zum Treffer... - Internationale Bachakademie Stuttgart
zum Treffer... - Internationale Bachakademie Stuttgart
zum Treffer... - Internationale Bachakademie Stuttgart
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
F O R U M B A C H A K A D E M I E<br />
FRAGE NAN<br />
Januar<br />
bis<br />
März<br />
2013<br />
79<br />
■ G E R N O T R E H R L<br />
■ H E L M U T H R I L L I N G<br />
■ H A N S P E T E R K R E L L M A N N<br />
■ P I C A N D E R
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79<br />
Inhalt<br />
2 » F R E U D E A U F D A S N E U E «<br />
Dreizehn Fragen an Gernot Rehrl<br />
Intendant der <strong>Bachakademie</strong> seit Januar 2013<br />
5 » W O D A S V E R S T Ä N D N I S B E G I N N T «<br />
Fragen an Helmuth Rilling zur Bachwoche <strong>Stuttgart</strong> 2013<br />
8 » I C H W O L L T E V I E L E S E R F A H R E N «<br />
Fragen an Dr. Hanspeter Krellmann<br />
Autor des Buches »Helmuth Rilling. Ein Leben mit Bach«<br />
11 » W A R U M P I C A N D E R N I C H T ? «<br />
Eine Begegnung. Mit eingestreuten Fragen an Christian Friedrich Henrici<br />
Referentin Marketing / Presse- und Öffentlichkeitsarbeit<br />
Herausgegeben von<br />
I N T E R N A T I O N A L E<br />
B A C H A K A D E M I E<br />
S T U T T G A R T<br />
D I E B A C H W O C H E<br />
S T E H T V O R D E R T Ü R … !<br />
Wir dürfen es wirklich als großen Glücksfall bezeichnen,<br />
seit etlichen Jahren mit der Staatlichen<br />
Hochschule für Musik und Darstellende<br />
Kunst <strong>Stuttgart</strong> einen Veranstaltungspartner gewonnen<br />
zu haben, dessen Profil geradezu ideal<br />
mit dem hohen künstlerischen und didaktischen<br />
Anspruch der Bachwoche harmoniert und dessen<br />
Palette an geeigneten Räumlichkeiten den<br />
Kanon der unterschiedlichen Veranstaltungen<br />
aufs Beste unterstützt. Auch in diesem Jahr werden<br />
sich die Säle der Hochschule ab 17. März<br />
wieder mit jungen Musikern füllen – den Teilnehmern<br />
der Meisterkurse Gesang und den Mitgliedern<br />
des JSB Ensembles, die aus der ganzen<br />
Welt zusammenkommen, um unter Leitung von<br />
Helmuth Rilling den Geheimnissen der Bachschen<br />
Matthäus-Passion auf die Spur zu kommen.<br />
Lassen auch Sie sich die vielfarbigen Eindrücke<br />
dieser intensiven und anregenden Bachwoche<br />
nicht entgehen!<br />
I M P R E S S U M<br />
■ Gründer: Helmuth Rilling ■ Intendant: Gernot Rehrl<br />
■ Redaktion: Holger Schneider<br />
■ Fotos: Martina Rilling (5), Andreas Stedtler (U3, li.),<br />
Tanja Nitzke (U3, re.), Holger Schneider<br />
■ Druck: Werner Böttler GrafikSatzBildDruck, Walddorfhäslach<br />
■ Auflage: 4.000<br />
■ Die nächste Ausgabe erscheint im Mai 2013
Diesmal fand sich keine passende jener historischen<br />
Postkarten, die der Redaktör mitunter<br />
an die linke Seite unserer Hefte zu pinnen<br />
pflegt. Dafür stieß er in seiner eigenartigen<br />
Sammlung auf eine nicht sonderlich anmutige<br />
und auf den ersten Blick deplatzierte Reklamemarke<br />
aus den 60er Jahren, die ihm dennoch<br />
auf Anhieb sehr gut gefiel.<br />
Zugegeben: Die (typo)grafische<br />
Gestaltung des<br />
Merkzettels entspricht<br />
nicht ganz den Idealvorstellungen<br />
zeitgemäßer<br />
Formgebung. Die knapp<br />
imperativ gefasste Botschaft<br />
aber stimmt – im Kern.<br />
Dachte er und machte diese<br />
Ausgabe kurzerhand zu einem<br />
H E F T D E R F R A G E N .<br />
– Fragen über Fragen sind<br />
es, die derzeit wie vordem<br />
die Gemüter bewegen,<br />
innerhalb der <strong>Bachakademie</strong>,<br />
um sie herum und<br />
fernab von ihr. Dies sollte wiederum nicht zur<br />
Schlussfolgerung verleiten, sämtliche Fragen,<br />
die in wagemutigen Ellipsen um das Haus am<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Johann-Sebastian-Bach-Platz kreisen,<br />
seien per se die drängenden unserer Zeit.<br />
Andererseits: Fragen kostet ja nichts – ein<br />
Vorzug, der heutzutage unmöglich scheint.<br />
E D I T O R I A L<br />
an Ihren Redaktör<br />
Und wo keine Fragen gestellt werden, stimmt<br />
ohnehin was nicht. Also wurden für diese<br />
Ausgabe befragt und haben dankenswerterweise<br />
alle Fragen beantwortet: ■ unser neuer Intendant<br />
G E R N O T R E H R L , den wir auch mit<br />
einigen Fragen konfrontierten, von deren rasanter<br />
bachakademischer Umlaufbahn wir wissen;<br />
■ H E L M U T H R I L L I N G ,<br />
den Caroline Lazarou,<br />
unsere neue Referentin für<br />
Marketing & Presse- und<br />
Öffentlichkeitsarbeit im<br />
Warmbronner Haus besucht<br />
und mit ihm über die<br />
kommende Bach woche gesprochen<br />
hat; ■ H A N S -<br />
P E T E R K R E L L M A N N , seinerseits<br />
Fragesteller und<br />
Autor des neuen Buches<br />
»Helmuth Rilling. Ein Leben<br />
mit Bach« und schließlich:<br />
■ P I C A N D E R , der<br />
Dichter der Matthäus-Passion<br />
an Bachs Seite, aus<br />
dessen Drucken ein paar Vignetten in unser<br />
Heft gerutscht sind, wie kleine geheimnisvolle<br />
Fragen am Rande…<br />
Wir wünschen Ihnen eine erhellende Lektüre<br />
und hellere Tage!<br />
Bei Fragen oder Reklamationen jeglicher Art<br />
wenden Sie sich bitte vertrauensvoll<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79 ■ ■ ■ 1
Nach längerem Verweilen an den Ufern von<br />
Donau, Isar und Spree haben Sie nun längs des<br />
Neckar den Anker geworfen: Sind Sie gut im<br />
neuen Hafen angekommen und wurden Sie<br />
hier freundlich empfangen?<br />
■ Nach den spannenden Jahren an der Spree,<br />
die nicht zu meinen einfachsten zählen, fühle<br />
ich mich mittlerweile hier am Neckar nicht nur<br />
sehr wohl, sondern bin überaus freundlich aufgenommen<br />
worden. Dafür bin ich dankbar –<br />
selbstverständlich ist das nicht, wenngleich in<br />
den vielen Gesprächen, die ich mittlerweile<br />
führen konnte, eine große Erwartungshaltung<br />
hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit der <strong>Bachakademie</strong><br />
mitschwingt.<br />
Hans-Christoph Rademann wird im Sommer<br />
die Akademieleitung übernehmen. An der Seite<br />
des neuen »Käpt’n« ein so großes und stolzes<br />
Schiff wie die <strong>Bachakademie</strong> auch durch Flaute<br />
und Unwetter zu führen: Ist das nicht eine<br />
enorme Herausforderung – selbst für den erfahrenen<br />
Steuermann?<br />
■ Dass das Weiterführen in die Zukunft der<br />
<strong>Internationale</strong>n <strong>Bachakademie</strong> eine Heraus -<br />
■ ■ ■ 2<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
» F R E U D E A U F D A S N E U E «<br />
Dreizehn Fragen an Gernot Rehrl<br />
Intendant der <strong>Bachakademie</strong><br />
seit Januar 2013<br />
forderung darstellt, ist unbestritten. Dazu ist<br />
es notwendig, dass man ein hohes Maß an<br />
Vertrauen zueinander hat und sich absolut<br />
auf einander verlassen kann, dies alles auf der<br />
Basis von fundiertem Wissen, Erfahrung und<br />
Netzwerk, verbunden mit einem hohen Maß<br />
an Kommunikationsfähigkeit. Was uns antreibt<br />
und motiviert, ist die Freude auf das<br />
Neue.<br />
Solch klangvolle Namen wie Daniel Baren -<br />
boim, Kent Nagano oder Joachim Gauck<br />
sind – neben vielen anderen – während des<br />
kommenden Musikfests <strong>Stuttgart</strong> ebenfalls<br />
mit im Boot: Wie haben Sie das in so kurzer<br />
Vorbereitungszeit geschafft?<br />
■ Das ist nur zu meistern durch persönliche<br />
Kontakte. Diese zu pflegen ist des Managers<br />
erste Pflicht.<br />
Verlassen wir das maritime Ambiente. Es ist<br />
Ihnen ein wichtiges Anliegen, die »Dachmarke«<br />
BACHAKADEMIE mit ihrer Vielfalt an<br />
Aktivitäten wieder stärker in den Vordergrund<br />
zu rücken. Welche Schritte sind für<br />
dieses Unterfangen bereits geplant?<br />
■ Ich halte die Dachmarke <strong>Internationale</strong><br />
<strong>Bachakademie</strong> <strong>Stuttgart</strong> für ein klassisches<br />
Alleinstellungsmerkmal. Dies im Markt herauszustellen<br />
ist eine wichtige Aufgabe. Ein<br />
erster Schritt wird sein, dass wir als <strong>Bachakademie</strong><br />
für die kommende Saison 2013/2014 eine<br />
kompakte, sauber und übersichtlich gegliederte<br />
Broschüre kreieren, die selbstverständlich<br />
auch im Internet ihren Platz zu finden hat.<br />
Das heißt, ein Gesamtüberblick über alle Aktivitäten<br />
einer Spielzeit, beginnend mit dem<br />
Musikfest 2013, dem Angebot der Abonnement-Reihen,<br />
der Bachwoche, bis hin zu verschiedensten<br />
Aspekten im Bereich der Musikvermittlung.<br />
Das Ganze sollte dann ein kleines<br />
»Gesamtkunstwerk« ergeben.<br />
Man munkelt ja, der Name Gächinger Kantorei<br />
<strong>Stuttgart</strong> solle möglicherweise wegen seiner<br />
Unaussprechbarkeit jenseits des Umlaut-<br />
Sprachraums geändert werden. Ist da was<br />
dran?<br />
■ Die Gächinger Kantorei und das Bach-<br />
Collegium <strong>Stuttgart</strong> sind das Herzstück der<br />
<strong>Bachakademie</strong>, und so soll das auch in Zukunft<br />
bleiben. Wie wir im Veranstaltungsmarkt<br />
sowohl national wie auch international<br />
wahrgenommen werden – ob das nun eher mit<br />
den Gächingern und dem Bach- Collegium vorteilhaft<br />
sein kann oder aber als <strong>Bachakademie</strong><br />
<strong>Stuttgart</strong> – vermag ich derzeit noch nicht langfristig<br />
zu prognostizieren. Hier kommt Fremdbestimmung<br />
ins Spiel.<br />
Ein aus dem Erzgebirge stammender Elbtal-<br />
Sachse und ein Mainfranke in Schwaben… Sie<br />
kennen Hans-Christoph Rademann ja schon<br />
länger und sind sicher überzeugt, dass das einen<br />
ganz hervorragenden Zusammenklang ergeben<br />
wird?<br />
■ Von diesem Zusammenklang gingen wir von<br />
Anfang an aus, sonst würden wir nicht als Duo<br />
gemeinsam an diese Aufgabe gehen wollen.<br />
Die Harmonie dieses Zusammenklangs ist unabdingbar,<br />
und ich bin fest davon überzeugt,<br />
dass mit Hans-Christoph Rademann einer der<br />
Besten seines Fachs für diese Aufgabe als<br />
Künstlerischer Leiter der <strong>Bachakademie</strong> gewonnen<br />
werden konnte.<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79<br />
Als Intendant der <strong>Bachakademie</strong> zeichnen Sie<br />
u.a. für die finanzielle Bodenständigkeit der<br />
Stiftung verantwortlich, die ja von Stadt, Land<br />
und einer recht großen Zahl von Förderern<br />
unterstützt wird. Eine Aufgabe, die nicht nur<br />
Ihnen Kopfzerbrechen bereitet. Worin bestehen<br />
die größten Herausforderungen für die<br />
kommenden Monate und Jahre?<br />
■ Ein Gesamtbudget mit 70 % Eigenleistung<br />
zu halten, ist eine enorme Herausforderung.<br />
Ob dies so beibehalten werden kann, vermag<br />
ich derzeit nicht abzuschätzen. Der Mix aus<br />
Mäzenatentum und Spenden auf der einen Seite,<br />
der Anteil von Sponsoring und Eigeneinnahmen<br />
wie Ticketing und Tourneetätigkeit wird<br />
sich sicherlich in sich verschieben. Ganz entscheidend<br />
sind die persönlichen Kontakte, die<br />
ich derzeit aufbaue bzw. fortführen will. Hierbei<br />
steht mir ein außerordentlich aktiver Vorstand<br />
zur Seite, wofür ich sehr dankbar bin.<br />
Ein gutes Entrée in die entsprechenden Unternehmen<br />
und zu den Persönlichkeiten, die uns<br />
von jeher unterstützen, ist unabdingbar. Entscheidend<br />
ist, dass wir ein außerordentlich hoch<br />
qualifiziertes Topprodukt anbieten können. An<br />
diesem Produkt beständig zu arbeiten, ist mir<br />
nicht nur Pflicht, sondern hohe Motivation. Mit<br />
dieser gehe ich auch in die Akquisition.<br />
Viele <strong>Bachakademie</strong>-Freunde bewegt offenkundig<br />
die Frage, ob bzw. wann der Name<br />
Helmuth Rilling bei künftigen Konzert -<br />
planungen als Dirigent zu lesen sein wird.<br />
Können Sie hierzu schon etwas Konkretes<br />
sagen?<br />
Helmuth Rilling, Hans-Christoph Rademann und Gernot Rehrl<br />
bei der gemeinsamen Pressekonferenz im November 2012<br />
■ ■ ■<br />
3
■ Wir pflegen zu Helmuth Rilling ein sehr gutes<br />
Verhältnis. Dies wird auch <strong>zum</strong> Ausdruck<br />
gebracht werden in einem bereits geplanten<br />
Akademiekonzert im Oktober des Jahres<br />
2014. Das haben wir vor längerer Zeit bereits<br />
vereinbart.<br />
Sie haben zahllose Konzerte in vielen Städten<br />
mitgestaltet und besucht. Was macht für Sie<br />
ein besonders beeindruckendes Konzerter -<br />
lebnis aus?<br />
■ Ein beeindruckendes Konzerterlebnis ist<br />
letztendlich für mich die Summe aller Einzelaspekte,<br />
also die Programmauswahl und ihre<br />
Zusammenstellung, die Qualität der Aus -<br />
führenden, die Solisten und der Dirigent und<br />
schließlich die Interpretation der Werke.<br />
Entscheidend ist für mich stets, dass ich berührt<br />
und bewegt aus dem Konzertsaal oder<br />
dem Opernhaus gehe. Das ist keine Selbst -<br />
verständlichkeit, sondern die Ausnahme;<br />
umso dankbarer bin ich dann, wenn das geschieht.<br />
Haben Sie einen »Lieblingskomponisten«?<br />
Wahrscheinlich nicht… Bei welcher Art von<br />
Musik aber fühlen Sie sich besonders wohl?<br />
■ Bei Johann Sebastian Bach auf der einen<br />
Seite, bei den Opern von Richard Wagner<br />
und den Sinfonien und Werken von Gustav<br />
Mahler auf der anderen Seite.<br />
Und wie sieht’s da bei den Interpreten aus –<br />
irgendwelche Stars, denen Sie hinterher reisen<br />
würden?<br />
■ Es gibt nur einen Star, dem ich hinterher<br />
reise und das ständig: Das ist meine Frau<br />
[– die Mezzosopranistin Lioba Braun – an<br />
den großen Häusern und Orchestern der<br />
Welt zuhause. Anm. d. Red.]<br />
Musizieren Sie auch selbst?<br />
■ Ich musiziere leider nicht mehr aktiv, meine<br />
Geige liegt und liegt und ruft mittlerweile<br />
auch gar nicht mehr nach mir. Meine Arbeit<br />
und das Zusammenleben unserer Familie, die<br />
verstreut ist auf viele Städte, sowie die ständi-<br />
■ ■ ■ 4<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
gen Reiseaktivitäten hindern mich, in Ruhe<br />
Musik machen zu können.<br />
Schließlich, bei der Gelegenheit: ein Wort, ein<br />
Wunsch, ein Gruß an unsere Leserinnen und<br />
Leser?<br />
■ Ein Wunsch, der von Herzen kommt: Bleiben<br />
Sie uns treu, sammeln Sie Menschen ein,<br />
die zu uns stehen und dieser einzigartigen Institution<br />
mit Rat und Tat zur Seite stehen.<br />
Vielen Dank<br />
(und: Immer eine Handbreit Wasser unterm<br />
Kiel!) d. Red.<br />
G E R N O T R E H R L<br />
Nach seinen Studien im Fach Violine und Dirigieren<br />
mit abschließendem Staatssexamen an der Hochschule<br />
für Musik Würzburg ging Gernot Rehrl 1988 ins Orchestermanagement<br />
nach Wien. 1990 wurde er <strong>zum</strong><br />
Leiter des künstlerischen Betriebsbüros der Münchner<br />
Philharmoniker in der Ära Sergiu Celibidache berufen.<br />
Danach leitete er die weltweite Konzerttätigkeit und<br />
das Tourneemanagement des Windsbacher Knabenchors.<br />
1997 wechselte Rehrl <strong>zum</strong> Bayerischen Rundfunk in<br />
München und übernahm das Management des Chors<br />
des BR und ab 2000 das Orchestermanagement des<br />
Münchner Rundfunkorchesters. Gemeinsam mit dem<br />
Freund und damaligen Chefdirigenten Marcello Viotti<br />
verhalf er diesem Orchester in kürzester Zeit zu überregionalem<br />
und internationalem Ansehen – durch geschickte<br />
Programmformate wie auch neue Konzertmodelle,<br />
ambitionierte Konzertreihen und die Aufführung<br />
konzertanter Opern. Die Verdopplung der Besucherzahlen<br />
war die Folge. Für diese Arbeit erhielt er den<br />
»Stern des Jahres 2004« der Münchner Abendzeitung.<br />
Im selben Jahr wandte er sich öffentlich gegen die Auflösung<br />
des von ihm gemanagten Orchesters. Der<br />
Proteststurm einer breiten Öffentlichkeit, aber auch<br />
die inhaltliche Neuausrichtung durch seinen damaligen<br />
Orchestermanager retteten schließlich das Rundfunkensemble.<br />
In den Jahren 2005 / 2006 organisierte<br />
Gernot Rehrl im persönlichen Auftrag des Bayerischen<br />
Ministerpräsidenten das Konzert der drei Spitzen -<br />
orchester Münchens <strong>zum</strong> Auftakt der Fußball-Weltmeisterschaft.<br />
Dieses Konzert fand statt vor rund<br />
25.000 Besuchern, dem gesamten internationalen<br />
FIFA-Kongress und vor einem Millionenpublikum, das<br />
durch TV-Übertragung zugeschaltet war, statt.<br />
Im Juli 2006 übernahm Gernot Rehrl die Intendanz der<br />
Rundfunkorchester und Chöre GmbH in Berlin. Mit<br />
dem Jahr 2013 beginnt er seine neue Tätigkeit als Intendant<br />
der <strong>Internationale</strong>n <strong>Bachakademie</strong> <strong>Stuttgart</strong>.<br />
» W O D A S<br />
V E R S T Ä N D N I S<br />
B E G I N N T «<br />
Fragen an Helmuth Rilling<br />
zur Bachwoche <strong>Stuttgart</strong> 2013<br />
■ C A R O L I N E L A Z A R O U<br />
Die Matthäus-Passion wurde 1727 in der<br />
Thomaskirche in Leipzig uraufgeführt, geriet<br />
nach Bachs Tod allerdings in Vergessenheit.<br />
Erst durch die Wiederaufführung unter Felix<br />
Mendelssohn Bartholdy im Jahre 1829 erfreut<br />
sich das Monumentalwerk seither<br />
weltweiter Beliebtheit. Glauben Sie, dass die<br />
Botschaft des Werkes nach nunmehr fast 300<br />
Jahren weiterhin aktuell ist?<br />
■ Ich habe keinen Zweifel daran. Die Matthäus-Passion<br />
ist eines der ganz großen und<br />
wirklich sehr bedeutsamen Werke der Musikgeschichte,<br />
und sie ist eines der zentralen<br />
Werke Bachs. Wir veranstalten die Bachwoche<br />
jetzt schon seit langer Zeit, und es ist für<br />
mich eine besonders bedeutsame und wichtige<br />
Aufgabe, sie mit ganz jungen Menschen zu<br />
gestalten. Die Sänger und Instrumentalisten<br />
des Jungen Bach Ensembles kommen aus der<br />
ganzen Welt, und es ist für mich sehr wichtig,<br />
gerade diese jungen Leute in die Sprache und<br />
das Denken eines solchen Meisterwerkes wie<br />
der Matthäus-Passion einzuführen. Wir haben<br />
in den vergangenen Jahren schon einige<br />
große Werke mit diesem jungen Ensemble erarbeitet,<br />
2012 die h-Moll-Messe, im Jahr davor<br />
die Johannes-Passion und jetzt also die<br />
Matthäus-Passion. Und ich weiß, auf welch<br />
großes Interesse ich bei diesen jungen Leuten<br />
stoße. Einerseits werden da sehr ehrgeizige<br />
Leute sein, die wollen diesen Notentext, der<br />
ja instrumental und auch vokal nicht so ganz<br />
einfach ist, natürlich perfekt gestalten und<br />
werden sich darum bemühen, andererseits<br />
haben sie ein ganz großes Interesse daran,<br />
was diese Musik bedeutet, was sie über das<br />
rein Musikalische hinaus zu sagen hat. Und<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79<br />
darauf werde ich natürlich eingehen. Wir<br />
werden in den Proben immer wieder die<br />
Frage stellen: Warum hat Bach so und nicht<br />
anders komponiert?<br />
Die jungen Musiker des JSB Ensembles kommen,<br />
wie Sie erwähnten, aus der ganzen Welt,<br />
haben unterschiedliche Schulen durchlaufen<br />
und sehr unterschiedliche Lebensläufe. Welche<br />
Schwierigkeiten müssen da bewältigt<br />
werden?<br />
■ Ganz richtig, was Sie sagen: Das ist ein<br />
Problem dieses Ensembles, dass man nicht<br />
irgendetwas als nahezu selbstverständlich<br />
voraussetzen kann, wie das <strong>zum</strong> Beispiel bei<br />
einem deutschsprachigen Ensemble der Fall<br />
wäre. Gerade der Text der Matthäus-Passion<br />
macht auch insofern Schwierigkeiten, als er<br />
■ ■ ■<br />
5
ja für viele zunächst übersetzt werden muss.<br />
Wir werden auf Englisch proben, das ist die<br />
Sprache, die die meisten der jungen Leute erreicht,<br />
wenn auch nicht alle. Man wird sich<br />
also verständigen müssen. Und gerade das ist<br />
mir sehr wichtig, dass diese Leute wirklich<br />
verstehen, was der Text bedeutet und wie<br />
Bach diesen Text in Musik setzt. Aber genau<br />
das ist auch eine sehr spannende Arbeit! Wir<br />
haben ja auch diesmal wieder vier Gesprächskonzerte<br />
in der Musikhochschule, wo es darum<br />
gehen wird, anhand musikalischer Beispiele<br />
zu erläutern, was die Musik will und<br />
wie Bach sie schreibt. Das ist etwas, was die<br />
jungen Leute natürlich mitbekommen, und in<br />
den Proben dazu kann ich ihnen dann auch in<br />
Englisch erklären, worum es geht. Die<br />
Gesprächskonzerte hier sind natürlich auf<br />
Deutsch, allerdings werden sie bei unserer<br />
Reise nach Chile dann in Spanisch geführt<br />
sein, aber auch das ist eine Sprache, die<br />
letztlich nicht alle verstehen.<br />
Apropos: Was wird Sie nach der Bachwoche<br />
erwarten, wenn Sie mit dem JSB Ensemble<br />
nach Chile reisen?<br />
■ Wir haben <strong>Bachakademie</strong>n auf der ganzen<br />
Welt initiiert. In Chile haben wir erst im vergangenen<br />
Jahr eine <strong>Bachakademie</strong> neu gegründet.<br />
Das heißt, es gibt dort eine Gruppe<br />
von Menschen, die die Musik von Bach für<br />
besonders interessant und so wichtig halten,<br />
dass sie sie regelmäßig in Konzerten, Vorträgen,<br />
Workshops und Symposien betrachten<br />
und sie ihren Landsleuten näherbringen wollen.<br />
Da wird es also in Zukunft immer wieder<br />
Kurse, Vorträge und Konzerte geben, die sich<br />
mit Bach beschäftigen. Und eine solche <strong>Bachakademie</strong><br />
findet dort auch wieder im Anschluss<br />
an unsere Bachwoche statt, in einem<br />
Kulturzentrum ganz im Süden des Landes, in<br />
Frutillar. Es wird einen Meisterkurs mit Dirigenten<br />
aus Chile geben, außerdem Gesprächskonzerte<br />
und natürlich eine Aufführung<br />
des Gesamtwerkes. Das JSB Ensemble<br />
wird für die Arbeit in der Dirigentenklasse<br />
zur Verfügung stehen und in den Gesprächskonzerten<br />
die Beispiele unter der Leitung dieser<br />
Studenten musizieren. Das wird sowohl<br />
für die Kursteilnehmer und das Publikum<br />
■ ■ ■ 6<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
dort, wie auch für unsere jungen Leute sicher<br />
ein großes Erlebnis sein!<br />
Ist es heutzutage schwerer, junge Menschen<br />
für Bach zu begeistern, als beispielsweise vor<br />
dreißig Jahren?<br />
■ Überhaupt nicht. Die jungen Menschen<br />
sind in einer unglaublichen Weise an dieser<br />
Musik interessiert, das erlebe ich weltweit,<br />
wo ich hingehe. Gerade war ich in Los Angeles<br />
und hatte dort einen ganz jungen Chor der<br />
University of Southern California vor mir,<br />
also Durchschnittsalter Anfang zwanzig. Und<br />
das Interesse an der Musik, die wir dort<br />
machten – das war das Mozart-Requiem –<br />
war brennend groß. Immer wenn ich etwas<br />
erklärte, waren die Leute hochinteressiert<br />
und dankbar für alles, was zur Musik gesagt<br />
wurde. Und das wird hier genauso sein.<br />
Haben die jungen Musiker heute mehr Vorkenntnisse?<br />
Oder sind sie weniger bibelfest?<br />
■ Bibelfest sind natürlich die Wenigsten, aber<br />
das ist sicher individuell ganz verschieden.<br />
Ich möchte einmal annehmen, dass ein paar<br />
Amerikaner, die aus entsprechenden Chören<br />
in Amerika kommen oder entsprechend erzogen<br />
sind, relativ viel wissen, und etliche deutsche<br />
Musiker auch. Aber ich las gerade von<br />
einem Kursteilnehmer aus Sri Lanka: was der<br />
nun davon versteht – keine Ahnung. Aber das<br />
wird meine Aufgabe sein, ihn dorthin zu führen,<br />
wo das Verständnis beginnt.<br />
Was können Sie von den jungen Musikern bei<br />
dieser Arbeitsphase lernen, was geben sie<br />
Ihnen zurück?<br />
■ Da möchte ich auf den Enthusiasmus dieser<br />
jungen Leute verweisen, diese Freude, die<br />
sie ausstrahlen, wenn sie solche Musik kennenlernen.<br />
Ich finde, das ist eine besonders<br />
schöne Sache für den Lehrenden, dass man<br />
diese Empfangsbereitschaft, diese Freude,<br />
dieses Interesse an der Musik spürt.<br />
JSB Ensemble, Bachwoche 2012 ➜<br />
Lassen Sie uns noch einmal auf das Hauptwerk<br />
der Bachwoche eingehen. Wenn Sie die<br />
beiden Schlüsse, den der Matthäus- und den<br />
der Johannes-Passion, miteinander vergleichen,<br />
welcher stimmt Sie zuversichtlicher auf<br />
Ostern?<br />
■ Das ist eine sehr differenzierte und eine<br />
sehr gute Frage. Denn die Schlusssätze sind<br />
tatsächlich sehr verschieden. Im letzten Drittel<br />
der Johannes-Passion, also des früheren<br />
Passionswerkes aus dem Jahre 1724, weist<br />
Bach ganz eindeutig auf Ostern hin, vor allem<br />
mit dem Schlusschoral »Ach Herr, lass<br />
dein lieb Engelein«, in dessen zweiter Hälfte<br />
ganz deutlich von Auferstehung die Rede ist.<br />
In der Johannes-Passion beobachten wir also<br />
diesen Hinweis auf das kommende Osterfest.<br />
In der Matthäus-Passion ist das ganz anders!<br />
Dort versagt sich Bach diesen Ausblick. Er<br />
bleibt bei dem Karfreitagsgeschehen, und die<br />
Abschlusssätze denken in keiner Weise an das<br />
kommende Osterfest.<br />
Auf welche Stellen in der Matthäus-Passion<br />
freuen Sie sich besonders?<br />
■ Auf die Alt-Arie mit der Solovioline »Erbarme<br />
dich«, die nach der Verleugnungs-Szene<br />
des Jüngers Petrus erscheint. Sie ist sicher<br />
eines der bewegendsten Stücke der Passion<br />
und einer ihrer vielen großen Höhepunkte.<br />
Glauben Sie, dass <strong>Stuttgart</strong> inzwischen eine<br />
Bachstadt ist?<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79<br />
■ Hans Grischkat hat hier in der Stiftskirche<br />
eine Gesamtaufführung sämtlicher Bachkantaten<br />
gemacht, längst vor meiner Zeit, und ich<br />
habe damals als Student diese Aufführungen<br />
gehört und die Kantaten lieben gelernt. Und<br />
natürlich hat die Gründung der <strong>Bachakademie</strong>,<br />
meine eigene und unsere gemeinsame Arbeit<br />
den Kreis der Liebhaber von Johann Sebastian<br />
Bach hier in <strong>Stuttgart</strong> vergrößert und das Wissen<br />
um das Bachsche Werk bereichert. Denken<br />
wir weiterhin an die Reihe »Bach vokal« von<br />
Stiftskantor Kay Johannsen oder künftige Vorhaben<br />
der <strong>Bachakademie</strong> wie die »Sichten auf<br />
Bach« im Musikfest und das Schülertanzprojekt<br />
»Bach bewegt!« – Also, man kann <strong>Stuttgart</strong><br />
schon eine Bachstadt nennen!<br />
Am 16. März werden Sie in der Musikhochschule<br />
zusammen mit Hanspeter Krellmann<br />
und dem Bärenreiter Verlag Ihr neuestes Buchprojekt<br />
»Ein Leben mit Bach« vorstellen.<br />
Worum geht es in dieser Veröffentlichung?<br />
■ Dieses neue Buch beruht auf Gesprächen,<br />
die ich mit dem Musikwissenschaftler Doktor<br />
Hanspeter Krellmann geführt habe. Er hat<br />
mich zu den unterschiedlichsten Ansätzen meiner<br />
Arbeit befragt, ich habe darauf geantwortet<br />
und versucht, viele der grundsätzlichen<br />
Überlegungen darzustellen, die meine Arbeit<br />
über die vielen Jahre bestimmt haben. Und wir<br />
haben uns sehr gut verstanden.<br />
Wir sind gespannt, lieber Herr Rilling –<br />
vielen Dank für das Gespräch.<br />
Sa, 16. März 2013,<br />
16 Uhr<br />
Kammermusiksaal<br />
der Musikhochschule<br />
Buch-Präsentation<br />
»Helmuth Rilling.<br />
Ein Leben mit Bach.«<br />
(Bärenreiter/Henschel)<br />
Mit Helmuth Rilling<br />
Dr. Hanspeter Krellmann<br />
Dr. Michael Gassmann<br />
Im Anschluss Umtrunk<br />
im Foyer und Signierstunde<br />
Helmuth Rilling<br />
■ ■ ■<br />
7
Hanspeter Krellmann<br />
und Helmuth Rilling<br />
im Gespräch,<br />
<strong>Bachakademie</strong>,<br />
Mai 2011<br />
» I C H W O L L T E V I E L E S E R F A H R E N «<br />
Fragen an Dr. Hanspeter Krellmann, Autor des Buches<br />
»Helmuth Rilling. Ein Leben mit Bach«<br />
Sie haben sich mit der Form des Gesprächs<br />
gegen jene einer »klassischen« Monographie<br />
entschieden. Warum?<br />
■ Bei Monographien über Personen, lebende<br />
wie verstorbene, ist selten, vielleicht gar nicht<br />
Betrachtungsobjektivität herzustellen. Biographien<br />
provozieren Gegen-Biographien.<br />
Wir kennen das aus Beschreibungen berühmter<br />
Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik,<br />
den Künsten… Lebt der Biographierte,<br />
sollte man ihn nicht übergehen, weil er mehr<br />
über sich weiß als andere. So wird er automatisch<br />
<strong>zum</strong> Mit-Autor. Da erweist sich die Gesprächsform<br />
als praktikabler. Sie ist lebendig<br />
und authentisch, wenn auch nicht unbedingt<br />
objektiver.<br />
Die Vorteile der Dialogform liegen auf der<br />
Hand. Als mittlerweile unverzichtbare Quellen<br />
fallen mir etwa die Gesprächsaufzeich-<br />
■ ■ ■ 8<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
nungen französischer Musiker (Honegger,<br />
Milhaud) ein, bei denen ja der Rundfunk die<br />
entscheidende Rolle spielte. Hierzulande<br />
kann man solche umfassenden Resümees<br />
zwar hin und wieder hören (aktuell: Begegnungen<br />
mit Hans Pischner), meines Wissens<br />
aber recht selten lesen. Ist diese Form besonders<br />
aufwändig? Oder nehmen wir uns zu<br />
wenig Zeit für Gespräche?<br />
■ Es ist keine Frage des Zeitaufwands. Das<br />
Verfassen einer Monographie bedarf ebenfalls<br />
einer sorgfältigen Vorbereitung – von<br />
der reinen Schreibarbeit zu schweigen.<br />
Haben Sie einmal nachgerechnet, wie viel<br />
Zeit Ihre Gespräche mit Helmuth Rilling in<br />
Anspruch nahmen?<br />
Es waren drei jeweils eintägige Sitzungen,<br />
zwei jeweils zweitägige Sitzungen und zwei<br />
kürzere Korrektur- und Ergänzungssitzungen.<br />
Die Sitzungen im einzelnen dauerten<br />
nicht von morgens bis abends, nahmen aber<br />
immer mehrere Stunden in Anspruch.<br />
»Helmuth Rilling. Ein Leben mit Bach« – so<br />
lautet der Haupttitel des neuen Buches. Wie<br />
wäre der Titel einer denkbaren analogen Publikation<br />
bei Ihnen zu ergänzen: »Hanspeter<br />
Krellmann. Ein Leben mit ...«?<br />
■ Für Helmuth Rilling ergibt sich der Titel<br />
logisch-zwangsläufig, wie aus dem Buch zu<br />
erfahren ist. Ebenso lernen wir, wie wichtig<br />
für ihn – gewissermaßen aus der Ableitung<br />
von Bach – auch Musik von Mozart, Schubert,<br />
Mendelssohn und anderen ist. Bei vielen<br />
Musikwissenschaftlern existieren ähnliche<br />
Situationen: es gibt die zentrale Auseinandersetzung<br />
mit einem Komponisten ein Leben<br />
lang, aber es entstehen auch Nebenschauplätze<br />
mit anderen. Bach bleibt für jeden Interpreten,<br />
und sei es im Hintergrund, beherrschend<br />
für seine Arbeit, auch wenn Brahms<br />
oder Bruckner im Vordergrund stehen. Die<br />
vorzunehmende Rückbezüglichkeit auf Bach,<br />
und sei es geistig, nicht praktisch, bleibt wohl<br />
für jeden Interpreten, wenn er ehrlich ist, zentral.<br />
Bei Musikwissenschaftlern verhält es<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79<br />
sich ähnlich. Wenigstens mir geht es so. Ich<br />
habe in meinem Leben über viele unterschiedliche<br />
Musik geschrieben. Aber die explizite<br />
Formulierung »Ein Leben mit…« fände sich<br />
bei mir nicht. Sie wäre im übrigen vermessen<br />
gegenüber musizierenden Künstlern.<br />
Die Kapitel-Gliederung des Bandes war<br />
sicherlich eine der größeren Herausforderungen.<br />
Inwieweit hat sich Ihre anfängliche<br />
Disposition im Verlauf der Gespräche<br />
möglicherweise gewandelt?<br />
■ Gar nicht. Nur an den Übertitelungen habe<br />
ich gearbeitet.<br />
Mitunter gehen Sie einer Fragestellung mit<br />
charmanter Hartnäckigkeit auf den Grund,<br />
lassen nicht locker, bevor sie beantwortet ist.<br />
In diesen Passagen wird auf schöne Weise<br />
deutlich: Da begegnen sich zwei Gesprächspartner<br />
auf Augenhöhe. Rilling bezeichnete<br />
es als »übergroße Freude«, Sie als Autor gewonnen<br />
zu haben. Worauf gründet diese nahezu<br />
symbiotische Atmosphäre?<br />
■ Gesprächspartner auf Augenhöhe kann ich<br />
gerade noch gelten lassen, ohne vermessen zu<br />
erscheinen. Symbiotische Atmosphäre…<br />
■ ■ ■<br />
9
Dezember 2012<br />
Naja, gestritten haben wir uns nie. Dazu fehlte<br />
auch jede Veranlassung. Aber ich wollte<br />
vieles erfahren von Helmuth Rilling, manches<br />
schon vorher Gesagte vielleicht vertieft hören<br />
wenn möglich. Ich habe dieses Buch mit Rilling<br />
ausgesprochen gern gemacht, mit sehr<br />
vielen anderen hätte ich es nicht gemacht.<br />
Eine Ihrer Fragen an Helmuth Rilling hat<br />
mich sehr erheitert: »Haben Sie auch ein vergleichsweise<br />
nutzloses Hobby betrieben?« Ist<br />
diese Frage reiner Neugier entsprungen oder<br />
im Kontext eigener Erfahrungen gestellt worden.<br />
Kur<strong>zum</strong>: Ich richte sie hiermit auch an<br />
Sie.<br />
■ Nicht reiner Neugier, sondern um den<br />
Menschen Rilling komplex sichtbar werden<br />
zu lassen. Der Umgang mit Musik ist Hobby<br />
genug. Ich habe auch kein anderes Hobby.<br />
Um Musik zu verstehen, muss man sich breit<br />
informieren. Rilling tut das, ich auf meine<br />
Weise auch.<br />
In manchen Passagen wird es richtig spannend,<br />
wenn Sie Rilling beispielsweise eine beeindruckende<br />
Reihe oratorischer Werke mit<br />
der Frage, wie er zu ihnen steht, wie Bälle zuspielen.<br />
Die Antworten, so knapp sie zuweilen<br />
auch ausfallen, sind sicher auch für enge<br />
Rilling-Freunde erhellend, mitunter überraschend.<br />
Waren Sie geneigt, die eine oder andere<br />
seiner Antworten aus der Sicht des ebenfalls<br />
erfahrenen Musikkenners durch Ihre eigene,<br />
kontroverse Meinung zu ergänzen?<br />
■ ■ ■ 10<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
■ In den meisten Fällen bin ich mit ihm einig.<br />
Durch meine Fragen sollte lediglich die Interessenbreite<br />
des Interpreten Rilling deutlich<br />
werden. Es steht mir nicht zu, ihn ergänzen<br />
zu wollen.<br />
Zu Helmuth Rillings Antworten: Seine Interviewpartner<br />
bescheinigen ihm immer wieder<br />
die Fähigkeit, druckreife Sätze zu formulieren.<br />
Können Sie das nach Ihren Gesprächen<br />
bestätigen?<br />
■ Wir mussten beide nicht druckreif sprechen,<br />
haben uns frei unterhalten. In der nachfolgenden<br />
Text-Redaktion konnte die Rede<br />
präzisiert werden.<br />
Gab es Fragen, die zurückgenommen bzw. gestrichen<br />
wurden?<br />
■ In einigen wenigen Fällen, wie ich mich<br />
schwach erinnere. Aber ich habe einige meiner<br />
Zwischeneinwürfe beim Redigieren herausgenommen,<br />
weil sie unwichtig waren und<br />
den Fluss von Rillings Ausführungen gestört<br />
haben würden.<br />
»Man muss hören, was es zu hören gibt, und<br />
nicht, was man zu hören erwartet.« – Dieses<br />
schöne Cage-Zitat steht über Ihrem abschließenden<br />
Essay. Sie haben diese Forderung gegebenermaßen<br />
während Ihrer Gespräche beherzigt.<br />
Sind darüber hinaus auch Ihre Erwartungen<br />
erfüllt worden?<br />
■ Durchaus und absolut komplett. Aber das<br />
Cage-Zitat zielte nicht auf meine Erwartung,<br />
sondern auf die Tatsache, dass der Interpret<br />
Rilling beim Musizieren Situationen schafft,<br />
die mündige Hörer zu authentischem Hören<br />
auffordern und nicht affirmativ Eindrücke<br />
von gestern und vorgestern bestätigen. Erwartungen<br />
zu bestätigen, ist langweilig.<br />
Ein schönes Schlusswort –<br />
Vielen Dank lieber Herr Krellmann.<br />
d. Red.<br />
» W A R U M<br />
P I C A N D E R<br />
N I C H T ? «<br />
Eine Begegnung.<br />
Mit eingestreuten Fragen<br />
an Christian Friedrich Henrici<br />
■ H O L G E R S C H N E I D E R<br />
Leipzig, Zum Arabischen Coffe Baum.<br />
Wir haben uns mit einem jungen Mann<br />
um die Dreißig verabredet. Klein und<br />
hager soll er sein, eine Erscheinung, die in unserem<br />
galanten Leipzig nicht viel Glück machen<br />
dürfte. Ist aber eine Bekanntheit in der<br />
Stadt, der Herr »Ober-Post-Commissarius«<br />
Henrici – freilich nicht vermöge seiner Beamtenkarriere,<br />
sondern weil er offenbar Zeit genug<br />
und ein schönes Talent <strong>zum</strong> Dichten hat.<br />
So schickt er sich dieser Tage an, einen ersten<br />
von etlichen Bänden mit Gereimtem hier im<br />
Drucke vorzulegen. Gelegenheitsarbeiten,<br />
Hochzeitsgedichte meistenteils, recht witzig,<br />
auch albern, unartig, anzüglich, zotig, geknittelt<br />
oder in Alexandrinern – von allem<br />
und für jeden ist was dabei. Den Leuten gefällt’s,<br />
und als Dichter Picander (wie er sich<br />
selbst betitelt) kennt ihn hier jeder Leipziger.<br />
Warum die gelehrten Kollegen so fürchterlich<br />
gegen ihn wettern? – Fragen wir ihn nachher.<br />
Und verweilen hier und da bei Details, werden<br />
leider nicht umhin kommen, die Zeiten<br />
und Perspektiven ein wenig durcheinanderzuschütteln<br />
zwischen dem Leipzig des Jahres<br />
1727 und dem Thema der B A C H W O C H E<br />
S T U T T G A R T knapp dreihundert Jahre später.<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79<br />
Korrekt ist das alles sicher nicht, für eine erste<br />
Bekanntschaft aber recht wohl geeignet. Oder<br />
kennen Sie ihn vielleicht, Herrn Henrici?<br />
Von Picander ist noch nichts zu sehen (apropos:<br />
es gibt bis heute kein einziges Bild von<br />
ihm!), also vertreiben wir uns die Zeit mit einer<br />
Anekdote. Zu diesem Pseudonym gibt es<br />
nämlich eine tragikomische Geschichte, von<br />
der niemand weiß, ob sie wirklich wahr ist,<br />
wenngleich der Protagonist selbst sie einmal<br />
knapp bestätigt hat. Danach soll Henrici, bevor<br />
er hier sesshaft wurde, in der Nähe von<br />
Düben bei der Vogeljagd auf eine Elster gezielt,<br />
stattdessen aber einen Bauern getroffen<br />
haben, der als Eierdieb nestwärts unterwegs<br />
war. (Ja, so etwas Frevelhaftes wie die Jagd<br />
auf Singvögel ist allhier durchaus verbreitet.)<br />
Henrici, der Tolpatsch, habe den Bauern, so<br />
heißt es, »erheblich beschädiget« und sei für<br />
einige Zeit in Arrest genommen worden.<br />
Letzthin habe alles einen glimpflichen Ausgang<br />
genommen, doch der zutiefst betroffene<br />
Sonntagsschütze trug fortan sein bekanntes<br />
Der dritte von fünf<br />
Theilen, die<br />
zwischen 1727 und<br />
1751 in mehreren<br />
Auflagen gedruckt<br />
wurden<br />
■ ■ ■<br />
11
Titelblatt zu Bachs<br />
autographer Partitur<br />
der Matthäus-Passion<br />
(Detail)<br />
Pseudonym als »Elstermann« (vom lat. pica)<br />
in Erinnerung an Vogel, Bauer und lebensgefährliches<br />
Ungeschick mit sich. Dass die<br />
Elster emblematisch auch für Unabhängigkeit<br />
verwendet wird, mag ihm dabei nicht wenig<br />
gefallen haben.<br />
Seit ein paar Jahren arbeitet Picander mit<br />
dem Kantor Bach zusammen und die beiden<br />
sind, soviel ich weiß, auch gut befreundet.<br />
Bach schätzt ihn wohl sehr, weil er mit feinem<br />
Gespür genau den richtigen Rhythmus zu<br />
treffen weiß. Mittlerweile hat sich in der Stadt<br />
längst rumgesprochen, dass er für Bach (bzw.<br />
mit ihm gemeinsam) die große Passion nach<br />
Matthäus unsers Anno 27 ausgearbeitet hat,<br />
wofür er sogar von des Meisters Hand auf<br />
dem Titelblatt verewigt wurde! Kennern der<br />
erbaulichen Literatur dürfte möglicherweise<br />
aufgefallen sein, dass manche der Passions-<br />
Textpassagen an anderer Stelle ähnlich lautend<br />
zu lesen sind…<br />
Bei der Arbeit am Libretto der Matthäus-<br />
Passion hat Picander mehrfach (und bezeichnenderweise<br />
für die besten Gedanken der Rezitative<br />
und Arien) auf Predigttexte des auch<br />
von Bach geschätzten Rostocker Theologen<br />
Heinrich Müller sowie auf weitere Anregun-<br />
■ ■ ■ 12<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
gen zurückgegriffen. (Eine ausführliche synoptische<br />
Darstellung veröffentlichte Elke<br />
Axmacher 1984.) Die »Musikalisierung« der<br />
theologisch bildreichen, gleichwohl unvertonbaren<br />
Vorlagen <strong>zum</strong> sangbaren Versrhythmus<br />
und ihre dramaturgische Kompilation<br />
für eine Gemeinde, die nicht nur keine alten<br />
Predigten hören wollte, sondern eine zeitgemäße<br />
Auslegung der Leidensgeschichte<br />
Christi erwartete, dies alles ist viel mehr als<br />
nur ein »Nebenverdienst« Picanders an einem<br />
der wichtigsten Bachschen Textbücher.<br />
Bach dürfte sich für dieses wichtige Werk mit<br />
äußerst geschärftem Sinn auf Picanders Qualitäten<br />
verlassen haben.<br />
Wer bereit ist, sich ein wenig in die Lektüre<br />
der »Ernsthafften Gedichte« zu vertiefen,<br />
wird auf eine weitere Ausprägung des Picanderschen<br />
»Parodieverfahrens« stoßen. So haben<br />
wir im Dezember 2012 für einen der Musikalischen<br />
Salons der <strong>Bachakademie</strong> etliche<br />
Parallelen bei Picander selbst finden können,<br />
die auf seine nahezu sichere Co-Autorschaft<br />
am Text des Weihnachtsoratoriums hindeuten<br />
(bisher gilt dies »lediglich« als sehr wahrscheinlich).<br />
Ebensolche Parallel-Verse gibt es<br />
auch zur Matthäus-Passion, etwa in zwei<br />
Kantaten auf Sonntage nach Trinitatis:<br />
»Können meine nassen Wangen, Und der Anblick<br />
meiner Pein, Nichts bewegen, nichts erlangen«<br />
(BWV 244, 52: »Können Tränen meiner<br />
Wangen Nichts erlangen, O, so nehmt<br />
mein Herz hinein!«) oder »Der trägt ein Oelblatt<br />
alle Stunde, Wie Noah Taub, in seinem<br />
Munde« (BWV 244, 64: »Und trug ein Ölblatt<br />
in dem Munde. O schöne Zeit! O<br />
Abendstunde!«), letzteres Beispiel übrigens<br />
aus einer Anregung durch Müllers Predigt<br />
entstanden. Auch ein Trauergedicht von 1729<br />
greift einen der Passionsgedanken fast wörtlich<br />
auf: »Ach! das geht meiner Seelen nahe!«<br />
(BWV 244, 59 »Das gehet meiner Seele<br />
nah«).<br />
Sprung zurück…<br />
Verehrter Herr Henrici, schön, dass Sie sich<br />
Zeit nehmen konnten. – Wir wissen das sehr<br />
zu schätzen und kommen auch gleich zur Sache:<br />
Ihre Schriften erfreuen sich zunehmender<br />
Beliebtheit; man reißt sich ja förmlich um Ihre<br />
Hochzeitsgedichte…<br />
Die Leipziger sind furchtbar gespannt darauf,<br />
Ihre gesammelten Gedichte endlich als gedrucktes<br />
Büchlein lesen zu können. Ich bin<br />
mir andererseits nicht sicher, ob die Leipzigerinnen<br />
gleichermaßen entzückt sein werden.<br />
Denn während die Junggesellen – von unglücklichen<br />
Hahnreien mal abgesehen – in<br />
Ihren Nouvellen einigermaßen glimpflich davonkommen,<br />
müssen sich »Mädgen und<br />
Jungfern« umso beißenderen Spott gefallen<br />
lassen. Schier unerschöpflich seien Ihre Methoden<br />
und Formen, mit denen Sie das Thema<br />
der Jungfernschaft behandeln, Sie könnten<br />
sich »nicht genug thun in faunischer<br />
Skeptik gegenüber allem, was Jungfer heisst«<br />
(Flossmann 1899), und dies sei letztlich der<br />
Grund jener »tödlichen Feindschaft der Leipziger<br />
Frauenwelt« gegen Sie?<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79<br />
■<br />
■<br />
Erst 1736 sollte ihm die Tochter eines angesehenen<br />
Leipziger Juristen ein »Ja!« schenken.<br />
Damit war Henrici nach Aussage eines Zeitgenossen<br />
nun noch »mit einer kränklichen<br />
Frau beladen«. Die Häme gegenüber Picanders<br />
spitzer Feder wider unschickliche Frauenzimmer<br />
sollte sogar seinen Tod überdauern.<br />
So berichtete das Hannoversche Magazin<br />
1768: »Henrici in Leipzig, der unter dem<br />
Namen Pikander höchst unwitzige scherzhafte<br />
Gedichte und Lustspiele herausgegeben<br />
hatte, die das Vergnügen vieler Leser waren,<br />
fiel auf einmal [hin] und ward die Ergötzung<br />
der Jungemägde.«<br />
Herr Henrici, ist Ihnen das schöne Geschlecht<br />
möglicherweise vollends suspekt?<br />
In unserem Forum wird gar nichts ausgestrichen!<br />
Bitte denken Sie doch an Ihre eigenen<br />
schmerzlichen Erfahrungen mit der Zensur.<br />
Hat nicht der Rat erst kürzlich Schriften von<br />
Ihnen konfiszieren lassen, im selben Zuge<br />
auch gleich noch die von Gottsched, der Sie<br />
auf höchst verunglimpfende Weise als<br />
»Schmierander« tituliert hat. War das etwa<br />
rechtens?<br />
Aber ich wollte mich wirklich nicht mit Ihnen<br />
streiten.<br />
■<br />
■<br />
… schon recht …<br />
■<br />
■<br />
■ ■ ■<br />
13
Aber warum hasst man Sie denn?<br />
■<br />
Sie meinen damit jene getroffenen Hunde, die<br />
überzeugt sind, Picanders Feder sei speziell<br />
gegen die Erhabenheit ihrer Person gespitzt.<br />
In den Druckausgaben haben Sie ja jegliche<br />
Namensnennung konsequent vermieden.<br />
Doch sprechen wir’s ruhig aus: die offen ausgetragene<br />
Fehde mit Gottsched ist längst publik.<br />
Im Übrigen: Ich treffe mich ja mit Ihnen<br />
und nicht mit ihm, denn es geht mir um Ihre<br />
fein gedrechselten Verse; Gottsched wiederum<br />
sollte es tunlichst unterlassen, weitere<br />
jämmerliche Versuche gereimter Dichtung zu<br />
unternehmen. Jedenfalls fällt es schwer zu<br />
glauben, dass nicht der eine oder andere Seitenhieb<br />
Ihrerseits dem Kollegen Weltverbesserer<br />
gilt. Hand aufs Herz: Nehmen Sie wirklich<br />
niemanden aufs Korn, werden nur immer<br />
Sie selbst angegriffen?<br />
Die Geringschätzung Picanders durch seine<br />
gelehrten Zeitgenossen aus dem universitären<br />
Umfeld sollte auch die Nachwelt prägen.<br />
Lediglich von Vorurteilen zu sprechen, wäre<br />
zunächst eine Verharmlosung – zu konsequent<br />
wurde die Liste verbaler Empörungs -<br />
tiraden durch die Bach-Literatur befüllt. Das<br />
Bild des anpassungsfähigen »Lebens- und<br />
Überlebenskünstlers« (Schulze) schöpferisch<br />
an der Seite des großen Genies schien<br />
schlichtweg unvorstellbar. So mag Zelters<br />
Satz an Goethe: »Wenn ein Heutiger ein<br />
■ ■ ■ 14<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
■<br />
Picandersches Gedicht in Musik setzen sollte,<br />
er müßte sich kreuzigen und segnen« (1829)<br />
noch ein gewisses Maß an hintersinnigem<br />
Respekt erkennen lassen, Spitta aber empfand<br />
die »Niedrigkeit und Geschmacklosigkeit<br />
seiner Anschauungs- und Ausdrucksweise«<br />
nur als abstoßend und Albert<br />
Schweitzer entdeckte gar »die widerwärtigsten<br />
und gemeinsten Sachen« in Picanders<br />
Texten. Selbst die einzige größere Arbeit zu<br />
Picander (Heinrich Paul Flossmanns Dissertation<br />
von 1899) konstatiert rechthaberisch,<br />
viele der Texte seien »eben eine matte und<br />
platte Reimerei«, und in seinen Quodlibets<br />
sei Picander »einfach widerlich«. Doch ausgerechnet<br />
all die Stürmchen im Wasserglas,<br />
die Picanders aus heutiger Sicht absolut<br />
harmlose Frechheiten aufwühlten, entbehren<br />
ihrerseits nicht einer großen Lächerlichkeit,<br />
und so »muss Picanders Beitrag zur Chronique<br />
scandaleuse […] als bescheiden und keineswegs<br />
aufregend gelten« (Schulze).<br />
Werfen wir noch einen Blick auf all die gedruckten<br />
Ausgaben, die folgen werden: Das<br />
macht am Ende unzählige Reime in weit über<br />
600 Gedichten auf insgesamt fast dreitausend<br />
Druckseiten. Die meisten sind als Auftrag<br />
entstanden, oft sehr kurzfristig, und nun<br />
kommt die »Gesamtausgabe« hinzu, die ja ihrerseits<br />
eine enorme Herausforderung darstellt.<br />
Wie ist ein solch riesiges Pensum quasi<br />
als »Nebenjob« zu bewältigen?<br />
■<br />
Dies Geständnis des Mangels an allergeringstem<br />
poetischen Sternenschimmer war ziemlich<br />
freimütig. Manch einer Ihrer Neider und<br />
Widersacher sah sich darin bestätigt, dies mit<br />
einer Flucht ins Belanglose, einem Mangel an<br />
Ernsthaftigkeit gleichzusetzen. Auch mir, Sie<br />
mögen bitte verzeihen, erscheint es so, als<br />
flöge Ihr Geist nicht immer ganz so frei in den<br />
»Ernsthafften« Gedanken. Sie bilden schon<br />
lieber lustige Reimpaare, nicht wahr?<br />
Teurer Picander, kunstreichster Poete, wir<br />
mögen ja auch gerade Eure Hochzeit-Lieder!<br />
Keiner sonst hat die Alexandriner so gut im<br />
Griff wie Ihr, niemand sonst schaut unserem<br />
Völkchen so pfiffig aufs Maul, unerreicht<br />
bleiben Neugier und Geschick beim Zielen<br />
Eures Okulars auf prominente Schrullen und<br />
in Leipzigs Schlafgemächer! Picander, pikanter<br />
geht’s nicht! Eure Hochzeitscarmina mit<br />
den schwindelerregenden Knittelvers-Rutschpartien,<br />
diese rhythmisch fulminant choreographierten<br />
Wortkaskaden (»Cupidens<br />
Inventarium«), das ist doch alles herrlich,<br />
lieber Picander!<br />
■<br />
■<br />
F O R U M B A C H A K A D E M I E 79<br />
*<br />
- - - Picander? Nun also… Haben Sie herzlichen<br />
Dank und leben Sie wohl!<br />
Nun hat er es offensichtlich doch ziemlich eilig<br />
gehabt – wie schade! Es wäre doch noch so vieles<br />
zu erfragen gewesen, auch wenn er es zu diesem<br />
Zeitpunkt noch nicht hätte kommentieren<br />
können. Seine Zusammenarbeit mit Bach an<br />
weltlichen Kantatentexten, der einigermaßen<br />
rätselhafte »Picander-Jahrgang« von 1728/29,<br />
seine Schauspiele, die Mitwirkung als Geiger im<br />
Collegium musicum, etc. etc. – Wir müssen das<br />
irgendwann nachholen. Er hätte ja auch noch<br />
erfahren sollen, wie nahe uns seine Passionsworte<br />
gehen, wenn sie sehr viel später immer wieder<br />
ihren Weg in die Herzen der Zuhörer finden,<br />
Verse von bestechender Schönheit, schon beim<br />
Lesen: »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen«,<br />
»Das gehet meiner Seele nah«, »Mache dich,<br />
mein Herze, rein«, oder die letzten Worte seiner<br />
Dichtung in der Passion: »Höchst vergnügt<br />
schlummern da die Augen ein.« –<br />
Kupferstich aus dem<br />
1. Theil <strong>zum</strong> IV. Paquet<br />
seiner »Aufgefangenen<br />
Briefe«<br />
* Einige schöne<br />
Beispiele der Picanderschen<br />
Reimkunst<br />
können Sie sich in<br />
unserer Online-<br />
Bei lage anhören<br />
(Link ganz unten auf<br />
linker Seite).<br />
■ ■ ■<br />
15
Frontispiz im<br />
3. Teil der Gedichte<br />
von 1732<br />
■ ■ ■ 16<br />
W W W . B A C H A K A D E M I E . D E / F O R U M<br />
Ein Büchlein allein ward je zu Picander verfasst,<br />
und es ist über 100 Jahre alt. Aus Leipzig<br />
erhielt er immerhin noch einen mehrseitigen<br />
herzlichen Geburtstagsgruß <strong>zum</strong> 300.<br />
von Hans-Joachim Schulze. An näherungen<br />
mit literaturhistorischem oder kulturwissenschaftlichem<br />
Ansatz fehlen ebenso wie gescheite<br />
Untersuchungen zur Zusammenarbeit<br />
mit dem Thomaskantor. Gemessen an<br />
seiner Bedeutung allein als Bachs Co-Autor<br />
einerseits und angesichts tausender Abhandlungen<br />
mit teilweise irrwitzigen Variationen<br />
des Bach-Themas andererseits darf dieses<br />
Missverhältnis als <strong>zum</strong>indest erschreckend<br />
erscheinen. Besonders vorsichtigen Menschen<br />
könnte sich glattweg der Verdacht aufdrängen,<br />
es seien noch alte Leipziger Ratsakten<br />
rechtsgültig, nach denen eine ernsthafte<br />
Beschäftigung mit dem »Elstermann« rigoros<br />
und effizient zu ahnden ist. Wir werden uns<br />
der Sache wohl demnächst etwas eingehender<br />
annehmen…
H Ä N D E L - B A C H - H Ä N D E L O D E R<br />
S A A L E - N E C K A R - S A A L E<br />
Als sie Anfang 2008 zur <strong>Bachakademie</strong> kam, hatte<br />
C L A U D I A B R I N K E R noch die Luft der Händelstadt<br />
in der Nase. Nach einem Jahrfünft ist sie nun<br />
wieder an die Saale gezogen, in ihrer neuen Position als<br />
Direktorin der Staatskapelle Halle. So neu, sagt sie<br />
selbst, seien die Aufgabenstellungen wiederum nicht,<br />
vielmehr eine Fortführung ihrer bisherigen Tätigkeiten<br />
auf einer anderen Ebene. In erster Linie sei sie dafür<br />
verantwortlich, die Position des Orchesters innerhalb<br />
der Stadt zu stärken und natürlich auch Gastspiele zu<br />
akquirieren. Als einziges Sinfonieorchester in Deutschland<br />
gibt es innerhalb des Hallenser Klangkörpers ein<br />
Spezialensemble für Alte Musik – das Händelfestspielorchester.<br />
Claudia Brinker freut sich sehr auf das gemeinsame<br />
(und schon seit längerem geplante) Projekt<br />
mit den Gächingern: eine h-Moll-Messe am 7. April in<br />
der Marktkirche.<br />
Aus der spannenden und schönen Zeit bei der <strong>Bachakademie</strong><br />
etwas hervorzuheben fällt ihr nicht leicht.<br />
»Rillings Gesprächskonzerte haben mich wirklich beeindruckt«<br />
sagt sie, »auf der anderen Seite Musikfestkonzerte<br />
wie das erste Sonnenaufgangskonzert mit dem<br />
armenischen Klosterensemble St. Geghard, das Synchronschwimmen<br />
2011 oder die Kunst der Fuge mit den<br />
Gebrüdern Ghielmi«. Nach viel Bach nun wieder mehr<br />
Händel: auch die sei ein Kulissenwechsel, der ihr zusagt,<br />
hat sie doch mehr als ein Faible für die italienische<br />
Oper. Wir wünschen ihr von Herzen viel Erfolg und<br />
Freude in ihrer neuen Position in vertrauter Umgebung.<br />
FOTO: MARCO BORGGREVE<br />
N E U I M T E A M<br />
D E R B A C H A K A D E M I E<br />
C A R O L I N E L A Z A R O U , geb. 1979 in Lahnstein,<br />
studierte in Koblenz und später in Köln Musikwissenschaft,<br />
Kunstgeschichte und Philosophie. Schon während<br />
ihres Studiums arbeitete sie in den Bereichen Dramaturgie,<br />
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Marketing,<br />
u. a. beim Gürzenich-Orchester Köln, beim WDR oder<br />
der Oper Frankfurt am Main. Noch bevor sie ihre<br />
Magisterprüfung ablegte, trat sie 2008 beim Rheingau<br />
Musik Festival eine Stelle als Assistentin der Dramaturgie-<br />
und Presseabteilung an. Parallel dazu beendete sie<br />
2009 ihr Studium und arbeitete bis 2011 als Marketing -<br />
referentin des Festivals. Anschließend ging sie zurück<br />
nach Köln, wo sie als Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit<br />
für das Ensemble musikFabrik beschäftigt war.<br />
Mit dem Beginn des Jahres 2013 ist Caroline Lazarou<br />
Referentin für Marketing sowie für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit<br />
bei der <strong>Internationale</strong>n <strong>Bachakademie</strong><br />
<strong>Stuttgart</strong>.<br />
A M E N D E E I N E F R A G E ? – E I N E B I T T E !<br />
Unsere liebe neue Kollegin sucht momentan ein schönes<br />
Zuhause für die kommenden Zeiten. Sie ist Nichtraucherin<br />
und zöge allein – also auch ohne Haustier – in die<br />
Wohnung. Ihre Wünsche: eine bezahlbare Zwei zimmer -<br />
wohnung mit Einbauküche und eine gute Verkehrsanbindung<br />
nach <strong>Stuttgart</strong>-Mitte/West. Bitte verraten Sie ihr<br />
doch, wo eine solche Chance auf sie warten könnte –<br />
nicht nur sie, wir alle würden uns sehr darüber freuen.<br />
caroline.lazarou@bachakademie.de<br />
SINFONIEKONZERTE MIT<br />
SYLVAIN CAMBRELING<br />
7. / 8. APR 2013<br />
LEBENSLAUF<br />
FRANZ LISZT VON DER WIEGE BIS ZUM GRABE (1881 – 82)<br />
HANS ZENDER ISSEI NO KYÕ – DAS LIED VOM EINEN TON (2008 – 09)<br />
ROBERT SCHUMANN SINFONIE NR. 3 »RHEINISCHE« ES-DUR OP. 97 (1828)<br />
7. / 8. JULI 2013<br />
GOTTES ZORN<br />
GALINA USTWOLSKAJA KOMPOSITION NR. 2 »DIES IRAE« (1973)<br />
GIUSEPPE VERDI MESSA DA REQUIEM (1868 / 1873 – 74)<br />
LIEDERHALLE, BEETHOVENSAAL<br />
WWW.OPER-STUTTGART.DE | 0711 20 20 90