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LOBE DEN HERREN Liedpredigt beim Universitätsgottesdienst in ...

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<strong>LOBE</strong> <strong>DEN</strong> <strong>HERREN</strong><br />

<strong>Liedpredigt</strong> <strong>beim</strong> <strong>Universitätsgottesdienst</strong> <strong>in</strong> Erlangen<br />

am 13. Mai 2012 10 Uhr<br />

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus<br />

und die Liebe Gottes<br />

und die Geme<strong>in</strong>schaft des Heiligen Geistes<br />

sei mit uns allen. Amen.<br />

Liebe Geme<strong>in</strong>de -<br />

Geistliche Lieder s<strong>in</strong>d vollmächtige Zeugen und Botschafter des<br />

Evangeliums durch alle Jahrhunderte bis heute. Die besten unter ihnen s<strong>in</strong>d<br />

durchtränkt von den Gedanken, Worten und Bildern der Bibel. Sie<br />

verkünden die Heilstaten Gottes an den Hauptfesten des Kirchenjahres und<br />

legen uns die geeigneten Worte für Anbetung, Lob und Dank <strong>in</strong> den Mund.<br />

Wie viel Segen strömt aus dem gottesdienstlichen Gebrauch der Lieder <strong>in</strong><br />

das persönliche Glaubensleben und stärkt die Kranken und Sterbenden!<br />

Und mehr noch: Lieder leben aus der unzertrennlichen Symbiose von Wort<br />

und Ton, von Text und Musik. Auf diese Weise gehen Lieder tiefer <strong>in</strong> uns<br />

e<strong>in</strong> und bleiben länger präsent. Sie berühren nicht nur das rationale<br />

Verstehen, sondern br<strong>in</strong>gen unsre Emotionen, unsre Gefühle und<br />

Empf<strong>in</strong>dungen zum Schw<strong>in</strong>gen. Und wir hören die Lieder nicht nur, wir<br />

s<strong>in</strong>gen sie uns selbst und e<strong>in</strong>ander zu - lebendige Kommunikation des<br />

Evangeliums. Lieder s<strong>in</strong>d es wahrlich wert, dass wir je und dann <strong>in</strong> sie<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>horchen und herausholen, was <strong>in</strong> ihnen verdichtet verborgen wohnt.<br />

Heute steht e<strong>in</strong> besonders e<strong>in</strong>drückliches Beispiel von S<strong>in</strong>gen und Sagen<br />

im Mittelpunkt: das überschäumende Jubellied Lobe den Herren, den<br />

mächtigen König der Ehren (EG 317), der Hit unter den Chorälen, das<br />

meist gesungene Kirchenlied überhaupt; bekannt <strong>in</strong> allen Konfessionen,<br />

verbreitet <strong>in</strong> unzähligen Übersetzungen, geliebt auf der ganzen Welt - e<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>ternational und ökumenisch verb<strong>in</strong>dender Lobpreis. Man kann lange<br />

herumrätseln, warum gerade dies Lied zu e<strong>in</strong>er solchen Würde gekommen<br />

ist. Umschreibt es den kle<strong>in</strong>sten geme<strong>in</strong>samen Nenner, auf den sich die<br />

Gläubigen jedweder Färbung verständigen können? Trifft es jene<br />

Grenzsituationen e<strong>in</strong>er glücklichen Bewahrung im Leben, für die wir<br />

wenigstens dann und wann, <strong>beim</strong> Rückblick am Geburtstag, bei der<br />

feierlichen Eheschließung, <strong>beim</strong> runden Jubiläum aus vollem Herzen Dank<br />

1


sagen möchten? Oder liegt der beispiellose Erfolg an der vom Dichter<br />

ausgewählten und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Stil bearbeiteten Melodie: e<strong>in</strong> zierliches<br />

Menuett oder gar e<strong>in</strong> flotter Walzer im sw<strong>in</strong>genden Dreiertakt, ganz <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

ungetrübtes Dur getaucht? Es bleibt letztlich unerklärlich, was und wen das<br />

Volk oder das Kirchenvolk zu se<strong>in</strong>en Liebl<strong>in</strong>gen wählt. In diesem Fall hat<br />

es gut daran getan: e<strong>in</strong> ansprechendes Lied mit Qualität und Substanz.<br />

Psalmist des Neuen Bundes ist Joachim Neander, der Dichter unsres Liedes<br />

genannt worden. Als schreibender und s<strong>in</strong>gender Prediger bewegt er sich<br />

jedenfalls auf dem Fundament der biblischen Schriften, und hier wiederum<br />

haben es ihm die Psalmen angetan. Das verschafft se<strong>in</strong>em Lied von vorn<br />

here<strong>in</strong> die Resonanz und Akzeptanz. Die biblischen Psalmen, die Lieder<br />

des alten Israel, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> idealer Weise vorgeformt als poetische Aussagen <strong>in</strong><br />

korrespondierenden Verszeilen, <strong>in</strong> starken Bildern und Metaphern; sie rufen<br />

geradezu nach e<strong>in</strong>er gereimten und aktualisierenden Umschreibung, wie es<br />

denn auch zu allen Zeitepochen geschehen ist. Hier wird ke<strong>in</strong>e Dogmatik<br />

vorgetragen, ke<strong>in</strong>e prophetische Scheltrede gehalten. Hier sieht sich der<br />

Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Widerspruch, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Irrungen und Wirrungen, <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Suchen und Fragen vor se<strong>in</strong>en Gott gestellt; er r<strong>in</strong>gt mit Gott und<br />

r<strong>in</strong>gt sich manchmal zu e<strong>in</strong>em ungetrübten Loben und Danken durch.<br />

Luther hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Psalmenvorrede von 1528 die polaren Gegensätze wohl<br />

erkannt: Wo f<strong>in</strong>det man fe<strong>in</strong>er Wort von Freuden, denn die Lobpsalmen<br />

oder Dankpsalmen haben? Da siehest du allen Heiligen <strong>in</strong>s Herze wie <strong>in</strong><br />

schöne lustige Garten, ja wie <strong>in</strong> den Himmel ... Wiederum, wo f<strong>in</strong>dest du<br />

tiefer, kläglicher, jämmerlicher Wort von Traurigkeit, denn die<br />

Klagepsalmen haben? Da siehest du abermal allen Heiligen <strong>in</strong>s Herze wie<br />

<strong>in</strong> den Tod, ja wie <strong>in</strong> die Hölle ... Für unser Lied fühlt sich der<br />

Dichtersänger von Psalm 103,1-5 angesprochen, e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>er Lobgesang - wir<br />

haben ihn als Introitus gesungen. Er schiebt dabei alle enttäuschenden<br />

Erfahrungen beiseite und taucht se<strong>in</strong>e Verse <strong>in</strong> e<strong>in</strong> helles Licht ohne<br />

Schatten. Mit e<strong>in</strong>em gewissen Recht: Se<strong>in</strong> Lied will nicht realistisch die<br />

wie auch immer geartete Wirklichkeit abbilden, sondern Vertrauen und<br />

Hoffnung wecken und die Sehnsucht danach stärken.<br />

Lobe den Herren ... Die erste Strophe, die Startstrophe tritt als sachgerechte<br />

Ouvertüre an: e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gliche E<strong>in</strong>ladung, Aufmunterung und<br />

Aufforderung - übrigens e<strong>in</strong> verbreitetes Anfangsmotiv vieler Psalmen.<br />

Lobe den Herren ... Welcher Herr soll das Ziel von Loben und Danken<br />

se<strong>in</strong>? Der Dichter legt Gott e<strong>in</strong>en Ehrentitel bei, den er wie häufig bei<br />

2


se<strong>in</strong>en Versen aus anderen Psalmen assoziiert: Machet die Tore weit und die<br />

Türen <strong>in</strong> der Welt hoch, dass der König der Ehren e<strong>in</strong>ziehe (Ps 24,7).<br />

Neander hat gut beobachtet: Das Gotteslob kommt nicht von alle<strong>in</strong>e, es ist<br />

nicht selbstverständlich da angesichts der oft bedrückenden Umstände. Und<br />

wenn schon gelobt statt gejammert wird, drängt sich das Eigenlob mächtig<br />

<strong>in</strong> den Vordergrund. Wir loben, was wir vor Augen oder <strong>in</strong> Händen haben:<br />

Leben und Leistung, Besitz und Bedeutung. Und dabei werden wir bl<strong>in</strong>d<br />

und taub, gedankenlos und gleichgültig gegenüber jener Macht, der wir im<br />

Grunde uns und alles verdanken. So beg<strong>in</strong>nt der Dichter erst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en<br />

regelrechten Dialog mit se<strong>in</strong>em eigenen Ich, e<strong>in</strong> Zwiegespräch mit der<br />

geliebeten Seele, dem <strong>in</strong>nersten Zentrum von Denken, Fühlen und Wollen;<br />

vielleicht ist mit dieser Anrede ganz versteckt auch e<strong>in</strong> anderes, fremdes<br />

Ich geme<strong>in</strong>t. Er will das Begehren se<strong>in</strong>er Seele anregen: Raffe dich auf!<br />

Lass ihn hochleben, den Herrn! Klatsche ihm Beifall und sag ihm dankbar<br />

de<strong>in</strong> zustimmendes Ja!<br />

Dann erweitert der Dichter die Szenerie: Nicht nur die geliebete Seele im<br />

Innern oder der e<strong>in</strong>same Beter im Kämmerle<strong>in</strong> soll sich zum Lob<br />

motivieren, sondern die ganze versammelte Geme<strong>in</strong>de, ja der ganze Haufe<br />

der Christenheit oder der Menschheit schlechth<strong>in</strong>: Kommet zu Hauf ...! Das<br />

Lob wirkt ansteckend und geme<strong>in</strong>schaftsfördernd; die eigenen guten<br />

Erfahrungen sollen mit denen der Anderen zusammenkl<strong>in</strong>gen. Und nicht<br />

nur die Quantität, sondern auch die Qualität wird gesteigert: Wach auf,<br />

me<strong>in</strong>e Seele, wach auf Psalter und Harfe! (Ps 57,9). Der Dichter erweckt<br />

die Instrumente der biblischen Lobsänger zu neuem Leben. Wort und Ton,<br />

vokal und <strong>in</strong>strumental, s<strong>in</strong>d die geeigneten Medien für e<strong>in</strong> allumfassendes<br />

Lob, das aus dem Innern, eben aus der Seele aufkl<strong>in</strong>gt: Lasset die musicam<br />

hören - wie wir vorh<strong>in</strong> <strong>in</strong> der orig<strong>in</strong>alen Urfassung gehört haben und wie<br />

wir es <strong>in</strong> dieser sonntäglichen Stunde tun wollen.<br />

Wer war dieser Dichter, der mit den Sätzen der Psalmen e<strong>in</strong> so<br />

weltumspannendes Gotteslob anstimmt und uns zum S<strong>in</strong>gen und Sagen<br />

aufruft? Joachim Neander, 1650 <strong>in</strong> Bremen geboren und aufgewachsen,<br />

besucht die dortige Late<strong>in</strong>schule, an der se<strong>in</strong> Vater als Lehrer unterrichtet.<br />

Mit 16 Jahren wechselt er auf das Gymnasium illustre, die bremische<br />

Universität und studiert reformierte Theologie. Fast am Ende se<strong>in</strong>es<br />

Studiums erlebt er se<strong>in</strong>e Lebenswende zum Glauben durch e<strong>in</strong>e Predigt des<br />

neuberufenen Pfarrers Theodor Undereyk an St.Marien. Offenbar müssen<br />

die Augen und Ohren und das Herz geöffnet werden, dass e<strong>in</strong> Mensch im<br />

3


Ernst s<strong>in</strong>gen kann: Lobe den Herren ... Mit 21 Jahren begleitet er fünf<br />

Söhne von Kaufleuten aus der französisch-reformierten Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong><br />

Frankfurt als Erzieher und Hauslehrer nach Heidelberg und lebt und<br />

studiert mit ihnen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geistlichen Wohn- und Lerngeme<strong>in</strong>schaft. Nach<br />

2 Jahren begegnet er auf der Rückreise nach Frankfurt dem Theologen<br />

Philipp Jakob Spener und besucht dessen collegia pietatis, die nachmals<br />

berühmt gewordenen Erbauungsstunden. Viel Wärme und Wachstum<br />

erfährt er <strong>in</strong> diesem Kreis. Hier werden se<strong>in</strong>e poetischen und musikalischen<br />

Gaben entdeckt und geweckt; se<strong>in</strong>e ersten Lieder werden <strong>in</strong> Speners<br />

Hauskreis gesungen.<br />

Mit 24 Jahren wird Neander als Rektor der Late<strong>in</strong>schule der reformierten<br />

Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Düsseldorf angestellt, damals das Schulamt als Vorstufe zum<br />

späteren Pfarramt. Er leitet e<strong>in</strong>e Zwergschule mit zwei Klassen und erhält<br />

e<strong>in</strong>en Hungerlohn von 78 Talern aufs Jahr; sichtbare Erfolge bei Schülern<br />

oder Geme<strong>in</strong>degliedern hat er nicht. In se<strong>in</strong>en freien Stunden wandert er<br />

h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> die E<strong>in</strong>samkeit des felsigen Düsseltales und s<strong>in</strong>gt erst e<strong>in</strong>mal für<br />

sich se<strong>in</strong>e Lob- und Danklieder von Schöpfung und Schönheit Gottes. Er<br />

öffnet alle S<strong>in</strong>ne für die Natur und macht sie erlebbar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Gesängen:<br />

Himmel, Erde, Luft und Meer (EG 504) - so haben wir vorh<strong>in</strong> mite<strong>in</strong>ander<br />

gesungen; die Natur als aufgeschlagenes Bilderbuch Gottes, als F<strong>in</strong>gerzeig<br />

se<strong>in</strong>er Größe und se<strong>in</strong>er leiblich-s<strong>in</strong>nlichen Wohltaten.<br />

Die Melodien zu se<strong>in</strong>en Texten erf<strong>in</strong>det und notiert Neander selbst. Er<br />

denkt dabei an e<strong>in</strong> affektgeladenes, gefühlsbetontes Sololied im Stil der<br />

volkstümlichen barocken Aria, begleitet im Freien mit Laute oder Gitarre,<br />

und für den Hausgebrauch mit Cembalo oder Kle<strong>in</strong>orgel fügt er die<br />

Generalbassl<strong>in</strong>ien mit den Ziffern der Akkordbegleitung h<strong>in</strong>zu. Dichter und<br />

Komponist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person vere<strong>in</strong>t, <strong>in</strong> S<strong>in</strong>gen und Sagen gleichermaßen e<strong>in</strong><br />

erf<strong>in</strong>dungsreicher Meister. In se<strong>in</strong>em Gesangbüchle<strong>in</strong> BUNDES-LIEDER<br />

UND DANK-PSALMEN von 1680 s<strong>in</strong>d 58 Texte mit 43 eigenen Melodien<br />

gesammelt - im Evangelischen Gesangbuch s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige bis heute im<br />

Gebrauch. Manchmal orientiert er sich an Vorlagen, z.B. bei unserem Lied<br />

Lobe den Herren an e<strong>in</strong>em hüpfenden, verschnörkelten, ungeme<strong>in</strong><br />

populären Studentenliedchen: Seh ich nicht bl<strong>in</strong>kende, fl<strong>in</strong>kende Sterne<br />

aufgehen? Das hat ihm gefallen, und es kommt se<strong>in</strong>em Sprachstil des<br />

poetischen Daktylus sehr entgegen, dem Metrum mit der betonten<br />

Hauptsilbe und den zwei folgenden unbetonten Silben: ... mé<strong>in</strong>e gelíebete<br />

Séele ... Nach Neander wird der Daktylus zum Liebl<strong>in</strong>gsmetrum des frühen<br />

Pietismus als Ausdruck e<strong>in</strong>es enthusiastischen Lebensgefühls, e<strong>in</strong>er<br />

4


vorwärtsdrängenden, mitreissenden geistlichen Bewegung. Und noch<br />

etwas: Wie er das Echo se<strong>in</strong>er Töne von den Felsen zurückschallen hört, so<br />

baut er das Echo als forte und piano, als Oktavversetzungen oder<br />

Wiederholung der Schlusszeilen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Lieder e<strong>in</strong> - auch <strong>in</strong> unserem<br />

Loblied, wie wir vom Chor <strong>in</strong> Orig<strong>in</strong>alfassung hören konnten. Leider s<strong>in</strong>d<br />

solche Fe<strong>in</strong>heiten e<strong>in</strong>es Solo- und Seelenliedes dem geme<strong>in</strong>schaftlichen<br />

Kirchengesang zum Opfer gefallen, und dabei ist viel vom ursprünglichen<br />

Charme der Vertonung verloren gegangen.<br />

Doch nicht nur e<strong>in</strong>sam und alle<strong>in</strong> hält sich Neander im Düsseltal auf.<br />

Gläubig Erweckte aus den benachbarten Orten des Bergischen Landes<br />

strömen zu ihm h<strong>in</strong>aus. Er s<strong>in</strong>gt und betet mit ihnen, bespricht e<strong>in</strong>en<br />

Bibelabschnitt und legt ihnen die Heiligung des Lebens ans Herz - private<br />

erbauliche Versammlungen im Grünen als e<strong>in</strong>e Glaubensform des frühen<br />

Pietismus: christliches Leben statt orthodoxer Lehre, seelische Emotion<br />

statt mechanischem Lippenbekenntnis. Hier im freien Gelände s<strong>in</strong>d die<br />

Erweckten den argwöhnischen Blicken und strengen Verboten der<br />

Kirchenbehörde entzogen; sie können für sich und mite<strong>in</strong>ander feiern. Die<br />

mündliche Überlieferung wusste e<strong>in</strong>ige besondere Stellen zu benennen:<br />

Neanders Stuhl, der Predigtstuhl, wo er gesprochen und gesungen hat,<br />

Neanders Höhle, wo er sich notfalls verstecken konnte. Später g<strong>in</strong>g se<strong>in</strong><br />

Name auf die ganze Gegend über: Neandertal. Im 19. Jahrhundert wurden<br />

die Felsen abgetragen; bei diesen Ste<strong>in</strong>brucharbeiten fand man 1856 die<br />

Reste e<strong>in</strong>es prähistorischen Menschenskeletts und gab ihm nach dem<br />

Fundort den Namen Neandertaler - e<strong>in</strong> unbedeutender Kandidat des<br />

Predigtamtes und unbekannter Dichtersänger bekommt auf diese skurrile<br />

Weise e<strong>in</strong>e weltweite Würdigung.<br />

Die erbaulichen Versammlungen im Grünen werden Neander zum<br />

Verhängnis. Schon zwei Jahre nach Amtsantritt als Schulrektor bekommt er<br />

Kanzelverbot, die Entlassung wird ihm angedroht. Er bewirbt sich an<br />

anderen Orten um e<strong>in</strong>e Pfarrstelle, wird aber überall abgelehnt. Schließlich<br />

stellt ihn der ihm wohlgesonnene Pfarrer Undereyk als Hilfsprediger <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Heimatstadt Bremen an. Im Volksmund heißt er der Five-Prediger,<br />

weil er sommers wie w<strong>in</strong>ters den Frühgottesdienst um 5 Uhr halten muss,<br />

ohne Zulauf, ohne Resonanz. Schon bald stirbt er nach kurzer heftiger<br />

Krankheit im Alter von gerade 30 Jahren; sang- und klanglos wird er an<br />

unbekannter Stelle auf dem Friedhof verscharrt. Se<strong>in</strong> Lebenswerk bleibt<br />

Fragment; den Druck se<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Liederbüchle<strong>in</strong>s im Todesjahr hat er<br />

wohl nicht mehr erlebt. Wie kann e<strong>in</strong> Mensch bei derartiger<br />

5


Schicksalsfügung e<strong>in</strong> solch lichtvolles, schattenloses Danklied wie Lobe<br />

den Herren schreiben und s<strong>in</strong>gen? Das Lob bekommt e<strong>in</strong>e ganz andere<br />

Dimension: Lob aus der Tiefe, Urvertrauen <strong>in</strong> aussichtsloser Lage, Liebe zu<br />

Gottes Schöpfung auf dem H<strong>in</strong>tergrund rascher Vergänglichkeit, Liebe zu<br />

Jesus <strong>in</strong>mitten hochmütiger Theologendebatten und frostig formaler<br />

Kirchenfrömmigkeit; biblisch gesprochen: Lob wie Hiob im Aschenhaufen,<br />

wie die drei Männer im Feuerofen, wie Paulus und Silas im Gefängnis um<br />

Mitternacht. Neander ist e<strong>in</strong>er der begnadeten Frühvollendeten, von ferne<br />

ähnlich <strong>in</strong> unsrer Zeit dem Dichter Jochen Klepper (39 Jahre) oder dem<br />

Komponisten Hugo Distler (34 Jahre) - wir hören nun Distlers Vertonung<br />

des Neanderschen Lobliedes.<br />

Distlers Motette stimmt uns wieder auf die Hauptspur des Lobliedes e<strong>in</strong>.<br />

Warum eigentlich sollen wir, die e<strong>in</strong>zelne geliebete Seele oder der ganze<br />

Haufe, diesen mächtigen König der Ehren lieben und loben? Jetzt muss der<br />

Dichter, der <strong>in</strong> der Ouvertüre solch e<strong>in</strong> hochgestimmtes Lobgetön <strong>in</strong>toniert<br />

hat, se<strong>in</strong>e Argumente vortragen. Er tut es alsbald, beg<strong>in</strong>nend mit Strophe 2,<br />

und er geht es ganz geschickt an, lockend und gew<strong>in</strong>nend. Behutsam <strong>in</strong><br />

Frageform verwickelt er se<strong>in</strong>e geliebete Seele und die S<strong>in</strong>genden überhaupt<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gespräch: Hast du nicht dieses verspüret? Gefällt dir das etwa nicht?<br />

Hast du denn nicht wenigstens ansatzweise <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Erleben die Spuren<br />

dieses herrscherlichen und fürsorglichen Gottes entdeckt? Ganz vorsichtig<br />

möchte der Dichter die Gewissheit vermitteln: Gott hält die Welt <strong>in</strong><br />

Händen. Er der Gott der Bundestreue, auf den wir uns verlassen können; er<br />

der Gott der Barmherzigkeit, der se<strong>in</strong> Geschöpf erhält - hatten wir das nicht<br />

schon immer erhofft? So gesehen ist selbst das leise Lob e<strong>in</strong> lauter Protest<br />

gegen die graue und grausame Wirklichkeit, e<strong>in</strong> Bekenntnis zum Vertrauen,<br />

e<strong>in</strong> Aufbrechen von Glaube und Hoffnung. Das Symbol hierfür, das<br />

Neander se<strong>in</strong>em Hauptpsalm entnimmt (Ps 103,5), ist das kühne Bild vom<br />

Adler. Der Adler schwebt mit se<strong>in</strong>en mächtigen Flügeln, den Fittichen, dem<br />

Himmel nahe über Täler und Hügel, über Felsen und Schluchten. Haben<br />

wir nicht schon oft im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> empfunden, dass wir über Abgründe<br />

getragen worden s<strong>in</strong>d? Dass wir aus gefährlichen Situationen, die uns kaum<br />

<strong>in</strong> ihrer ganzen Härte bewusst waren, wie durch e<strong>in</strong> Wunder herausgeführt<br />

wurden? Die tragenden Flügel des Adlers, und der Dichter möchte mit<br />

se<strong>in</strong>en Fragen unsere Zustimmung gew<strong>in</strong>nen: Ja, so war es! In diesem Ja<br />

drückt sich das Lob aus auf den vorsorgenden und fürsorgenden Gott, den<br />

Liebhaber des Lebens.<br />

6


Der angestoßene Dialog setzt sich <strong>in</strong> Strophe 3 fort; nun wird der mächtige<br />

König der Ehren als schöpferischer Gott thematisiert. Sieh doch, so redet<br />

der Dichter mit se<strong>in</strong>er geliebeten Seele und den S<strong>in</strong>genden überhaupt, wie<br />

künstlich - und das me<strong>in</strong>t im heutigen Sprachgebrauch kunstvoll, mit<br />

großem Können - du gestaltet bist, fe<strong>in</strong> geformt vom Mutterleib bis <strong>in</strong>s<br />

Greisenalter. Du kannst Vernunft und Gefühl gebrauchen, Augen und<br />

Ohren öffnen und viel Freundliches erleben, Füße und F<strong>in</strong>ger bewegen und<br />

die Welt und Umwelt gestalten. In diesem Zusammenhang fällt das<br />

Stichwort Gesundheit, das uns heutzutage mit Wünschen und<br />

Befürchtungen besonders beschäftigt; es gehört zu jenen säkularen<br />

Indizien, die das alte Lied aus vergangenen Zeiten für uns <strong>in</strong>teressant und<br />

relevant machen. Verstehe doch: Du kannst <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong> leidlicher<br />

Gesundheit auf den Füßen und auf festem Boden stehen bei so viel<br />

Möglichkeiten von Schwäche, Krankheit, Vergänglichkeit. Ist das nicht e<strong>in</strong><br />

Anlass zum Loben und Danken? Damit kommt wiederum das Symbol von<br />

den Flügeln <strong>in</strong>s Spiel, diesmal nicht als die tragenden Schw<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>es<br />

Adlers, sondern als die bergenden, umhüllenden Flügel e<strong>in</strong>er Glucke: Wie<br />

köstlich ist de<strong>in</strong>e Güte, Gott, dass Menschenk<strong>in</strong>der unter dem Schatten<br />

de<strong>in</strong>er Flügel Zuflucht haben (Ps 36,8), assoziiert der Dichter aus e<strong>in</strong>em<br />

anderen Psalm; kühlender Schatten bei stechender Sonne und beruhigender<br />

Trost <strong>in</strong> der irren, wirren Nacht (Ps 121,6), e<strong>in</strong> Stecken und Stab im f<strong>in</strong>stern<br />

Tal (Ps 23,4), um es wiederum <strong>in</strong> der dem Dichter geläufigen<br />

Psalmensprache zu sagen. Ganz vorsichtig kl<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ausruf der<br />

dunkle H<strong>in</strong>tergrund an: In wieviel Not ..., doch er wird sogleich überboten<br />

von der vertrauensvollen Gewissheit, dass uns der gnädige Gott von allen<br />

Seiten umgibt. Lob also nicht so dahergesagt wie e<strong>in</strong>e Lobhudelei, sondern<br />

gewonnen aus der Erfahrung der Geborgenheit, verbunden mit tief<br />

empfundenem Dank.<br />

Wie sich e<strong>in</strong> Dreiklang von unten nach oben als Klimax aufbaut, tauchen <strong>in</strong><br />

Strophe 4 zwei Stichworte auf, die dem Gotteslob die letzte entscheidende<br />

Dimension geben: Segen und Liebe. Die menschlichen Beziehungen rücken<br />

näher: de<strong>in</strong> Stand - gewiss e<strong>in</strong> altertümliches Wort, aber durchaus<br />

verständlich <strong>in</strong> den Zusammensetzungen wie Familienstand, Berufsstand,<br />

Ruhestand ... Begreif doch, so spricht der Dichter mit se<strong>in</strong>er geliebeten<br />

Seele und den S<strong>in</strong>genden überhaupt, wie sehr du dort, wo du gerade stehst,<br />

mit Gottes Kraft und Mut beschenkt bist. Die Ermahnungen werden<br />

dr<strong>in</strong>glicher: Denke daran! Auch unsere E<strong>in</strong>sprüche werden massiver: Was<br />

ist, wenn andere Töne näher liegen als der Lobpreis: Stoßseufzer,<br />

Klagelaute, Fluchworte, Schimpftiraden? Wenn wir Terror und Tränen<br />

7


erleben, hilfeschreiende Hungernde hören, menschenverachtende<br />

Methoden spüren? Wenn alles Mögliche vom Himmel kommt: saurer<br />

Regen und radioaktive Strahlen, Bomben und Raketen, nur die Liebe nicht?<br />

Immer wird die raue Wirklichkeit das Lob anfechten und außer Kraft setzen<br />

wollen. Und trotzdem: Immer wieder will uns dieser Dichter zum Lob<br />

ermuntern. Ihm ist das Wesen Gottes als Güte und Gnade aufgegangen, und<br />

er kann es nicht anders benennen als mit dem Wort des tiefsten<br />

Geheimnisses: Liebe. Gewiss denkt er als gläubig erweckter Christ, wenn<br />

auch ganz verschlüsselt, an Jesus als die Liebe Gottes <strong>in</strong> Person, obwohl er<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Zeile des ganzen Liedes Jesus mit Namen nennt. Der Satz ... aus<br />

dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet berührt sich mit jener<br />

biblisch-prophetischen Verheißung, die oftmals <strong>in</strong> Liedern zum Advent auf<br />

das Kommen Jesu gedeutet wurde, etwa Ihr Wolken, brecht und regnet<br />

aus / den König über Jakobs Haus (EG 7 Str.2). Man muss es nicht so<br />

sehen, aber für den Dichter hat das Allerweltswort Liebe diese<br />

christologische Prägung. Jedenfalls wird als Höhepunkt des Liedes das<br />

Wunder verkündigt und gelobt, dass uns der mächtige König der Ehren <strong>in</strong><br />

unbegreiflicher Zuneigung nahe gekommen ist. Der Schöpfungsbund,<br />

würde der Theologe Neander sagen, ist durch den Gnadenbund überboten<br />

und vollendet.<br />

Strophe 5 als F<strong>in</strong>ale des relativ kurzen und kompakten Liedes<br />

korrespondiert mit der Ouvertüre <strong>in</strong> Strophe 1. Jetzt bleibt die letzte<br />

Gelegenheit, den Hauptpsalm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Spitzensätzen nachzusprechen und<br />

zu vervollständigen: Lobe den Herrn, me<strong>in</strong>e Seele, und was <strong>in</strong> mir ist,<br />

se<strong>in</strong>en heiligen Namen (Ps 103,1), und sogar der Parallelvers kl<strong>in</strong>gt an: ...<br />

und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat (Ps 103,2). Das Gute hat der<br />

Dichter im Mittelteil se<strong>in</strong>es Liedes ausreichend umschrieben. Nun erweitert<br />

er nochmals die zeitliche und räumliche Dimension des Lobes mit dem<br />

Schlussvers zum gesamten Psalterbuch: Alles, was Odem hat, lobe den<br />

Herrn. Halleluja! (Ps 150,6) - vom Individuum zum Universum, von der<br />

geliebeten Seele zu allen beseelten Lebewesen <strong>in</strong> Natur und Kreatur. Der<br />

Dichter fügt e<strong>in</strong>e recht befremdliche und vielleicht anstößige Formulierung<br />

h<strong>in</strong>zu: ... mit Abrahams Samen. Zu verschiedenen Zeiten ist dieser Vers<br />

umgedichtet oder getilgt worden bis h<strong>in</strong> zur sogenannten ökumenischen<br />

Fassung: Lob ihn mit allen, die se<strong>in</strong>e Verheißung bekamen (EG 316), wohl<br />

<strong>in</strong> der Me<strong>in</strong>ung, der orig<strong>in</strong>ale Text sei den heute S<strong>in</strong>genden nicht mehr<br />

zuzumuten. Aber gerade diese Wortkomb<strong>in</strong>ation Abrahams Samen ist<br />

bedeutsam, und es tritt e<strong>in</strong> verschlüsselter Tiefs<strong>in</strong>n, vom Dichter<br />

beabsichtigt oder nicht, <strong>in</strong> den Vordergrund. Abraham wird als der Ahnherr<br />

8


der drei monotheistischen Religionen verehrt: im Judentum als Segensfigur<br />

der Väterverheißungen, im Christentum seit Paulus‘ Interpretation als<br />

Urbild des gerechtmachenden Glaubens, im Islam als erster Vorgänger des<br />

letzten Propheten. Was wäre das für e<strong>in</strong>e Revolution, wenn die<br />

abrahamitischen Religionen Gott als dem Retter und Richter geme<strong>in</strong>sam<br />

das Lob s<strong>in</strong>gen und sagen würden! Was würde das für unsre drängenden<br />

Probleme von Migration und Integration bedeuten? Das E<strong>in</strong>stimmen <strong>in</strong> das<br />

Gotteslob legt unumkehrbar die Rangfolge der Anbetung fest: Gott der<br />

Schöpfer von Uranfang an bis zur Vollendung, die Menschen se<strong>in</strong>e<br />

Geschöpfe mit allen Mitgeschöpfen. Geht das Lob an die richtige Adresse,<br />

wird der menschlichen Hybris, zu se<strong>in</strong> wie Gott, und der Tyrannis der<br />

Stärkeren gewehrt; Frieden kann sich ausbreiten. Das wäre das Licht, das<br />

zu wahrer Erleuchtung und Aufklärung drängt. Mit dieser Perspektive kann<br />

der Dichter mit Recht se<strong>in</strong> Lied <strong>in</strong> Text und Ton beenden: Lobende - <strong>in</strong><br />

voller Absicht ist ke<strong>in</strong> Substantiv genannt und muss jeweils ergänzt<br />

werden: lobende geliebete Seele, lobender Haufe der Christenheit, lobende<br />

Musik <strong>in</strong> vokalem und <strong>in</strong>strumentalem Gewand, lobender Atem der<br />

Kreaturen, geme<strong>in</strong>sam lobende Religionen - also: Lobende, schließe mit -<br />

Amen.<br />

Mart<strong>in</strong> Rößler<br />

9

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