Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter)
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Gt 08020 / p. 552 / 1.10.2007<br />
<strong>Berührende</strong> <strong>Liebe</strong> (<strong>Der</strong> <strong>barmherzige</strong> <strong>Samariter</strong>)<br />
Lk 10,30-35<br />
(30a) Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter<br />
Räuber,<br />
(30b) die zogen ihm die Kleider aus, schlugen ihn, gingen weg und ließen<br />
ihn liegen – halb tot.<br />
(31a) Zufällig aber ging ein Priester jenen Weg hinab;<br />
(31b) und als er ihn sah, ging er weg.<br />
(32a) Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte,<br />
(32b) und als er (ihn) sah, ging er weg.<br />
(33a) Ein <strong>Samariter</strong> aber, der auf der Reise war, kam zu ihm;<br />
(33b) und als er (ihn) sah, wurde er innerlich berührt;<br />
(34a) und er ging hin und verband seine Wunden und goss Öl und Wein<br />
darauf;<br />
(34b) und er setzte ihn auf sein Tier und führte ihn in eine Herberge und<br />
sorgte für ihn.<br />
(35a) Und am folgenden Morgen zog er zwei Denare heraus und gab sie<br />
dem Wirt und sprach:<br />
(35b) »Sorge für ihn! Und was du noch dazu verwenden wirst, werde ich<br />
dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.«<br />
Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit)<br />
Die Parabel kann in drei Erzählsequenzen gegliedert werden, deren Abschnitte dramaturgisch<br />
als »Überfall«, »Begegnungen« und »Hilfshandeln« überschrieben werden können:<br />
Zunächst wird das Ausgangsszenario entfaltet (V. 30): Ein Mensch wird während einer<br />
Reise von Jerusalem nach Jericho von Räubern überfallen. Sie ziehen ihm die Kleider aus,<br />
schlagen ihn, rauben ihn aus (V. 30b). Alles geht blitzschnell, so wird es durch den gedrängten<br />
Verbalstil suggeriert. Am Ende dieser Exposition sehen wir den Überfallenen<br />
verlassen und verletzt daliegen, sein Zustand ist ernst. Er ist – wie der Text pointiert am<br />
Schluss des Satzes sagt – Ÿmiqan»@ (hēmithanēs – halb tot).<br />
<strong>Der</strong> nächste Abschnitt (V. 31-33) schildert die Begegnungen von drei Menschen,<br />
die an dem Überfallenen vorbeikommen. Auffällig ist dabei der knappe Erzählstil mit<br />
streng parallelem Aufbau: Die Reisenden kommen einzeln, so dass eine Diffussion der<br />
Verantwortung (Bierhoff 2 2002, 187-189) von vornherein ausscheidet, jeder ist für sich<br />
selbst gefragt. Auch wird durch die anaphorisch gleichlautende Eröffnung der jeweils<br />
zweiten Versteile durch §dðn (idōn – er sieht) betont, dass alle Vorbeikommenden den<br />
Verletzten sehen. Sie nehmen folglich die Situation wahr. Doch der Text verzichtet auf<br />
jede weitere Kommentierung. Die Kargheit des Stils unterstreicht die Flüchtigkeit der<br />
Begegnungen: Priester und Levit schenken dem Überfallenen keine weitere Beachtung.<br />
Ihr unberührtes Verhalten wird stereotyp im fast gleichen Wortlaut beschrieben: Sie<br />
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<strong>Berührende</strong><strong>Liebe</strong> Lk10,30-35<br />
gehen weg (V. 31b = 32b). Auch die dritte Begegnung folgt in ihrer Grundstruktur den<br />
beiden anderen: <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> kommt wie seine Vorgänger offenbar zufällig zur Unfallstelle.<br />
Auch er sieht den Verletzten (§dðn idōn). Doch anders als es der parallele Aufbau<br />
erwarten lässt, geht er nicht weg. Er unterbricht seinen Weg und hilft. Lässt man sich in<br />
der Strukturierung des Textes inhaltlich leiten, dann könnte der dritte Teil der Parabel<br />
bereits mit Auftreten des <strong>Samariter</strong>s beginnen und das Hilfshandeln von Anfang bis Ende<br />
umfassen (Harnisch 4 2001, 279 f.). Sprachlich-stilistisch scheint jedoch der parallele Aufbau<br />
und knappe Stil des Mittelteils eine Zäsur nach V. 33 nahezulegen, auch das dff (de)<br />
wird dreimal genannt und muss in V. 33a nicht adversativ verstanden werden. Wenn die<br />
Mittelverse V. 31-33 als eine sprachliche Einheit wahrgenommen werden, wird der innere<br />
Kontrast zwischen der Ignoranz des Kultpersonals und der Barmherzigkeit des <strong>Samariter</strong>s<br />
deutlich sichtbar. <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> kommt und sieht wie die anderen beiden Personen,<br />
aber seine Reaktion ist eine gänzlich andere: Er lässt sich innerlich anrühren,<br />
wird berührt, was im Griechischen mit dem plastischen Verb splagcnfflzomai (splagchnizomai),<br />
d. h. wörtlich »an die Eingeweiden (tÞ spl€gcna ta splagchna; vgl. Apg 1,18)<br />
rühren« zum Ausdruck gebracht wird (dazu Bovon 1996, 90). Noch handelt der <strong>Samariter</strong><br />
nicht. Aber diese innere Anteilnahme am Leid des anderen ist der entscheidende Wendepunkt,<br />
der zum Handeln drängt, wie es dann der dritte Abschnitt erzählt.<br />
Im dritten Teil (V. 34-35) wird nun das Hilfshandeln für den Verletzten ausführlich<br />
beschrieben: Die detaillierte Schilderung der Hilfsmaßnahmen (V. 34f.: er trat hinzu,<br />
verband seine Wunden, goss Öl und Wein darauf, setzte ihn auf sein Tier etc.) nimmt<br />
den gedrängten Verbalstil aus der Überfallszene wieder auf und spannt somit einen Bogen<br />
zur Exposition. Auf diese Weise wird das Verhalten des <strong>Samariter</strong>s in einem doppelten<br />
Kontrast hervorgehoben: Einerseits steht sein <strong>Liebe</strong>sdienst im krassen Gegensatz zur<br />
Gewaltausübung der Räuber, was durch sprachliche Kontrastpaare (z. B. schlagen – verbinden,<br />
sie gingen weg – er ging zu ihm) zusätzlich unterstrichen wird. Andererseits hebt<br />
der parallele Aufbau der Begegnungen im Mittelteil die unterschiedliche Reaktion des<br />
<strong>Samariter</strong>s im Gegenüber zu Priester und Levit hervor.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> macht mehr als notwendig: Er leistet nicht nur ›Erste-Hilfe am Unfallort‹<br />
(V. 34), er sorgt auch noch für die ›Rehabilitation‹ in einer Herberge (V. 35),<br />
indem er den Wirt als weiteren Helfer einbezieht. Auch die Herbergsszene am Schluss<br />
wird ausführlich beschrieben. Hierin nur noch eine novellistische Ausschmückung zu<br />
sehen, wird dem Gewicht der Verse im Gesamtaufbau der Parabel wohl kaum gerecht.<br />
Durch das Aufsuchen der Herberge und die Beauftragung des Wirts führt der <strong>Samariter</strong><br />
seine Pflegemaßnahmen in doppelter Weise fort. Er nutzt den Schutz der Herberge für<br />
eine weitergehende Versorgung (er pflegte ihn). Schließlich wird dem Wirt der Herberge<br />
die Hilfe gegen Bezahlung übertragen. <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> selbst zieht weiter, sichert aber die<br />
Finanzierung der Pflege zu (V. 35). Es ist auffällig, dass Lukas bei der Beauftragung des<br />
Wirts dasselbe Verb (¥pimelffomai epimeleomai – pflegen) verwendet, mit dem in V. 34<br />
das vorbildliche Handeln des <strong>Samariter</strong>s resümierend zusammengefasst wurde. Genau<br />
das, was der <strong>Samariter</strong> mit dem Notleidenden tat, soll jetzt der Wirt weiterführen. Entscheidend<br />
ist nicht die jeweils helfende Person oder Institution, sondern allein das Wohl<br />
des Verletzten. Ein gewisser narrativer Höhepunkt kann in diesem letzten Teil darin gesehen<br />
werden, dass hier einzig in der Parabel wörtliche Rede eingesetzt wird. Ferner wird<br />
die Pflegeübertragung imperativisch formuliert (¥pimelffiqhti epimelēthēti – Pflege<br />
ihn!), so dass hier das parabelinterne Pendent zu den beiden Imperativen Jesu auf der<br />
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ParabelnimLukasevangelium<br />
Ebene des Streitgesprächs gegeben ist (V. 28: Tu dies!, V. 37: Geh hin und handle du<br />
ebenso!).<br />
Betrachten wir die Personenkonstellation der Parabel, so fällt auf, dass neben den<br />
Räubern insgesamt vier Menschen mit dem Verletzten zu tun haben, in der exegetischen<br />
Diskussion aber meist nur Priester, Levit und <strong>Samariter</strong> thematisiert werden. <strong>Der</strong> Wirt<br />
wird meist nicht eigenständig gewürdigt. Eine innertextliche Ursache dieser Missachtung<br />
liegt gewiss darin, dass Jesus in der an die Parabel anschließenden Frage explizit nur von<br />
›dreien‹ (V. 36: tffl@ toÐtwn t¾n tri¾n tis toutōn tōn triōn – Wer von diesen dreien?)<br />
spricht, und den Blick damit auf die Begegnungen lenkt. Doch die Parabel lässt sich nicht<br />
in die literarische Erzählkonvention des »Topped Triad« einordnen, nach der ein Trio von<br />
Personen als Gegenstück zu einer vierten Person genannt wird (Talmon 1993; ders. 2001,<br />
153); ebenso führt die von G. Sellin beschriebene Untergruppe der »Drei-Personen-<br />
Gleichnissen« (Sellin 1974, 181) für Lk 10 weiter, denn bei diesen Gleichnissen wird die<br />
›formale Hauptperson‹ von einem antithetischen Zwillingspaar (zwei Söhne, zwei<br />
Schuldner etc.) konstrastiert, was hier nur dann gültig bliebe, wenn man Priester und<br />
Levit als Kultpersonal zu einer Gruppe zusammenfassen würde und somit jüdisches Kultpersonal<br />
und helfender <strong>Samariter</strong> ein kontrastives Paar im Gegenüber zum Verletzten<br />
bildeten. Lk 10,30-35 folgt hingegen eigenen Erzählgesetzen, indem vier Handlungspersonen<br />
im Gegenüber zum Überfallenen genannt werden: zwei Vorübergehende und zwei<br />
Helfende (vgl. Tab. M. Zimmermann/R. Zimmermann 2003, 52).<br />
<strong>Der</strong> Text ist konkret und zum Teil sogar detailreich. Gleichwohl ist kein Element<br />
überflüssig. Doch gerade das, was verschwiegen wird, spricht die Lesenden an, regt zum<br />
Nachdenken an, wirkt provozierend. So ist die Appellstruktur des Textes von Anfang an<br />
evident, fordert die Fragen der Rezipienten heraus: Wer ist überhaupt dieser »Mensch«,<br />
der hier zwischen Jerusalem und Jericho unterwegs ist? Ist er ein Jude? War er vielleicht<br />
sogar im Tempel, um Opfer darzubringen? Das würde die Anteilnahmslosigkeit von<br />
Priester und Levit verschlimmern. Und wer sind die Räuber? Kriminelle, Terroristen<br />
oder »Partisanen, die im Gebirge gegen die römische Besatzungsmacht kämpften und<br />
einen Kollaborateur überfielen, weil es der Résistance an Geldmitteln fehlte« (Jens 1973,<br />
13)? Aber warum nehmen sie dann noch die Kleider weg? Oder warum berichtet der<br />
Text ausdrücklich, dass der Verletzte »halb tot« ist? Den Lesenden treibt dann natürlich<br />
im Mittelteil zentral die Frage um, warum die Vorbeikommenden nicht helfen? Nichts<br />
erfahren wir über die Motive, Argumente oder gar Seelenzustände von Priester und<br />
Levit. Handelt es sich um die urmenschliche Trägheit und Anteilnahmslosigkeit am Leid<br />
der anderen? Aber warum wird dann ausdrücklich die Berufsbezeichnung »Priester«<br />
und »Levit« erwähnt? Sind gerade die Vertreter der Religion kalt gegenüber der Not<br />
vor ihren Augen, weil sich ihre Religiosität in kultischen Ritualen erschöpft? Und wer<br />
ist der <strong>Samariter</strong>? Warum hilft er und wie sieht seine Hilfe aus? Warum bleibt er nicht<br />
bis zur vollständigen Genesung, sondern beauftragt einen Helfeshelfer und ausgerechnet<br />
einen Wirt? War es in einer Zeit mangelnder institutioneller medizinischer Versorgung<br />
eine beliebte Nebentätigkeit von Gastleuten, für Kranke und Sterbende zu sorgen? Aber<br />
warum wird das Geld erwähnt, wo es doch – dachten wir – um eine Beispielgeschichte<br />
für das selbstlose, aufopfernde Hilfshandeln geht? Kann man denn Hilfe oder gar Barmherzigkeit<br />
kaufen? Und handelt es sich bei der Ankündigung der Wiederkehr des <strong>Samariter</strong>s<br />
um den Ausdruck einer nachhaltigen Mitverantwortung, um eine Sicherheitsmaßnahme<br />
aufgrund eines berechtigten Misstrauens gegenüber dem Wirt, oder etwa um<br />
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einen versteckten Hinweis auf eine symbolische Deutung, nach der die Lesenden im<br />
<strong>Samariter</strong> Christus erkennen sollen, der hier seine Wiederkunft am Ende der Zeit anzeigt?<br />
Und wie geht es weiter? Wird der Kranke vollständig genesen? Warum fehlt der<br />
Schluss?<br />
Fragen über Fragen. So klar der Text als Beispiel für Hilfshandeln beim ersten Lesen<br />
erscheint, so doppeldeutiger, rätselhafter, verwirrender wird er, je tiefer man in ihn<br />
eindringt. Eine klare, eindeutige Aussage zerrinnt in den Händen. Stattdessen werden<br />
Deutungsprozesse in Gang gesetzt. So wird schon aufgrund der inneren sprachlichen<br />
Gestalt, ja auch aufgrund dessen, was alles nicht gesagt wird, nahe gelegt, nach Tiefensinn,<br />
nach Übertragungsmöglichkeiten, nach Bildlichkeit zu suchen. Den parabolischen,<br />
d. h. fiktiv-metaphorischen Charakter der Erzählung nehmen wir aber umso deutlicher<br />
war, wenn wir die Geschichte in ihren Kontext einordnen.<br />
Kontext<br />
Die Parabel steht innerhalb der so genannten »großen Einschaltung« (Lk 9,51-18,14), die<br />
mit der Verwerfung Jesu in Samarien beginnt (Lk 9,52 f.) und im ersten Teil vor allem<br />
durch das Thema der Nachfolge durch Verwendung der Aussendungssprüche aus der<br />
Logienquelle (Lk 9,57-10,24) bestimmt ist. <strong>Der</strong> engere Kontext ordnet die Parabel einem<br />
Gespräch zwischen einem jüdischen Gesetzeslehrer und Jesus zu (Lk 10,25-37). Ein<br />
Schriftgelehrter stellt Jesus eine – so kommentiert es der Evangelist – provozierende Frage<br />
(¥kpeir€zwn a'tƒn ekpeirazōn auton – ihn auf die Probe stellend): Was muss ich tun,<br />
dass ich das ewige Leben erbe? (V. 25). Daraufhin entwickelt sich ein längerer Dialog, der<br />
in Frage, Gegenfrage und Handlungsappell eine parallel gestaltete Doppelstruktur erkennen<br />
lässt.<br />
1. Teil 2. Teil<br />
V. 25: Frage des Gesetzeslehrers<br />
V. 29: Frage des Gesetzeslehrers<br />
V 30-35: Parabel Jesu<br />
V. 26: Gegenfrage Jesu<br />
V. 27: Antwort des Gesetzeslehrers (als Zitat)<br />
V. 28: Handlungsappell Jesu<br />
<strong>Berührende</strong><strong>Liebe</strong> Lk10,30-35<br />
V. 36: Gegenfrage Jesu<br />
V. 37a: Antwort des Gesetzeslehrers<br />
V. 37b: Handlungsappell Jesu<br />
Die Parabel in V. 30-35 erscheint in diesem Aufbau zunächst als Ausweitung, was teilweise<br />
zu der literarkritischen Hypothese Anlass gegeben hat, dass sie ursprünglich unabhängig<br />
von diesem Kontext überliefert worden sei und erst später in diesen Rahmen<br />
gestellt wurde (Jülicher II 2 1910, 594; Mell 1999a, 120 f.). Allerdings sind Parabel und<br />
Kontext eng miteinander verknüpft. Die Gegenfrage Jesu (V. 36: Wer von diesen dreien,<br />
meinst du, ist Nächster geworden für den unter die Räuber Gefallenen?) wird ohne die<br />
Parabel unverständlich. Mit V. 29 ist wiederum eine Brücke zum ersten Teil V. 25-28 des<br />
Gesprächs geschlagen. Die häufig bemerkte »Inkonzinnität der Aussagefolge«, indem die<br />
Frage des Gesetzeslehrers (V. 29: Und wer ist mein Nächster?) in Spannung zu der Gegenfrage<br />
in V. 36 tritt (so etwa Harnisch 4 2001, 276 Anm. 263), muss nicht als Problem,<br />
sondern geradezu als literarisch-hermeneutische Pointe des Textabschnitts betrachtet<br />
werden (s. u., Sellin 1975, 23-29). Auch die fehlende Parabeleinleitung kann als eine bewusst<br />
rhetorische Anordnung verstanden werden. »Die Kluft, die zwischen dem scholastischen<br />
Vorgeplänkel und der Großen Unterweisung besteht, will als Kluft erkennbar<br />
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ParabelnimLukasevangelium<br />
sein.« (Jens 1973, 12). Jesus wechselt hier bewusst die Sprachform, wählt eine Parabel,<br />
um zur Sache zu kommen.<br />
Treten wir näher ein in den hier vorgeführten Streit um die Erfüllung der Tora-<br />
Gebote, auf die Jesus mit seiner ersten Gegenfrage unmittelbar Bezug nimmt: »Was steht<br />
im Gesetz geschrieben, wie liest du?« (Lk 10,26). <strong>Der</strong> Gesetzeslehrer zitiert daraufhin<br />
zwei Gebote der Tora (Lk 10,27): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem<br />
Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt« – so fast wörtlich<br />
aus Dtn 6,5 und als zweites »und deinen Nächsten wie dich selbst« – so die verkürzte<br />
Wiedergabe von Lev 19,18. Gottesliebe und Nächstenliebe, das ist die Summe der ganzen<br />
Tora, danach ist zu leben. Die Kombination der beiden <strong>Liebe</strong>sgebote zum so genannten<br />
»Doppelgebot der <strong>Liebe</strong>« ist im Judentum nicht unbekannt, also kein »neues Gebot« Jesu<br />
(so Joh 13,34). Dies bestätigt die Parabel insofern, als es der Tora-Gelehrte ist, der einen<br />
»Wertekonsens auf dem Boden der gemeinsamen Thora« (Theißen 2003a, 58) festhält.<br />
Bereits im AT ist die Zusammenfassung von Dtn 6,5 und Lev 19,18 potentiell angelegt<br />
(Matyhs 1986, 150-154). Vor allem in den Testamenten der 12 Patriarchen finden sich<br />
dann explizit analoge Verknüpfungen von Gottesliebe und Menschenliebe (TestIss 5,2;<br />
7,6; TestSeb 5,1; TestDan 5,3; TestBen 3,1-3). In dieser Grundüberzeugung kann schnell<br />
Konsens hergestellt werden. Doch wie so oft, stecken die Probleme im Detail. Um wirklich<br />
handeln zu können, muss der Gesetzeslehrer erst noch genauer fragen: Wer ist denn<br />
nun mein Nächster? (V. 29: tffl@ ¥stffln mou plhsfflon; tis estin mou plēsion). Mit der Parabel<br />
möchte Jesus genau diese Frage beantworten. Die enge Einbettung der Parabel in den<br />
Kontext der Gesetzesdiskussion beeinflusst deshalb entscheidend die Deutung des Textes.<br />
Sie macht einerseits deutlich, dass die Einhaltung von Gesetzen Bestandteil der theologischen<br />
Zuordnungsebene darstellt. Sie zeigt ferner, dass die Parabel – ganz im Sinne der<br />
antiken Rhetorik – eine argumentative Funktion besitzt. Seit Aristoteles wurde die parabolffi<br />
(parabolē) innerhalb der rhetorischen Figur des par€deigma (paradeigma –<br />
Beispiel) verhandelt (vgl. auch zum folgenden R. Zimmermann 2007a). Aber eine »Beispielerzählung«<br />
im Sinne von Jülicher ist unser Text deshalb noch lange nicht.<br />
Während Jülicher in seiner Konstruktion der Gattung »Beispielerzählung« aus vier<br />
Texten des lk. Sondergutes ein Ineinanderfallen von Bild- und Sachebene postulierte,<br />
bleibt schon in der antiken Rhetorik die Übertragung, d. h. der metaphorische Charakter,<br />
beim parabolischen Exemplum unbestreitbar. Auch Lk 10,30-35 ist nicht nur ein fiktionaler,<br />
sondern auch ein metaphorischer Erzähltext. Schon die für Jülichers Beispielerzählung<br />
geforderte unmittelbare Vorbildfunktion der Erzählfiguren lässt beim <strong>Samariter</strong>-Gleichnis<br />
stutzig werden: Sollen sich jüdische Hörer im <strong>Samariter</strong> als einer Identifikationsfigur<br />
wiederfinden (mit Funk 1982a, 33f.)? Oder bewegt sich die Schilderung eines brutalen<br />
Überfalls »bereits auf dem höheren Gebiete«, werden hier Ereignisse erzählt, »die ohne<br />
weiteres der religiös-sittlichen Sphäre angehören und nicht erst durch Vergleichung mit<br />
Höherem für dies Gebiet nutzbar werden.« (Jülicher I 2 1910, 112)? Vor allem bleibt aber<br />
das von Jülicher behauptete fast völlige Zurücktreten der Bildlichkeit fraglich: Denn die<br />
Geschichte läuft im Sinne von Jülichers Definition nicht »auf demselben (Gebiet ab), auf<br />
dem der zu sichernde Satz liegt«, sie ist nicht nur »ein Beispiel des zu behauptenden<br />
Satzes« (ebd.).<br />
Schon die Nennung von Orts- (Jerusalem; Jericho) und Rollenangaben verpflichten<br />
den Leser/ die Leserin über das konkrete Szenario hinaus eine übertragene Sinnebene<br />
zu suchen. Ganz wie bei anderen Parabeln wird ein konkreter Einzelfall konstruiert, von<br />
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dem aus aber grundlegendere und allgemeinere Einsichten abzuleiten sind. <strong>Der</strong> Tiefensinn<br />
des realitätsbezogen Erzählten erschließt sich auch hier erst durch metaphorische<br />
Interaktion. Die in V. 29 gestellte Frage nach dem Nächsten wird entsprechend zu einer<br />
Zuordnungsebene, die im Hintergrund der ganzen Parabel präsent bleibt. So wird der/die<br />
Lesende Kernmetaphern nach dem Stil »Mensch-Nächster«, »Priester-Nächster« etc. bilden,<br />
die in der Verknüpfung von »<strong>Samariter</strong>-Nächster« zweifellos ihre kühnste Ausformung<br />
erfährt. <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> ist in jüdischen Ohren alles andere als der plhsfflon (plēsion<br />
– Nächster), der ausgehend vom p4 t‚ (re c ) in Lev 19, 18f. als israelitischer Bundes- und<br />
Volksgenosse gedeutet werden muss (Fichtner, 1965, 102; ferner Mathys 1986, 29-39).<br />
Doch der abschließende Dialog macht deutlich, dass genau diese Zuordnung intendiert<br />
war: <strong>Der</strong> Fremde wird als Nächster präsentiert. Eine keineswegs übliche, sondern vielmehr<br />
provokante und insofern metaphorische Kopplung (s. u., mit Funk 1982a, 29-34).<br />
Doch auch eine weitere für heutige Leser kaum noch wahrnehmbare semantische<br />
Spannung liegt im Text: War es für Jülicher evident, dass es in Lk 10,30-35 um den Wert<br />
der »echten, opferfreudige <strong>Liebe</strong>« geht, so müssen wir zunächst feststellen, dass der Begriff<br />
»<strong>Liebe</strong>« in der Parabel selbst mit keinem Wort erwähnt wird. Die Gleichsetzung von<br />
Nächstenliebe und Fremden- bzw. Verletztenhilfe – so vertraut sie uns wirkungsgeschichtlich<br />
erscheinen mag – ist für die Ersthörer alles andere als selbstverständlich.<br />
Das Nächstenliebesgebot muss vielmehr als der ›bildempfangende Bereich‹ als ›frame‹<br />
betrachtet werden, während der konkret geschilderte Einzelfall eines Hilfshandelns zwischen<br />
Jerusalem und Jericho als »bildspendender Bereich« bzw. ›focus‹ betrachtet werden<br />
muss. Die Erfüllung des Toragebots der Nächstenliebe ist die Ebene, die in metaphorischer<br />
Interaktion mit der Erzählung erhellt werden soll. Die Kernmetapher »Nächstenliebe<br />
ist <strong>Samariter</strong>hilfe« mag für die Ersthörer hierbei mindestens ebenso fremd und provozierend<br />
geklungen haben, wie der Vergleich des Reiches Gottes mit Sauerteig oder<br />
einem Schatz im Acker. Doch gerade so wird ein Deutungsprozess in Gang gesetzt, der<br />
Sinnstiftung ermöglichen soll.<br />
SozialgeschichtlicheAnalyse(Bildspendender Bereich)<br />
<strong>Berührende</strong><strong>Liebe</strong> Lk10,30-35<br />
Gleich im ersten Satz wird die Szene geographisch genau lokalisiert: Ein Reisender befindet<br />
sich auf dem Weg zwischen den judäischen Städten Jerusalem und Jericho. Wenn<br />
man vor Augen führt, dass Jerusalem im judäischen Bergland auf einer Höhe von 750m<br />
liegt, während man in Jericho in der Jordansenke etwa 400m unterhalb des Meeresspiegels<br />
misst, dann wird verständlich, warum der Text vom »Hinabgehen« spricht. Auf einer<br />
Strecke von ca. 27 km ist ein Höhenunterschied von 1150m zu überwinden. Die in späterer<br />
römischer Zeit angelegte Straße zwischen Jerusalem und Jericho, die als Handelsstraße<br />
nach Rabbah in Transjordanien weiterführte (Böhm 1999, Anh. II/10), kann noch<br />
nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr benutzte man für die Ost-West-Verbindung in Palästina<br />
die zum Jordan hinführenden Wadis. Möglich, dass Jesus – wie die spätere Tradition<br />
nahelegt – bei seiner Erzählung an den Weg im Wadi Quelt gedacht hat, ein schmaler<br />
Fußsteig, der sich an den tiefen Abgründen des Flussbetts entlangzieht und für Mensch<br />
und Tier nur mühsam zurückzulegen ist. Auf solchen Wegen lauerten Gefahren: Die Zerklüftung<br />
erlaubte es Menschen blitzschnell auf- und unterzutauchen. Eine Verfolgung<br />
war nahezu aussichtslos. Ein ideales Gebiet für Räuber und Wegelagerer, wie etwa Jose-<br />
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ParabelnimLukasevangelium<br />
phus berichtet (Flav. Jos. Bell. 4,474). So werden Überfälle auf dieser Strecke zum Regelfall<br />
gehört haben.<br />
Die Parabel ist ferner ein Spiegel gesellschaftlicher Extreme. So werden mit den<br />
Räubern Vertreter einer gesellschaftlichen Randgruppe und wahrscheinlich auch der Unterschicht<br />
genannt. Im Begriff l–hstffi@ (lēstēs – Räuber) werden alle gewalttätigen Kriminellen<br />
zusammengefasst (Flav. Jos. Bell. 2,117 f.; Flav. Jos. Ant. 18,1-10), gleich ob es sich<br />
um Straßenräuber aus persönlicher Armut (so genannte ›Anomietäter‹, zur Terminologie<br />
Riess 2001, 62-82) oder um politische ›Guerillakämpfer‹ (so genannte ›gelabelte Kriminelle‹,<br />
vgl. Mk 15,27par.; vgl. Joh 18,40) handelte. Eine soziologische Differenzierung<br />
der Räuber, wie sie etwa die Kriminalitätsgeschichte der frühen Neuzeit vorgeschlagen<br />
hat, kann heuristisch zwar auch auf die röm. Antike angewendet werden (Riess 2001),<br />
ist begrifflich aber nicht nachweisbar. In der kurzen Erwähnung von Lk 10,30.36 kann<br />
man politische Motive eher ausschließen, denn das Interesse der Räuber scheint weniger<br />
dem Menschen als seinem Besitz zu gelten. Hier sind die Räuber radikal und nehmen<br />
ihm buchstäblich noch das letzte Hemd.<br />
Nun treten mit Priester und Levit zwei Vertreter des Kultpersonals am Jerusalemer<br />
Tempel auf, das heißt rollenspezifisch genau festgelegte Handlungsfiguren. Auch wenn<br />
die politische Herrschaftsfunktion, die in hasmonäischer Zeit (152-63 v. Chr.) ebenfalls<br />
von Priestern ausgeübt wurde, unter den Herodianern und der Römerherrschaft zurückgedrängt<br />
wurde, war die Priesterschaft in der Zeit Jesu immer noch eine angesehene,<br />
machtvolle Gruppe der gesellschaftlichen Oberschicht. Da in der Zeit des zweiten Tempels<br />
die Zahl der Priester und Leviten auf mehrere Tausend angewachsen war, wurde ein<br />
rotierendes System entwickelt, bei dem wochenweise eine Priestergruppe Dienst hatte.<br />
Die Priester wurden in 24 Abteilungen (mischmarot) eingeteilt, die aus nur 4-9 Familien<br />
stammten. Da die meisten Priester außerhalb von Jerusalem wohnten, zogen sie für die<br />
ca. zwei Wochen Tempeldienst im Jahr nach Jerusalem. Das in Lk 10 genannte Kultpersonal<br />
könnte sich auf dem Weg zu oder von dem Tempeldienst befunden haben. Die<br />
Aufgaben der Priester waren vielfältig: Neben dem Vollzug kultischer Handlungen, insbesondere<br />
der Opfer am Tempel, nahmen die Priester auch die Aufgabe des Lehrens und<br />
Richtens (Dtn 17,8-13; Ez 44,24) wahr. Ferner waren Reinigungsmaßnahmen z. B. von<br />
Kranken eine wesentliche Aufgabe der Priester.<br />
Da die Priester in Israel (wie im Alten Orient überhaupt) heiliger betrachtet wurden<br />
als gewöhnliche Menschen, unterlagen sie auch besonderen Reinheitsvorschriften. So<br />
mussten sie z. B. vor Verrichten des Kultes Waschungen durchführen (Ex 30,18-21), durften<br />
keine berauschenden Getränke zu sich nehmen (Lev 10,9; Ez 44,21) oder mussten<br />
den Kontakt mit Unreinem meiden, wozu etwa Tote (Lev 5,2-3; 21,1-3; Num 5,2; 6,6-8;<br />
19,1-22; Ez 44,25-27), Heiden, aber auch Menstruierende zählten. Viele Maßnahmen<br />
waren zwar auf den Zeitraum beschränkt, in dem die Kulthandlung durchgeführt wurde,<br />
andere – wie z. B. Ehevorschriften (Lev 21,13-15; Ez 44,22) – galten grundsätzlich. Obgleich<br />
sich alle Priesterfamilien auf den Stamm Levi zurückführten, bezeichnet der Begriff<br />
»Levit« in der Zeit des zweiten Tempels eine spezielle Gruppe des Kultpersonals, die<br />
niedere Dienste am Tempel verrichtete (Num 1,48 ff.; 8,5 ff.). Wie die Priester übten die<br />
Leviten wochenweise ihren Dienst am Tempel aus, der im Singen von Psalmen, im Wächterdienst<br />
an den Tempeltoren (mMid 1,1; 2,5) oder auch in der Lehre (2Chr 17,7-9; Neh<br />
8,7-9) bestand. Opferdienste vollzogen die Leviten vermutlich nicht, unterlagen folglich<br />
auch nicht denselben Reinheitsvorschriften wie die Priester.<br />
544
Gt 08020 / p. 559 / 1.10.2007<br />
<strong>Berührende</strong><strong>Liebe</strong> Lk10,30-35<br />
<strong>Der</strong> dritte Vorbeikommende wird als Samarfflth@ (Samaritēs – <strong>Samariter</strong> bzw. Samaritaner)<br />
klassifiziert, d. h. zunächst aufgrund seiner Herkunft als Bewohner der Region<br />
Samarien im mittelpalästinischen Bergland näher bestimmt (bBer 47b.51b, Dexinger/<br />
Pummer 1992). Doch diese Angabe ist weit mehr als nur geographisch. Die Samaritaner<br />
galten aus (vielfach polemisch) jüdischer Sicht nicht nur als ›Ausländer‹, sie wurden auch<br />
als Ungläubige und Götzendiener bezeichnet. Hinter der jüdischen Polemik von 2Kön<br />
17,6-41 (vgl. Jos Ant 9,277-282.288-291), die die Ansiedlung von Fremdvölkern in der<br />
Region nach dem Fall Samarias 722 v. Chr. für die Bildung einer israelitisch-heidnischen<br />
Mischbevölkerung einschließlich einer synkretistischen Religion verantwortlich machte,<br />
erkennt die neuere Forschung jedoch einen Bruderstreit (Zangenberg 2005, 48). Die Samaritaner<br />
waren zunächst eine Sondergruppe innerhalb des Judentums. Zum Bruch kam<br />
es erst durch den Bau des zweiten Tempels (vgl. Esr 4,4-24; Flav. Jos. Ant. 11,19f.) und<br />
der Gründung eines eigenen samaritanischen Heiligtums auf dem Garizim bei Sichem im<br />
späten 4. Jh. v. Chr. (Flav. Jos. Ant. 11,321-325). Seit der Zerstörung dieses Heiligtums<br />
durch den jüdischen Hasmonäer-König Johannes Hyrkanus im Jahr 128 v. Chr. (Flav. Jos.<br />
Ant. 13,254-256, vgl. Sasse 2004, 209 f.) herrschte offene Feindschaft zwischen Juden<br />
und Samaritanern: Die Quellen berichten immer wieder von Auseinandersetzungen<br />
(Flav. Jos. Ant. 12,156; 13,74-79), sei es, dass die Samaritaner den Tempelplatz durch<br />
Ausstreuen von Knochen, d. h. von totem, unreinen Material, entweihten (Flav. Jos. Ant.<br />
18,29 f.); sei es, dass man im jüdischen Synagogengottesdienst die Samaritaner öffentlich<br />
verfluchte und einen Ausschluss aus dem »ewigen Leben« forderte, um nur zwei markante<br />
Beispiele zu nennen. Auch in den ntl. Schriften lassen sich deutliche Spuren dieses<br />
ethnisch-religiösen Konflikts ablesen (z. B. Mt 10,5f.), der auch den Hintergrund zu Lk<br />
10,30-35 bildet. Dass neben dem Kultpersonal des Jerusalemer Tempels nun ein – diesen<br />
Tempel ablehnender – <strong>Samariter</strong> auftritt, dürfte kaum beliebig sein, zumal die Szene in<br />
eine Diskussion um die Tora eingebunden ist, deren rechtmäßige Auslegung von Juden<br />
und <strong>Samariter</strong>n gleichermaßen beansprucht wurde (Böhm 1999, 239-260). Jesus wie<br />
auch die frühen Christen scheinen allerdings eine integrative Position gegenüber den<br />
Samaritanern eingenommen zu haben (Joh 4,1-43; Lk 17,11-19), wovon idealtypisch<br />
die »Samarienmission« in der Apg berichtet (Apg 8,4-25).<br />
Schließlich bedarf es einiger Erklärungen zu Wirt und Herberge in der Schlussszene<br />
der Parabel: Man unterschied in der hellenistisch-römischen Antike zwei Arten von Herbergen,<br />
die auch begrifflich differenziert wurden: Auf der einen Seite die nichtgewerbliche<br />
Herberge (katalÐmata katalymata), die in Tradition zu der im gesamten Alten<br />
Orient und so auch im Judentum hoch geschätzten Pflicht der Gastfreundschaft stand<br />
(vgl. Gen 18,1-8; 1Kön 17,8-16; dazu Hiltbrunner u. a. 1972, 1061-1123). Auf der anderen<br />
Seite die gewerbliche Wirtsherberge (pandoce…on pandocheion), die in der gesamten<br />
Antike einen schlechten Ruf hatte, weil es als unehrenhaft galt, von einem Gast Geld zu<br />
nehmen (schon Platon leg. 11,919e). Zudem verkehrte in den letzteren Herbergen fast<br />
nur Publikum aus unteren Gesellschaftsschichten, das keine Gastfreunde hatten, was entsprechend<br />
Standards und Umgangsformen der Wirtshäuser prägte. Die Wirtsherbergen<br />
galten ferner als Orte des Lasters, denn vom weiblichen Bedienungspersonal wurde allgemein<br />
erwartet, dass es auch die sexuellen Wünsche der Gäste erfüllte (Kirchhoff 1994,<br />
37 ff.). Entsprechend standen Wirte in schlechtem Ruf. In der Liste der der verachtetsten<br />
Berufe des Dichters M. Valerius Martialis (ca. 40-120 n. Chr.) wird der Wirt (caupo) als<br />
letzter genannt (Mart. epigr. 3,59: Schuster, Walker, Wirt). In Palästina wurde der Wirts-<br />
545
Gt 08020 / p. 560 / 1.10.2007<br />
ParabelnimLukasevangelium<br />
beruf fast ausschließlich von Nichtjuden ausgeübt. Dass in solchen Wirtshäusern Kranke<br />
gepflegt wurden, lässt sich nicht nachweisen. Erst im 4. Jh. n. Chr., d. h. nach Ende der<br />
Verfolgungen, beginnt die Geschichte der christlichen Herbergen, der Xenodochien bzw.<br />
Hospize (lat. hospitium), die dann bald auch zur Pflege- und Fürsorgeeinrichtung für<br />
Kranke und Arme wurden.<br />
<strong>Der</strong> Text lässt nun keinen Zweifel, dass es sich um eine gewerbliche Wirtsherberge<br />
handelt, denn neben dem Terminus technicus (pandoce…on pandocheion), wird auch<br />
ausdrücklich erwähnt, dass der Wirt Geld für seine Dienste erhält. <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> bezahlt<br />
zwei Denare (vgl. Avemarie zu Mt 20,1-16), d. h. Geld in der zur Zeit Jesu geläufigsten<br />
römischen Währung. Ein Denar entsprach dem Lohn eines Tagelöhners für einen Tag<br />
oder dem Wert für eine Tagesration Weizen. Da der Verletzte vermutlich keinen Privatpfleger<br />
für die ganze Zeit beanspruchte und auch nicht eine volle Tagesration Essen<br />
brauchte, werden die zwei Denare für einige Tage Pflegezeit ausgereicht haben.<br />
Analysedes Bedeutungshintergrunds(Bildfeldtradition)<br />
Die Suche nach vorgeprägten Bildfeldern oder weiter gefasst nach dem semantischen<br />
Tiefensinn einzelner Motive der Parabel, lässt sich auf die Frage zuspitzen, ob die metaphorischen<br />
Zuordnungen von <strong>Liebe</strong>stätigkeit als Hilfsdienst sowie von Nächster und <strong>Samariter</strong><br />
bereits im Vor- und Umfeld der Parabel belegt sind.<br />
Heißt liebenhelfen?<br />
Das Hilfshandeln des <strong>Samariter</strong>s wird auf das in der Rahmenhandlung angesprochene<br />
Thema der ›<strong>Liebe</strong>‹ bezogen. So stellt sich die Frage, ob Nothilfe bereits im Vor- und<br />
Umfeld des Textes als Aspekt des (jüdischen) <strong>Liebe</strong>sethos betrachtet wurde. Wenden wir<br />
uns zunächst dem Ethos der ›<strong>Liebe</strong>‹ zu. <strong>Der</strong> hebr. Begriff bea (’hb – lieben) steht für die<br />
wechselseitige Gottesliebe (Dtn 6,5; 7,13), für die leidenschaftliche <strong>Liebe</strong> zwischen Mann<br />
und Frau (Gen 24,67; 29,18; Hhld 8,6 f.) ebenso wie für die <strong>Liebe</strong> zum Mitmenschen.<br />
Letztere kann als <strong>Liebe</strong> zwischen Eltern und Kindern (Gen 22,2; 37,3 f.), zwischen Herrn<br />
und Sklaven (Dtn 21,15) ebenso wie zwischen Freunden (1Sam 18,1; Ps 38,12; Spr<br />
17,17) konkretisiert werden. Die eher vereinzelte Ausweitung des <strong>Liebe</strong>shandelns auf<br />
den im Land wohnenden Fremden (Lev 19,34) wird theologisch mit der <strong>Liebe</strong> JHWHs<br />
zum Volk bzw. Fremdling begründet (Jenni 1994, 68). Erst in weisheitlichen Schriften<br />
vollzieht sich ein Abstraktionsprozess, der <strong>Liebe</strong> als menschliche Grundhaltung<br />
(Spr 10,12; Pred 3,8) beschreibt. Dabei hat die Konzentration auf den ⁄g€ph-(agapē –<br />
<strong>Liebe</strong>s)-Begriff in der LXX wesentlich zur Ausbildung eines zwischenmenschlichen Tugendbegriffs<br />
beigetragen (Wischmeyer 1981, 23-26).<br />
Auch die Hilfe für den in Not Geratenen – selbst den Feind (Ex 23,4 f.) – ist Bestandteil<br />
des jüdischen Ethos. Allerdings wird dieses Hilfshandeln nicht ›lieben‹ genannt,<br />
sondern ausgehend von Gottes Handeln (Jer 9,23) mit Begriffen des Rechts bzw. der<br />
Gerechtigkeit (Jes 1,17; Jer 7,5) oder der Barmherzigkeit (Sach 7,9) belegt. Das Handeln<br />
des <strong>Samariter</strong>s wird mit Lk 10,37 explizit in diese Tradition der Ausübung von Barmherzigkeit<br />
gestellt, ohne dass man hierbei eine Festlegung auf eine bestimmte Schrift wie<br />
etwa das Hiobbuch (So Mell 1999a, 142-148) vollziehen müsste. <strong>Der</strong> hierbei durch die<br />
546
Gt 08020 / p. 561 / 1.10.2007<br />
Rollenzuweisung in der Parabel aufgebaute Kontrast zwischen (Opfer-)Kult und Barmherzigkeitshandeln<br />
ist traditionell durch die prophetische Kultkritik vorgeprägt. In Hos<br />
6,6 heißt es in prophetischer Gottesrede: »Ich will Barmherzigkeit (˛leo@ eleos) nicht<br />
Schlachtopfer«, ein Vers, der mehrfach im NT aufgenommen wurde (Mt 9,13; 12,7 –<br />
nicht aber bei Lk). Nicht aber zeigt sich eine feste konventionalisierte Verbindung von<br />
<strong>Liebe</strong>shandeln und Barmherzigkeits- bzw. Hilfstätigkeiten.<br />
Erst im neutestamentlichen Umfeld wird diese Verknüpfung zwischen <strong>Liebe</strong> und<br />
Barmherzigkeit vollzogen, wobei abgesehen von 1Petr 3,8 hier jeweils Gott als Subjekt<br />
benannt wird (Eph 2,4; 2Joh 1,3; Jud 1,2.21). Die durch die kontextuelle Zuordnung<br />
der Parabel in Lk 10,25-37 vollzogene Übertragung vom Barmherzigkeitshandeln auf<br />
die <strong>Liebe</strong> im zwischenmenschlichen Kontext ist also eine Verknüpfung, die traditionsgeschichtlich<br />
keineswegs vorgeprägt war, so vertraut sie heutigen LeserInnen sein mag.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong>alsNächster<br />
<strong>Berührende</strong><strong>Liebe</strong> Lk10,30-35<br />
<strong>Der</strong> Begriff des »Nächsten« ist zumal im Kontext der Tora-Diskussion auf den israelitischen<br />
Volksgenossen (Ex 20,16f.; 22,6 ff.), Nachbarn (Ex 11,2; Dtn 19,14; 27,17) und Bruder<br />
(Lev 19,16f.) bezogen. »Nächster« ist der Israelit, ein ebenbürtiger Angehöriger des<br />
Gottesvolkes. In Qumran spitzt sich diese eingrenzende Sicht sogar noch zu, da hier der<br />
Nächste als Mitglied der Qumran-Gemeinschaft bezeichnet wird (z. B. 1Q 28 VI,1-26).<br />
Obgleich die <strong>Samariter</strong> mit den Juden die Tora und die Beschneidung teilen, wurden<br />
sie den antiken Quellen zufolge gerade nicht als Bundesgenossen bzw. als Nächste<br />
betrachtet, im Gegenteil. Sofern die spärlichen bzw. späten Textquellen zu den Samaritanern<br />
(Zangenberg 1994) überhaupt eine Einschätzung zur vorneutestamentlichen Zeit<br />
erlauben, werden die <strong>Samariter</strong> eher idealtypisch als Außenseiter oder Fremde betrachtet<br />
(z. B. Flav. Jos. Ant. XI,341: »Wenn die Juden in Schwierigkeiten stecken, leugnen sie [die<br />
Samaritaner] mit ihnen verwandt zu sein, und bekennen damit durchaus die Wahrheit.«)<br />
Nun war der Fremde oder sogar Feind bereits im AT bzw. Frühjudentum als Objekt<br />
der <strong>Liebe</strong> bezeichnet worden (Lev 19,34; Dtn 10,19; Arist 227; Philo virt. 51 ff.). Die<br />
explizite Ausweitung des <strong>Liebe</strong>sgebots unterstreicht allerdings, dass der Fremde nicht<br />
bereits bei der Nennung des »Nächsten« in Lev 19,18 eingeschlossen war. Ganz auf dieser<br />
Linie bleibt auch noch die so genannte ›Antithese‹ zur Feindesliebe in Mt 5,44, bei der die<br />
Feinde geradezu im Kontrast zum Nächsten als Empfänger der <strong>Liebe</strong> genannt werden.<br />
Die metaphorische Zusammenfügung von Nächster und <strong>Samariter</strong> in der Parabel<br />
kann also im Sinne einer frischen Metapher verstanden werden. Hier wird zusammengezwungen,<br />
was traditionsgemäß nicht zusammengehörte: <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> ist gerade kein<br />
Nächster. Diese Einschätzung wird schließlich durch den narrativen Aufbau bestätigt, der<br />
den Rezipienten eine Konterdetermination zumutet. Da die alt-israelitische Gesellschaft<br />
nach vielen antiken Texten in die drei sozioreligiösen Schichten »Priester, Levit und Israelit«<br />
unterteilt wird (z. B. Esr 2,70; 7,7, ferner Dtn 18,1; 27,9; Jos 3,3; 1Kön 8,4-5; Ez<br />
44,15; 1Q28 2,11.19-21; Flav. Jos. Ant. 4,222; 7,363 u. a.), muss die mit Priester und<br />
Levit begonnene Reihung als bewusste Lenkung der Hörer- oder Leserinnenerwartung<br />
verstanden werden (Gourgues 1998, 710 f.; Talmon 2001, 152). Dass in Lk 10,31-33 die<br />
übliche narrative Prefiguration dann durch das Auftreten, mehr noch durch das Hilfshandeln<br />
des <strong>Samariter</strong>s jäh enttäuscht wird (s. o.), bestätigt den metaphorischen Charakter<br />
des Erzählten.<br />
547
Gt 08020 / p. 562 / 1.10.2007<br />
ParabelnimLukasevangelium<br />
Zusammenfassende Auslegung(Deutungshorizonte)<br />
Die immense Wirkungsgeschichte der Parabel ist nicht unbegründet. <strong>Der</strong> Text bietet in<br />
seiner Prägnanz und Appellstruktur Auslegungspotenziale in ganz unterschiedlichen<br />
Richtungen. So wurde bei einer früher dominierenden christologisch-theologischen Auslegung<br />
in der inneren Anteilnahme (der Begriff spagcnfflzomai splagchnizomai – »innerlich<br />
bewegt werden« wird sonst im NT meist mit Jesus als Subjekt genannt, so Mt 9,36;<br />
Mk 1,41; 6,34; 8,2; Lk 7,13) sowie in der Wiederkunftsansage (V. 35b) ein Hinweis auf<br />
eine Identifikation des <strong>Samariter</strong>s mit Christus gesehen. Bei einer anthropologisch-psychologischen<br />
Deutung können alle handelnden Personen als Identifikationsfiguren der<br />
Lesenden herangezogen werden (so Kierkegaard 1956, 75f.; Laeuchli 2001, 133-144).<br />
Im Folgenden sollen drei Deutungshorizonte näher entfaltet werden:<br />
EthischeAuslegung<br />
Die Parabel ist in einen ethischen Diskurs eingebettet. Was muss ich tun (…), fragt der<br />
Gesetzeslehrer (Lk 10,25). Das rechte Tun wird am Maßstab der Tora ausgerichtet und<br />
entsprechend werden Tora-Gebote, konkret das Doppelgebot der <strong>Liebe</strong>, zitiert, um ethische<br />
Maximen zu benennen. Die Bildebene der Parabel dient nun nicht nur der Erläuterung<br />
oder gar der Illustration des Nächstenliebesgebots. Im Sinne einer Interaktion der<br />
Metaphernebenen wirkt die Gesetzesdebatte auch in das Innere der Parabel hinein. Sollen<br />
entsprechend der <strong>Samariter</strong> als gesetzeskonform, Priester und Levit hingegen als Gesetzesbrecher<br />
dargestellt werden? Die explizite Hervorhebung der kultischen Funktion der<br />
Vorübergehenden deutet in eine andere Richtung. Wie jede jüdische Zuhörerin und jeder<br />
Leser weiß, unterliegt ein Priester besonderen Bestimmungen der Tora. So war es einem<br />
Priester verboten, eine Leiche zu berühren (s. o.). Wenn der Zustand des Überfallenen<br />
ausdrücklich mit dem ungewöhnlichen Adjektiv »halb tot« beschrieben wird, könnte gerade<br />
an eine solche Reinheits-Vorschrift gedacht worden sein (so z. B. Bauckham 1998,<br />
477). Jesus führt den Priester also innerhalb der Beispielgeschichte in einen Konflikt,<br />
indem er das Gebot der Nächstenliebe mit dem Gebot der kultischen Reinheit abwägen<br />
muss. <strong>Der</strong> Priester kommt dabei zu dem Schluss sicherheitshalber jeden Kontakt zu vermeiden<br />
und geht mit entsprechendem Abstand vorüber.<br />
Doch geht es Jesus in der Parabel wirklich um eine Normendiskussion unterschiedlicher<br />
Toragebote? Sollen hier wirklich die Verpflichtung zur kultischen Reinheit<br />
und zur Nächstenliebe, zugespitzt formuliert: Gottesgebote und Menschengebote gegeneinander<br />
ausgespielt werden? Oder lautet die entscheidende Frage sogar: jüdische Reinheitsgebote<br />
versus christliches Nächstenliebesgebot, wie man in vielen – zum Teil deutlich<br />
antijudaistischen (vgl. Leutzsch 2003, 80-95) – Auslegungen lesen konnte? Bereits<br />
die (vorchristliche) Zusammenfügung der <strong>Liebe</strong>sgebote zum so genannten »Doppelgebot<br />
der <strong>Liebe</strong>« verwehrt m. E. diese Frontstellung: Gottesbeziehung und Menschenbeziehung<br />
gehören zusammen und dürfen nicht auseinanderdividiert werden. Die Parabel führt in<br />
eine andere Richtung: Alle beteiligten Personen kennen die Gebote. Priester und Levit<br />
sowieso, auch für den <strong>Samariter</strong> sind die fünf Bücher Mose bindend. Doch die Parabel<br />
zeigt kein Interesse an der Gebotsdiskussion, Gründe für das Nichthelfen werden nicht<br />
genannt, auch die Erfüllung des <strong>Liebe</strong>sgebots spielt offenbar als Motivation für das Hilfshandeln<br />
keine direkte Rolle. Entscheidend ist vielmehr das Berührtwerden, die Anteil-<br />
548
Gt 08020 / p. 563 / 1.10.2007<br />
nahme im Innersten, wie es plastisch im griechischen Text ausgedrückt wird (s. o.). Das<br />
Leid des anderen wird nicht nur reflektiert, sondern ganzheitlich erfahren, erlitten, ist<br />
›Mit-leid‹ im wahrsten Sinne des Wortes. In dieser Weise wird das Mitleiden-Können<br />
zum narrativen Wendepunkt der Parabel, wie auch zum entscheidenden Schlüssel im<br />
Verständnis des Nächsten und der Ethik überhaupt. Dies wird in der Neuformulierung<br />
der Gegenfrage durch Jesus sichtbar: Hatte der Gesetzeslehrer gefragt: »Wer ist denn nun<br />
mein Nächster (Lk 10,29)?«, so stellt Jesus nach der Parabel die Frage in überraschender<br />
Weise auf den Kopf: »Wer ist denn nun ein Nächster geworden dem, der unter die Räuber<br />
gefallen war (Lk 10,36)?« Die Kategorie des ›Nächsten‹ erschließt sich nicht über eine<br />
Bestimmung des ›Nächsten‹ als Adressat oder gar Objekt meiner <strong>Liebe</strong>sbemühungen,<br />
sondern nur indem ich durch mein Mit-leiden selbst zum Nächsten werde (so bereits<br />
Ambrosius, Exp. Luc. VII, 84: »Nicht das Blut, sondern das Erbarmen schafft den Nächsten.«).<br />
Ich selbst bin als Subjekt des Handelns gefragt. Die Parabel leitet zu einem solchen<br />
Perspektivenwechsel vom Hilfsadressaten zum Subjekt des Helfers an. Aber das ist nicht<br />
alles. Es geht um einen kategorialen Sprung im ethischen System. Die Formulierung lautet<br />
genau genommen: tffl@ … plhsfflon … gegonffnai (tis … plēsion … gegonenai), die<br />
Übersetzung »Nächster gewesen« (Luther/ Einheitsübersetzung) ist eigentlich unpräzise:<br />
gfflnomai (ginomai) heißt: »zum Dasein gelangen, zu etwas werden«, also »Wer ist Nächster<br />
geworden?« Ich verstehe diese Formulierung so, dass es weniger um die Statusbeschreibung<br />
oder die Handlungsweise eines »Nächsten-Subjekts« als um den Prozess<br />
der »Nächstenwerdung« selbst geht. Die Differenz ist entscheidend. Die Parabel will nicht<br />
die Gebotsdiskussion unter dem Aspekt der – neuzeitlich gesprochen – Handlungsfreiheit<br />
eines ethischen Subjekts beantworten. Hier soll nicht gezeigt werden, wie ich meine<br />
Pflicht gegenüber dem Nächsten erfüllen soll. Sie will vielmehr zeigen, dass schon die<br />
Frage des Gesetzeslehrers im Kern falsch gestellt wird. Nicht: Was sollen wir als ethische<br />
Subjekte tun, sondern: Wie werde ich überhaupt zum Subjekt des Handelns? Dieser Fragehorizont<br />
rückt die Parabel eng zur Ethik des jüdischen Philosophen Emanuel Lévinas,<br />
der sich intensiv mit der Frage der ethischen Subjektwerdung beschäftigt hat. Die Selbstwerdung<br />
des Menschen vollzieht sich relational. Nur wer sich anrühren lässt, nur wer den<br />
anderen in seiner Bedürftigkeit an sich heranlässt, wird zu einem handlungsfähigen Menschen,<br />
wird zum Nächsten, der dann weiter über Gebote und Sollensforderungen diskutieren<br />
mag (R. Zimmermann 2007c). Für McFarland kann sich diese Identitätsstrategie<br />
der Parabel aber nicht in Ablösung vom Gleichniserzähler Jesus vollziehen. Die<br />
Zuwendung zum anderen gelingt nur in der Erfahrung der empfangenen Zuwendung<br />
Jesu, so dass sich der Kreis zur christologischen Deutung der Parabel schließt (McFarland<br />
2001).<br />
Ethnologisch-anthropologischeAuslegung<br />
<strong>Berührende</strong><strong>Liebe</strong> Lk10,30-35<br />
Die in der Parabel genannten Erzählfiguren werden religiös und ethnisch genau charakterisiert.<br />
Durch die Ortsangabe (zwischen Jerusalem und Jericho) wird der Fall in jüdisches<br />
Territorium verlegt, auch der Überfallene ist vermutlich ein Jude. Dann werden mit<br />
Priester und Levit zwei exponierte Vertreter des jüdischen Kultpersonals genannt. Entsprechend<br />
der häufig belegten Dreifach-Gliederung der alt-israelitischen Gesellschaft in<br />
»Priester, Levit und Israelit« (s. o.) wird nach Priester und Levit jetzt also das Auftreten<br />
des normalen Israeliten erwartet, der in der üblichen Dreierreihe noch fehlt. Umso mehr<br />
549
Gt 08020 / p. 564 / 1.10.2007<br />
ParabelnimLukasevangelium<br />
muss es überraschen, dass jetzt als dritte Gestalt ein Samaritaner auftritt, denn damit<br />
wird nicht nur irgendein fremder Reisender eingeführt, wie ihn nüchtern die Parabel<br />
beschreibt. Aufgrund der anhaltenden religiösen und kulturellen Differenzen zwischen<br />
Juden und Samaritanern kommt jetzt ein regelrechter Anti-Israelit. Wenn man die Erzählung<br />
zusätzlich in einem Kleinbauernmilieu ansiedelt, kann man noch drastischer<br />
formulieren: »For them (jewish peasants), the Samaritan is a cultural enemy, an evil man,<br />
and a fool.« (Oakman 1992, 120).<br />
Versuchen wir uns einen Moment in die vermutlich jüdischen Ersthörer (anders<br />
Scott 1989, 192: to a gentile audiance) der Parabel hineinzuversetzen. Sie hörten das<br />
tragische Schicksal von einem Juden, der unter die Räuber gefallen war. Er ist schwer<br />
verletzt. Man weiß nicht, ob ihm noch geholfen werden kann. Doch wie durch Zufall<br />
naht die Rettung in Gestalt von zwei prominenten Vertretern der Glaubensgemeinschaft.<br />
Wir atmen erleichtert auf. Sicher werden sie helfen. Doch im Erzählverlauf wird diese<br />
Hoffnung jäh enttäuscht. Ohne Nennung von Gründen gehen die beiden weiter. Ein unbegreiflicher<br />
Skandal. Als dritte Person erscheint nun ausgerechnet ein »verfemter Dissident<br />
aus Samarien« (Harnisch 4 2001, 287), von dem keinerlei Hilfe zu erwarten ist.<br />
Streng genommen fällt dieser nicht einmal unter die Kategorie des Nächsten, wenn wir<br />
sie als Volksgenossen deuten. Jetzt ist der Verletzte ganz verloren. Doch mindestens ebenso<br />
überraschend: Ausgerechnet dieser greift nun helfend ein und wird zum Lebensretter.<br />
Die jüdischen Hörenden müssen irritiert sein. Sie werden mit einer doppelt verdrehten<br />
Welt konfrontiert (Harnisch 4 2001, 286 ff.). Beide Handlungen, die der Nicht-Helfenden,<br />
wie auch die des helfenden Samaritaners durchkreuzen auf provokante Weise die alltagsweltliche<br />
Erfahrung und Erwartung (vgl. F. Stern 2006, 218: »For Jews, the story would<br />
be wrenching …«).<br />
Heutige Leserinnen und Leser der Parabel sind wahrscheinlich weniger irritiert. Sie<br />
hätten es nicht anders erwartet: etwa Christen, die jüdische Gesetzesobservanz hinter sich<br />
gelassen haben; ebenso liberale Theologen, die sich der Option für die Außenseiter verschrieben<br />
haben; und mehr noch Atheisten, die Vertreter von Kirche und Kult – seien sie<br />
nun jüdisch, christlich oder sonst welcher Religion – längst kritisch durchschaut haben:<br />
Da sieht man wieder einmal die Scheinheiligkeit der Frommen! Es ist doch klar, dass von<br />
offiziellen Amtsträgern wenig zu erwarten ist. Stattdessen wird im <strong>Samariter</strong> der Outlaw,<br />
der Ketzer und Kommunist, der faszinierend Widerständige zum Vorbild erklärt. Eine<br />
wunderbare Geschichte. Es fühlt sich gut dabei, denn wo immer jeder auch stehen mag:<br />
In einem sind wir uns doch einig: Wir vertreten die Welt des Samaritaners.<br />
Und gerade dabei gehen wir in die narrative Falle der Parabel. Die vermeintliche<br />
Überwindung von kulturellen und religiösen Grenzen führt zur neuen Grenzziehung,<br />
und zwar immer dann, wenn sich die Hörer auf der »richtigen Seite« einordnen. Die lange<br />
antijudaistische und sogar antisemitische Auslegungstradition des Gleichnisses gibt ein<br />
trauriges Beispiel dieser Selbstgerechtigkeit (Leutzsch 2003, 77-95). Die literarisch-hermeneutische<br />
Strategie der Parabel geht in eine andere Richtung. In der provokanten Darstellung<br />
der verkehrten Welt bringt die Erzählung gerade eine Erfahrung ans Licht, die im<br />
Alltag oft verdrängt oder überspielt wird. Die groteske Überzeichnung der Rollenklischees<br />
führt auf die urmenschliche Erfahrung zurück. Das Versagen von Priester und Levit ist<br />
gar nicht so außergewöhnlich, wie es im ersten Moment scheint: »Ihr unmenschliches<br />
Verhalten ist in Wahrheit das allermenschlichste.« (Biser 1965, 98). Die Parabel wird in<br />
ihrer wertfreien Erzählweise gerade zum nüchternen Spiegel menschlicher Selbstgerech-<br />
550
Gt 08020 / p. 565 / 1.10.2007<br />
tigkeit. Geht es nicht auch uns oft genug wie Priester und Levit? Erst mit dieser Einsicht<br />
werden ethnologische, religiöse und soziologische Rollen wirklich durchbrochen. Esler<br />
spricht von einem Prozess der Dekategorisierung (Esler 2000, 349 f.) und Entklassifizierung.<br />
Die Parabel unterstützt diesen Prozess der Entlarvung von Anfang an. Waren wir wie<br />
selbstverständlich davon ausgegangen, dass der überfallene Mann in dieser Region ein<br />
Jude ist, so spricht die Parabel ganz bewusst nur vom Mensch (˝nqrwpo@ anthrōpos).<br />
Im Gegensatz zu den nachfolgenden Personen wird diese passive Hauptperson weder hinsichtlich<br />
ihres Berufsstandes noch ihrer ethnischen Zugehörigkeit irgendwie qualifiziert,<br />
im Gegenteil: Indem sogar ausdrücklich davon berichtet wird, dass die Räuber ihm seine<br />
Kleider ausziehen (¥kdÐsante@ ekdysantes, V. 30b), nehmen sie ihm sinnbildlich den<br />
letzten Anhaltspunkt kultureller und sozialer Festlegung (Esler 2000, 337 f.; umfassend<br />
Leutzsch 2005, 9-32). Nachdem sie von ihm lassen, liegt da nur noch ein Mensch in all<br />
seiner Bedürftigkeit: nackt, allein, sterblich. In der dann folgenden subversiven Doppelstrategie<br />
im Blick auf Juden und Samaritaner stellt dieser Mensch alle kulturell und religiös<br />
begründeten Handlungswiderstände in Frage. Hier ist nur noch ein Mensch, dem andere<br />
Menschen helfen können – und sollen. Die religiöse Motivation des Tuns wird in die<br />
Rahmenhandlung verbannt. In der Parabel selbst geht es um ein »universales Hilfsethos«,<br />
um allgemeine menschliche Hilfsmotivation, so etwa die Schlussfolgerung von Gerd Theißen.<br />
»<strong>Der</strong> potentielle Hilfsadressat ist universal. Auch das Hilfssubjekt ist in seinen Motivationen<br />
universal. Dies Hilfsethos (…) ist auch universalisierbar.« (Theißen 2000a, 35).<br />
Doch lautet die Alternative wirklich religiöse Parteilichkeit versus universalistisches<br />
Hilfsethos? Soll die religiöse Hilfsmotivation zugunsten einer allgemein-humanistischen<br />
Vernunftethik überwunden werden? Gewiss: Die Parabel möchte ethnologische<br />
und religiöse Klischees durchbrechen insofern sie zu Handlungsblockaden führen und<br />
elementare Lebensinteressen bedrohen. <strong>Der</strong> Hilfsbedürftige wird in dieser Weise ›nur‹<br />
als Mensch eingeführt. Die Bedürftigkeit des Mitmenschen reißt ethnisch-religiöse Barrieren<br />
nieder. Doch von einer »Universalität des Hilfssubjekts« kann keine Rede sein. Die<br />
Motivation von Helfern kann nicht universalistisch und allgemein formuliert werden,<br />
sondern bleibt immer zutiefst partikular, ethnisch gebunden, ja allzumeist gerade auch<br />
religiös verwurzelt. <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> ist eben kein neutraler Mensch. Er ist – auch wenn uns<br />
das in vielen Fällen nicht recht sein mag – Vertreter einer bestimmten ethnisch-religiösen<br />
Gruppe. Die Parabel bejaht also die Parteilichkeit des Helfers. Dies eröffnet ganz neue<br />
Perspektiven auch auf die Parteilichkeit von Helfern in gegenwärtigen Konfliktfeldern:<br />
Im friedensethischen Diskurs ist z. B. gerade eine »glokale« Perspektive weiterführend,<br />
die globale Ansätze mit den konkreten Aktivitäten lokaler, parteilicher Gruppen verknüpft<br />
(dazu H. Schäfer 2007).<br />
DiediakonischeAuslegung<br />
<strong>Berührende</strong><strong>Liebe</strong> Lk10,30-35<br />
»Niemand würde etwas vermissen, wenn die Geschichte mit dem Verbinden der Wunden<br />
des Mißhandelten schlösse«, so urteilte G. Bornkamm stellvertretend für viele andere<br />
(Bornkamm 1973, 68). Die sprachliche Analyse hatte jedoch gezeigt, dass gerade in der<br />
Herbergsszene ein narrativer wie auch theologischer Höhepunkt erkannt werden kann,<br />
der allerdings nicht nur – wie früher – allegorisch gedeutet werden muss.<br />
<strong>Der</strong> lukanische Jesus macht bereits terminologisch durch die Begriffe pandoce…on<br />
pandocheion (V. 34b) und pandoceÐ@ pandocheus (V. 35) deutlich, dass es in der Parabel<br />
551
Gt 08020 / p. 566 / 1.10.2007<br />
ParabelnimLukasevangelium<br />
um eine gewerbliche Wirtsherberge geht. Dies wird durch die Hervorhebung der Bezahlung<br />
zusätzlich unterstrichen (s. o.). Die Aufnahme des <strong>Samariter</strong>s und des Verletzten hat<br />
also nichts mit Gastfreundschaft zu tun, sondern ist reines Geschäft. Dies hindert den<br />
<strong>Samariter</strong> jedoch nicht, gerade dem verrufenen Wirt die weitere Fürsorge für den Kranken<br />
zu übertragen. Wenn bereits die Vorbildhaftigkeit des <strong>Samariter</strong>s für jüdische Ohren<br />
eine Zumutung darstellte, so muss die Übertragung der Pflege an den Wirt gänzlich als<br />
Provokation gelten. Ausgerechnet der gewerblich arbeitende Wirt, wahrscheinlich sogar<br />
ein Nichtjude, wird in die vorbildliche Erfüllung des Toragebots der Nächstenliebe einbezogen.<br />
War in der Hilfsverweigerung vom Priester zum Levit eine gewisse Steigerung<br />
zu erkennen, da Letzterer nicht den gleichen Reinheitsvorschriften unterlag wie der Priester,<br />
so zeigt sich hier eine entsprechende Zuspitzung auch im Blick auf die helfenden<br />
Personen. Doch gerade dieser Schluss der Parabel birgt interessante Deutungspotenziale:<br />
Helfen ist als ethische Tugend heute in eine massive Kritik geraten, sei es, dass aus<br />
psychoanalytischer Perspektive vom »Helfersyndrom« (Schmidtbauer 1995) bzw. aus<br />
lernpsychologischer Sicht vom »burn out-Syndrom« (Pines/Aronson/Kafry 9 2000, E. H.<br />
Müller 8 2002) gesprochen wird (mit Blick auf Lk 10,30-35 Theißen 3 1998c, 376-401;<br />
Zimmermann 2007c).<br />
Eine solche Kritik trifft in kirchlichen Kreisen zugleich die Bedeutung des <strong>Samariter</strong>-Gleichnisses,<br />
denn die Ermutigung zur aufopfernden <strong>Liebe</strong> wurde nicht selten an die<br />
Parabel zurückgebunden. <strong>Der</strong> Blick auf das Ende der Parabel macht hier deutlich, dass<br />
der Text selbst keinen Anhalt für diese Interpretationslinie bietet. So sehr sich der <strong>Samariter</strong><br />
von der Not des Verletzten anrühren lässt, so wenig steht er in der Gefahr sich selbst<br />
in seinem Hilfshandeln zu verlieren oder gar auszubrennen. Bereits am nächsten Tag setzt<br />
er seine Reise fort, freilich nicht ohne für die weitere Pflege Sorge getragen zu haben.<br />
Obwohl der <strong>Samariter</strong> selbst aus souveräner Motivation handelte, erwartet er jetzt von<br />
anderen nicht ebenso selbstlose Hilfsbereitschaft. Er gibt dem Wirt vielmehr Geld für die<br />
Pflege und macht dessen Herberge somit zu einem ›diakonischen Dienstleistungsbetrieb‹.<br />
Die Delegation der Pflege und sogar die Bezahlung sind jedoch keineswegs abwertend<br />
zu verstehen, wie die wörtliche Parallele des Pflege-Begriffs deutlich macht. Statt<br />
eines übertriebenen Hilfsethos etwa im Sinn einer »Selbstausbeutung« könnte man in der<br />
Übertragung der Pflege sogar eine ganz bewusste Zurücknahme der eigenen Person des<br />
Helfenden sehen.<br />
Die Begrenzung bzw. Ausweitung des Hilfshandelns hat eine individuelle wie auch<br />
strukturelle Dimension. So kann der einzelne Helfer in der metaphorischen Zuordnung<br />
der Parabel auf das Nächstenliebesgebot in der Wirtsszene eine unmittelbare Aufnahme<br />
des Gebotszusatzes »wie dich selbst« erkennen. Während die Gottesliebe völlige Hingabe<br />
erfordert, findet die Nächstenliebe ihr Maß und ihre Begrenzung in »der Wahrung berechtigter<br />
Eigeninteressen.« (Thyen 3 1998, 275). Die Parabel sperrt sich gegen eine sich<br />
ausschließende Alternative von Mitleid versus Mithilfe. Persönliche Anteilnahme und<br />
delegierende Übergabe werden hier zusammengedacht. Hatte sich schon Luther gegen<br />
eine Ableitung der opera superrogatoria aus der Parabel verwehrt (dazu Klemm 1973,<br />
38-57), so ist in gegenwärtigen Auslegungszusammenhängen etwa an die falsche Aufopferung<br />
von pflegenden Angehörigen zu denken. Dem Vorbild des <strong>Samariter</strong>s folgend<br />
dürfen Hilfsdienste bewusst delegiert und abgegeben werden, ohne dass damit Gefühlskälte<br />
oder Verantwortungslosigkeit verbunden sein müssen (M. Zimmermann/R. Zimmermann<br />
1997, 34 f.).<br />
552
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Dies setzt jedoch voraus, dass es überhaupt die Möglichkeit gibt, Hilfe auf unterschiedliche<br />
Schultern zu verteilen. Ob es in der Antike durch gewerbliche Herbergen<br />
institutionelle Rahmenbedingungen gegeben hat, die eine Inanspruchnahme von nichtfamiliärer<br />
Hilfe ermöglicht hat, ist angesichts der Quellenlage eher fraglich. Die Parabel<br />
zeigt hier vielmehr die Kreativität des Helfenden. <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> ist nicht im Heimatland,<br />
er kann nicht auf Gastfreunde oder Familienangehörige hoffen, ist aber offenbar<br />
auch nicht in der Lage selbst fortdauernde Hilfe zu gewähren. So greift er zu der unkonventionellen<br />
Lösung der bezahlten Unterstützung durch den Wirt. Die Hilfe wird<br />
dabei nicht nur auf mehrere Personen verteilt, sondern letztlich auch an institutionelle<br />
Strukturen gebunden.<br />
So darf die Parabel nicht auf einen Appell an die individuelle Gewissensethik begrenzt<br />
werden, sondern führt von vornherein in einen sozialethischen Horizont. Indem<br />
das Hilfshandeln erst in einer delegierten, institutionell abgesicherten Hilfe zum Ziel<br />
kommt, könnte man – auf gegenwärtige Kontexte übertragen – hier zugleich einen Impuls<br />
für eine diakonische Ethik erkennen (M. Zimmermann/R. Zimmermann 2003, 44-<br />
57). Das <strong>Liebe</strong>s-Ethos des Einzelnen muss in soziale und institutionelle Sicherungssysteme<br />
eingebettet bleiben. Entsprechend könnte eine diakonische Lesart des <strong>Samariter</strong>gleichnisses<br />
die Notwendigkeit der Rückbindung von Individualhilfe und Subsidiarität<br />
an kirchliche und öffentliche Einrichtungen ins Bewusstsein rufen.<br />
Aspekte der ParallelüberlieferungundWirkungsgeschichte<br />
<strong>Berührende</strong><strong>Liebe</strong> Lk10,30-35<br />
Als Teil des lukanischen Sonderguts weist die Parabel keine Parallelen im NT auf. Anders<br />
als die neuzeitlich dominierende ethische Deutung zeigt die frühchristliche Wirkungsgeschichte<br />
(dazu Roukema 2004) eine klare Dominanz einer allegorischen Deutung, bei<br />
der Christus mit dem <strong>Samariter</strong> identifiziert wird. Als Beispiel seien einige Sätze aus der<br />
Interpretation von Clemens von Alexandrien (ca. 150-215 n. Chr.) zitiert, die er im Rahmen<br />
seiner Schrift Quis dives salveter zur Auslegung des reichen Jünglings in Mk 10,17-<br />
22 gegeben hat:<br />
Wer anders kann dies sein als der Retter selbst? Wer anders als er hat sich unser erbarmt,<br />
die wir schon dem Tode preisgegeben waren durch die Weltenlenker der Finsternis, mit<br />
(unseren) vielen Wunden: mit Ängsten, Leidenschaften, Neid, Gram und Sinnesfreuden.<br />
Jesus ist der einziger Heiler dieser Verletzungen, indem er die Leiden absolut und von der<br />
Wurzel her herausschneidet. (Clem. Al. q. d. s. 29)<br />
In den unterschiedlichen Deutungen, werden dann auch einzelne Details der Erzählung<br />
allegorisch interpretiert. So wird das Handeln des <strong>Samariter</strong>s im Philippus-Evangelium<br />
(EvPhil = NHC II, 3) in das dortige fünfstufige Sakramental-System (vgl. EvPhil 68) eingebunden,<br />
bei dem die »Salbung« als fünftes Sakrament benannt wird:<br />
<strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> gab dem Verwundeten nichts außer Wein und Öl. Das bedeutet nichts<br />
anderes als die Salbe. Und sie heilte die Wunden. Denn (es heißt): »Die <strong>Liebe</strong> bedeckt eine<br />
Menge von Sünden.« (1Petr 4,8) (EvPhil = NHC II, 3 log. 111b, p. 78,7-12)<br />
Bei Irenäus v. Lyon (ca. 135-202) wird eine Kombination zwischen einer christologischpneumatologischen<br />
Applikation und einer ethischen Deutung geleistet, die zugleich eine<br />
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ParabelnimLukasevangelium<br />
Verknüpfung von Lk 10,30-35 mit der Parabel von dem – nach lk – anvertrauten ›königlichen‹<br />
Geld (Lk 19,12-26, vgl. Q 19,12-26) vollzieht:<br />
»Denn der Herr hat dem Heiligen Geist den Menschen anvertraut – sein Eigentum, das in<br />
die Hände der Räuber gefallen war, diesen Menschen, mit dem er Mitleid hatte und dessen<br />
Wunden er selber verband –, indem er zwei königliche Denare gab, damit wir, nachdem<br />
wir vom Heiligen Geist das Bild und die Inschrift des Vaters und des Sohnes erhalten<br />
haben, den Denar, der uns anvertraut worden ist, Frucht tragen lassen und ihn dem<br />
Herrn vervielfacht zurückgeben.« (Iren. haer. III 17,3, SC 212)<br />
Auch die weitere Auslegungsgeschichte (dazu Bovon 1996, 93-98; Klemm 1973) ist<br />
durch diese beiden Pole markiert und wird erst durch Jülichers antiallegorischen Impetus<br />
ganz zur ethischen Deutung hin verschoben.<br />
Wie aktuell und herausfordernd die Parabel auch zum Ende des 20. Jh. noch wahrgenommen<br />
wurde, zeigen die 17 Auslegungen von Wissenschaftlern und Schriftstellern,<br />
die Walter Jens zusammengestellt und eingeleitet hat (Jens 1973): So lässt hier der Kritiker<br />
Carl Amery die Nebenfiguren wie Levit und Wirt in Selbstreflexionen zu Wort kommen<br />
(ebd., 19-28), oder Dorothee Sölle appliziert das Gleichnis in die moderne Industriegesellschaft,<br />
die sie als »Räuber- und Passantengesellschaft« tituliert (ebd., 166-172).<br />
Auf die auch heute ungebrochene Relevanz des Textes wurde jüngst in einer empirischen<br />
Studie von Joachim Theis hingewiesen, in der er die Rezeption der Parabel bei ca.<br />
1000 Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe untersucht hat (Theis 2005).<br />
Das hierbei nachgewiesene und an den Text propositional rückgebundene Verständnis<br />
des narrativen Plots, der Figurenkonstellation und der Dilemmata, lässt erwarten, dass<br />
die Parabel auch unter veränderten Bedingungen immer wieder Wirkungen hervorrufen<br />
wird und zu einem Modell empathisch-transformativen Lernens werden kann (Stettberger<br />
2006), das zum Handeln führen wird.<br />
Literatur zumWeiterlesen<br />
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zum Nächsten zu werden. Erzählen und interaktionales Lesen als katechetische Arbeitsweisen<br />
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