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Je stärker sich der plurale Charakter moderner Gesellschaften<br />

ausprägt, desto forcierter tritt auch die<br />

Standortbezogenheit jedes Wortgebrauchs hervor,<br />

mit dem sich die E<strong>in</strong>zelnen ihrer Individualität und<br />

Geme<strong>in</strong>schaftsbezogenheit vergewissern. Konkurrenzsituationen<br />

best<strong>im</strong>men die Lage, Lebenswelten<br />

werden zunehmend politisiert. Es eröffnen sich<br />

Chancen und Gestaltungsspielräume.<br />

Sobald Begriffe <strong>in</strong> den Bereich des Politischen<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>greifen, wirken sie zwangsläufig abgrenzend<br />

und zugleich situationsbezogen. Je nach Maßgabe<br />

ihres semantischen Aufladungspotentials avancieren<br />

Begriffe zur Angriffswaffe, zum Propagandamittel<br />

<strong>im</strong> Parteienkampf um zeitdiagnostische Deutungshoheit.<br />

Unter der trügerisch e<strong>in</strong>d<strong>im</strong>ensionalen Klarheit<br />

der Sprachoberfläche gespeicherte Spannungen<br />

werden <strong>im</strong> politischen Wörterstreit gezielt aktiviert,<br />

um die Stärke der jeweils eigenen Position desto<br />

wirkungsvoller zu präsentieren. Gerungen wird um<br />

die Durchsetzung von Herrschafts- und Gestaltungsansprüchen,<br />

die Setzung von E<strong>in</strong>deutigkeit als E<strong>in</strong>dämmung<br />

von Kont<strong>in</strong>genz.<br />

Theologische Werkstatt<br />

Die Freiheit der Werte<br />

Warum sich Menschenwürde nicht als Diskursbremse<br />

eignet<br />

von Alf Christophersen<br />

Die Ethik kann als kritische Reflexion über Moral zur gesell-<br />

schaftlichen Selbstverständigung beitragen. Sie verfügt aber<br />

ke<strong>in</strong>esfalls über e<strong>in</strong>en Universalschlüssel zur Lösung aller<br />

möglichen Konflikte. In den aktuellen Diskursen wird der<br />

Würdebegriff <strong>in</strong>flationär verwendet und droht so <strong>in</strong>haltlich<br />

entleert zu werden. Wem nichts mehr e<strong>in</strong>fällt, der beschwört<br />

die Würde. Aber das tut ihr nicht gut.<br />

Grundwerte und Kommunikationsfähigkeit<br />

Der Verwaltungsjurist und Soziologe Niklas Luhmann,<br />

Hauptvertreter der “Systemtheorie”, warf<br />

1992 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heidelberger Vortrag die Frage auf:<br />

“Gibt es <strong>in</strong> unserer Gesellschaft noch unverzichtbare<br />

Normen?” Vor allem das Problem e<strong>in</strong>er Inflationierung,<br />

e<strong>in</strong>es “pandemiehaften” Gebrauchs der<br />

Menschenwürdeidee trieb Luhmann um. Konsequent<br />

forderte er, den Fokus gezielt auf Fälle ihrer<br />

Verletzung zu richten.<br />

Mit dem nüchternen Beobachterblick des Soziologen<br />

konstatierte Luhmann: “Wie Sterne am H<strong>im</strong>mel<br />

gibt es unzählige Werte, weshalb man Grundwerte<br />

braucht, um Emphase auszudrücken. Hier werden<br />

dann Traditionsbegriffe wie Freiheit, Gleichheit,<br />

Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, Würde, Wohlfahrt,<br />

Solidarität benutzt, um Sonderrang zu markieren.”<br />

E<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>gen diese Setzungen mit dem<br />

Verzicht auf Begründungszusammenhänge. Dadurch<br />

komme es zu e<strong>in</strong>em Abbruch wirklicher<br />

Kommunikation.<br />

Die Vielfalt der Werte, ja ihre schlichte Masse,<br />

verlagere das <strong>in</strong> ihnen wohnende Chaos auf die Entscheidungsebenen,<br />

von denen E<strong>in</strong>deutigkeit erwartet<br />

werde. Werte kämen zum E<strong>in</strong>satz, “um Entscheidungen<br />

e<strong>in</strong>en Rückhalt <strong>in</strong> Unbezweifeltem zu geben”.<br />

Aber eben diese aus Abwägungsprozessen entstehenden<br />

Entscheidungen produzierten ihre Ergebnisse <strong>in</strong><br />

Form der Kont<strong>in</strong>genz, der Zufälligkeit.<br />

Hier<strong>in</strong> kann nun e<strong>in</strong>e besondere Tragik des Wertebegriffs<br />

gefunden werden. In se<strong>in</strong>er klassischen<br />

Abhandlung Grundrechte als Institution kam Luhmann<br />

schon 1965 zur E<strong>in</strong>sicht, dass mit dem Wertbegriff<br />

“die Schließung des unendlich-offenen Hori-<br />

evangelische aspekte 3/2009 41


Theologische Werkstatt<br />

zontes der Handlungsmöglichkeiten” gesucht werde,<br />

also e<strong>in</strong>e “Gesamtkonstruktion der Welt”. Diese erfolge<br />

durch den Aufbau von Systemen, und das <strong>im</strong><br />

Wertbegriff postulierte Absolute f<strong>in</strong>de sich <strong>in</strong> ihrer<br />

Funktionsfähigkeit.<br />

Damit die Systeme aber zu dieser Leistung <strong>im</strong><br />

Stande s<strong>in</strong>d, muss notwendig Kommunikation stattf<strong>in</strong>den,<br />

die e<strong>in</strong>erseits zu generalisieren, andererseits<br />

aber zu differenzieren hat, um<br />

Stabilität zu gewährleisten. Umso<br />

schwerwiegender wirkt es sich<br />

Prof. Dr. Alf Christophersen<br />

lehrt<br />

für die gesellschaftlichen Funkti-<br />

Systematische<br />

onszusammenhänge aus, wenn<br />

Theologie an der<br />

tragende Begriffe der Diskurse<br />

Evangelisch-Theo-<br />

durch übermäßigen Gebrauch trilogischen<br />

Fakultät<br />

vialisiert und ihrer analytischen<br />

der Ludwig-Maxi-<br />

Dist<strong>in</strong>ktionskraft beraubt wermilians-Universität<br />

München.<br />

den.<br />

42<br />

Menschenwürde: e<strong>in</strong> bewusst deutungsoffener<br />

Begriff<br />

Nicht erst Luhmann beobachtete freilich den Wertwortgebrauch<br />

mit wachsender Skepsis. Im Kontext<br />

der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Friedrich Nietzsche<br />

und dessen Rückführung der Wertsetzung auf den<br />

“Willen zur Macht” gelangte etwa Mart<strong>in</strong> Heidegger<br />

<strong>in</strong> den Holzwegen zu der E<strong>in</strong>sicht, dass das Denken<br />

<strong>in</strong> Werten, “das Werthafte […] zum positivistischen<br />

Ersatz für das Metaphysische” geworden sei; allerd<strong>in</strong>gs<br />

entspreche der “Häufigkeit des Redens von<br />

Werten die Unbest<strong>im</strong>mtheit des Begriffs. Diese<br />

ihrerseits entspricht der Dunkelheit der Wesensherkunft<br />

des Wertes aus dem Se<strong>in</strong>. Denn gesetzt, dass<br />

der <strong>in</strong> solcher Weise vielberufene Wert nicht nichts<br />

ist, muss er wohl se<strong>in</strong> Wesen <strong>im</strong> Se<strong>in</strong> haben.”<br />

Der Wert werde von e<strong>in</strong>em Gesichtspunkt aus<br />

beurteilt und bemessen. Im Rekurs auf Nietzsche ist<br />

sich Heidegger gewiss: “Der Wert ist Wert, <strong>in</strong>sofern<br />

er gilt. Er gilt, <strong>in</strong>sofern er als das gesetzt ist, worauf<br />

es ankommt.”<br />

Wird die Wertfrage <strong>in</strong> verfassungstheoretische<br />

Zusammenhänge überführt, erhält sie e<strong>in</strong>e ganz eigene<br />

Brisanz, wie die nunmehr über 60 Jahre währenden<br />

Debatten um das Grundgesetz zeigen. Hier<br />

beanspruchten gleich zu Beg<strong>in</strong>n – als Thema der<br />

Rechtswissenschaft und politischen Ordnung – Geltung<br />

und Begründung der Menschenwürde Aufmerksamkeit,<br />

und zwar vor dem H<strong>in</strong>tergrund theologischer<br />

und philosophischer Traditionsbildung.<br />

evangelische aspekte 3/2009<br />

Der Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik<br />

Deutschland hält zur Menschenwürde <strong>in</strong><br />

aller Universalität fest: “Die Würde des Menschen<br />

ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist<br />

Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche<br />

Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und<br />

unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage<br />

jeder menschlichen Geme<strong>in</strong>schaft, des Friedens und<br />

der Gerechtigkeit <strong>in</strong> der Welt.”<br />

Im Selbstverständnis dieser Verfassungsurkunde<br />

liegt die besondere Po<strong>in</strong>te der Menschenwürde dar<strong>in</strong>,<br />

dass es sich bei ihr um e<strong>in</strong>en Begriff handelt,<br />

der bewusst deutungsoffen gehalten ist. Als der Text<br />

ausgearbeitet wurde, postulierte <strong>im</strong> Parlamentarischen<br />

Rat Theodor Heuss: “Ich möchte bei der Formung<br />

des ersten Absatzes von der Menschenwürde<br />

ausgehen, die der E<strong>in</strong>e theologisch, der Andere philosophisch,<br />

der Dritte ethisch auffassen kann.”<br />

Heuss verstand die Würde des Menschen, so<br />

se<strong>in</strong>e berühmte Formel, als e<strong>in</strong>e “nicht<strong>in</strong>terpretierte<br />

These”. Um e<strong>in</strong>en möglichst breiten Konsens zu erzielen,<br />

sahen die Verfassungsväter davon ab, die<br />

Menschenwürde eigens zu begründen. Diese Aufgabe<br />

überließen sie großzügig der Institution des<br />

Grundgesetzkommentars und den Experten des<br />

Faches.<br />

Das “christliche Menschenbild” als<br />

Kern des Menschenwürdekonzepts<br />

Im Grundgesetz kommt der Menschenwürde e<strong>in</strong> besonderer<br />

normativer Rang zu, der durch die Ewigkeitsgarantie<br />

des Artikels 79 Absatz 3 abgesichert<br />

wird. Die Würde des Menschen erhält e<strong>in</strong>e absolute<br />

Garantie, jede Antastung ist e<strong>in</strong> Verfassungsverstoß,<br />

sie lässt sich mit ke<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>zelgrundrecht oder<br />

e<strong>in</strong>em anderen Verfassungswert abwägen, ist somit<br />

jedem Relativierungsversuch entzogen.<br />

Ausgehend vom Artikel 1 hat sich der Heidelberger<br />

Rechtswissenschaftler Paul Kirchhof mit der<br />

“Wertgebundenheit des Rechts” (<strong>in</strong>: Eilert Herms<br />

[Hg.]: Menschenbild und Menschenwürde, 2001,<br />

156-172) befasst und ist dabei zu e<strong>in</strong>er engen Verknüpfung<br />

von Christentum und Grundgesetz gelangt.<br />

“Die Garantie der Menschenwürde begründet<br />

e<strong>in</strong> subjektives Recht jedes e<strong>in</strong>zelnen, setzt sich also<br />

gegenüber dem mehrheitlichen oder auch e<strong>in</strong>st<strong>im</strong>migen<br />

Willen des demokratischen Staatsvolkes oder<br />

sonstiger Entscheidungsbefugter durch.” Die Menschenwürde<br />

beanspruche Universalität und sei je-


dem Verfassungsgeber als unverzichtbarer Verfassungsbestandteil<br />

vorgegeben, und zwar “ungeachtet<br />

se<strong>in</strong>es konkreten historischen Willens”. Bei<br />

der Menschenwürde handele es sich um e<strong>in</strong> Grundrecht,<br />

das auf e<strong>in</strong>e gewährleistende Institution angewiesen<br />

sei. So erwachse der konkrete “Gehalt aus<br />

den staatlichen Gewährleistungen”: Der Staat trete<br />

als Würdegarant auf, er habe zu achten und zu<br />

schützen.<br />

Es reiche also nicht aus, dass er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Organen<br />

zu e<strong>in</strong>er bloßen Respektierung der Würde gelange.<br />

Die Menschenwürde habe, so Kirchhof, den<br />

Rang e<strong>in</strong>er “verfassungsrechtlichen Basisnorm, e<strong>in</strong>er<br />

Staatsfundamentalnorm, die der gesamten staatlichen<br />

Rechtsordnung Maß und Ziel” gebe. Die Würdegarantie<br />

versehe den Staat mit e<strong>in</strong>er Wertgebundenheit,<br />

der Rechtsstaat habe <strong>in</strong> ihr se<strong>in</strong> Fundament.<br />

Kirchhof me<strong>in</strong>t <strong>im</strong> Grundgesetz und se<strong>in</strong>er<br />

Basisnorm das “Gedächtnis der Demokratie” ausmachen<br />

zu können, das <strong>in</strong> bewährten Institutionen<br />

und gesicherten politischen Erfahrungen Gegenwart<br />

und Zukunft verb<strong>in</strong>de. Die Konsequenz sei, dass die<br />

Menschenwürde <strong>in</strong> der Kont<strong>in</strong>uität von philosophischer<br />

und rechtlicher Überlieferung zu deuten sei.<br />

Im Menschenwürdekonzept liege e<strong>in</strong>e verdichtete<br />

Kulturerfahrung vor, als deren Kern der Jurist,<br />

das “christlich geprägte Menschenbild” ausmachen<br />

will. Das christliche Verständnis des Menschen als<br />

Gottes Ebenbild betrachtet Kirchhof als konkretes<br />

Fundament der Verfassung. “Die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Menschenwürdekultur<br />

e<strong>in</strong>gebettete Freiheit gibt dem Staat<br />

e<strong>in</strong>e Wertungsmitte, dem demokratischen Staatsvolk<br />

e<strong>in</strong>en Zusammenhalt, der Rechtsordnung ihre<br />

tatsächliche Geltungskraft.”<br />

Aber wie entfalten sich vor diesem H<strong>in</strong>tergrund<br />

die Bezüge zu nicht-christlichen Kulturen? Grundsätzlich<br />

sei e<strong>in</strong> freiheitlicher Staat kulturoffen, aber<br />

nur “solange er sich se<strong>in</strong>er eigenen Werte und Ordnungspr<strong>in</strong>zipien<br />

gewiss ist”.<br />

Paul Kirchhof stellt e<strong>in</strong>en untrennbaren Zusammenhang<br />

zwischen <strong>im</strong> Grundgesetz verankerter<br />

Menschenwürde, christlicher Prägung dieser Basisnorm<br />

sowie Wertorientierung des Staates her. Die<br />

Bundesrepublik ersche<strong>in</strong>t somit als vom christlichen<br />

Menschenbild best<strong>im</strong>mter Staat, der sich, solange<br />

se<strong>in</strong>e Wertvorstellungen Akzeptanz f<strong>in</strong>den, als kulturoffen<br />

zeigt. Die Grenzen dieser Offenheit s<strong>in</strong>d<br />

damit aber auch klar vorgegeben und vertragen<br />

ke<strong>in</strong>e Ausnahme.<br />

Die enge B<strong>in</strong>dung und Ableitung staatlichen<br />

Rechts aus christlicher Wertvorstellung ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

e<strong>in</strong>e Position, die bei weitem nicht Konsensfähigkeit<br />

beanspruchen kann, wie <strong>in</strong> der exemplarischen<br />

Aussage des ehemaligen Bundesverfassungsrichters<br />

Ernst-Wolfgang Böckenförde zum Ausdruck kommt,<br />

die “unabweisbare, <strong>im</strong> Recht selbst angelegte Frage<br />

nach dem (metapositiven) Grund und Maß des<br />

Rechts” könne “nicht durch Rückgriff auf Werte und<br />

den Wertbegriff zureichend beantwortet werden”<br />

(Recht, Staat, Freiheit, 2. Aufl. 1992, 91). Grundlegend<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Essay über den Wandel des Menschenbildes<br />

<strong>im</strong> Recht (2001), aber auch <strong>in</strong> zahlreichen<br />

Feuilletonbeiträgen macht Böckenförde deutlich,<br />

dass mit dem Zurücktreten des christlichen<br />

Glaubens als Lebensmacht und Orientierungspunkt<br />

eben dieser Glaube und mit ihm se<strong>in</strong> Wahrheitsanspruch<br />

den Charakter e<strong>in</strong>es Angebotes erhalten habe,<br />

das mit anderen Angeboten <strong>in</strong> Konkurrenz stehe.<br />

Es sei Kennzeichen des Pluralismus, dass dem<br />

Menschen die Freiheit zugemutet werde, sich selbst<br />

<strong>im</strong> H<strong>in</strong>blick auf se<strong>in</strong>e höhere Best<strong>im</strong>mung zu orientieren.<br />

Das christliche Menschenbild verliere zunehmend<br />

an Bedeutung gegenüber e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividualistisch-autonomen<br />

Best<strong>im</strong>mung des Menschen. E<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>heitliches “Menschenbild” sei <strong>im</strong> gegenwärtigen<br />

Recht kaum noch vorhanden.<br />

“Groß- und Weichformeln” als E<strong>in</strong>fallstor<br />

für best<strong>im</strong>mte Anschauungen<br />

In der “Akademie für Politische Bildung <strong>in</strong> Tutz<strong>in</strong>g”<br />

fand <strong>im</strong> Mai 2009 e<strong>in</strong> Streitgespräch statt zwischen<br />

dem katholischen Philosophen Robert Spaemann<br />

und Horst Dreier, Verfassungsrechtler an der Universität<br />

Würzburg. Es g<strong>in</strong>g dabei um die Leitfrage, wie<br />

die Zukunft der Menschenwürde aussehe.<br />

Horst Dreier machte deutlich, dass er sie nicht<br />

<strong>in</strong> Frage stellen wolle. Es gebe aber Abwägungskonflikte,<br />

wo sich Würde gegen Würde positioniere. E<strong>in</strong><br />

besonderes Problem erkannte Dreier dar<strong>in</strong>, dass die<br />

Menschenwürde <strong>im</strong>mer mehr <strong>in</strong> den Status des<br />

“Allesproblemlösers” versetzt werde – dies gerade<br />

auch h<strong>in</strong>sichtlich bioethischer Konfliktfelder, wie<br />

der embryonalen Stammzellforschung. Menschenwürde<br />

gerate zum <strong>in</strong>haltsleeren “Megatopos für<br />

Kultiviertheit”.<br />

Gleichzeitig erkennt Dreier e<strong>in</strong>e Sakralisierung<br />

der Idee der Menschenwürde, die darauf h<strong>in</strong>auslaufe,<br />

dass jede abweichende Me<strong>in</strong>ung zurückgedrängt<br />

werde. Dies sei letztlich Ausdruck e<strong>in</strong>es “totalitären<br />

Tugendstaates”, der sich durch das undifferenzierte<br />

Theologische Werkstatt<br />

evangelische aspekte 3/2009 43


Theologische Werkstatt<br />

44<br />

Ine<strong>in</strong>ander von Moral und Recht auszeichne. Menschenwürde<br />

eigne sich demgegenüber nun aber<br />

gerade nicht als Moralersatz oder für die Begründung<br />

e<strong>in</strong>es zivilreligiösen Konzepts.<br />

In se<strong>in</strong>em Grundgesetzkommentar aus dem<br />

Jahr 2004, <strong>in</strong> dem sich auch Ausführungen zur Folterfrage<br />

f<strong>in</strong>den, die 2008 herangezogen wurden, um<br />

die Wahl Dreiers zum Verfassungsrichter erfolgreich<br />

zu durchkreuzen, entfaltet der Würzburger Jurist<br />

se<strong>in</strong>e Position <strong>in</strong> aller Breite. Es sei zwischen e<strong>in</strong>er<br />

“Heraufzonung” der Menschenwürde, etwa durch<br />

den Rekurs auf “Gattungswürde” (als Vertreter für<br />

diesen Typus wird Robert Spaemann genannt), und<br />

e<strong>in</strong>er “Herabzonung” durch Trivialisierung und<br />

Inflationierung zu unterscheiden.<br />

“Art. 1 I GG” sei dabei gerade “ke<strong>in</strong> probater<br />

‘Auffangproblemlöser’” und biete ke<strong>in</strong>en “geistigen<br />

Zauberstab für die humane Bewältigung aller Zukunftsprobleme”.<br />

Es sei nicht möglich, der Norm “e<strong>in</strong>fach<br />

per Wesensschau klare Antworten auf hochkomplexe<br />

Fragen der Staats- und Gesellschaftsentwicklung<br />

<strong>im</strong> allgeme<strong>in</strong>en wie der biotechnologischen<br />

Revolution <strong>im</strong> besonderen” zu entnehmen.<br />

“Vielmehr bergen gerade die genannten Großund<br />

Weichformeln die Gefahr <strong>in</strong> sich, dass Art. 1 I<br />

GG zum E<strong>in</strong>fallstor für best<strong>im</strong>mte Partikularethiken<br />

oder politische Anschauungen wird, die dann als<br />

allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dliche Max<strong>im</strong>e des positiven Verfassungsrechtes<br />

ausgegeben werden.” Die Menschenwürde<br />

des Grundgesetzes sei nun e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Konsens<br />

auf hoher Abstraktionsebene, der vor vere<strong>in</strong>heitlichender<br />

weltanschaulicher Vere<strong>in</strong>nahmung<br />

geschützt werden müsse.<br />

Moralisch-politischer Relativismus<br />

e<strong>in</strong>er Wertgeme<strong>in</strong>schaft<br />

Auch Robert Spaemann verlangte <strong>in</strong> Tutz<strong>in</strong>g,<br />

Grundrechte gegene<strong>in</strong>ander abzustufen und nicht<br />

vorschnell die “Menschenrechtskeule” zu zücken.<br />

Nur hält es der Philosoph nicht für möglich, durch<br />

Konsensbildung zu e<strong>in</strong>em Urteil zu gelangen, es<br />

gehe vielmehr um aus dem Naturrecht abzuleitende<br />

Wahrheitsansprüche.<br />

Die Natur selbst sei für den Menschen normsetzend,<br />

entscheidend sei die Gattungszugehörigkeit.<br />

Sie begrenze die Freiheit des Individuums, die ihr<br />

wahres Wesen nicht <strong>im</strong> unbegrenzten Individualismus<br />

habe, sondern <strong>in</strong> der Pflicht des E<strong>in</strong>zelnen,<br />

se<strong>in</strong> jeweiliges Handeln der unmittelbaren Umwelt<br />

evangelische aspekte 3/2009<br />

gegenüber zu begründen und zu rechtfertigen. Die<br />

größte Gefahr e<strong>in</strong>er Rede von Werten macht Spaemann<br />

<strong>im</strong>mer wieder dar<strong>in</strong> aus, dass die so genannte<br />

Wertgeme<strong>in</strong>schaft, die er als Ausdruck e<strong>in</strong>es<br />

moralisch-politischen Relativismus identifiziert,<br />

zuungunsten der für die Gesellschaft unabd<strong>in</strong>glichen<br />

Rechtsgeme<strong>in</strong>schaft überbetont werde. Denn<br />

diese sei schließlich entscheidend und nicht die<br />

Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>em wie auch <strong>im</strong>mer konstruierten<br />

Werteverbund, der totalitäre Ansprüche erheben<br />

könne, denen gegenüber das Recht als zweitrangig<br />

ersche<strong>in</strong>e.<br />

Die Stärke theologischer Sprachspiele<br />

E<strong>in</strong>es zeigt die Tutz<strong>in</strong>ger Debatte zwischen Spaemann<br />

und Dreier deutlich: Es darf ke<strong>in</strong>e Denkverbote<br />

geben. Wer Menschenwürde als Diskursbremse<br />

bemüht, droht Würde missbräuchlich zu verwenden.<br />

Menschenwürde <strong>im</strong>pliziert auch Denk- und<br />

Redefreiheit.<br />

Die Ethik kann als kritische Reflexion über<br />

Moral zur gesellschaftlichen Selbstverständigung<br />

beitragen. Sie dient der Überprüfung von moralischen<br />

Intuitionen, der Suche nach st<strong>im</strong>migen Argumenten<br />

und Begründungsmustern. Sie verfügt aber<br />

ke<strong>in</strong>esfalls über e<strong>in</strong>en Universalschlüssel zur Lösung<br />

aller möglichen Konflikte.<br />

E<strong>in</strong> wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Konsensf<strong>in</strong>dung<br />

ist es, die Beobachtung ernst zu nehmen,<br />

dass <strong>in</strong> den aktuellen Diskursen der Würdebegriff<br />

tatsächlich <strong>in</strong>flationär verwendet wird und so<br />

<strong>in</strong>haltlich entleert zu werden droht. Wem nichts<br />

mehr e<strong>in</strong>fällt, der beschwört die Würde. Aber das<br />

tut ihr nicht gut.<br />

Die Kirchen haben <strong>im</strong> öffentlichen Diskurs der<br />

Bundesrepublik e<strong>in</strong>e wichtige Funktion. Ihre Vertreter<br />

s<strong>in</strong>d präsent <strong>im</strong> Deutschen Ethikrat, <strong>in</strong> unterschiedlichen<br />

Ethikkommissionen. In der Bevölkerung<br />

bestehen hohe Erwartungen an die ethische<br />

Kompetenz der Kirchen. Im R<strong>in</strong>gen um gebotene Versachlichung<br />

haben sie und andere religiöse Akteure<br />

e<strong>in</strong>e entscheidende Rolle zu spielen, der sie aber oft<br />

<strong>in</strong> erkennbarer Trivialisierung ihrer religiösen Symbolsprache<br />

nicht nachkommen.<br />

Geht es um die Menschenwürde, ist das<br />

Menschse<strong>in</strong> wesentlich. E<strong>in</strong>e besondere Bedeutung<br />

kommt den <strong>in</strong>tuitiven Vorstellungen des Menschen<br />

zu, dem Wissen von dem, was für e<strong>in</strong>en Menschen


angemessen oder unangemessen ist. Das Intuitive<br />

überschreitet die bloß rationale Erfassung des Menschen<br />

als Vernunftwesen, das Freiheit und Autonomie<br />

besitzt.<br />

Theologische Ethik verfügt über andere Sprachmuster,<br />

Leitbegriffe und Denkfiguren als der rechtliche<br />

Diskurs und viele Positionen philosophischer<br />

Ethik. Man kann sagen: Gerade <strong>in</strong> den Sprachspielen<br />

der Theologie werden die Probleme besonders<br />

radikal erfasst.<br />

Aus theologischer Perspektive gilt die reformatorische,<br />

von der Rechtfertigungslehre best<strong>im</strong>mte<br />

Unterscheidung zwischen der Würde der Person<br />

und ihren Taten. Weder gute noch schlechte Handlungen<br />

können die Personenwürde qualifizieren.<br />

Eberhard Jüngel brachte dies Anfang der 1980er<br />

Jahre <strong>in</strong> dem Satz zum Ausdruck: “Geschöpfliches<br />

Gegenüber Gottes zu se<strong>in</strong>, das dazu best<strong>im</strong>mt ist,<br />

dessen Anspruch zu entsprechen, konstituiert den<br />

Menschen als Person.”<br />

In se<strong>in</strong>em Personse<strong>in</strong> unterscheide sich der<br />

Mensch von allen anderen Geschöpfen – dieses bedeute<br />

Anspruch und Auszeichnung zugleich. “Des<br />

Menschen höchste Würde ist die, dazuse<strong>in</strong>.” Doch<br />

mit der unmittelbaren Präsenz ist noch ke<strong>in</strong>e Kommunikation<br />

gesetzt, und diese ist gefordert, will sich<br />

e<strong>in</strong>e Gesellschaft stabil halten.<br />

Hermeneutische Sensibilität bei<br />

der Profilierung diskursleitender<br />

Begriffe<br />

Mit e<strong>in</strong>facher Beobachtung von Systemabläufen und<br />

dem Verzicht auf Normsetzung ist es, so postuliert<br />

auch Jürgen Habermas stets aufs Neue, nicht getan.<br />

In se<strong>in</strong>er Rede zum Thema “Glauben und Wissen”,<br />

die er anlässlich der Verleihung des Friedenspreises<br />

des Deutschen Buchhandels <strong>im</strong> Jahr 2001 <strong>in</strong> Frankfurt<br />

hielt, beschreibt Habermas den Prozess der<br />

Säkularisierung als Übersetzungsleistung.<br />

Dabei wählt er als Beispiel die Beschreibung der<br />

Geschöpflichkeit des Menschen als Ebenbild Gottes;<br />

<strong>in</strong> ihr drücke sich “e<strong>in</strong>e Intuition aus, die auch dem<br />

religiös Unmusikalischen etwas sagen” könne. Die<br />

“absolute Differenz zwischen Schöpfer und<br />

Geschöpf” dürfe, folgert der e<strong>in</strong>stige “Verächter” der<br />

Religion jetzt, nicht e<strong>in</strong>geebnet werden; denn nur so<br />

lange bedeute “die göttliche Formgebung ke<strong>in</strong>e<br />

Determ<strong>in</strong>ierung, die der Selbstbest<strong>im</strong>mung des<br />

Menschen <strong>in</strong> den Arm” falle.<br />

“Die <strong>in</strong>s Leben rufende St<strong>im</strong>me Gottes kommuniziert<br />

von vornhere<strong>in</strong> <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es moralisch<br />

empf<strong>in</strong>dlichen Universums. Deshalb kann Gott den<br />

Menschen <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne ‚best<strong>im</strong>men‘, dass er ihn<br />

zur Freiheit gleichzeitig befähigt und verpflichtet.”<br />

Das zu Reflexion fähige Ich ist gefordert. Nichts<br />

liegt dem menschlichen Gehirn näher als konsequente<br />

Selbstbespiegelung – begleitet vom bohrenden<br />

Zweifel eben des Ichs, ob es wirklich der Souverän<br />

ist. Die Gefahr, dachte Mart<strong>in</strong> Heidegger, ist<br />

groß, sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Möglichkeiten existenziell zu<br />

verlaufen und zu verkennen; denn <strong>in</strong> “Se<strong>in</strong> und<br />

Zeit” gründe “die Undurchsichtigkeit des Dase<strong>in</strong>s<br />

nicht e<strong>in</strong>zig und pr<strong>im</strong>är <strong>in</strong> ‘egozentrischen’ Selbsttäuschungen,<br />

sondern ebensosehr <strong>in</strong> der Unkenntnis<br />

der Welt”.<br />

Was passiert aber nun, wenn die zur politischethischen<br />

Selbstverständigung verwendeten Begriffe<br />

so unscharf werden, dass die Kommunikation substanziell<br />

zusammenbricht? Dies wäre das Ende pluraler,<br />

freiheitlich-demokratischer Gesellschaften.<br />

Die Qualität politischer Kampfbegriffe erweist<br />

sich <strong>in</strong> ihrem evidenten Zugriff auf die momentane<br />

Wirklichkeit und <strong>im</strong> Versprechen zukunftsmächtiger<br />

Gestaltungskraft. Wird darauf verzichtet, hermeneutisch<br />

sensibel die diskursleitenden Begriffe zu<br />

profilieren und ihre mühsam erarbeitete Differenzierungsqualität<br />

zu erhalten, gleichen sich die Leere<br />

der Sprachwelten und die Profillosigkeit der Umwelt<br />

e<strong>in</strong>ander zwangsläufig <strong>in</strong> ihrer antihumanen Zerstörungskraft<br />

an. ó<br />

Theologische Werkstatt<br />

evangelische aspekte 3/2009 45

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