32.06.2013, Dr. Gudrun Kuhn, Ältestenpredigerin - Evangelische ...
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Universitätsgottesdienst Neustädter Kirche Erlangen<br />
23.06.2013<br />
Joh. 8, 3-11<br />
Toleranz und Kirchenzucht<br />
<strong>Ältestenpredigerin</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Gudrun</strong> <strong>Kuhn</strong><br />
(ev.-ref. Gemeinde St. Martha Nürnberg)<br />
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des<br />
Heiligen Geistes sei mit uns! AMEN<br />
Liebe Gemeinde,<br />
Sie alle kennen die Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin aus dem Johannesevangelium.<br />
Einmal gehört, nie wieder vergessen. Nur: Was haben Sie gehört? Was haben Sie nicht<br />
vergessen? Machen Sie doch einmal die Probe aufs Exempel. Was fällt Ihnen spontan als<br />
erstes zu dieser Geschichte ein? …<br />
Und so lautet der Predigttext für den heutigen 4. Sonntag nach Trinitatis:<br />
3 Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und<br />
stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim<br />
Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen.<br />
Was sagst du?<br />
[ 3. Mose 20,10 Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes<br />
sterben, Ehebrecher und Ehebrecherin, weil er mit der Frau seines Nächsten die Ehe gebrochen<br />
hat.]<br />
6 Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte<br />
sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete<br />
er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein<br />
auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber das hörten, gingen<br />
sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die<br />
in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich<br />
niemand verdammt? 11 Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich<br />
dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.<br />
War Ihr Gedächtnis auch etwas selektiv? Wie meines. Für mich und überhaupt für viele<br />
meines Alters war das einmal einer der wichtigsten Bibeltexte gewesen.<br />
Jesus und die Frauen … unser Lieblingsthema in den 70ern. Wie hatte er es diesen Männern<br />
mit ihrer doppelten Moral gezeigt! Diesen scheinheiligen Typen, die es fertig brachten,<br />
sogar das Buch Leviticus noch frauenfeindlich zu radikalisieren. Dort müssen wenigstens<br />
beide sterben: Ehebrecherin und Ehebrecher. Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer sind<br />
auf einem Auge blind, wenn sie ein Paar in flagranti ergreifen.<br />
Jesus und die Pharisäer … unser zweitliebstes Thema in den 70ern. Pharisäer und Schriftgelehrte<br />
– die ähnelten unseren Lehrern und Pfarrern, prüde und lustfeindlich, stets auf Verbote<br />
und Strafen aus, Verfinsterer von Jesu heller und reiner Liebeslehre.<br />
Das habe ich seinerzeit in der Geschichte gelesen. Das habe ich aus der Geschichte gelernt.<br />
Und ich bin froh und dankbar, dass ich es gelernt habe. Aber beim Wiederlesen muss ich zugeben,<br />
dass ich auch sehr viel überlesen habe. Selektiv eben!<br />
Überlesen habe ich, dass diese Geschichte erzählt wird, um eine Gegnerschaft zwischen Jesus<br />
und "den" Juden hervorzuheben, um einen angeblich unüberbrückbaren Gegensatz zwischen<br />
Gesetz und Evangelium herauszustellen. Eine verhängnisvolle Rezeptionsgeschichte<br />
hatte diese für Luther so wichtige Erkenntnis von der befreienden Kraft des Evangeliums.<br />
Verkürzt und vereinfacht wurde daraus die qualitative Abwertung des Judentums: gnadenlose<br />
jüdische Gesetzeslehre gegen christliche Liebesreligion. Ein schlimmer Stolperstein im<br />
christlich-jüdischen Dialog! Daran ändert auch der Hinweis der Exegeten nichts, dass die<br />
Geschichte von der Ehebrecherin erst sehr spät in einige Handschriften des Johannes-Evangeliums<br />
aufgenommen wurde. Wer weiß das schon? Wer will das schon wissen? Ich wusste<br />
das als junge Frau nicht.
Überlesen habe ich damals auch den Schluss der Perikope. Geh hin und sündige hinfort<br />
nicht mehr, sagt Jesus. Wirklich - so steht es da. Sündigen. Was genau kann das gewesen<br />
sein? Ging es ums Fremdgehen? Um das, was wir auch heute noch mit Ehebruch bezeichnen.<br />
Oder ging es um unehelichen Sex? War die Frau gar eine Prostituierte? Sündigen.<br />
Ganz offensichtlich teilt Jesus das moralische Urteil der Pharisäer und Schriftgelehrten. Das<br />
freilich hätte ich auch schon früher wissen können - wie rigoros er ist. Aber früher habe auch<br />
sonst noch einiges überlesen.<br />
Zum Beispiel: Lukas 16,18<br />
Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht die Ehe; und wer die<br />
von ihrem Mann Geschiedene heiratet, der bricht auch die Ehe.<br />
Zum Beispiel Matthäus 5,28<br />
Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe<br />
gebrochen in seinem Herzen.<br />
Die Weisungen Jesu sind radikal. Wie kann ich standhalten diesem: Sündige hinfort nicht<br />
mehr? Soll ich Ihnen jetzt als alte Dame die kreative Schönheit erotischer Wünsche vermiesen?<br />
Soll ich die Praxis der katholischen Kirche verteidigen, die geschiedene Wiederverheiratete<br />
exkommuniziert? Soll ich jedes Mal in Sack und Asche gehen, wenn mein Blick ein<br />
wenig zu lange an einem attraktiven fremden Mann hängen geblieben ist?<br />
Sündige hinfort nicht mehr! Wie kann dem die Kirche standhalten? Kann sie Fehlverhalten<br />
ihrer Glieder tolerieren? Wie soll sie liebende Vergebung verkündigen und gleichzeitig das<br />
Schlüsselamt ausüben?<br />
Das Amt der Schlüssel. Auch etwas, was man gerne überliest. Nur zur Erinnerung: Matthäus<br />
18, 15-18<br />
15 Sündigt aber dein Bruder an dir, so geh hin und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm<br />
allein. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. 16 Hört er nicht auf dich, so nimm<br />
noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen<br />
bestätigt werde. 17 Hört er auf die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er auch auf die<br />
Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner. 18 Wahrlich, ich sage euch: Was<br />
ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden<br />
lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.<br />
Das Schlüsselamt. Wir verbinden es mit Petrus-Darstellungen. Und da passt es uns. Da<br />
könnten wir es vielleicht mitsamt dem Papsttum abtun. Geht leider nicht. Die Schlüssel sind<br />
allen Christen anvertraut, nicht nur Petrus. Die ganze Gemeinde soll sich dafür einsetzen,<br />
dass jemand hinfort nicht mehr sündigt.<br />
Sie merken, ich komme zum Thema: Kirchenzucht. Wie sollen wir uns dazu verhalten?<br />
Sündige hinfort nicht mehr! Viele meinen heute: Handlungen gegen die Gesetze gehören<br />
vor öffentliche Gerichte – die Verantwortung vor Gott ist Privatsache jeder und jedes Einzelnen.<br />
Und dann passiert Folgendes: Die Betreiberin eines Ladens mit Neonazi-Artikeln kanndidiert<br />
im Kirchenvorstand. Ein Pfarrer hat eine Affaire mit der Frau des Organisten. Ein<br />
Presbyterium unterstützt eine Gemeinde im Ausland, die Juden und Roma diskriminiert. Sie<br />
können sich ausmalen, wie die örtliche Presse reagiert. Und welche Vorwürfe die öffentliche<br />
Meinung gegen eine Kirche erhebt, die dazu schweigt.<br />
Ja - was jetzt? Die Kirche soll sich nicht um die private Moral kümmern. Aber gleichzeitig sollen<br />
alle Kirchenmitglieder moralisch vollkommen sein.<br />
Die traditionelle Lehre vom Amt der Schlüssel ist da stimmiger. Sie weiß, dass auch Christen<br />
fehlbar sind. Und sie fühlt sich für diese verantwortlich. Nur wie? Zuerst einmal: reden, reden,<br />
reden. Verbo, non vi – durch das Wort, nicht durch Gewalt.<br />
So wurde es auch in Genf zu Zeiten Calvins und später verstanden. Dort wurden u.a. immer<br />
wieder Ehebruchsdelikte vor das Konsistorium gebracht. Ohne Ansehen des Standes übrigens<br />
– was der zügellos lebenden Oberschicht gar nicht gefiel! Die hatte deswegen – gegen<br />
den ausdrücklichen Wunsch Calvins – verhindert, dass jeden Sonntag Abendmahl gefeiert<br />
wurde. Wie peinlich, wenn man wieder einmal vor aller Augen nicht teilnehmen konnte, weil<br />
man unter die Kirchenzucht gefallen war! Ehebruch – darunter verstand man in Genf im 16.<br />
Jh. alles "Unkeusche", z.B. den Fall der Witwe Claude, vorgeladen wegen außerehelichen
Geschlechtsverkehrs mit einem jungen Mann, der die Stadt inzwischen verlassen hatte. Sie<br />
war vor Gericht bereits zu acht Tagen Gefängnis verurteilt worden. Calvin ermahnte sie, Gott<br />
erwarte, »dass eine Frau die Sünde außerehelichen Geschlechtsverkehrs bereue«. Sie solle<br />
sich außerdem nicht noch einmal so verführen zu lassen. (Robert M. Kingdon: Eine neue Sicht<br />
Calvins und der ''Kirchenzucht'' im Lichte der Protokolle des Genfer Konsistoriums. reformiert-info.de)<br />
Sündige hinfort nicht mehr.<br />
Uns irritiert - so meine ich - an diesem Verfahren zweierlei. Einmal natürlich die restriktive<br />
Haltung in Fragen der Sexualität. Außerehelicher Geschlechtsverkehr – da haben wir ganz<br />
andere Probleme! Und überhaupt: Die christliche Moral, die gibt es schließlich nicht. Immer<br />
wieder muss neu verantwortet werden, was im Licht des Evangeliums zu tun ist. Neu, situationsbezogen<br />
– und durchaus kontrovers. Da hilft kein Konsistorium.<br />
Und das ist das zweite, was uns am Usus der Kirchenzucht im 16. Jahrhundert irritiert: das<br />
Zusammenwirken von Kirche und Staat, von Geistlichen und Juristen aus der städtischen<br />
Oberschicht. Auch wenn Genf kein "Religionsterrorstaat" war, wie Arnold Stadler schreibt<br />
und damit einstimmt in den Chor der Diffamierungen, die wir Reformierte im Calvin-Jahr hinnehmen<br />
mussten – sie gingen bis zum Vergleich mit Hitler oder den Taliban! Unehelicher<br />
Geschlechtsverkehr, das war in Genf wie überall sonst ein juristisch zu ahndendes Vergehen.<br />
Und – bevor Sie sich jetzt empören: juristisch zu ahnden wie Homosexualität in<br />
Deutschland bis 1994! Keine 20 Jahre her! Doch zurück nach Genf: Keine finsteren Geistlichen<br />
oder Gemeindeältesten warfen Steine gegen die Ehebrecherin oder stellten sie wie im<br />
Mittelalter an den Pranger. Die Gefängnisstrafe war von der Justiz verhängt worden – vor,<br />
nicht nach dem Kirchenzuchtverfahren. Calvin hat eine Verflechtung von Kirche und Staat in<br />
den Gemeindegremien nicht befürwortet und lediglich als Übergangslösung für die Zeit der<br />
Religionsstreitigkeiten hinnehmen wollen.<br />
Und heute? Kirche und Staat sind getrennt. Unsere permissive Gesellschaft kümmert sich<br />
nicht mehr darum, wer mit wem Sex hat. Schließlich ist ja (fast) alles erlaubt. Angelegenheiten,<br />
die Erwachsene unter sich regeln. Niemand muss sich für so etwas öffentlich verantworten.<br />
Von wegen! Die Bloßstellung von Verfehlungen ist heutzutage schonungsloser denn je. Was<br />
da nicht alles Tag für Tag ans Licht gezerrt wird: vom Fremdgehen bis zur Gewichtszunahme.<br />
Einmal besoffen in eine Handykamera geguckt, einmal in schlechter Gesellschaft gefilmt<br />
– und für alle Zeit verewigt in der Galerie der Fehltritte. Mit schadenfroher Lust an Enthüllungen<br />
werden Menschen in Schande und Verzweiflung gestürzt, oft sogar in den Freitod gejagt.<br />
Shitstorms … Da geht es nicht darum, jemandem zu helfen hinfort nicht mehr zu sündigen.<br />
Da geht es um primitive Sensationsgier!<br />
Die Kirchenzucht – sie ist in den säkularen Bereich ausgewandert. Und einmal ehrlich: können<br />
wir denn dagegen sein? Nur eine freie Presse, die politische Skandale aufdeckt, Korruption<br />
und Geldwäsche anprangert, Versagen von Justiz und Polizei ans Licht bringt, kann die<br />
Demokratie immer wieder reinigen und ihre Mandatsträger zur Verantwortung ziehen. Wer<br />
wollte darauf verzichten?<br />
Die Kirchenzucht – eine Stufe auf dem Weg zur Aufklärung? Ein Vorläufermodell der öffentlichen<br />
Meinung? Ich meine das durchaus! Die Kirchenzucht? Von der man immer nur<br />
Schreckliches hört: Keine Vorhänge an holländischen Fenstern. Schnüffelei in amerikanischen<br />
Freikirchen, kein Tanz, kein Glücksspiel, kein Spaß in Genf. Mehr Differenzierung<br />
würde ich mir bei solchen Kolportagen allerdings schon wünschen. Dass Calvin meinte,<br />
Tanz, Glücksspiel und Luxus sei eine Sünde dort, wo mittellose Asylanten die Hälfte der Einwohnerschaft<br />
bildeten, könnte sich auch eine Gesellschaft gesagt sein lassen, die für ihre<br />
Modewünsche Näherinnen in Bangladesch arbeiten lässt.<br />
Kirchenzucht im 21. Jahrhundert? Es gibt sie. Öffentliche Mahnungen zu verantwortlichem<br />
Handeln. Längst ertönt dergleichen wie Litaneien in den Medien. Rituale der besonderen Art:<br />
Bußpredigten aus dem Munde von Kardinälen und Bischöfinnen. Weihnachts- und Silvesteransprachen<br />
von Bundespräsident und Kanzlerin. Eingedünnt auf wenige zitierfähige Sätze.<br />
Politisch korrekt. Zum Verwechseln ähnlich. Aber was, wenn sich nichts ändert? Auch nicht<br />
durch die Ermahnungen aus Rom und von den Feiertagskanzeln in Deutschland. Die<br />
Empörung abgeflaut – die Beschwichtigungen präsentiert – Meinungen und<br />
Gegenmeinungen großzügig toleriert … Was, wenn sich nichts ändert?
Beim Amt der Schlüssel gibt es eine klare Antwort auf diese Frage: Hört [der Sünder] auch<br />
auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner. Ende des Redens,<br />
Konfrontation, Trennung, Ausschluss. Darf die Kirche das tun? Ist das nicht intolerant? Ja,<br />
mehr noch: zutiefst unbarmherzig und unchristlich?<br />
Meine Kirche hat in zwei Situationen eine solche strikte Trennung gewagt. Kirchenzucht gewissermaßen<br />
im 20. Jahrhundert. In der Frage der Rassentrennung in Südafrika wurde<br />
1982 die Rechtfertigung der Apartheid zur Häresie erklärt. Und ebenfalls 1982 ächtete die<br />
Weltgemeinschaft der reformierten Kirchen Atomwaffeneinsätze. Beides, Rassismus und<br />
Atomkrieg, verhöhnt Gesetz und Evangelium. Der Widerspruch dagegen ist darum keine beliebige<br />
politische Meinung, sondern unverzichtbarer Teil des christlichen Bekenntnisses. Ja,<br />
des Bekenntnisses – so sehen es die Kirchen der reformierten Tradition. Keine confessio<br />
augustana oder helvetica kann das letzte Wort gewesen sein. Auch die Bekenntnisse müssen<br />
immer wieder und immer weiter erneuert werden. Darum ist in der reformierten Kirche<br />
auch Barmen mehr als nur eine theologische Erklärung.<br />
Geht das? Ethische und politische Fragen der Gegenwart in den status confessionis erheben?<br />
Vielleicht runzeln da jetzt einige von Ihnen die Stirn. Vielleicht vor allem einige der Jüngeren.<br />
Was ich da gesagt habe, ist womöglich typisch für meine Generation: occupy unterstützen<br />
und das Pfarrhaus für homosexuelle Paare öffnen! Gegen Waffenhandel demonstrieren<br />
und Abtreibung legalisieren! Die Bekenntnisschriften erweitern und Jesu Haltung zum<br />
Ehebruch verharmlosen! Tür und Tor öffnen für Relativismus …<br />
Ich will die Grundsatzfrage stellen: Kann die Kirche überhaupt Zurecht-Weisungen für ein gelingendes<br />
Leben aussprechen, wenn es gar nicht immer eindeutig und unzweifelhaft klar ist,<br />
was als gut oder böse zu gelten hat? Woher die Autorität heute nehmen? Eine biblizistische<br />
Antwort kann es darauf nicht geben. Die Weisungen Jesu in den Erzählungen der Evangelien<br />
sind keine zeitenthobenen Offenbarungen des erhöhten Christus. Als wahrer Mensch<br />
war Jesus ein Jude seiner Zeit, der die Gebote – auch die Reinheitsgebote im sexuellen Umgang<br />
– radikalisiert hat. Der Wortlaut der Bibel entbindet uns nicht davon, in unserer Zeit<br />
selbstverantwortlich moralisch zu urteilen. Im Vertrauen auf Gottes Geist und in ernster Auseinandersetzung<br />
innerhalb der Gemeinden und ihrer Gremien sind wir als erwachsene Kinder<br />
Gottes in die Freiheit entlassen.<br />
Und was ist mit diesem schwierigen Satz zum Schlüsselamt: 18 Wahrlich, ich sage euch: Was<br />
ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden<br />
lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.<br />
Das hat in früheren Zeiten viel Unglück ausgelöst! Verwerfung und Verstoßung! Verzweiflung<br />
und Höllenangst! Aber Kirchen öffnen oder schließen keine Pforten des Himmels. Binden<br />
und lösen, Grenzen setzen und Grenzen aufheben, ethische Entscheidungen treffen und gegebenenfalls<br />
revidieren, notfalls zu 'null Toleranz' aufrufen – all dies ist in unsere Vollmacht<br />
gelegt. Gewissermaßen vom Himmel auf die Erde delegiert. Wer alles für beliebig hält, ist<br />
nicht tolerant. Aber auch: Wer keine Veränderungen zulässt, ist nicht verantwortungsbereit.<br />
Natürlich müssen wir uns stets neu hinterfragen lassen. Natürlich übersehen wir immer wieder<br />
den Balken im eigenen Auge, wenn wir den Splitter aus dem Auge des anderen ziehen<br />
wollen. Natürlich können wir irren. Aber davor brauchen wir uns nicht zu fürchten, weil wir<br />
niemals – auch wenn wir ein striktes Nein ausrufen – weil wir niemals über das Heil unserer<br />
Mitmenschen richten.<br />
Mag sein, dass es Entscheidungen gibt, durch die wir Grenzen setzen, so dass andere für<br />
uns werden wie Heiden und Zöllner (Matthäus 18,18). Nazis dürfen wir nicht tolerieren. Missbrauch<br />
lässt sich nicht beschönigen. Rassisten gehören nicht in die Kirche, auch keine rassistisch<br />
denkenden Konfirmanden. Aber wir müssen uns erinnern lassen, dass es ausgerechnet<br />
die Heiden und Zöllner sind, mit denen Jesus Tischgemeinschaft hält. Mit diesem<br />
Paradox müssen wir fertig werden: Jesu Weisungen in den Evangelien sind streng und hart.<br />
Denken Sie an den reichen Jüngling. Denken Sie daran, dass da einer nicht einmal seinen<br />
Vater begraben darf, wenn es um die sofortige Nachfolge geht. Jesu Weisungen sind streng<br />
und hart. Und – sein Erbarmen ist grenzenlos.
Sündige hinfort nicht mehr, sagt Jesus in der Geschichte von der Ehebrecherin. Ob wir in<br />
den vielfältigen und komplizierten ethischen Fragen unserer Zeit richtig entscheiden, wissen<br />
wir nicht. Wie es mit der Ehebrecherin weiter ging, wird nicht erzählt.<br />
Vielleicht wird es ihr und uns gelingen, aus einem falschen Verhalten herauszufinden. Vielleicht<br />
wird ihr und uns das glücken, was im Heidelberger Katechismus so hoch gehalten<br />
wird: die Dankbarkeit, die hinfort weniger sündigen lässt. Aber vielleicht scheitern wir und sie<br />
ja auch. Weil wir nicht einsehen, was an unserem Verhalten falsch sein soll. Weil die<br />
Sachzwänge Neues verhindern. Weil wir schwach und egoistisch sind.<br />
Dann – dann dürfen wir mit Luther tapfer sündigen.<br />
Denn uns gilt die Verheißung:<br />
Selbst wenn eure Sünde blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist<br />
wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden. (Jesaja 1,18)<br />
Uns gilt diese Verheißung.<br />
Und der Ehebrecherin.<br />
Und den anderen.<br />
Allen anderen.<br />
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und<br />
Sinnen im Christus Jesus.<br />
AMEN<br />
<strong>Gudrun</strong> <strong>Kuhn</strong><br />
schleiermacher@odn.de