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die Sanftmütigen (Matthäus 5,5.7 / Prof Dr. Jan Rohls)

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Predigt über <strong>Matthäus</strong> 5,<strong>5.7</strong><br />

Liebe Gemeinde!<br />

St. Markus, München<br />

SELIG SIND ...<br />

... <strong>die</strong> <strong>Sanftmütigen</strong><br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Jan</strong> <strong>Rohls</strong><br />

13. Juni 2010, 11.15 Uhr<br />

Wer heute den Hügel von Schech Ali in Israel erklimmt, der den See Genezareth um<br />

rund hundert Meter überragt, der befindet sich auf dem sogenannten Berg der<br />

Seligpreisungen. Hierher verlegt <strong>die</strong> fromme Tradition <strong>die</strong> Bergpredigt Jesu. Der<br />

Pilger stößt dort oben auf eine von Franziskanerinnen betreute Kirche in Form eines<br />

Oktogons. Auf dessen acht Wänden sind in lateinischer Sprache <strong>die</strong> Seligpreisungen<br />

geschrieben. Darunter auch „Selig sind <strong>die</strong> <strong>Sanftmütigen</strong>; denn ihnen wird <strong>die</strong> Erde<br />

gehören.“ Die Kirche wurde von dem Italiener Barluzzi errichtet. Eine Inschrift auf<br />

dem Boden erwähnt das Jahr ihrer Entstehung: „Im 15. Jahr des italienischen<br />

Volkes“. Gemeint ist das Jahr 1938, das 15. Jahr der faschistischen Herrschaft<br />

Mussolinis. Am 14. Juni desselben Jahres wurde in Italien der vermutlich vom Duce<br />

selbst verfasste Text „Der Faschismus und das Rassenproblem“ veröffentlicht. Darin<br />

heißt es, dass es eine reine italienische Rasse arischen Ursprungs gebe und <strong>die</strong><br />

Juden nicht zur italienischen Rasse gehörten. Anfang September wurden <strong>die</strong><br />

staatlichen Repressionsmaßnahmen gegen <strong>die</strong> jüdische Bevölkerung verkündet. Alle<br />

Juden, Lehrer wie Schüler, wurden aus den staatlichen Schulen verbannt, alle<br />

ausländischen Juden aus Italien ausgewiesen. Im selben Jahr fand im verbündeten<br />

nationalsozialistischen Deutschland <strong>die</strong> Reichspogromnacht statt, marschierte <strong>die</strong><br />

Wehrmacht in Österreich ein und wurde im Münchner Abkommen <strong>die</strong> Zerstückelung<br />

der Tschechoslowakei besiegelt. „Selig sind <strong>die</strong> <strong>Sanftmütigen</strong>; denn sie werden das<br />

Erdreich besitzen.“<br />

Damit sind wir bereits bei dem Kernproblem, das sich über <strong>die</strong> Jahrhunderte hinweg<br />

mit der Auslegung nicht nur der Bergpredigt im Allgemeinen, sondern vor allem auch<br />

mit den Seligpreisungen verbunden hat. Enthält <strong>die</strong> Bergpredigt ein ethisches, und<br />

zwar ein sozialethisches Programm, und, wenn ja, wie lässt sich <strong>die</strong>ses Programm<br />

umsetzen in einer politischen Welt, <strong>die</strong> offensichtlich ganz anderen Regeln gehorcht?<br />

Vor genau hundert Jahren starb in Jasnaja Poljana Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoj,<br />

der berühmte Autor von „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“. Als er den letztgenannten<br />

en Roman vollendet hatte, wandte er sich der intensiven Lektüre des Neuen<br />

Testaments zu und entdeckte den Kern des Christentums in der Bergpredigt. Alle<br />

Dogmen, <strong>die</strong> im Laufe der Kirchengeschichte wie Mumienbinden um den Menschen<br />

Jesus von Nazareth gewickelt worden waren, gibt Tolstoj ebenso preis wie <strong>die</strong> Wunder,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Tradition Jesus zugeschrieben hatte. Auch <strong>die</strong> Auferstehung Jesu ist für<br />

ihn nur ein frommer Mythos. Wichtig ist nicht <strong>die</strong> Person Jesu, sondern allein seine<br />

Lehre, und im Zentrum der Lehre Jesu steht <strong>die</strong> Bergpredigt. In der Bergpredigt aber<br />

fasst Jesus seine Ethik zusammen, eine Ethik, <strong>die</strong> aus radikalen Geboten und Verbo-


ten besteht, an der Spitze das Verbot „Widerstrebt nicht dem Bösen!“ (Mt 5,39). Dieses<br />

Verbot gibt Tolstoj zufolge an, was mit der Sanftmut gemeint ist, von der in der<br />

dritten Seligpreisung <strong>die</strong> Rede ist. Gemeint ist <strong>die</strong> Gewaltlosigkeit. Da aber alle staatlichen<br />

Einrichtungen, vom Gerichtswesen bis zum Militär, jener Aufforderung zur<br />

Gewaltlosigkeit nicht nachkommen, lehnt Tolstoj sie ab. Es gab damals Theologen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Forderungen, <strong>die</strong> Jesus in der Bergpredigt aufstellt, für Schwärmerei und<br />

Phantasterei hielten, unvereinbar mit einem modernen Rechtsstaat. Doch Tolstoj<br />

lehnt es ab, Jesus wegen seines Aufrufs zur Gewaltlosigkeit für einen weltfremden<br />

Spinner zu halten. 1884 schreibt er in seinem Bekenntnisbuch „Mein Glaube“, das<br />

<strong>die</strong> zaristische Zensur unterdrückte: „Christus hat seine Lehre nicht als ein fernes<br />

Ideal der Menschheit aufgefasst, dessen Erreichung eine Unmöglichkeit wäre, nein,<br />

er fasste seine Lehre auf als ein Werk, das <strong>die</strong> Menschheit erlösen sollte. Und er<br />

schwärmte nicht am Kreuz, sondern er schrie und starb für seine Lehre. Und so starben<br />

viele Menschen und werden noch viele Menschen sterben. Eine solche Lehre<br />

kann man nicht als Träumerei bezeichnen.“ Soweit Tolstoj.<br />

Natürlich kann man sich fragen, ob das griechische Wort, das Luther mit „Sanftmütigkeit“<br />

übersetzt, wirklich so etwas wie Gewaltlosigkeit bedeutet. Doch <strong>die</strong> neueren<br />

Kommentare verweisen auf andere Stellen bei <strong>Matthäus</strong>, wo dasselbe Wort begegnet<br />

und das Moment der Gewaltlosigkeit unüberhörbar mitschwingt. So etwa in der<br />

Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem. <strong>Matthäus</strong> zitiert da als Weissagungsbeweis<br />

aus dem Propheten Sacharja: „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und<br />

reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin.“ (Mt 21,5). Das berühmte<br />

Adventslied „Macht hoch <strong>die</strong> Tür“ spielt auf <strong>die</strong>se Stelle an, wenn es von Jesus<br />

heißt: „Er ist gerecht, ein Helfer wert;/ Sanftmütigkeit ist sein Gefährt“. Und der<br />

Erlanger Orientalist Friedrich Rückert besingt den in Jerusalem einziehenden Friedenskönig<br />

mit den Worten: „O mächt’ger Herrscher ohne Heere,/ gewalt’ger Kämpfer<br />

ohne Speere,/ o Friedefürst von großer Macht!/ Es wollen dir der Erde Herren/ den<br />

Weg zu deinem Throne sperren,/ doch du gewinnst ihn ohne Schlacht.“ Die Sanftmütigkeit<br />

Jesu wird hier unleugbar im Sinne der Gewaltlosigkeit verstanden. Und müssen<br />

wir daher nicht folgern, dass Jesus <strong>die</strong> Gewaltlosigkeit von denen fordert, <strong>die</strong><br />

seiner Bergpredigt lauschen? Denn es sind ja <strong>die</strong> <strong>Sanftmütigen</strong>, also <strong>die</strong> Gewaltlosen,<br />

<strong>die</strong> er selig spricht und denen er <strong>die</strong> Erde verheißt. Die Erde wohlgemerkt und<br />

nicht etwa ein himmlisches Jenseits. Sanftmütigkeit und Gewaltlosigkeit werden eine<br />

neue Erde nach sich ziehen, werden der Erde ein neues Antlitz verleihen. Das glaubte<br />

allerdings auch der russische Graf schon nicht mehr. Wenn man konsequent das<br />

Gebot der Gewaltlosigkeit befolgt, dann verwirklicht man in seinen Augen nicht das<br />

Reich Gottes auf Erden, den Frieden aller Menschen untereinander. Sondern das<br />

Reich Gottes ist für Tolstoj eine rein innerliche Größe, das Friedensreich in unserem<br />

Herzen, ganz gleich, wie es da draußen in der Welt aussieht.<br />

Es lässt sich ja nicht ernsthaft bezweifeln, dass in der frühen Kirche Jesu Seligpreisung<br />

der <strong>Sanftmütigen</strong> auf <strong>die</strong>jenigen bezogen wurde, <strong>die</strong> sich gewaltlos verhielten.<br />

Nur so kann man verstehen, weshalb <strong>die</strong> Kirche in der Zeit vor ihrer Anerkennung<br />

durch Konstantin den Christen den Dienst in der Armee untersagte. Das Problem war<br />

<strong>die</strong> militärische Gewalt, das Töten, das doch in krassem Gegensatz zur Gewaltlosigkeit<br />

steht. Tolstoj befindet sich mit seiner schlichten Deutung der Forderung nach<br />

Gewaltlosigkeit also in bester Gesellschaft. So wie er hatten vor ihm Franz von Assisi,<br />

<strong>die</strong> Täufer der Reformationszeit und <strong>die</strong> Quäker <strong>die</strong> Sanftmütigkeit verstanden,<br />

und so verstand sie Mahatma Ghandi als sein geistiger Schüler nach ihm. Denn<br />

Ghandi machte das scheinbar Unmögliche, nämlich erfolgreiche Politik durch Gewaltlosigkeit,<br />

und Ghandi wiederum war das Vorbild für Martin Luther King. Und<br />

muss man nicht auch <strong>die</strong> friedliche Revolution in der DDR zu <strong>die</strong>ser Form der Politik


hinzurechnen? Man sage also nicht, das Prinzip der Gewaltlosigkeit sei in jedem Fall<br />

politisch zum Scheitern verdammt. Man muss aber ebenso klar sehen, dass das<br />

Christentum, kaum dass es im Römischen Reich offiziell anerkannt worden war, eine<br />

Kehrtwendung um 180 Grad vollzog. Jetzt wurden Christen, <strong>die</strong> den Militär<strong>die</strong>nst verließen,<br />

exkommuniziert. Diejenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Seligpreisung der <strong>Sanftmütigen</strong> wörtlich<br />

als implizite Aufforderung zur Gewaltlosigkeit verstanden, fanden sich plötzlich in der<br />

Schmuddelecke des Christentums wieder, bei den sogenannten Sektierern und<br />

Schwärmern.<br />

Doch bevor man in den Chor derer einstimmt, <strong>die</strong> auf den Sektierern und Schwärmern<br />

spöttisch herumhacken, wird man eine Erklärung von denen verlangen müssen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Seligpreisung der <strong>Sanftmütigen</strong> nicht wörtlich verstehen. Das sind aber<br />

<strong>die</strong> Großkirchen, also Orthodoxe, Katholiken, Lutheraner wie Reformierte. Sie alle<br />

meinen und begründen <strong>die</strong>s auf unterschiedliche Weise, dass sich Jesu Seligpreisung<br />

der <strong>Sanftmütigen</strong> und Aufruf zur Gewaltlosigkeit durchaus mit der staatlichen<br />

Gewaltanwendung, sei es in der Justiz, sei es im Militärwesen, vereinbaren lasse.<br />

Wie gequält und gezwungen solche Interpretationen aussehen, lässt sich an Luther<br />

sehr schön zeigen. Zunächst einmal hält er fest, dass <strong>die</strong> Forderungen der Bergpredigt<br />

nur für Christen gelten. Und zwar – und das ist gegen <strong>die</strong> katholische Auslegung,<br />

<strong>die</strong> sie nur auf <strong>die</strong> Mönche bezieht – gelten <strong>die</strong> Forderungen für alle Christen gleichermaßen.<br />

Aber – und da ist Luther sich wieder mit den Katholiken und Orthodoxen<br />

einig – <strong>die</strong>se Forderungen sind keine Anweisungen für <strong>die</strong> Gestaltung weltlicher Verhältnisse.<br />

Sondern in der Welt gilt das genaue Gegenteil des Gebots der Gewaltlosigkeit.<br />

In der Welt gilt es, dem Bösen zu widerstehen und mit Gewalt dagegen vorzugehen.<br />

Unter sich hingegen sind <strong>die</strong> Christen zu Gewaltlosigkeit und Sanftmütigkeit<br />

verpflichtet. Wenn der Christ zur Gewalt greift, so tut er <strong>die</strong>s aus Nächstenliebe,<br />

weil der Nächste bedroht wird und es das Gesetz der Welt ist, dem Bösen zu wehren.<br />

Sich selbst hingegen dürfte er niemals unter Anwendung von Gewalt verteidigen.<br />

„An dir und an dem Deinen hältst du dich nach dem Evangelium und leidest Unrecht<br />

als ein rechter Christ für dich. An dem andern und an dem Seinen hältst du dich<br />

nach der Liebe und leidest kein Unrecht für deinen Nächsten, welches das Evangelium<br />

nicht verbietet, ja vielmehr gebietet“. Der Mensch als Christ ist also zwar für sich<br />

selbst zu Gewaltlosigkeit verpflichtet. Aber <strong>die</strong> Nächstenliebe gebietet ihm, zum<br />

Schutz der anderen gegebenenfalls Gewalt anzuwenden. So Luther, ganz ähnlich<br />

aber auch Zwingli und Calvin.<br />

Das mag einmal als eine befriedigende Lösung des Problems, wie sich staatliche<br />

Gewalt und christliche Gewaltlosigkeit miteinander vereinbaren lassen, betrachtet<br />

worden sein. Doch wen kann sie heute noch überzeugen? Handelt es sich hier nicht<br />

eher um ein Entweder-Oder? Entweder <strong>die</strong> staatliche Gewalt oder <strong>die</strong> Gewaltlosigkeit?<br />

So jedenfalls sah es Friedrich Naumann, als er 1903 erklärte: „Entweder wir<br />

gehen mit Bismarck oder mit Tolstoj. Entweder das Evangelium von der gepanzerten<br />

Faust oder das Evangelium der Brüder vom gemeinsamen Leben!“ Naumann, der<br />

einstige Pastor der armen Leute und Mentor von Theodor Heuß, war zu der Erkenntnis<br />

gelangt, dass <strong>die</strong> Bergpredigt mit ihrer Forderung der Gewaltlosigkeit und der Seligpreisung<br />

der <strong>Sanftmütigen</strong> sich zur Politik nicht eigne. Er hatte sich für <strong>die</strong> Politik<br />

entschieden, also für Bismarck und gegen Tolstoj. Als der Soziologe Max Weber sich<br />

1916 mit der – wie er sie nannte – religiösen Brüderlichkeitsethik der Bergpredigt<br />

auseinandersetzte, gelangte er zu einem ganz ähnlichen Ergebnis wie Naumann. Die<br />

Ethik der Sanftmütigkeit und Gewaltlosigkeit ist unter den Bedingungen der modernen<br />

Kultur für ihn nicht lebbar. Denn für den Politiker gilt der Imperativ „Du sollst dem<br />

Übel gewaltsam widerstehen!“ Von Sanftmütigkeit und Gewaltlosigkeit als obersten<br />

Maxime kann bei einem Politiker keine Rede sein. Bei ihm kommt es nicht auf <strong>die</strong>


Gesinnung an, sondern auf das verantwortungsvolle Handeln. „Wir konstruieren unser<br />

staatliches Haus“, so konnte Naumann sagen, „nicht mit den Zedern des Libanon,<br />

sondern mit den Bausteinen vom römischen Kapitol.“ Mit Sanftmütigkeit und<br />

Gewaltlosigkeit lässt sich – mit anderen Worten – kein Staat machen. Das ist sicher<br />

richtig, auch wenn unter bestimmten günstigen Bedingungen – <strong>die</strong> Briten waren eben<br />

klug genug – eine Politik der Gewaltlosigkeit wie etwa im Falle Ghandis durchaus<br />

zum erwünschten Ziel führen kann.<br />

Neuere christliche Theologen haben das Problem, das <strong>die</strong> Bergpredigt, das zumal<br />

<strong>die</strong> Seligpreisung der <strong>Sanftmütigen</strong> und Gewaltlosen, darbietet, durch einen interpretatorischen<br />

Gewaltakt zu lösen versucht. Danach enthält <strong>die</strong> Bergpredigt überhaupt<br />

keine Forderungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Jünger Jesu erfüllen sollen und auch erfüllen können.<br />

Sondern <strong>die</strong> Bergpredigt enthält das radikale Gesetz, das allein und ausschließlich<br />

Christus erfüllt hat, und an <strong>die</strong>ser Erfüllung haben alle teil, <strong>die</strong> an Christus und <strong>die</strong> in<br />

ihm angebotene Gnade glauben. So kann man es bei Karl Barth und bei Dietrich<br />

Bonhoeffer lesen, gewiss aber nicht bei <strong>Matthäus</strong>. Vielmehr handelt es sich bei jenen<br />

Deutungen ähnlich wie bei Luther, Zwingli und Calvin um den zwanghaften Versuch,<br />

<strong>die</strong> Bergpredigt mit der paulinischen und reformatorischen Rechtfertigungslehre zu<br />

versöhnen. Wenn man hingegen <strong>die</strong> Seligpreisungen im Kontext des <strong>Matthäus</strong>evangeliums<br />

liest, so wird man kaum umhin können, sie als eine Art christlichen Tugendkatalog<br />

zu lesen, als Einlassbedingungen für das von Jesus verheißene kommende<br />

Gottesreich. So enthält auch <strong>die</strong> Seligpreisung der <strong>Sanftmütigen</strong> und Gewaltlosen<br />

den an <strong>die</strong> Jünger gerichteten Aufruf zu Sanftmütigkeit und Gewaltlosigkeit. Man<br />

rechnet gerade <strong>die</strong>sen Aufruf gewöhnlich zum Urgestein der Verkündigung des historischen<br />

Jesus, was <strong>die</strong> Sache nicht einfacher macht. <strong>Matthäus</strong> – darin besteht seine<br />

schriftstellerische Leistung – lässt Jesus den Aufruf zusammen mit den anderen Seligpreisungen<br />

und der verschärfenden Auslegung des Gesetzes auf einem Berg verkündigen.<br />

Wie Moses auf dem Berg Sinai einst das Gesetz empfing, so legt Jesus es<br />

vollmächtig auf einem Berg als Willen Gottes aus. Zwar stehen <strong>die</strong> Seligpreisungen,<br />

steht also <strong>die</strong> Zusage des Heils am Anfang. Aber das Heil wird nur ganz bestimmten<br />

Menschen zuteil, unter anderem jenen, <strong>die</strong> sich in Sanftmütigkeit und Gewaltlosigkeit<br />

üben. Jesus ist für <strong>Matthäus</strong> der Lehrer der Gerechtigkeit, der <strong>die</strong> radikale Forderung<br />

der Sanftmütigkeit und Gewaltlosigkeit für durchaus erfüllbar hält. „Es werden nicht<br />

alle, <strong>die</strong> zu mir sagen: ‚Herr, Herr!’ in das Himmelreich kommen, sondern nur <strong>die</strong>, <strong>die</strong><br />

den Willen meines Vaters im Himmel tun.“ So <strong>Matthäus</strong> 7,21. Wer in <strong>die</strong> Nachfolge<br />

Jesu treten will, der ist tatsächlich aufgefordert, sanftmütig und gewaltlos zu sein,<br />

und nur dann wird ihm das Heil zuteil. Alle, <strong>die</strong> <strong>die</strong> dritte Seligpreisung so verstanden<br />

haben, - und dazu gehören <strong>die</strong> Mönche der Antike und des Mittelalters ebenso wie<br />

<strong>die</strong> sogenannten Schwärmer der Reformationszeit und Tolstoj –, sie alle haben sie<br />

richtig verstanden. Von der Bergpredigt führt kein Weg zur Rechtfertigungslehre des<br />

Paulus und der großen Reformatoren. Sondern sie führt zum Jakobusbrief und zum<br />

altkirchlichen Verständnis Jesu als des neuen Gesetzgebers, des neuen Mose, der<br />

das Gesetz radikalisiert.<br />

Zu Geschichte des Christentums gehört <strong>die</strong>ses richtige Verständnis der Bergpredigt<br />

mit ihrer Seligpreisung der <strong>Sanftmütigen</strong> und Gewaltlosen ebenso hinzu wie <strong>die</strong><br />

paulinische Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade. Alle Versuche, <strong>die</strong>se<br />

Botschaft mit der Bergpredigt in Einklang zu bringen, sind zum Scheitern verurteilt.<br />

Die radikalen Sekten der Christentumsgeschichte lassen sich ohne jenes<br />

Verständnis der Bergpredigt als einer radikalen Ethik der Sanftmütigkeit und<br />

Gewaltlosigkeit ebenso wenig begreifen wie Tolstoj und Ghandi. Man wird ihnen <strong>die</strong><br />

Treue zur Verkündigung Jesu nicht absprechen können. Die christliche Kirche, als<br />

sie sich in der Welt einrichtete und mit dem Staat versöhnte, hat allerdings schon


ald <strong>die</strong> Unmöglichkeit erkannt, an <strong>die</strong>ser radikalen Ethik festzuhalten. Sie legte ihrer<br />

eigenen Ethik <strong>die</strong> Goldene Regel zugrunde, <strong>die</strong> sich ja gleichfalls in der Bergpredigt<br />

findet: „Alles, was ihr wollt, dass euch <strong>die</strong> Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“<br />

(Mt 7,12). Diese Regel erschien der Kirche als Inbegriff einer vernünftigen Ethik, da<br />

man ähnlichen Formulierungen auch in der griechischen Philosophie begegnete. Die<br />

radikale Ethik der Sanftmütigkeit und Gewaltlosigkeit wurde ins Abseits gedrängt. Sie<br />

hatte fortan einen schweren Stand. In der heute nur noch selten gespielten Oper<br />

„Der Evangelimann“ lässt der Komponist Wilhelm Kienzl den zu Unrecht verfolgten<br />

Mathias in einem Wiener Hinterhof zu den Klängen der <strong>Dr</strong>ehorgel <strong>die</strong> achte<br />

Seligpreisung singen: „Selig sind, <strong>die</strong> Verfolgung leiden“. Das ist rührend angesichts<br />

der Bosheit der Welt. Aber wie soll man <strong>die</strong> Bosheit der Welt überwinden? Die<br />

Tolstojaner, <strong>die</strong> Sanftmütigkeit und Gewaltlosigkeit predigten, wurden von der<br />

russischen Revolution überrollt. Ein Widerstand dagegen war ihnen von ihrer Lesart<br />

der Bergpredigt her nicht erlaubt. Max Weber war weit davon entfernt, Tolstojs Ethik<br />

der dritten Seligpreisung ihre religiöse Würde abzusprechen. Aber seine eigene<br />

Verantwortungsethik hielt es eher mit den christlichen Großkirchen: „Widerstehe dem<br />

Übel, - sonst bist du für seine Übergewalt mitverantwortlich.“ Wir müssen uns<br />

entscheiden: entweder wir halten uns an <strong>die</strong> Ethik, <strong>die</strong> in der dritten Seligpreisung<br />

enthalten ist, oder wir halten uns an eine Ethik, <strong>die</strong> der Goldenen Regel folgt. Wie in<br />

vielen anderen Fällen gilt auch hier: einen dritten Weg gibt es nicht.<br />

Amen.<br />

Nächster Universitätsgottes<strong>die</strong>nst 27. Juni 2010<br />

SELIG SIND ...<br />

... <strong>die</strong> da hungert nach Gerechtigkeit<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Friedhelm Hartenstein

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