch hatte tatsächlich viele Schul<strong>de</strong>n und<br />
konnte mit seinem Geld absolut nicht auskommen. Die<br />
liberale Partei erklärte, die Ehe sei eine überholte Institution<br />
und müsse unbedingt neugestaltet wer<strong>de</strong>n, und das Eheleben<br />
machte Stepan Arkadjitsch wirklich wenig Vergnügen<br />
und zwang Ihn, zu lügen und sich zu verstellen, was seiner<br />
Natur so zuwi<strong>de</strong>r war. Die liberale Partei sagte, o<strong>de</strong>r, richtiger<br />
ausgedrückt, sie ließ durchblicken, daß die Religion<br />
nur ein Zügel für <strong>de</strong>n ungebil<strong>de</strong>ten Teil <strong>de</strong>r Bevölkerung sei,<br />
und in <strong>de</strong>r Tat konnte Stepan Arkadjitsch nicht einmal einen<br />
15
ganz kurzen Gottesdienst ohne Schmerzen in <strong>de</strong>n Beinen<br />
aushalten und konnte auch nicht begreifen, was für einen<br />
Zweck dieses ganze großspurige, hochtraben<strong>de</strong> Gere<strong>de</strong> von<br />
jener Welt haben sollte, da es sich auch in dieser Welt sehr<br />
lustig leben ließ. Außer<strong>de</strong>m liebte Stepan Arkadjitsch einen<br />
heiteren Scherz, und es machte ihm großes Vergnügen,<br />
harmlose Leute mit Bemerkungen wie <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n zu verblüffen<br />
: wenn man schon auf seine Abstammung so stolz sei,<br />
dürfe man nicht bei Rurik stehenbleiben und seinen ältesten<br />
Stammvater, <strong>de</strong>n Affen, verleugnen. Die liberale Richtung<br />
war für Stepan Arkadjitsch eine Gewohnheit gewor<strong>de</strong>n, und<br />
er liebte seine Zeitung wie die Zigarre nach <strong>de</strong>m Mittagessen<br />
wegen <strong>de</strong>r leichten Benommenheit, die sie in seinem<br />
Kopf erzeugte. Er las <strong>de</strong>n Leitartikel, in <strong>de</strong>m stand, in<br />
unserer Zeit wer<strong>de</strong> völlig grundlos ein Jammergeschrei erhoben,<br />
daß <strong>de</strong>r Radikalismus alle konservativen Elemente<br />
zu verschlingen drohe und daß die Regierung verpflichtet<br />
sei, Maßnahmen zur Unterdrückung <strong>de</strong>r revolutionären<br />
Hydra zu ergreifen. >Ganz im Gegenteih, hieß es, mnserer<br />
Ansicht nach liegt die Gefahr nicht in <strong>de</strong>r revolutionären<br />
Hydra, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Starrköpfigkeit <strong>de</strong>r Reaktionäre, die<br />
je<strong>de</strong>n Fortschritt hemmenKeine<br />
grauen Haare mehr!
suche; aber diese Nachrichten bereiteten ihm nicht das<br />
stille, ironische Vergnügen wie sonst.<br />
Als er mit <strong>de</strong>r Zeitung, einer zweiten Tasse Kaffee und einer<br />
Buttersemmel fertig war, stand er auf, klopfte sich die<br />
Semmelkrümel von <strong>de</strong>r Weste, reckte seine breite Brust und<br />
lächelte vergnügt, nicht, weil ihm beson<strong>de</strong>rs froh zumute<br />
war — das vergnügte Lächeln kam von <strong>de</strong>r guten Verdauung.<br />
Aber dieses vergnügte Lächeln erinnerte ihn sofort an<br />
alles, was geschehen war, und er wur<strong>de</strong> nach<strong>de</strong>nklich.<br />
Vor <strong>de</strong>r Tür erklangen Kin<strong>de</strong>rstimmen, und Stepan Arkadjitsch<br />
erkannte die Stimme seines jüngsten Sohnes Grischa<br />
und seiner ältesten Tochter Tanja. Die Kin<strong>de</strong>r zogen irgend<br />
etwas, und dann fiel etwas auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n.<br />
»Ich habe dir doch gesagt, daß man die Passagiere nicht aufs<br />
Dach setzen darf!« schrie das kleine Mädchen auf englisch.<br />
»Jetzt kannst du sie auch aufheben!«<br />
>Alles geht drunter und drüben, dachte Stepan Arkadjitsch.<br />
>Da laufen jetzt die Kin<strong>de</strong>r ganz allein im Haus herum.< Er<br />
ging zur Tür und rief sie herein. Sie ließen die Schachtel<br />
liegen, die eine Eisenbahn vorstellen sollte, und kamen zu<br />
ihrem Vater.<br />
Das Mädchen, <strong>de</strong>s Vaters Liebling, lief dreist herein, umarmte<br />
ihn und hing sich ihm lachend an <strong>de</strong>n Hals; sie freute<br />
sich wie immer über <strong>de</strong>n wohlbekannten Parfümgeruch, <strong>de</strong>n<br />
sein Backenbart ausströmte. Nach<strong>de</strong>m sie sein von <strong>de</strong>r gebückten<br />
Haltung gerötetes, vor Zärtlichkeit strahlen<strong>de</strong>s<br />
Gesicht geküßt hatte, löste sie die Arme von seinem Hals<br />
und wollte weglaufen, aber er hielt sie fest.<br />
»Was macht Mama?« fragte er und streichelte das zarte,<br />
glatte Hälschen seiner Tochter. »Guten Morgen!« sagte er<br />
lächelnd zu <strong>de</strong>m Jungen, <strong>de</strong>r ihn begrüßte.<br />
Er war sich bewußt, daß er <strong>de</strong>n Jungen weniger liebte, und<br />
bemühte sich stets, die Kin<strong>de</strong>r gleich zu behan<strong>de</strong>ln; aber<br />
<strong>de</strong>r Junge fühlte das und erwi<strong>de</strong>rte das kalte Lächeln seines<br />
Vaters nicht.<br />
17
»Mama? Sie ist schon aufgestan<strong>de</strong>n«, antwortete das Mädchen.<br />
Stepan Arkadjitsch seufzte. >Also hat sie wie<strong>de</strong>r die ganze<br />
Nacht nicht geschlafen
»Na, dann bitte sie jetzt schnell herein«, sagte Oblonskij,<br />
ärgerlich die Stirn runzelnd.<br />
Die Bittstellerin, eine Hauptmannsfrau namens Kalinin, bat<br />
um etwas ganz Unmögliches und Sinnloses; aber Stepan<br />
Arkadjitsch for<strong>de</strong>rte sie nach seiner Gewohnheit auf, Platz<br />
zu nehmen, hörte Ihr aufmerksam und ohne sie zu unterbrechen<br />
zu, gab Ihr ausführliche Ratschläge, an wen sie sich<br />
wen<strong>de</strong>n und wie sie die Sache anfangen müsse, und schrieb<br />
ihr sogar mit seiner großen, ge<strong>de</strong>hnten, schönen und klaren<br />
Schrift einen in gewandtem, flüssigem Stil gehaltenen Brief<br />
an die Persönlichkeit, die ihr behilflich sein konnte. Nach<strong>de</strong>m<br />
Stepan Arkadjitsch die Hauptmannsfrau entlassen hatte,<br />
nahm er seinen Hut und blieb einen Augenblick stehen, um<br />
zu überlegen, ob er auch nichts vergessen habe. Er überzeugte<br />
sich, daß er nichts vergessen hatte außer <strong>de</strong>m einen,<br />
das er gern vergessen wollte — seine Frau.<br />
»Ach ja!« Er senkte <strong>de</strong>n Kopf, und sein hübsches Gesicht<br />
nahm einen schwermütigen Ausdruck an. >Soll ich zu ihr<br />
gehen o<strong>de</strong>r nicht?< Und eine innere Stimme sagte ihm, es sei<br />
zwecklos hinzugehen, es käme doch nur eine Lüge dabei<br />
heraus, ihre Beziehungen wie<strong>de</strong>rherzustellen und in Ordnung<br />
zu bringen sei unmöglich, weil es nicht möglich sei,<br />
Dolly wie<strong>de</strong>r zu einer anziehen<strong>de</strong>n, Liebe erwecken<strong>de</strong>n Frau<br />
o<strong>de</strong>r ihn selbst zu einem alten, <strong>de</strong>r Liebe unfähigen Mann<br />
zu machen. Dabei konnte jetzt nichts an<strong>de</strong>res herauskommen<br />
als Lüge und Heuchelei; und Lüge und Heuchelei<br />
waren seiner Natur zuwi<strong>de</strong>r.<br />
>Aber einmal muß es ja doch geschehen, so kann es ja nicht<br />
bleiben
4<br />
Darja Alexandrawna stand In <strong>de</strong>r Nachtjacke, die Flechten<br />
ihres schon spärlichen, früher so dichten, schönen Haars am<br />
Hinterkopf aufgesteckt, mit eingefallenem, hagerem Gesicht<br />
und großen, erschrockenen Augen, die durch die Hagerkeit<br />
<strong>de</strong>s Gesichts noch mehr hervortraten, inmitten von allerlei<br />
im Zimmer umherliegen<strong>de</strong>n Sachen vor einem offenen Vertiko,<br />
aus <strong>de</strong>m sie verschie<strong>de</strong>nes heraussuchte. Als sie die<br />
Schritte ihres Mannes hörte, hielt sie inne, blickte zur Tür<br />
und versuchte vergebens, ihrem Gesicht einen strengen,<br />
verächtlichen Ausdruck zu geben. Sie fühlte eine dumpfe<br />
Angst vor ihm und vor <strong>de</strong>r bevorstehen<strong>de</strong>n Aussprache. Sie<br />
hatte gera<strong>de</strong> versucht, das zu tun, was sie in diesen drei<br />
Tagen schon zehnmal versucht hatte: die Sachen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />
und ihre eigenen zu packen und zu ihrer Mutter bringen zu<br />
lassen, und hatte sich wie<strong>de</strong>r nicht dazu entschließen können;<br />
wie bei allen früheren Versuchen sagte sie sich auch jetzt,<br />
daß es nicht so bleiben könne, daß sie etwas unternehmen<br />
müsse, ihren Mann bestrafen, ihn bloßstellen, sich an ihm<br />
rächen, ihm wenigstens einen kleinen Teil <strong>de</strong>s Schmerzes<br />
zufügen, <strong>de</strong>n er ihr angetan hatte. Sie sagte immer noch, sie<br />
wer<strong>de</strong> ihn verlassen, fühlte aber, daß das unmöglich sei; es<br />
war <strong>de</strong>shalb unmöglich, weil sie nicht plötzlich aufhören<br />
konnte, ihn für ihren Mann zu halten und ihn zu lieben.<br />
Außer<strong>de</strong>m wußte sie: wenn sie hier, in ihrem eigenen Haus,<br />
mit <strong>de</strong>r Pflege ihrer fünf Kin<strong>de</strong>r kaum fertig wur<strong>de</strong>, dann<br />
wür<strong>de</strong>n sie dort, wo sie sie hinbringen wollte, noch schlechter<br />
versorgt wer<strong>de</strong>n. Schon in diesen drei Tagen war <strong>de</strong>r<br />
Jüngste krank gewor<strong>de</strong>n, weil er schlechte Bouillon bekommen<br />
hatte, und die an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r waren gestern fast ohne<br />
Mittagessen gewesen. Sie fühlte, daß es unmöglich war, wegzugehen,<br />
aber sie täuschte sich selbst etwas vor, suchte die<br />
Sachen zusammen und tat, als wollte sie fort.<br />
Als sie ihren Mann sah, griff sie in ein Fach, als suche sie<br />
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