2. Textsorten und Gattungen: eine Einführung in zwei ... - Buch.de
2. Textsorten und Gattungen: eine Einführung in zwei ... - Buch.de
2. Textsorten und Gattungen: eine Einführung in zwei ... - Buch.de
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>2.</strong> TEXTSORTEN UND GATTUNGEN<br />
<strong>2.</strong> <strong>Textsorten</strong> <strong>und</strong> <strong>Gattungen</strong>:<br />
<strong>e<strong>in</strong>e</strong> <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>zwei</strong> Gr<strong>und</strong>begriffe<br />
Im ersten Kapitel dieses Ban<strong>de</strong>s s<strong>in</strong>d im Zusammenhang mit <strong>de</strong>n H<strong>in</strong>weisen zur<br />
Analyse <strong>und</strong> zur Gestaltung <strong>e<strong>in</strong>e</strong>s (Interpretations-)Aufsatzes <strong>zwei</strong> zentrale Begriffe<br />
aufgetaucht. Es s<strong>in</strong>d dies die Begriffe TEXT <strong>und</strong> GATTUNG. Klausuraufgaben<br />
verwen<strong>de</strong>n oftmals diese Begriffe, so etwa, wenn sie lauten „Analysieren<br />
Sie <strong>de</strong>n Text!“ o<strong>de</strong>r „Zeigen Sie anhand <strong>de</strong>r Kurzgeschichte San Salvador von<br />
Peter Bichsel typische Merkmale <strong>de</strong>r Gattung auf!“<br />
Unterrichtswerke für das Fach Deutsch präsentieren bei <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m systematischen<br />
(nicht unbed<strong>in</strong>gt bei <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m historischen) Aufbau literarische Werke nach GAT-<br />
TUNGEN geordnet o<strong>de</strong>r nehmen <strong>e<strong>in</strong>e</strong> E<strong>in</strong>teilung nach literarischen (fiktionalen)<br />
<strong>und</strong> nicht-literarischen (nicht-fiktionalen) Texten vor, wie es auch (je<strong>de</strong>nfalls <strong>in</strong><br />
Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen) die Richtl<strong>in</strong>ien für die Sek. II tun, wenn sie vom „Umgang<br />
mit fiktionalen Texten“ <strong>und</strong> „Umgang mit nichtfiktionalen Texten“ sprechen. 9<br />
Da die verschie<strong>de</strong>nen Texte (<strong>Textsorten</strong> <strong>und</strong> <strong>Gattungen</strong>) unterschiedliche konstituieren<strong>de</strong><br />
Merkmale aufweisen <strong>und</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n jeweils eigenen Zugriff auf die Wirklichkeit<br />
vornehmen, ist <strong>de</strong>r Verstehensprozess wesentlich durch sie bestimmt, <strong>de</strong>nn<br />
sie konfrontieren <strong>de</strong>n Lesen<strong>de</strong>n (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Interpretieren<strong>de</strong>n) <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Vorverständnis<br />
aufgr<strong>und</strong> ihrer spezifischen Eigenheiten mit jeweils beson<strong>de</strong>ren Fragestellungen<br />
<strong>und</strong> Problemen (die Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Liebesgedicht<br />
stellt an<strong>de</strong>re Erwartungen an <strong>de</strong>n Schüler als die Analyse <strong>e<strong>in</strong>e</strong>s Lexikonartikels<br />
zum Stichwort „Liebe“).<br />
E<strong>in</strong> Verständnis von <strong>de</strong>n Begriffen TEXT <strong>und</strong> GATTUNG stellt somit bereits <strong>e<strong>in</strong>e</strong><br />
Voraussetzung für die Inangriffnahme <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Interpretation dar. Bevor die drei<br />
literarischen <strong>Gattungen</strong> <strong>und</strong> die politische Re<strong>de</strong> als Beispiel für nicht-fiktionale<br />
Texte <strong>in</strong> <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Kapiteln genauer behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, sollen <strong>de</strong>shalb zunächst<br />
die Begriffe TEXT <strong>und</strong> GATTUNG kurz erläutert wer<strong>de</strong>n.<br />
<strong>2.</strong>1 Texte/<strong>Textsorten</strong><br />
<strong>2.</strong>1.1 Texte im kommunikativen Zusammenhang<br />
Versteht man unter <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Text <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n Teil <strong>e<strong>in</strong>e</strong>s kommunikativen Zusammenhangs,<br />
dann ist e<strong>in</strong> Text (e<strong>in</strong> Co<strong>de</strong>) die Gr<strong>und</strong>e<strong>in</strong>heit <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r akustischen, optischen<br />
<strong>und</strong>/o<strong>de</strong>r schriftlichen Kommunikation. E<strong>in</strong> Text wird somit durch die (s<strong>in</strong>nvolle)<br />
Abfolge akustischer, optischer o<strong>de</strong>r schriftlicher Zeichen <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert, die von <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m<br />
Sen<strong>de</strong>r codiert (verschlüsselt) wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> von <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Empfänger (Adressaten)<br />
9 Vgl. Richtl<strong>in</strong>ien, ebd., S. 30/31.<br />
19
20<br />
<strong>2.</strong> TEXTSORTEN UND GATTUNGEN<br />
entschlüsselt wer<strong>de</strong>n müssen, wenn die Kommunikation klappen soll. Dies funktioniert<br />
allerd<strong>in</strong>gs nur, wenn Sen<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Empfänger über <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n gleichen Zeichenvorrat<br />
verfügen (zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st über <strong>e<strong>in</strong>e</strong> geme<strong>in</strong>same Schnittmenge von Zeichen),<br />
bei <strong>de</strong>m (bei <strong>de</strong>r) die Interpretation <strong>de</strong>r Zeichen gleich ist.<br />
Die Interpretation <strong>de</strong>r Zeichen ist dabei u. a. kontext- bzw. situationsabhängig.<br />
Das Zeichen (Wort) „Feuer!“ wird <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m bestimmten Kontext als Warnung<br />
(auch als Hilferuf) verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n (analog <strong>de</strong>m Kl<strong>in</strong>gelzeichen, das <strong>in</strong> <strong>de</strong>r<br />
Schule <strong>de</strong>n Feueralarm signalisiert), <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m an<strong>de</strong>ren Kontext (<strong>zwei</strong> Fahrgäste <strong>in</strong><br />
<strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Zugabteil) als Auffor<strong>de</strong>rung/Bitte, e<strong>in</strong> Feuerzeug o<strong>de</strong>r Streichhölzer auszuleihen.<br />
Die <strong>in</strong> unserer Alltagswelt allgegenwärtigen Piktogramme s<strong>in</strong>d optische<br />
Zeichen, die e<strong>in</strong><strong>de</strong>utig <strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert se<strong>in</strong> müssen, wenn sie ihren Zweck erfüllen sollen.<br />
Im Unterricht geht es zumeist um schriftliche Zeichen (verschriftlichte Texte). Der<br />
Sen<strong>de</strong>r ist <strong>in</strong> diesem Fall <strong>de</strong>r Autor <strong>de</strong>s Textes, die Lerngruppe ist <strong>de</strong>r Empfänger.<br />
Der Text als Abfolge von Zeichen ist nach <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Regelsystem aufgebaut (die<br />
Wörter/Lexeme <strong>und</strong> die Verknüpfungsregeln/grammatischen Strukturen). Der<br />
Text bezieht sich auf <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n Gegenstand/Sachverhalt. Diesen zu erfassen, zu erkennen<br />
<strong>und</strong> zu erklären, ist die Aufgabe <strong>de</strong>s Rezipienten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Text mit s<strong>e<strong>in</strong>e</strong>m<br />
eigenen Vor-Verständnis aufnimmt.<br />
Dies macht <strong>de</strong>utlich, dass bei <strong>de</strong>r Interpretation von Texten Probleme auftreten<br />
können. Der Zeichenvorrat zwischen Sen<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Empfänger bzw. die Interpretation<br />
<strong>de</strong>r Zeichen können unterschiedlich se<strong>in</strong>. So kann e<strong>in</strong> Begriff, etwa <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m<br />
Sachtext, <strong>de</strong>m Empfänger völlig unbekannt se<strong>in</strong>; e<strong>in</strong> Begriff kann aber auch, etwa<br />
wenn es sich um <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n älteren Text han<strong>de</strong>lt, <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n Be<strong>de</strong>utungswan<strong>de</strong>l erfahren<br />
haben. O<strong>de</strong>r e<strong>in</strong> Begriff kann <strong>in</strong> s<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Be<strong>de</strong>utung zunächst nicht o<strong>de</strong>r nur mit<br />
großen Schwierigkeiten erfasst wer<strong>de</strong>n, z. B. e<strong>in</strong> Bild <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Gedicht, etwa die<br />
von Paul Celan <strong>in</strong> <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sfuge verwen<strong>de</strong>te Chiffre „schwarze Milch <strong>de</strong>r Frühe“.<br />
Das Vor-Verständnis <strong>de</strong>r aktuellen Rezipienten (<strong>de</strong>s Schülers heute) ist zu<strong>de</strong>m zumeist<br />
e<strong>in</strong> an<strong>de</strong>res als das <strong>de</strong>s „historischen“ Rezipienten, für <strong>de</strong>n e<strong>in</strong> Text verfasst<br />
wor<strong>de</strong>n ist. So haben etwa die Menschen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r <strong>zwei</strong>ten Hälfte <strong>de</strong>s 17. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
mit <strong>de</strong>n Autoren Grimmelshausen <strong>und</strong> Gryphius die Erfahrung <strong>de</strong>s 30-jährigen<br />
Krieges geteilt; Texte <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Autoren stießen somit bei <strong>de</strong>n damaligen<br />
Rezipienten auf e<strong>in</strong> völlig an<strong>de</strong>res Vor-Verständnis.<br />
Bei <strong>de</strong>r Interpretation von literarischen Texten ist somit auch die E<strong>in</strong>beziehung<br />
von „außertextlichen“ Informationen nötig (siehe hierzu Abschnitt 1.1.4), <strong>de</strong>nn e<strong>in</strong><br />
Text ist immer „(...) e<strong>in</strong> sprachliches Gefüge, <strong>de</strong>ssen Struktur mitbestimmt ist durch<br />
die Art s<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Vermittlung sowie durch die E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n tradierten soziokulturellen<br />
Zusammenhang.“ 10<br />
10 Richtl<strong>in</strong>ien, ebd., S. 36.
<strong>2.</strong> TEXTSORTEN UND GATTUNGEN<br />
<strong>2.</strong>1.2 <strong>Textsorten</strong>: fiktionale <strong>und</strong> nicht-fiktionale Texte<br />
Durch die E<strong>in</strong>beziehung l<strong>in</strong>guistischer Verfahren <strong>und</strong> Metho<strong>de</strong>n hat sich bei <strong>de</strong>r<br />
E<strong>in</strong>teilung von Texten <strong>e<strong>in</strong>e</strong> grobe Zweiteilung durchgesetzt. Es wird allgeme<strong>in</strong><br />
unterschie<strong>de</strong>n zwischen fiktionalen (literarischen/ästhetischen) <strong>und</strong> nicht-fiktionalen<br />
(referentiellen/expositorischen) Texten.<br />
Der nicht-fiktionale Text (etwa e<strong>in</strong> Sachtext, z. B. e<strong>in</strong> Artikel über die Stahlregionen<br />
Europas <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Erdk<strong>und</strong>elehrwerk) bil<strong>de</strong>t <strong>e<strong>in</strong>e</strong> bestimmte Situation (<strong>e<strong>in</strong>e</strong>n<br />
Gegenstand) referentiell ab (referentiell = auf die Wirklichkeit bezogen). Die geschil<strong>de</strong>rte<br />
Situation (<strong>de</strong>r Gegenstand) existiert unabhängig vom Geschriebenbzw.<br />
Gelesen-Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Textes, unabhängig sogar von <strong>de</strong>r Existenz <strong>de</strong>s Verfassers<br />
<strong>de</strong>s Artikels <strong>und</strong> von <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m potentiellen Leser <strong>de</strong>s Artikels. So existiert/ereignet<br />
sich <strong>de</strong>r Autounfall auf <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Landstraße unabhängig davon, ob später <strong>in</strong><br />
<strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Zeitungsartikel o<strong>de</strong>r <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Radiobeitrag darüber berichtet wird.<br />
Bei fiktionalen Texten ist das völlig an<strong>de</strong>rs, selbst wenn sie Wirklichkeitsausschnitte<br />
(z. B. <strong>de</strong>n Autounfall) aufgreifen. Der fiktionale Text schafft s<strong>e<strong>in</strong>e</strong> eigene Wirklichkeit,<br />
<strong>in</strong><strong>de</strong>m er Erdachtes/Erf<strong>und</strong>enes o<strong>de</strong>r Elemente <strong>de</strong>r Realität durch die<br />
Phantasie <strong>de</strong>s Autors <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Rezipienten unter Verwendung <strong>e<strong>in</strong>e</strong>s eigenen Zeichenrepertoires<br />
<strong>und</strong> s<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Dekodierung durch <strong>de</strong>n Empfänger zu <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r f<strong>in</strong>gierten<br />
Wirklichkeit wer<strong>de</strong>n lässt. Für die Analyse be<strong>de</strong>utet das: „Nichtfiktionale Texte<br />
können also nur dann adäquat erklärt <strong>und</strong> verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, wenn die <strong>in</strong> ihnen<br />
dargestellte Wirklichkeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>r pragmatische Bezugsrahmen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n sie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gestellt<br />
s<strong>in</strong>d, bewusst gemacht <strong>und</strong> konkretisiert wer<strong>de</strong>n; fiktionale Texte erstellen<br />
ihren Bezugsrahmen erst im Prozess <strong>de</strong>r Textkonstitution, dieser muss als umfassen<strong>de</strong>r<br />
S<strong>in</strong>nzusammenhang ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n.“ 11<br />
E<strong>in</strong> nicht-fiktionaler Text ist zumeist dadurch bestimmt, dass die Be<strong>de</strong>utungsvielfalt<br />
von Textkonstituenten möglichst e<strong>in</strong>gegrenzt wird, <strong>de</strong>r nicht-fiktionale Text<br />
vermittelt e<strong>in</strong><strong>de</strong>utige Signifikate (etwa durch die Verwendung klar <strong>de</strong>f<strong>in</strong>ierter<br />
Fachbegriffe). Bei <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m fiktionalen Text ist es eher umgekehrt; e<strong>in</strong>zelne Textkonstituenten<br />
können polyfunktional/mehr<strong>de</strong>utig se<strong>in</strong>, <strong>de</strong>r Text kann Leer- <strong>und</strong><br />
Unbestimmtheitsstellen aufweisen, die <strong>de</strong>r Empfänger mit s<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Vorstellungskraft<br />
ausfüllen muss. Somit existiert <strong>de</strong>r fiktionale Text auch <strong>in</strong> weitaus höherem<br />
Maße überhaupt erst durch <strong>de</strong>n Leser (<strong>e<strong>in</strong>e</strong> Alltagserfahrung: nach <strong>de</strong>m ersten<br />
Lesen <strong>e<strong>in</strong>e</strong>s Textes <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Lerngruppe wer<strong>de</strong>n unterschiedliche Textkonstituenten<br />
als wichtig empf<strong>und</strong>en o<strong>de</strong>r gleiche Textkonstituenten unterschiedlich<br />
„<strong>in</strong>terpretiert“). 12<br />
Aus <strong>de</strong>n bisher genannten Merkmalen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n großen <strong>Textsorten</strong> ergeben sich<br />
jeweils spezifische Fragestellungen <strong>und</strong> Aufgaben bei ihrer Analyse/Interpretation,<br />
die u. a. mit <strong>de</strong>r sprachlichen Gestaltung <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Wirklichkeitsbezug <strong>de</strong>r <strong>Textsorten</strong><br />
<strong>in</strong> Zusammenhang stehen (siehe hierzu die Abschnitte 3–6 <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s).<br />
11 Richtl<strong>in</strong>ien, ebd., S. 36.<br />
12 Vgl. hierzu u. a.: G. Waldmann, Referentielle <strong>und</strong> ästhetische Texte, <strong>in</strong> J. Jansen, ebd., S. 33 ff.<br />
Info<br />
21
Info<br />
22<br />
<strong>2.</strong> TEXTSORTEN UND GATTUNGEN<br />
<strong>2.</strong>1.3 Texte <strong>und</strong> ihre Funktion<br />
Bereits <strong>in</strong> <strong>de</strong>n ersten Jahrzehnten unseres Jahrh<strong>und</strong>erts hat sich <strong>de</strong>r Psychologe<br />
<strong>und</strong> Sprachphilosoph Karl Bühler mit <strong>de</strong>r Leistung <strong>de</strong>r menschlichen Sprache beschäftigt<br />
<strong>und</strong> sie als e<strong>in</strong> Werkzeug (organon) mit drei wesentlichen Funktionen<br />
<strong>de</strong>f<strong>in</strong>iert: Ausdruck, Appell <strong>und</strong> Darstellung. In Sprechakten bzw. Texten existieren<br />
diese drei Funktionen immer gleichzeitig, wobei jedoch jeweils <strong>e<strong>in</strong>e</strong> Dimension<br />
dom<strong>in</strong>ieren kann. Die Ausdrucksfunktion (Symptomfunktion) überwiegt,<br />
wenn das sprachliche Zeichen (<strong>de</strong>r Text) hauptsächlich etwas über <strong>de</strong>n Sen<strong>de</strong>r<br />
selbst an <strong>de</strong>n Empfänger vermittelt, z. B. s<strong>e<strong>in</strong>e</strong> Gefühle, s<strong>e<strong>in</strong>e</strong> E<strong>in</strong>stellung zu<br />
<strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Gegenstand o<strong>de</strong>r Sachverhalt. Die Darstellungsfunktion (Symbolfunktion)<br />
herrscht vor, wenn <strong>de</strong>r Sachverhalt o<strong>de</strong>r Gegenstand, über <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Sen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m<br />
Empfänger etwas mitteilt, <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong> gerückt wird. Will <strong>de</strong>r Sen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Empfänger zu <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Haltung gegenüber <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Gegenstand o<strong>de</strong>r Sachverhalt bewegen<br />
<strong>und</strong> ihn vielleicht sogar zu <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Verhaltensän<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r Handlung auffor<strong>de</strong>rn,<br />
rückt die Appellfunktion <strong>de</strong>s sprachlichen Zeichens <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong>.<br />
13<br />
Wen<strong>de</strong>t man die Überlegungen Bühlers bei <strong>de</strong>r Bestimmung von Texten an, so<br />
kommt es zu drei <strong>Textsorten</strong>. Es gibt Texte, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die Appellfunktion dom<strong>in</strong>iert<br />
(Spen<strong>de</strong>naufruf, politische Re<strong>de</strong>, Predigt); es gibt Textgruppen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die<br />
Symptomfunktion von beson<strong>de</strong>rer Be<strong>de</strong>utung ist (z. B. Tagebuch, Lyrik), <strong>und</strong> es<br />
gibt Texte, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen die Symbolfunktion vorherrscht (Lexikonartikel, Zeitungsbericht).<br />
Da die drei Funktionen <strong>de</strong>s sprachlichen Zeichens aber immer <strong>in</strong>tegriert zur<br />
Geltung kommen (bei gesprochenen <strong>und</strong> verschriftlichten Texten), gibt es zwischen<br />
<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>m Bühler’schen Ansatz geordneten <strong>Textsorten</strong> zahlreiche<br />
Mischformen <strong>und</strong> Übergänge. Bei <strong>de</strong>r Analyse von Texten kann das Organon-<br />
Mo<strong>de</strong>ll <strong>in</strong>sofern hilfreich se<strong>in</strong>, als sich mit ihm u. a. die Intention <strong>de</strong>s Textes erfassen<br />
lässt. Wenn wir z. B. davon ausgehen, dass <strong>e<strong>in</strong>e</strong> politische Re<strong>de</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong> appellative<br />
Textsorte ist, können wir bei <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>s Textes unseren S<strong>in</strong>n dafür<br />
schärfen, wozu uns <strong>de</strong>r Redner auffor<strong>de</strong>rn will <strong>und</strong> mit welchen rhetorischen<br />
(sprachlich-stilistischen) Mitteln er s<strong>e<strong>in</strong>e</strong> Absicht verfolgt.<br />
13 Bühler selbst hat das e<strong>in</strong>mal so formuliert: „Es (geme<strong>in</strong>t ist das sprachliche Zeichen, B.M.) ist Symbol<br />
kraft s<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Zuordnung zu Gegenstän<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicum) kraft<br />
s<strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Abhängigkeit vom Sen<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>ssen Innerlichkeit es ausdrückt, <strong>und</strong> Signal kraft s<strong>e<strong>in</strong>e</strong>s Appells<br />
an <strong>de</strong>n Hörer, <strong>de</strong>ssen äußeres o<strong>de</strong>r <strong>in</strong>neres Verhalten es steuert wie e<strong>in</strong> Verkehrszeichen.“ (Zitiert<br />
nach N. He<strong>in</strong>ze/B. Schurf, Deutschunterricht auf <strong>de</strong>r Sek<strong>und</strong>arstufe II, Text <strong>und</strong> Dialog/Gr<strong>und</strong>band,<br />
Düsseldorf 1980, S. 143)
<strong>2.</strong> TEXTSORTEN UND GATTUNGEN<br />
<strong>2.</strong>2 <strong>Gattungen</strong><br />
Bei <strong>de</strong>r E<strong>in</strong>teilung literarischer Texte wird heute als geläufigster Term<strong>in</strong>us <strong>de</strong>r Begriff<br />
<strong>de</strong>r Gattung verwen<strong>de</strong>t, wobei <strong>e<strong>in</strong>e</strong> E<strong>in</strong>teilung <strong>in</strong> die drei <strong>Gattungen</strong> EPIK,<br />
LYRIK <strong>und</strong> DRAMATIK vorgenommen wird. 14 Die Dreiteilung <strong>de</strong>r Literatur wird<br />
dabei u. a. auf Goethe zurückgeführt, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n „drei Naturformen <strong>de</strong>r Poesie“<br />
gesprochen hat. 15<br />
Zu<strong>de</strong>m wird <strong>de</strong>r Gattungsbegriff aber auch noch verwen<strong>de</strong>t, um <strong>e<strong>in</strong>e</strong> Differenzierung<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r e<strong>in</strong>zelnen <strong>Gattungen</strong> vorzunehmen. Zur (Haupt-)Gattung<br />
EPIK gehören beispielsweise die (Unter-)<strong>Gattungen</strong> (Gattungsarten) Roman <strong>und</strong><br />
Parabel. Diese Gattungse<strong>in</strong>teilung richtet sich nach formalen Gesichtspunkten (z. B.<br />
<strong>de</strong>r Länge von Texten, wenn zwischen Großformen wie Roman <strong>und</strong> Epos <strong>und</strong><br />
Kle<strong>in</strong>formen wie Fabel <strong>und</strong> Anekdote im Bereich <strong>de</strong>r Epik unterschie<strong>de</strong>n wird)<br />
o<strong>de</strong>r auch nach <strong>in</strong>haltlichen Kriterien (Unterteilung <strong>de</strong>r Gattung Roman <strong>in</strong> Abenteuerroman,<br />
Reiseroman, Bildungsroman etc.), wobei allerd<strong>in</strong>gs <strong>e<strong>in</strong>e</strong> Beziehung<br />
zwischen Form <strong>und</strong> Inhalt (Gehalt <strong>und</strong> Gestaltung) besteht.<br />
Zwischen <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen <strong>Gattungen</strong> (Gattungsformen) gibt es Übergänge; <strong>e<strong>in</strong>e</strong><br />
re<strong>in</strong> schematische Abgrenzung <strong>de</strong>r <strong>Gattungen</strong> verkennt zu<strong>de</strong>m das Wesen von<br />
Literatur, die sich eben nicht <strong>in</strong> das Korsett <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r re<strong>in</strong> normativen Poetik zwängen<br />
lässt. Als „Arbeitsbegriff“ o<strong>de</strong>r „Verständigungsbegriff“ für <strong>de</strong>n Umgang mit Literatur<br />
ist die Verwendung <strong>de</strong>s Begriffs „Gattung“ aber durchweg s<strong>in</strong>nvoll. Alle drei<br />
<strong>Gattungen</strong> weisen spezifische Konstituenten (Gestaltungsmittel) auf, die sie von<br />
<strong>de</strong>n jeweils an<strong>de</strong>ren <strong>Gattungen</strong> abgrenzen <strong>und</strong> die bei ihrer Analyse zu berücksichtigen<br />
s<strong>in</strong>d.<br />
Die Gattung EPIK ist dadurch bestimmt, dass e<strong>in</strong> Geschehen (e<strong>in</strong> Ereignis, e<strong>in</strong> Vorgang)<br />
erzählt <strong>und</strong> durch <strong>e<strong>in</strong>e</strong>n o<strong>de</strong>r mehrere Erzähler an <strong>de</strong>n Adressaten übermittelt<br />
wird. In <strong>de</strong>r Lyrik wird e<strong>in</strong> Zustand (aber auch e<strong>in</strong> Ereignis, e<strong>in</strong> Geschehen)<br />
von <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m „Sprecher“ erlebt <strong>und</strong> ausgesprochen, <strong>und</strong> e<strong>in</strong> LYRISCHES ICH kann zur<br />
vermitteln<strong>de</strong>n Textgröße wer<strong>de</strong>n (stellt <strong>e<strong>in</strong>e</strong> kommunikative Beziehung zwischen<br />
sich, <strong>de</strong>m Gegenstand/Sachverhalt <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Adressaten her). Im Drama agieren<br />
Rollenträger e<strong>in</strong> fiktives Geschehen auf <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m Schauplatz, <strong>und</strong> die Vermittlung<br />
zum Adressaten (Zuschauer) erfolgt (je<strong>de</strong>nfalls bei <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m aufgeführten Drama,<br />
also <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m <strong>in</strong>szenierten Stück) über die szenische Vergegenwärtigung durch<br />
Sprechen <strong>und</strong> Agieren <strong>de</strong>r Figuren auf <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r bestimmten Weise ausgestatteten<br />
Bühne.<br />
14 Dabei hat sich das Wissen durchgesetzt, „ (...) dass die Trias Lyrik – Epik – Dramatik (sich) erst im Lauf<br />
<strong>de</strong>s 19. Jhs. zu dieser konstitutiven Geltung durchgesetzt (hat). Durchgesetzt hat sich auch das Wissen,<br />
dass <strong>de</strong>r dabei wirken<strong>de</strong> Literaturbegriff zu eng ist: Nicht die schöne o<strong>de</strong>r hohe Literatur o<strong>de</strong>r<br />
Dichtung alle<strong>in</strong> kann Gegenstand <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Gattungstypologie se<strong>in</strong>, son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>r ganze Umkreis<br />
überlieferter Texte <strong>in</strong> fixierter Sprache, <strong>de</strong>r <strong>in</strong> <strong>de</strong>r jeweiligen historischen Situation die Funktion von<br />
Literatur erfüllt.“ Hugo Kuhn, Gattung <strong>in</strong> D. Krywalski (Hrsg.), Handlexikon zur Literaturwissenschaft,<br />
Bd. 1, Re<strong>in</strong>bek b. Hamburg 1978, S. 150.<br />
15 Zitiert <strong>in</strong> G. von Wilpert, Sachwörterbuch <strong>de</strong>r Literatur, Stuttgart 1969, S. 279.<br />
Info<br />
23
24<br />
<strong>2.</strong> TEXTSORTEN UND GATTUNGEN<br />
Da die Übergänge zwischen <strong>de</strong>n <strong>Gattungen</strong> jedoch fließend s<strong>in</strong>d, wie oben bereits<br />
ausgeführt, kann e<strong>in</strong> Drama z. B. lyrische Elemente enthalten (etwa die<br />
„Songs“ <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Dramen von Brecht o<strong>de</strong>r auch e<strong>in</strong> Chorlied) o<strong>de</strong>r epische Passagen<br />
aufweisen („Botenbericht“), e<strong>in</strong> epischer Text kann wie<strong>de</strong>rum „dramatische“ Elemente<br />
enthalten, z. B. wenn es zum r<strong>e<strong>in</strong>e</strong>n Figurendialog kommt, ohne dass sich<br />
<strong>de</strong>r Erzähler e<strong>in</strong>schaltet. Die Balla<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>m lyrischen Formenkreis zugerechnet<br />
wird, weist <strong>de</strong>utlich epische Elemente auf (Erzählgedicht).<br />
Auch die „Untergattungen“ <strong>de</strong>r drei „Hauptgattungen“ s<strong>in</strong>d wie<strong>de</strong>rum durch<br />
spezifische <strong>in</strong>haltliche <strong>und</strong>/o<strong>de</strong>r formale Merkmale gekennzeichnet, die sie von<br />
<strong>de</strong>n jeweils an<strong>de</strong>ren Gattungsformen abgrenzen <strong>und</strong> die bei <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Analyse zu berücksichtigen<br />
s<strong>in</strong>d. Aber auch hierbei ist zu beachten, dass die Grenzen fließend<br />
s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> es Übergänge gibt. Somit ist <strong>e<strong>in</strong>e</strong> klare Def<strong>in</strong>ition, v. a. weil Literatur<br />
(<strong>und</strong> die Def<strong>in</strong>ition von Literatur) <strong>e<strong>in</strong>e</strong>m historischen Wan<strong>de</strong>l unterworfen ist,<br />
nicht immer möglich (auch nicht immer s<strong>in</strong>nvoll). Wenn also jetzt zum Abschluss<br />
dieses Abschnitts <strong>e<strong>in</strong>e</strong> E<strong>in</strong>teilung <strong>de</strong>r <strong>Gattungen</strong> mo<strong>de</strong>llhaft präsentiert wird, bevor<br />
<strong>in</strong> <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Hauptabschnitten <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s die e<strong>in</strong>zelnen <strong>Gattungen</strong><br />
<strong>de</strong>taillierter behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n, so hat dies <strong>de</strong>n Charakter <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r Übersicht zur Verständigung<br />
auf bestimmte Begriffe <strong>und</strong> dient <strong>e<strong>in</strong>e</strong>r ersten Orientierung.
<strong>2.</strong> TEXTSORTEN UND GATTUNGEN<br />
EPIK DRAMA LYRIK<br />
Groß formen Gr<strong>und</strong> formen Formen <strong>de</strong>s lyri schen<br />
Ge dichts<br />
Epos Tragö die (Trauer spiel) O<strong>de</strong><br />
Vers erzäh lung Tragi komö die Hymne<br />
Komödie (Lust spiel)<br />
Roman Elegie<br />
Volks buch Lied<br />
Jugend buch Song<br />
Sonett<br />
Mitt lere Formen Son<strong>de</strong>r formen Son<strong>de</strong>rformen<br />
Erzäh lung Volks stück Bal la<strong>de</strong><br />
No velle Schwank Erzähl ge dicht<br />
Kle<strong>in</strong> formen Lehr stück Lehr ge dicht<br />
Mär chen Epi gramm<br />
Sage Doku mentar stück<br />
Le gen<strong>de</strong><br />
Ab sur<strong>de</strong>s The ater Kon krete Poesie<br />
Kurz geschich te<br />
Kalen <strong>de</strong>r geschich te<br />
Anek dote<br />
Schwank<br />
Fabel<br />
Gleich nis<br />
Para bel<br />
Über grei fen<strong>de</strong> Formen: Satire, Gro teske, Par odie, Tra vestie 16<br />
16 Übernommen aus: Biermann/Schurf, ebd., S. 99<br />
Info<br />
25