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Wie wir wurden, was wir sind - ErzieherIn.de

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Ursel Heinze<br />

<strong>Wie</strong> <strong>wir</strong> <strong>wur<strong>de</strong>n</strong>, <strong>was</strong> <strong>wir</strong> <strong>sind</strong><br />

Separation, Integration und Inklusion in Deutschland<br />

Der Begriff Inklusion bahnt sich seinen Weg im elementarpädagogischen Feld.<br />

Während „Integration“ bereits leichtfüßig daher kommt und breite Anerkennung<br />

sichert, ist „Inklusion“ noch wenig verortet und zuweilen diffus <strong>de</strong>finiert. Ein<br />

<strong>de</strong>utschlandspezifischer Blick zurück und voraus verhilft zu mehr Verständnis in<br />

<strong>de</strong>r gegenwärtigen Debatte.<br />

Drei junge Männer, in <strong>de</strong>r Ausbildung zum Erzieher,<br />

sprechen mich an. Sie haben sich ein Thema für ihr<br />

nächstes Referat in <strong>de</strong>r Fachschule gewählt: Integration.<br />

Während ihrer Recherchen haben sie erfahren, dass ich<br />

Expertin für Integration bin. Im Gespräch mit mir korrigieren<br />

sie sich immer wie<strong>de</strong>r selbst. Das Wort „Integration“<br />

geht leicht von <strong>de</strong>n Lippen, scheint ihnen aber<br />

nicht mehr korrekt. „Wir dürfen Integration nicht mehr<br />

sagen, das heißt jetzt Inklusion“, äußert sich einer <strong>de</strong>r<br />

Studieren<strong>de</strong>n. Diese Szene gibt mir zu <strong>de</strong>nken: Deutlich<br />

<strong>wir</strong>d, dass hier ein Begriff durch einen an<strong>de</strong>ren ersetzt<br />

<strong>wir</strong>d – wohl eher im Sinne von politischer Korrektheit.<br />

Je<strong>de</strong>nfalls können meine Gesprächspartner nicht benennen,<br />

<strong>was</strong> <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n<br />

Begriffen ist und welche Konzepte und Haltungen<br />

sich dahinter verbergen. Dennoch – und das ist die gute<br />

Nachricht – sehe ich bei <strong>de</strong>n Studieren<strong>de</strong>n ein großes<br />

Interesse an <strong>de</strong>m (immerhin selbst gewählten) Thema:<br />

Inklusion/Integration bewerten sie als be<strong>de</strong>utungsvoll<br />

und für ihr späteres Berufsleben als praxisrelevant.<br />

Auf <strong>de</strong>m Weg von <strong>de</strong>r Separation<br />

zur Integration: Die 1980er-Jahre<br />

Im Jahr 1982 entschei<strong>de</strong>t sich ein ganz „normaler“<br />

evangelischer Kin<strong>de</strong>rgarten in Frankfurt nach langer<br />

Vorbereitung mit Träger und Team, Kin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rung<br />

aufzunehmen. Als Team­Mitglied war ich<br />

damals selbst Beteiligte. Die ersten Kin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rung<br />

kamen. Ein kleiner Junge mit Down­Syndrom,<br />

ein Mädchen, das nicht sehen konnte; an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r<br />

folgten. Wir freuten uns, waren aber auch unsicher:<br />

„Offene Türen, das geht nicht für Kin<strong>de</strong>r mit Down­<br />

Syndrom! Die laufen doch immer weg.“ „Frühstücken,<br />

wenn <strong>de</strong>r Hunger da ist und nicht nach Plan? Dieses<br />

Kind kann ohne klare Strukturen nicht sein. Es merkt<br />

nicht, wann es Hunger hat,“ o<strong>de</strong>r „es merkt nicht,<br />

wann es satt ist.“ Natürlich haben sich die Kolleginnen<br />

vorher kundig gemacht, waren hospitieren und<br />

fan<strong>de</strong>n doch nirgendwo <strong>de</strong>n Stein <strong>de</strong>r Weisen. Die gemeinsame<br />

Vorstellung im Team war: Was für alle an<strong>de</strong>ren<br />

Kin<strong>de</strong>r gut ist, muss auch für Kin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rung<br />

gut sein! O<strong>de</strong>r?<br />

Die Begegnung mit einem<br />

behin<strong>de</strong>rten Kind macht Angst.<br />

Therapeutinnen, die auf Rezeptbasis von zehn bis zwölf<br />

Uhr vier Kin<strong>de</strong>r behan<strong>de</strong>ln wollten, kamen in <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rgarten.<br />

Diese Kin<strong>de</strong>r sollten pünktlich bereitstehen,<br />

<strong>de</strong>nn Zeit ist Geld! Aber – die Kin<strong>de</strong>r wehrten sich mit<br />

Hän<strong>de</strong>n und Füßen dagegen, ihr Spiel mit an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>rn<br />

zu unterbrechen. Sie verweigerten die Therapiesitzung.<br />

Wir waren extrem verunsichert! Unsere Fragen<br />

waren: Was kann <strong>de</strong>r richtige Weg sein? Warum wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>wir</strong> so stark und zum Teil aggressiv konfrontiert?<br />

Im Gespräch mit Professor Adriano Milani Comparetti<br />

– 1985 zu Gast in Frankfurt – haben <strong>wir</strong> eine<br />

Erklärung erhalten: Die Begegnung mit einem behin<strong>de</strong>rten<br />

Kind macht Angst. Milani Comparetti schreibt<br />

rückblickend auf seine eigene Berufsbiografie, als Leiter<br />

eines Zentrums zur Behandlung von Kin<strong>de</strong>rn mit<br />

Cerebralparese: „Dieses Zentrum basierte auf <strong>de</strong>r überkommenen<br />

Illusion, dass die Behandlung erst die Behin<strong>de</strong>rung<br />

vermin<strong>de</strong>rn müsse, sodass dann später ein normales<br />

Leben möglich wür<strong>de</strong>. Dagegen möchte ich betonen, dass<br />

Rehabilitation mit <strong>de</strong>m Einbeziehen in das normale Leben<br />

beginnt und ohne dies zum Scheitern verurteilt ist.“<br />

Bei uns <strong>de</strong>utschen Fachleuten äußerte er Folgen<strong>de</strong>s:<br />

„Ich weiß, <strong>was</strong> Pädagogik ist, aber <strong>was</strong> ist Son<strong>de</strong>rpädago-<br />

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Integration Inklusion<br />

… heißt: aus verschie<strong>de</strong>nen teilen ein ganzes wie<strong>de</strong>r herzustellen.<br />

… unterschei<strong>de</strong>t zwischen Kin<strong>de</strong>rn mit beson<strong>de</strong>ren Bedürfnissen/Behin<strong>de</strong>rung<br />

und Kin<strong>de</strong>rn ohne Behin<strong>de</strong>rung.<br />

… braucht Fachkräfte mit son<strong>de</strong>rpädagogischen und heilpädagogischen<br />

Spezialkenntnissen, die Kin<strong>de</strong>r för<strong>de</strong>rn und behan<strong>de</strong>ln.<br />

… stellt beson<strong>de</strong>re ressourcen für Kin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rung<br />

bereit, damit diese in „normalen“ Institutionen leben und lernen<br />

können.<br />

… unterschei<strong>de</strong>t auf rechtlicher und administrativer ebene zwischen<br />

Kin<strong>de</strong>rn mit Behin<strong>de</strong>rung (SgB Ix) und Kin<strong>de</strong>rn ohne<br />

Behin<strong>de</strong>rung (SgB xIII).<br />

… betrachtet Kin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rung als objekte von Hilfen<br />

und För<strong>de</strong>rung.<br />

gik? Was ist Integration?“ Milani Comparetti weist darauf<br />

hin, dass ein Kind sich nur dann aufbaut, wenn es<br />

dies auch selbst will. Fehlt ein solcher Wille, so gibt es<br />

kein Mittel, die Entwicklung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s voranzutreiben.<br />

Keine einzige Übung vermag das zu leisten. Im<br />

Gegenteil: Er betont, dass isoliertes Üben die sicherste<br />

Metho<strong>de</strong> sei, <strong>de</strong>n Wunsch <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, sich selbst aufzubauen,<br />

zu zerstören. An die Stelle solcher Übungen<br />

müsse die Erfahrung <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s treten. Damit <strong>sind</strong><br />

Vorschläge gemeint, die innerhalb seiner emotionalen<br />

Beziehungen angesie<strong>de</strong>lt <strong>sind</strong> und infolge <strong>de</strong>ssen für<br />

das Kind be<strong>de</strong>utsam wer<strong>de</strong>n. Der Erfolg von Therapie<br />

und För<strong>de</strong>rung im Alltag misst sich nur am Aufbau<br />

<strong>de</strong>r Autonomie eines Kin<strong>de</strong>s. Es gibt keinen einzigen<br />

Beweis, dass eine isolierte therapeutische Intervention<br />

die Entwicklung eines Kin<strong>de</strong>s vorangebracht hätte.<br />

Rechtliche Grundlagen – getrenntes Denken<br />

Strukturell ist Integration in <strong>de</strong>n 1980er­Jahren noch<br />

nicht vorgesehen. Die integrative Kita muss als Jugendhilfeeinrichtung<br />

einerseits und teilstationäre Einrichtung<br />

an<strong>de</strong>rerseits geführt wer<strong>de</strong>n. Zwei verschie<strong>de</strong>ne<br />

Abrechnungsformen, zwei verschie<strong>de</strong>ne Trägerschaften,<br />

zwei verschie<strong>de</strong>ne rechtliche Grundlagen – also<br />

getrenntes Denken.<br />

Ein kleiner Blick in unser Schulsystem: Grundschulen<br />

und neun (!) verschie<strong>de</strong>ne För<strong>de</strong>rschularten<br />

hat das staatliche Schulsystem zu bieten. In Frankfurt<br />

und auch an an<strong>de</strong>ren Standorten konnte <strong>de</strong>r gemein­<br />

Kontext<br />

InKluSIon StAtt IntegrAtIon!?<br />

… heißt: teilung nicht entstehen zu lassen; einschließen.<br />

… geht von <strong>de</strong>n Beson<strong>de</strong>rheiten und individuellen Bedürfnissen<br />

je<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s aus und <strong>de</strong>r unteilbarkeit heterogener gruppen.<br />

… braucht multiprofessionelle teams, die im gemeinsamen<br />

Dialog ihre jeweiligen fachlichen Perspektiven austauschen.<br />

Hierarchien einzelner Berufsstän<strong>de</strong> gibt es nicht.<br />

… stellt ressourcen für die gesamte Institution bereit, damit<br />

diese mit heterogenen gruppen angemessen arbeiten kann.<br />

… übernimmt selbstverständlich alle rechte für alle Menschen.<br />

… betrachtet alle Kin<strong>de</strong>r als Akteure ihrer entwicklung und<br />

träger von rechten.<br />

… ist notwendig, so lange Separation eher <strong>de</strong>r normalfall ist. … be<strong>de</strong>utet: Die gemeinsamkeit aller Kin<strong>de</strong>r ist normal.<br />

same Unterricht als Mo<strong>de</strong>llvorhaben En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 1980er­<br />

Jahre begonnen wer<strong>de</strong>n. Integration ist zu dieser Zeit<br />

die Einglie<strong>de</strong>rung behin<strong>de</strong>rter Kin<strong>de</strong>r in Einrichtungen<br />

und Institutionen, die eher auf „Normalität“ eingestellt<br />

<strong>sind</strong>.<br />

Blick noch weiter zurück<br />

<strong>Wie</strong> kommt es zu dieser Situation, die an<strong>de</strong>ren europäischen<br />

Län<strong>de</strong>rn, z. B. Skandinavien o<strong>de</strong>r Italien,<br />

eher fremd ist? Ein historischer Exkurs in die <strong>de</strong>utsche<br />

Geschichte hilft weiter. Im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>wir</strong>d – beruhend<br />

auf <strong>de</strong>m sogenannten Sozialdarwinismus – folgen<strong>de</strong><br />

Vorstellung von Wissenschaftlern vertreten:<br />

Dem Prinzip <strong>de</strong>r Auslese <strong>de</strong>r Stärksten durch <strong>de</strong>n Daseinskampf<br />

soll auch in <strong>de</strong>r Gesellschaft wie<strong>de</strong>r Geltung<br />

verschafft wer<strong>de</strong>n. Dies <strong>wir</strong>d nach damaliger<br />

Auffassung durch zwei Umstän<strong>de</strong> außer Kraft gesetzt:<br />

<strong>de</strong>m Krieg, <strong>de</strong>m die mutigsten und stärksten Männer<br />

zum Opfer fallen sowie <strong>de</strong>m Fürsorgewesen und <strong>de</strong>r<br />

Medizin, die die Schwächsten am Leben erhalten. So<br />

entsteht die Vorstellung vom Überschwemmen <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft durch so genannte Min<strong>de</strong>rwertige. Bereits<br />

vor <strong>de</strong>m Ersten Weltkrieg wur<strong>de</strong> ein Programm entwickelt,<br />

das Eugenik genannt <strong>wir</strong>d. Die Wissenschaftler<br />

for<strong>de</strong>rn damals schon, Menschen mit min<strong>de</strong>rwertigen<br />

Erbanlagen von <strong>de</strong>r Fortpflanzung auszuschließen.<br />

Im Jahr 1933 ist alles wohl vorbereitet. In <strong>de</strong>r<br />

Begründung <strong>de</strong>s totalen Ausschlusses gibt es eigentlich<br />

keine Verän<strong>de</strong>rungen im Übergang von <strong>de</strong>r vor­<br />

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Je<strong>de</strong>s Kind ist Akteur seiner entwicklung und träger von rechten<br />

faschistischen zur faschistischen Phase. Allerdings in<br />

<strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>s <strong>Wie</strong>. Erster Schritt auf <strong>de</strong>m Weg ist die<br />

sogenannte Zwangssterilisation, legitimiert durch das<br />

Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (abgeschafft<br />

1968!). Ab 1939 <strong>wir</strong>d die Sterilisation durch die<br />

Tötung <strong>de</strong>r „Min<strong>de</strong>rwertigen“ ersetzt. Den Auftakt bil<strong>de</strong>t<br />

die „Kin<strong>de</strong>raktion“. Im Rahmen dieser Aktion wer<strong>de</strong>n<br />

ca. 5.000 Kin<strong>de</strong>r unter drei Jahren durch Spritzen,<br />

Tabletten o<strong>de</strong>r Aushungern ermor<strong>de</strong>t. Kurz darauf ist<br />

<strong>de</strong>r Zeitpunkt <strong>de</strong>r groß angelegten Vernichtungsaktion<br />

gekommen. Diese Aktion heißt T4 – nach <strong>de</strong>r Adresse<br />

in Berlin (Tiergartenstraße) – und ihr fallen schätzungsweise<br />

100.000 Menschen zum Opfer. Hilfsschullehrer,<br />

Kin<strong>de</strong>rärzte und Hebammen wer<strong>de</strong>n zu bereitwilligen<br />

Zuarbeitern in diesem Verfahren.<br />

Nach 1945 <strong>wur<strong>de</strong>n</strong> im Sinne <strong>de</strong>r Herstellung <strong>de</strong>r<br />

alten Ordnung das allgemeine Schulwesen in <strong>de</strong>r dreigliedrigen<br />

Form und die Hilfsschule, die es bereits im<br />

19. Jahrhun<strong>de</strong>rt gegeben hat, wie<strong>de</strong>r aufgenommen.<br />

Die freien Wohlfahrtsverbän<strong>de</strong> können ihre alten Metho<strong>de</strong>n<br />

und I<strong>de</strong>ologien im Anstalts­ und Heimbereich<br />

zunächst unangetastet erhalten (Jantzen 1987).<br />

Min<strong>de</strong>rheiten <strong>wur<strong>de</strong>n</strong> zu Min<strong>de</strong>rwertigen, die<br />

ausgeson<strong>de</strong>rt <strong>wur<strong>de</strong>n</strong>.<br />

Die Bildungsmisere <strong>de</strong>r 1960er-Jahre beschert uns<br />

die Bildungsreform, milieubedingte Benachteiligungen<br />

geraten in <strong>de</strong>n Blick. Aufgrund <strong>de</strong>r Bedürfnisse <strong>de</strong>r<br />

Wirtschaft konzentrieren sich alle Bemühungen auf<br />

das höhere Bildungswesen. Die Son<strong>de</strong>rschulen bleiben<br />

während <strong>de</strong>r Bildungsreform ausgeklammert. Der Staat<br />

entwickelt eine spezielle Behin<strong>de</strong>rtenpolitik, die zum<br />

Ziel hat, die Behin<strong>de</strong>rten durch Hilfen <strong>de</strong>r Normalbevölkerung<br />

anzupassen. Gesetzliche Grundlage bietet<br />

das Bun<strong>de</strong>ssozialhilfegesetz (BSHG). Es entstehen Rehabilitationszentren,<br />

Werkstätten für Behin<strong>de</strong>rte und<br />

überhaupt ein höchst ausdifferenziertes Betreuungswesen<br />

für Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung. Neben <strong>de</strong>n<br />

staatlichen Rehabilitationsbemühungen zeichnet sich<br />

in dieser Zeit noch eine an<strong>de</strong>re Entwicklung ab: die Eigeninitiative<br />

Behin<strong>de</strong>rter o<strong>de</strong>r Eltern behin<strong>de</strong>rter Kin<strong>de</strong>r.<br />

In <strong>de</strong>n 1950er­ und 1960er­Jahren wer<strong>de</strong>n Vereine<br />

gegrün<strong>de</strong>t: die Lebenshilfe o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>sverband<br />

Spastikerhilfe. Diese Zeit ist auch die Geburtsstun<strong>de</strong><br />

verschie<strong>de</strong>ner Diplomstudiengänge zur Heil­ und Son<strong>de</strong>rpädagogik.<br />

1969 plädiert Bleidick für die Abwendung<br />

vom Begriff <strong>de</strong>r Heilpädagogik zum Begriff Son<strong>de</strong>rpädagogik.<br />

„Aufgrund seiner beson<strong>de</strong>ren Stellung<br />

in <strong>de</strong>r Welt bedarf <strong>de</strong>r Behin<strong>de</strong>rte einer beson<strong>de</strong>ren<br />

Erziehung“ (vgl. Bleidick 1969). Nun bekommt je<strong>de</strong><br />

Behin<strong>de</strong>rungsart ihre eigene Son<strong>de</strong>rpädagogik.<br />

Stolpersteine auf <strong>de</strong>m Weg zur Inklusion:<br />

Die letzten zehn Jahre<br />

Heute besitzt Deutschland ein stark ausdifferenziertes<br />

System von Hilfen und beson<strong>de</strong>ren Bildungsangeboten.<br />

Unser Problem auf <strong>de</strong>m Weg zur Inklusion besteht<br />

nicht in fehlen<strong>de</strong>n Hilfen, son<strong>de</strong>rn in zu starren und<br />

sich selbst erhalten<strong>de</strong>n Berufsstän<strong>de</strong>n und Institutionen.<br />

Inklusion erfor<strong>de</strong>rt im Gegensatz dazu eine neue<br />

Rolle <strong>de</strong>r Fachkräfte mit Expertisen im son<strong>de</strong>r­ und<br />

heilpädagogischen bzw. im therapeutischen Bereich.<br />

Sie sollten Teil eines interdisziplinären Teams sein und<br />

ihre Perspektive in <strong>de</strong>n fachlichen Diskus einbringen.<br />

Was ist daran so schwer? Ist es <strong>de</strong>r Verzicht <strong>de</strong>r Macher<br />

auf die Machbarkeit und darüber hinaus auf Macht?<br />

„Hier geht es nicht darum, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen,<br />

son<strong>de</strong>rn im Zusammenspiel mit einem gleichwertigen<br />

Partner zu gemeinsamen, nicht vorhersehbaren, auch<br />

für die Beteiligten selbst immer wie<strong>de</strong>r überraschen<strong>de</strong>n Resultaten<br />

zu gelangen. Dies bezeichnet Milani in seiner als<br />

Spirale vorgestellten Bewegung als die Dimension <strong>de</strong>r Kreativität.<br />

Die Helfer geben keine Ziele an, sie begleiten, bieten<br />

einen Kontext für Erfahrungen … Zuhören und beobachten<br />

wer<strong>de</strong>n wichtiger als machen.“ (von Lüpke 2000)<br />

Der Übergang von Ausson<strong>de</strong>rung zu Integration<br />

und Inklusion ist eher mit einem gesellschftlichen und<br />

persönlichen Reifungsprozess vergleichbar, als mit einem<br />

einfachen Konzeptionswechsel.<br />

Über Inklusion re<strong>de</strong>n<br />

Seit 2001 ist die maßgebliche rechtliche Grundlage<br />

für Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung im Sozialgesetzbuch<br />

(SGB), Neuntes Buch (IX) gefasst: Das SGB IX benutzt<br />

nicht mehr <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r Einglie<strong>de</strong>rungshilfe. Hier<br />

<strong>wir</strong>d von „Leistungen zur Teilhabe“ gesprochen. Menschen<br />

mit Behin<strong>de</strong>rung wer<strong>de</strong>n nicht mehr als Objekte<br />

von Hilfe und För<strong>de</strong>rung gesehen, son<strong>de</strong>rn als Träger/<br />

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Foto: Wilbert van Woensel


Auf einen BlIck<br />

Kontext<br />

InKluSIon StAtt IntegrAtIon!?<br />

Im pädagogischen Kontext <strong>sind</strong> integrative Kin<strong>de</strong>rtageseinrichtungen und För<strong>de</strong>rstätten für Kin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rungen<br />

und beson<strong>de</strong>ren entwicklungen bekannt. Über Integration wissen erzieherinnen und erzieher in <strong>de</strong>r regel<br />

aus ihrer Ausbildung und/o<strong>de</strong>r sie haben sich dafür entschie<strong>de</strong>n, heil- o<strong>de</strong>r son<strong>de</strong>rpädagogisch zu arbeiten. Heute<br />

weiß man, dass Behin<strong>de</strong>rung durch isolierte För<strong>de</strong>rung nicht vermin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n kann, um ein „normales“ leben<br />

möglich zu machen. Inklusion ist hier <strong>de</strong>r Fachbegriff und setzt da an, wo Kin<strong>de</strong>r mit beson<strong>de</strong>ren Bedürfnissen<br />

gleichwertig mit gleichberechtigten Bildungschancen gesehen wer<strong>de</strong>n und Zugang zu allen Bildungsinstitutionen<br />

erhalten. Die historische entwicklung, die gegenwärtigen erfahrungen und <strong>de</strong>r Blick in die Zukunft zeigen, dass es<br />

sich um langfristige umstrukturierungsprozesse han<strong>de</strong>lt, die sich sowohl im Bildungssystem als auch im pädagogischen<br />

Denken und Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r pädagogischen Fachkräfte Schritt für Schritt verankern.<br />

innen von Rechten. Das Ziel ist nicht die „<strong>Wie</strong><strong>de</strong>reinglie<strong>de</strong>rung“,<br />

son<strong>de</strong>rn die Rehabilitation, die mit <strong>de</strong>m<br />

Verhin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Ausson<strong>de</strong>rung beginnt. Darauf haben<br />

alle Menschen ein (Grund­)Recht.<br />

Der Besuch <strong>de</strong>s Son<strong>de</strong>rberichterstatters Prof. Venor<br />

Munoz in Deutschland im Jahr 2006 lenkte <strong>de</strong>n Blick<br />

auf die bekannten Defizite <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Bildungswesens:<br />

Das <strong>de</strong>utsche Schulsystem ist Weltmeister in<br />

<strong>de</strong>r sozialen Auslese. In keinem an<strong>de</strong>ren Industrieland<br />

ist <strong>de</strong>r Zusammenhang von sozialer Herkunft und<br />

Bildungserfolg so eng. In einem offenen Brief an <strong>de</strong>n<br />

Son<strong>de</strong>rberichterstatter bezeichnen 90 Integrationsforscherinnen<br />

und ­forscher diese Situation als strukturelle<br />

Menschenrechtsverletzung.<br />

2007: Die Bun<strong>de</strong>srepublik unterzeichnet gemeinsam<br />

mit 80 weiteren Staaten die UN­Behin<strong>de</strong>rtenrechtskonvention<br />

– das Übereinkommen über die Rechte von<br />

Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung. Die Konvention ist keine<br />

„Spezialkonvention“ für Behin<strong>de</strong>rte, son<strong>de</strong>rn formuliert<br />

aus, <strong>was</strong> die allgemeinen Menschenrechte für<br />

Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung be<strong>de</strong>uten. Der Begriff <strong>de</strong>r<br />

Inklusion ist von zentraler Be<strong>de</strong>utung. In <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Übersetzung ist er ersetzt durch das Wort Integration.<br />

Relevant für unser Arbeitsfeld ist <strong>de</strong>r Artikel 24:<br />

„(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von<br />

Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen auf Bildung. Um dieses<br />

Recht ohne Diskriminierung und auf <strong>de</strong>r Grundlage<br />

<strong>de</strong>r Chancengleichheit zu ver<strong>wir</strong>klichen, gewährleisten<br />

die Vertragsstaaten ein integratives (im Original<br />

inklusives) Bildungssystem auf allen Ebenen …“<br />

Dass die „eine Schule für alle“ nicht das gemeinsame<br />

Ziel <strong>de</strong>r 16 Kultusminister in <strong>de</strong>r KMK ist, ist hinlänglich<br />

bekannt. Vielleicht ist die Übersetzung <strong>de</strong>s<br />

englischen „inclusion“ in Integration in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Formulierung ein Trick, die Konvention anschlussfähig<br />

erscheinen zu lassen an das vorherrschen<strong>de</strong> <strong>de</strong>utsche<br />

Bildungssystem? Völkerrechtlich gilt je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>r englische<br />

Wortlaut <strong>de</strong>r Konvention.<br />

Integration und Inklusion<br />

Integration ist notwendig, so lange Ausson<strong>de</strong>rung von<br />

Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen eher <strong>de</strong>r Normalfall ist.<br />

Inklusion be<strong>de</strong>utet, die Heterogenität einer (Kin<strong>de</strong>r­)<br />

Gruppe als unteilbar zu betrachten, die Gemeinsamkeit<br />

aller Kin<strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Normalfall. Soweit <strong>sind</strong> <strong>wir</strong> <strong>de</strong>rzeit<br />

noch nicht. Wir sollten darauf achten, <strong>de</strong>n Begriff<br />

<strong>de</strong>r Inklusion mit <strong>de</strong>m Sinn zu versehen, <strong>de</strong>r damit<br />

verbun<strong>de</strong>n ist: das Menschenrecht auf bedingungslose<br />

Teilhabe am öffentlichen, politischen und kulturellen<br />

Leben in unserer Gesellschaft und <strong>de</strong>ssen Umsetzung<br />

im (pädagogischen) Alltag. Unsere Aufgabe ist dabei,<br />

Bildungseinrichtungen inklusiv zu gestalten. Nicht die<br />

Kin<strong>de</strong>r müssen zeigen, dass sie dazu reif <strong>sind</strong>. Unsere<br />

Institutionen, aber auch <strong>wir</strong> Fachkräfte, müssen uns<br />

reif machen für Inklusion. In <strong>de</strong>m hoffentlich jetzt beginnen<strong>de</strong>n<br />

Paradigmenwechsel im Bereich <strong>de</strong>r Politik,<br />

Gesellschaft und im Bildungssystem sollten <strong>wir</strong> die Behin<strong>de</strong>rtenrechtskonvention<br />

als moralischen Kompass<br />

für einen gemeinsamen Prozess benutzen. Wir <strong>sind</strong> auf<br />

<strong>de</strong>m Weg! ❚<br />

literatur<br />

Milani comparetti, Adriano (1996): Von <strong>de</strong>r Behandlung <strong>de</strong>r krankheit<br />

zur Sorge um Gesundheit und Entwicklungsför<strong>de</strong>rung im<br />

Dialog. Dokumentation von Fachtagungen im Auftrag <strong>de</strong>s Paritätischen<br />

Bildungswerkes Bun<strong>de</strong>sverband e. V.; Frankfurt<br />

von lüpke, Hans/Voß, Reinhardt (Hrsg.) (2000): Entwicklung im<br />

Netzwerk. neuwied<br />

ursel Heinze ist Diplom-Pädagogin. Sie war 26 Jahre an<br />

unterschiedlichen Fach- und Führungspositionen im Feld<br />

frühkindlicher Bildung tätig. Seit oktober 2010 arbeitet sie<br />

als freiberufliche Fortbildnerin. urselheinze@gmx.<strong>de</strong><br />

www.urselheinze.<strong>de</strong><br />

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