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Hannah Arendts Konzeption des Gemeinsinns im Hinblick auf den ...

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<strong>Hannah</strong> <strong>Arendts</strong> <strong>Konzeption</strong> <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> <strong>im</strong> <strong>Hinblick</strong> <strong>auf</strong> <strong>den</strong><br />

Kommunitarismus<br />

-Politisches Handeln in nachmetaphysischer Zeit-<br />

von Michael Stauch<br />

September 2005


Inhaltsübersicht<br />

1. Einleitung ………………………………………………………………. S. 3<br />

2. <strong>Arendts</strong> politische Theorie: Handeln als höchstes Gut der vita activa…. S. 4<br />

2.1. Zwischen Individualität und Pluralität: Die conditio humana …….. S. 4<br />

2.2. Politisches Handeln <strong>im</strong> öffentlichen Raum ……………………….. S. 5<br />

3. Der Begriff <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> …………………………………….. ……. S. 7<br />

3.1. Allgemeine Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> ………………………… S. 7<br />

3.2. Gemeinsinn als… ………………………………………………..... S. 9<br />

3.3. Verlust von Gemeinsinn in Massengesellschaft und Totalitarismus.. S. 10<br />

4. Der Kommunitarismus- Ein Konzept <strong>im</strong> Geiste <strong>Hannah</strong> <strong>Arendts</strong>?.......... S. 12<br />

4.1. Liberalismus vs. Kommunitarismus ………………………………. S. 12<br />

4.2. Einzelne Standpunkte der Kommunitaristen ………….................... S. 12<br />

4.3. <strong>Hannah</strong> Arendt- Eine Kommunitaristin? ………………………….. S. 14<br />

5. Schlußbemerkungen…………………………………………………….. S. 15<br />

6. Anmerkungen und Literaturverzeichnis ………………………………… S. 17<br />

- 2 -


1. Einleitung<br />

Der Philosoph Rüdiger Safranski schreibt in seinem Buch Das Böse:„Als man <strong>auf</strong>hörte, an<br />

Gott zu glauben, versuchte man es mit dem Glauben an <strong>den</strong> Menschen. Nun macht man die<br />

überraschende Entdeckung, daß der Glaube an <strong>den</strong> Menschen womöglich leichter war, als<br />

man noch <strong>den</strong> Umweg über Gott nahm.“ 1 Hierin äußert sich das Problem, dem sich die<br />

moderne politische Philosophie gegenübersieht: Normen, politische Institutionen, Weltbilder<br />

lassen sich nicht mehr durch außerweltliche Instanzen rechtfertigen und begrün<strong>den</strong>.<br />

„Transzen<strong>den</strong>tal obdachlos“ (Lukács) scheint alles begründbar und dies Begründete wiederum<br />

kontingent. Ohne Gott als Letztinstanz, keine Kaiser und Könige, die sich <strong>auf</strong> Gna<strong>den</strong>tum<br />

berufen können. Die politische Theorie steht vor einem Legit<strong>im</strong>ationsproblem. Wie ist<br />

politisches Handeln zu legit<strong>im</strong>ieren, wenn der Mensch sich nur <strong>auf</strong> sich als Mensch berufen<br />

kann? Gibt es dann noch universelle Geltungsmaßstäbe oder müssen wir uns mit der<br />

Kontingenz zufrie<strong>den</strong>geben?<br />

Diese und andere Fragen bil<strong>den</strong> die Projektionsfläche von <strong>Hannah</strong> <strong>Arendts</strong> Arbeiten. Vor <strong>den</strong><br />

Erfahrungen, die sie als Jüdin <strong>im</strong> zweiten Weltkrieg gemacht hat, sie selbst erlebt hat, welche<br />

Greueltaten der Mensch seinen Mitmenschen antun kann, entwirft sie eine Theorie <strong>des</strong><br />

politischen Handelns, ausgehend von der aristotelischen Sicht <strong>des</strong> Menschen als einem<br />

Gemeinschaftswesen: Leben als „’Unter Menschen weilen’“[VA, 17]. Der Mensch,<br />

seinesgleichen kein Wolf, hat an <strong>den</strong> Grenzstellen der Menschlichkeit seinen Gemeinsinn<br />

verloren. Der Gemeinsinn ist ein zentraler Begriff <strong>im</strong> Denken <strong>Arendts</strong>, zum einen als<br />

politische Qualität, zum anderen als Bindeglied in der conditio humana.<br />

In dieser Arbeit möchte ich <strong>Arendts</strong> Verständnis <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> herausarbeiten (3.<br />

Abschnitt). Dazu ist es vorangehend notwendig, sich die zentralen Begriffe ihres<br />

Menschenbil<strong>des</strong> und ihrer politischen Theorie anzuschauen und darin <strong>den</strong> Gemeinsinn zu<br />

positionieren (Abschnitt 2). Dabei soll die Frage beantwortet wer<strong>den</strong>, inwieweit der<br />

Gemeinsinn die Legit<strong>im</strong>ationslücke zu schließen vermag. Die spannende Antwort <strong>Arendts</strong> ist,<br />

daß Handeln per se strukturell kontingent und legit<strong>im</strong>ationslos ist, allein ein richtiges Maß an<br />

Gemeinsinn vonnöten bleibt, um freies, politisches Handeln zu erhalten. Um Fragen <strong>des</strong><br />

Erhalts und Verlusts von Gemeinsinn soll es in 3.3. gehen, dies vor allem <strong>im</strong> <strong>Hinblick</strong> <strong>auf</strong><br />

Totalitarismus und Massengesellschaft.<br />

Um eine Antwort der Legit<strong>im</strong>ationsproblematik geht es <strong>im</strong> vierten Abschnitt: dem<br />

Kommunitarismus. Dazu möchte ich kurz die Grundthesen <strong>des</strong> Liberalismus vorstellen um an<br />

Hand der Kritik der Kommunitarier daran ihre Thesen zu erklären und zu versuchen, sie in<br />

- 3 -


einen Kontext mit <strong>Hannah</strong> <strong>Arendts</strong> politischer Theorie <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> zu stellen,<br />

Ähnlichkeiten wie Unterschiede zu benennen.<br />

2. <strong>Arendts</strong> politische Theorie: Handeln als höchstes Gut der vita activa<br />

2.1. Zwischen Individualität und Pluralität: Die conditio humana<br />

In Anlehnung an Aristoteles setzt <strong>Hannah</strong> Arendt <strong>im</strong> wesentlichen drei Punkte als Bedingtheit<br />

der Menschen voraus: 1. Leben <strong>im</strong> Kreisl<strong>auf</strong> <strong>des</strong> Lebendigen, 2. Weltlichkeit der Welt und 3.<br />

Pluralität [VA 21]. Diese sind es, die unsere menschliche Existenz bedingen, sie sind die<br />

conditio humana. Doch keine dieser vermag unser Leben absolut zu bedingen, sie bil<strong>den</strong><br />

vielmehr die Grunderfahrungen unserer menschlichen Existenz.<br />

Zunächst also zum Kreisl<strong>auf</strong> <strong>des</strong> Lebendigen. Mit der Geburt erscheint ein Mensch <strong>auf</strong> der<br />

Welt und ist zunächst natürlichen Kreisläufen ausgesetzt. Er tritt mit ihr in einen biologischen<br />

Prozeß ein. Er muß sich täglich neu um Nahrung kümmern, er altert, er muß sich <strong>den</strong><br />

Naturkreisläufen anpassen, z.B. Tag-Nacht, Krankheit-Gesundheit. Wie alles Lebendige ist er<br />

also ein Teil der Geburts-, Verfalls- und To<strong>des</strong>prozesse der Natur. Ein Faktum unterscheidet<br />

ihn dabei wesentlich von dem anderen Lebendigem: er weiß um seinen Tod, und damit um<br />

die begrenzte Zeit, die er <strong>auf</strong> Er<strong>den</strong> verweilt. Innerhalb dieser „Knechtschaft durch <strong>den</strong><br />

biologischen Lebensprozeß“ [VA 46] kann der Mensch jedoch Dinge von Dauer schaffen, die<br />

seine Lebensspanne überdauern können; er kann die Welt als eine vor ihm liegende ansehen<br />

und sich seiner Bedingtheit bewußt wer<strong>den</strong>. Diese Welt ist eine ihn zwar bedingende, doch<br />

kann er innerhalb seine Bedingungen selbst schaffen. Er kann in ihr tätig wer<strong>den</strong> und sie sich<br />

zu nutzen machen. Sie ist für ihn eine objektive 2 Welt, er kann sich als Subjekt zu <strong>den</strong><br />

Objekten der Natur stellen. Dies ist mit der zweiten Kondition, der Weltlichkeit der Welt<br />

gemeint:<br />

„Die Menschen leben also nicht nur unter <strong>den</strong> Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt<br />

darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die<br />

gleiche bedingende Kraft besitzen, wie die bedingen<strong>den</strong> Dinge der Natur“ [VA 19]<br />

Aus dieser zweiten conditio ergibt sich gleichsam ein weiteres wichtiges Merkmal <strong>des</strong><br />

Mensch-Seins: die Individualität. Der Mensch ist ein selbstbewußtes Subjekt in einer<br />

objektiven Wirklichkeit, kann sich selbst wahrnehmen und sich zu sich selbst verhalten. Aber<br />

<strong>Hannah</strong> Arendt betont, es bedarf zudem noch der Erfahrung der anderen. In der Differenz zu<br />

<strong>den</strong> anderen erkennen wir uns eben als Selbstbewußte, als Individuum unter Individuen. So<br />

wird das „Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele<br />

Menschen <strong>auf</strong> der Erde leben und die Welt bevölkern“[VA 17] zur Grundbedingung der<br />

Wirklichkeitserfahrung, wir sind mit Aristoteles gesprochen ein zoon politikon 3 .<br />

- 4 -


Dieses sind also die Grundpfeiler <strong>auf</strong> <strong>den</strong>en <strong>Hannah</strong> Arendt ihre Betrachtungen stellt. Sie<br />

kommt dabei zur Unterscheidung unserer vita activa in drei wesentlich verschie<strong>den</strong>e<br />

Tätigkeiten: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln, bei <strong>den</strong>en sich das Handeln als das<br />

eigentliche Öffentlich-Wer<strong>den</strong> <strong>des</strong> Menschen, <strong>des</strong> In-Erscheinung-treten <strong>im</strong> gemeinsamen<br />

Raum und damit als das eigentlich Politische herausstellen.<br />

2.2. Politisches Handeln <strong>im</strong> öffentlichen Raum<br />

Der Tätigkeitsunterscheidung voraus geht die Trennung der Räume, die die menschlichen<br />

Tätigkeiten umschließen: der private Raum und der öffentliche Raum. Beide unterschei<strong>den</strong><br />

sich wesentlich durch Ab- bzw. Anwesenheit der anderen.<br />

Der private Raum ist der, <strong>des</strong> Besitzes, der <strong>des</strong> je Eigenen. Dieser ist Rückzugsraum vor <strong>den</strong><br />

anderen Menschen, jeder ist nur er selbst und nicht einer unter anderen. Ungesehen und<br />

ungehört ist man allein mit sich und seinem Eigentum. Dabei ist nicht die absolute Einsamkeit<br />

gemeint, sondern der kleine Familienbereich, der <strong>den</strong> Menschen an einen best<strong>im</strong>mten Ort in<br />

der Welt hält, ihn Zuflucht und Standort gibt, unantastbar für die Allgemeinheit. Von ihm aus<br />

kann man öffentlich wer<strong>den</strong>, gleichsam aus dem Dunkel <strong>des</strong> Privaten in das Licht der<br />

Gemeinsamkeit treten. Für <strong>Hannah</strong> Arendt ist die Metapher <strong>des</strong> Dunkels <strong>des</strong> Privaten von<br />

zweierlei Bedeutung. Zunächst braucht jeder diesen Bereich <strong>des</strong> Eigentums und der<br />

Rückzugsmöglichkeit von <strong>den</strong> anderen, wie der wache Mensch die Dunkelheit zum Schlafe<br />

benötigt. Ursprünglich, so stellt Arendt dar, bedeutet das Private, einen „angestammten Platz“<br />

zu haben, von dem aus man politisch agieren konnte: „kein Eigentum zu haben hieß …<br />

jemand zu sein, <strong>den</strong> die Welt und der in ihr organisierte politische Körper nicht vorgesehen<br />

hatte.“ [VA 77] 4 . Die andere Seite <strong>des</strong> Dunklen ist das Fehlen der Wirklichkeit der Welt, die<br />

sich durch die anderen erst konstituiert, beraubt <strong>des</strong> Gesehenwer<strong>den</strong>s. Das Dunkel in der Sicht<br />

ist der Traum, die Illusion und die fehlen<strong>den</strong> Bestätigung.<br />

Damit ist die Bedeutung auch <strong>des</strong> öffentlichen Raumes bereits umrissen. Er ist zum einen<br />

der Erscheinungsraum <strong>des</strong> Einzelnen vor der Allgemeinheit, welche uns der Realität der Welt<br />

versichert: „Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, die hören, was wir hören,<br />

versichert uns der Realität der Welt und unserer selbst…“[VA 63]. Er hat einen<br />

unprevilegierten Zugang <strong>im</strong> Gegensatz zu der eigenen Sinnenwelt, wie z.B. die Empfindung<br />

seiner Schmerzen. Man versichert sich vermittels der anderen seiner selbst. Weiterhin ist der<br />

öffentliche Raum der <strong>des</strong> gemeinsam Gegebenen, <strong>des</strong> gemeinsamen Besitzes. In ihm spielen<br />

sich die menschlichen Angelegenheiten ab, die Regelungen <strong>des</strong> Zusammenlebens. In ihm ist<br />

Dauerhaftigkeit möglich. <strong>Hannah</strong> Arendt geht dabei soweit, das hierin sich die eigentliche<br />

- 5 -


Freiheit <strong>des</strong> Menschen erst offenbart: „frei nämlich, das eigene Leben zu transzendieren und<br />

in die allen gemeinsame Welt einzutreten“[VA 79], wie es <strong>im</strong> aristotelischen Vorbild der freie<br />

Bürger der Pollis war. Gleichnishaft beschreibt sie <strong>den</strong> öffentlichen Raum wie ein<br />

Schachspiel: „der Schachspieler ist mit seinem Mitspieler […] durch das Brett verbun<strong>den</strong>, das<br />

die Gegner voneinander trennt und gleichzeitig miteinander verbindet, weil es ein Stück einer<br />

ihnen gemeinsamen Welt ist.“[Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Zit. nach<br />

FH 155]. 5<br />

Um bei<strong>den</strong> Räumen Rechnung zu tragen und sie zu erhalten, ist es notwendig, daß es ein<br />

Zwischen der menschlichen Angelegenheiten gibt. Nur wenn ein Raum bleibt, der uns<br />

voneinander trennt- der Zwischen-Raum- der uns als Individuen definierbar macht, so daß wir<br />

nicht Kopien sind, sondern jeder Unwiederholbar und Unverwechselbar ist, kann Pluralität<br />

und damit Gemeinschaft von freien Menschen bestehen. Weiter unten möchte ich zeigen,<br />

inwieweit der Gemeinsinn in diesem Zwischenraum angesiedelt ist, ihn gar konstituiert.<br />

Die verschie<strong>den</strong>en Tätigkeiten, die Arendt herausarbeitet, sind in diese Räume anzusiedeln.<br />

Das Arbeiten entspricht dabei dem Naturkreisl<strong>auf</strong>. Es dient der Aufrechterhaltung <strong>des</strong> Lebens<br />

und ist dabei wesentlich privat. Es bedarf der anderen eigentlich nicht: der menschliche<br />

Körper ist <strong>auf</strong> sich „zurückgeworfen“[VA 134].<br />

Das Herstellen entspricht der Gegenständlichkeit der Welt. Durch Mittel-Zweck-Denken<br />

wer<strong>den</strong> Dinge von Dauerhaftigkeit geschaffen, die <strong>den</strong> Menschen nützen sollen. Dabei dient<br />

die Natur als Mittel. Auch hier bedarf es der anderen nicht notwendig, es können auch Dinge<br />

nur für einen selbst hergestellt wer<strong>den</strong>. Es spielt sich daher eher in dem Grenzbereichen von<br />

Privatem und Öffentlichem ab.<br />

Nur das menschliche Handeln bedarf notwendig der Pluralität. Indem wir handeln treten wir<br />

wirklich aus der Dunkelheit <strong>des</strong> Privaten heraus, geben Preis, wer wir sind, welche<br />

Vorstellungen wir haben, legen unsere Persönlichkeit offen. Deshalb ist auch das Handeln für<br />

Arendt so nahe dem Sprechen: in beidem „entbirgt“ sich der Mensch. Im Handeln und<br />

Sprechen schlagen wir eine Brücke zueinander, beseitigen die Differenz, die uns Individuen<br />

trennt. Die Wichtigkeit <strong>des</strong> Handelns zeigt sich auch in der <strong>Konzeption</strong> der Freiheit, die eng<br />

damit verbun<strong>den</strong> wird. Freiheit heißt einen neuen Anfang setzen können, einen Teil zu <strong>den</strong><br />

Geschichten der Menschen beizutragen und seine Masche in das „Bezugsgewebe der<br />

menschlichen Angelegenheiten“ zu weben. Der Handelnde steckt dabei bereits in einem<br />

Gewebe drinnen, wird in eine konkrete geschichtliche Situation hineingeboren. Gerade dabei<br />

und <strong>im</strong> Anfangen-Können liegt aber auch die Schwierigkeit: die fehlende Autorschaft für die<br />

Geschichten vor unserer Handlungen und die Unabsehbarkeit der Folgen unserer eigenen<br />

- 6 -


Handlungen, obwohl wir Auslöser und somit verantwortlich für die Handlung waren. Die<br />

Aporien <strong>des</strong> Handelns sind also, daß wir Handelnde unter Handeln<strong>den</strong> in eine konkrete<br />

Umwelt hinein ohne sicheren Rahmen sind [DB 110]. Hierin zeigt sich die eingangs erwähnte<br />

Legit<strong>im</strong>ationslosigkeit und Kontingenz <strong>des</strong> Handelns. Wir können stets jeder Einzelne neu<br />

anfangen, gerade darin besteht das Wesen <strong>des</strong> Handelns, abseits allen Teleos-Denkens. Damit<br />

ist das Handeln die eigentliche politische Tätigkeit.<br />

„Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit <strong>im</strong> Verkehr mit anderen und nicht <strong>im</strong> Verkehr mit mir selbst. Frei sein<br />

können Menschen nur in bezug <strong>auf</strong>einander, also nur <strong>im</strong> Bereich <strong>des</strong> Politischen und <strong>des</strong> Handelns; nur dort erfahren sie, was<br />

Freiheit positiv ist und daß sie mehr ist als ein Nichtgezwungenwer<strong>den</strong>. [<strong>Hannah</strong> Arendt: Freiheit und Politik, zitiert nach IN<br />

96].<br />

In diesem Zitat zeigen sich nochmals alle obigen Pfeiler <strong>des</strong> Denkens von Arendt: Der<br />

Mensch ist ein Wesen zwischen Privatem und Öffentlichem, <strong>des</strong>sen Freiheit sich <strong>im</strong><br />

gemeinsamen Miteinander äußert. Um dieses aber zu schützen, <strong>den</strong> Aporien zu begegnen,<br />

braucht es ein Verständnis <strong>des</strong> Miteinander-Müssens und Nicht-anders-Könnens, es braucht<br />

einen Sinn für die gemeinsam geteilte Welt: einen Gemeinsinn.<br />

3. Der Begriff <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong><br />

3.1. Allgemeine Betrachtung <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong><br />

In dem vorangegangenen Kapitel habe ich versucht darzustellen, wie wir zwischen zwei<br />

Stühlen stehen, wie wir Individuen sind, sich unserer selbst und unserer je individuellen<br />

Einzigartigkeit bewußt, aber um die Wirklichkeit der Welt zu erfahren, der anderen<br />

notwendig bedürfen.<br />

„Nur wo Dinge, ohne ihre I<strong>den</strong>tität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt wer<strong>den</strong>, so daß die um<br />

sie Versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschie<strong>den</strong>heit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit<br />

eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.“[VA 72]<br />

In dem Zwischenraum der Ein-heit-Erfahrung und der, der Viel-heit liegt, als Bindeglied<br />

zwischen Individualität und Pluralität der Gemeinsinn, der sensus communis.<br />

Meine fünf Sinne verraten mir nur, daß ich es bin, der sieht, der hört usw. Meine sinnlichen<br />

Erfahrungen sind „radikal subjektiv“. Ich habe einen nur mir offenstehen<strong>den</strong>, privilegierten<br />

Zugang zu meinen Empfindungen. Ich kann über meinen Zahnschmerz erzählen, nur niemand<br />

anderes wird ihn fühlen können. Meine Sinne und Empfindungen werfen mich gleichsam <strong>auf</strong><br />

mich selbst zurück: ich nehme <strong>im</strong> Wahrnehmen wahr, daß ich Wahrnehmender bin. Hierbei<br />

spielen die anderen noch keine Rolle. Doch kann ich ebenfalls wahrnehmen, daß da noch<br />

andere, von mir verschie<strong>den</strong>e sind, die Gleiches, aber <strong>auf</strong> ihre Weise wahrnehmen. Der<br />

Gemeinsinn läßt sich also zunächst als sechster Sinn <strong>den</strong>ken: das Wahrnehmen der<br />

Wahrnehmung der anderen. Der Gemeinsinn ist damit konstitutiv für ein Verständnis einer<br />

- 7 -


gemeinsamen Welt. Indem ich mir nun <strong>den</strong>ken kann, daß andere Ähnliches empfin<strong>den</strong>,<br />

versichere ich mir erst der Realität meiner Empfindungen. Die Welt wird die von Arendt<br />

beschriebene objektive, indem wir vermöge <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> als Sinnesorgan<br />

Wahrgenommenes von <strong>den</strong> Wahrnehmen<strong>den</strong> trennen können: Nur weil ich weiß, daß dort<br />

andere Wahrnehmende(Subjekte) sind, die etwas Wahrnehmen(Objekte), wird die Welt etwas<br />

Wirkliches, etwas Gemeinsames.<br />

Mittels Kommunikation, dabei vor allem der Sprache, bestätigen wir uns der gemeinsamen<br />

Welt. Jedoch braucht es <strong>den</strong> Gemeinsinn als ein vorsprachlich Bestätigen<strong>des</strong> der<br />

Gemeinsamkeit, so daß es überhaupt nötig ist, darüber zu sprechen. Der Gemeinsinn ist also<br />

auch konstitutiv für Kommunikation: die Welt ist eine von Individuen geteilte, gemeinsame<br />

Welt, über die sich sprechen läßt: „Der sensus communis ist der spezifisch menschliche Sinn, weil die<br />

Kommunikation, d.h. die Sprache, von ihm abhängt. Um unsere Bedürfnisse zur Kenntniss zu bringen, um<br />

Furcht, Freude etc. auszudrücken, wür<strong>den</strong> wir die Sprache nicht brauchen.“[LGU 94]<br />

Dies ist eine Ebene vom Gemeinsinn, die <strong>Hannah</strong> Arendt vor Augen hat, wenn sie sagt: „Das<br />

einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können, ist, daß sie uns allen<br />

gemeinsam ist…“[VA 264] So ist der Gemeinsinn als Sinn <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong>, als ein Meta-Sinn<br />

der anderen fünf Sinne, der sich aus jenen ergibt, sie gleichsam zusammenfaßt, ein<br />

notwendiger Baustein der conditio humana, der das Zwischen der Individualität und der<br />

Pluralität schafft(erkennen der anderen Subjekte, unterschie<strong>den</strong> von mir) und gleichzeitig<br />

wieder zu füllen vermag (die Welt als Gemeinsames).<br />

Dies ist das Verständnis, welches sich an Kant anlehnt und womit sich Arendt in Vom Leben<br />

<strong>des</strong> Geistes (vgl. VGU 92-96]auseinandergesetzt hat. In der Kritik der Urteilskraft spricht<br />

Kant vom Gemeinsinn als „Wirkung aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte“[IK §20]. Er<br />

<strong>den</strong>kt ihn sich als die Idee eines Vermögens, das Denken der anderen in seinem Denken mit<br />

berücksichtigen zu können: „eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner<br />

Reflexion <strong>auf</strong> die Vorstellungsart je<strong>des</strong> anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht n<strong>im</strong>mt…“.<br />

Der „gemeinschaftliches Sinn“ ist als ein Sinn als-ob zu verstehen: ein Vermögen, als ob wir<br />

das gesamte Denken der Menschheit- je<strong>des</strong> einzelnen- in unsere Reflexionen <strong>auf</strong>nehmen. So<br />

fährt Kant nämlich fort: „…um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der<br />

Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten wer<strong>den</strong> könnten, <strong>auf</strong> das<br />

Urteil nachteiligen Einfluß haben würde.“ [IK §40]<br />

An der Stelle wird Kants eigentlich ästhetische Betrachtung für <strong>Hannah</strong> Arendt politisch<br />

relevant. 6 Einmal die Bedingtheit der Menschen in einem Miteinander erkannt, steckt hier die<br />

Antwort <strong>auf</strong> das Problem, <strong>den</strong> der Verlust der Instanz Gottes und damit verbun<strong>den</strong>en Verlust<br />

<strong>des</strong> universellen Guten verursacht hat. Der Gemeinsinn kann als „politische Qualität“ [VA<br />

- 8 -


264], die Individuelles vor einen Spiegel der Allgemeinheit hält, vor dem die<br />

Privatbedingungen halt machen, indem man von <strong>den</strong> „Beschränkungen, die unserer eigenen<br />

Beurteilung zufälligerweise anhängen, abstrahiert…“ [IK §40]. Der Gemeinsinn kann als eine<br />

Tugend <strong>den</strong> Aporien <strong>des</strong> Handelns entgehen, indem ich um meine Gebun<strong>den</strong>heit weiß und zu<br />

meinen Privatwünschen, noch die der anderen berücksichtige und somit <strong>den</strong> Raum<br />

menschlicher Angelegenheiten zu einen gemeinsamen zu machen, in dem alle teilhaben und<br />

frei handeln können. So ist der Gemeinsinn die Naht zwischen Egoismus und Altruismus,<br />

zwischen bloßem Individuum und Handelnder unter Handeln<strong>den</strong>. So schreibt Arendt: „Man<br />

urteilt <strong>im</strong>mer als Mitglied einer Gemeinschaft, geleitet von seinem gemeinschaftlichen Sinn,<br />

seinem sensus communis“ [zit. nach DB 161] und an anderer Stelle: „Das einzige Merkmal<br />

der Verrücktheit ist der Verlust <strong>des</strong> Gemeinsinnes(sensus communis) und der dagegen<br />

eintretende logische Eigensinn(sensus privatus)“ [ebd.]. Die Verrücktheit ist hierbei <strong>im</strong><br />

doppelten Sinne zu verstehen. Zum einen als geistige Krankheit, verstan<strong>den</strong> als Verlust der<br />

Möglichkeit, Abstand zu sich und seiner Person zu nehmen, sich also mittels <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong><br />

<strong>im</strong> eigenen Geiste dem Urteil anderer zu stellen. Andererseits natürlich das Entrückt-sein aus<br />

der Wirklichkeit, der Weltlichkeit der Welt als gemeinsame und reale. Letzteres wirkt<br />

wiederum <strong>auf</strong> die erste Möglichkeit zurück: Realitätsverlust, Wahnvorstellungen…Der<br />

Nahtcharakter <strong>des</strong> Gemeinsinnes, man kann ihn auch bildlich ähnlich einer Waage <strong>auf</strong>fassen,<br />

die in die eine wie die andere Richtung kippen kann, d.h. man kann zu viel wie zu wenig<br />

Gemeinsinn haben, was <strong>im</strong> übernächsten Teil besprochen wer<strong>den</strong> soll. Zunächst möchte ich<br />

jedoch noch einmal das mögliche Verständnis von Gemeinsinn zusammenfassen, was<br />

nochmals seine Wichtigkeit <strong>im</strong> <strong>Arendts</strong>chen Konzept zeigen soll.<br />

3.2. Gemeinsinn als…<br />

…Sinnesorgan<br />

Als Bindeglied zwischen der absoluten Subjektivität der eigenen Sinne und der Pluralität ist<br />

der Gemeinsinn wie ein sechster Sinn, der uns erfahren läßt, daß die Welt eine gemeinsam<br />

belebte Welt mit anderen Individuen ist, die je<strong>des</strong> für sich nicht anders, als mit anderen<br />

gemeinsam existieren kann.<br />

…realitäts- und öffentlichkeitsstiftend<br />

Indem wir die Welt vor unseren Gemeinsinn halten und als allen gemein erfahren, wird sie<br />

real, d.h. nicht nur für uns, sondern ein „objektiv Gemeinsames und darum eben<br />

Wirkliches“[VA 264f.] Dadurch wird sie eine geteilte Welt, mit anderen geteilt und geteilt in<br />

eine öffentliche und private Sphäre. Aus unserer Privatheit können wir in die Öffentlichkeit<br />

- 9 -


treten, vermöge <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> können wir dies verstan<strong>des</strong>mäßig tun. In diesem Sinne ist<br />

der Gemeinsinn öffentlichkeitsstiftend.<br />

Diese bei<strong>den</strong> Blicke <strong>auf</strong> <strong>den</strong> Gemeinsinn kann man als die Wahrnehmungsfähigkeit<br />

betreffend verstehen. Weiterhin ist der Gemeinsinn handlungsnormativ, als politisch<br />

moralisches Gut zu verstehen.<br />

…politisches Gut und Ziel<br />

Der Gemeinsinn kann als hohes und zu fördern<strong>des</strong> politisches Gut, bei der Bildung eines<br />

friedlichen Gemeinwesens, in der jeder frei handeln kann, gesehen wer<strong>den</strong>.<br />

…Korrektiv<br />

Sich dem Gemeinsinn verschreiben bewahrt vor Egoismus und Vereinzelung und der von<br />

Arendt beschriebenen Entfremdung von sich und seiner umgeben<strong>den</strong> Welt.<br />

…Sinn<br />

Im Gegensatz zum Zweck<strong>den</strong>ken, in dem, wie Arendt beschreibt, alles zum Mittel wer<strong>den</strong><br />

kann und sich ein Relativismus <strong>des</strong> „Um-zu“ ausbreitet, ist der Gemeinsinn Zweck an sich. Er<br />

ist als Sinn <strong>des</strong> Handelns und der Politik beständig und verliert nicht an Wert bei möglicher<br />

Erfüllung. Er kennt eher keine Erfüllung, ist mehr das „Um-willen“, wie Arendt <strong>den</strong> Sinn<br />

versteht. Wir handeln nicht, „um zu“ einem Ziel zu kommen, sondern weil wir nicht anders<br />

können, um der Gemeinsamkeit der Welt willen.<br />

Soweit zur Einordnung der Wichtigkeit <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong>. Im folgen<strong>den</strong> soll vor allem der<br />

Verlust <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> in einer Gesellschaft an Hand <strong>des</strong> Totalitarismus und der<br />

Massengesellschaft dargestellt wer<strong>den</strong>.<br />

3.3. Verlust von Gemeinsinn in Totalitarismus und Massengesellschaft<br />

Wenn man <strong>den</strong> Gemeinsinn als Gut und Tugend <strong>auf</strong>faßt, kann sich natürlich auch ein Verlust<br />

von diesem ergeben. Als Sinnesorgan verstan<strong>den</strong> bleibt er zwar noch als stiftend erhalten,<br />

doch kann er ähnlich Instinkten verkümmern. Die Folge ist für Arendt der Rückzug in die<br />

Subjektivität, in das Dunkel <strong>des</strong> Privaten.<br />

„Ein merkliches Abnehmen <strong>des</strong> gesun<strong>den</strong> Menschenverstan<strong>des</strong>[als Gemeinsinn zu verstehen, d.V.] und ein merkliches<br />

Zunehmen von Aberglauben und Leichtgläubigkeit deuten daher <strong>im</strong>mer dar<strong>auf</strong> hin, daß die Gemeinsamkeit der<br />

Welt…abbröckelt…und daß daher die Menschen sich der Welt entfrem<strong>den</strong> und begonnen haben, sich <strong>auf</strong> ihre Subjektivität<br />

zurückzuziehen“[VA 265]<br />

Die Entfremdung ist zunächst eine voneinander. Aus <strong>den</strong> gemeinsamen Angelegenheiten wird<br />

die jedem seinige (aus uns wird ich vs. du). Die Folge ist ein Rückzug aus dem Öffentlichen<br />

der Politik. Die gemeinsam geteilte Welt zerfällt in eine aus Privatwesen bestehende, die ihr<br />

eigenes Funktionieren so gut es eben geht <strong>im</strong> status quo einzurichten versuchen. Das<br />

- 10 -


Politische geht einem nichts mehr an. Aus <strong>den</strong> Handeln<strong>den</strong> wer<strong>den</strong> Sich-Verhaltende: „wenn wir<br />

<strong>den</strong> Sinn verloren haben, durch <strong>den</strong> unsere fünf an<strong>im</strong>alischen Sinne sich einer Menschenwelt fügen, die uns allen gemeinsam<br />

ist, so bleibt von dem menschlichen Wesen in der Tat nicht viel mehr übrig als die Zugehörigkeit zu einer<br />

Tiergattung…“[VA 360]<br />

Im totalitären Staat wird der strukturellen Legit<strong>im</strong>ationslosigkeit <strong>des</strong> Handelns das Ziel einer<br />

Ideologieerfüllung gegeben. Handeln ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung <strong>des</strong><br />

Zieles. Ständige Überwachung und Angst drängen <strong>den</strong> Menschen in die Privatheit. Die<br />

Gleichschaltung der Öffentlichkeit bedeutet <strong>den</strong> Verlust der wirklichkeitsgeben<strong>den</strong> Pluralität<br />

der Perspektiven. Der eind<strong>im</strong>ensionale, sich verhaltende Privatmensch wird unempfindlich<br />

gegenüber dem Gemeinsamen- die öffentliche Sphäre ist in der Eind<strong>im</strong>ensionalität<br />

verschwun<strong>den</strong>. Der Einzelne, ein Zahnrad <strong>im</strong> Kollektivgefüge, geht in der Masse unter. Die<br />

Freiheit <strong>des</strong> Anfangens geht über in einen Konformismus mit einer Doktrin oder aber in eine<br />

Feindschaft mit dieser, und als Feind der Ordnung ist man ein zu bekämpfen<strong>des</strong> Übel. Die<br />

Kompensation <strong>des</strong> Öffentlichen durch Einführung von Gemeinschaftsbeschwörungen<br />

innerhalb dafür vorgesehener Organisationen (HJ, FDJ…) funktioniert auch nur als Kontrolle<br />

der Einzelnen. Für Handeln in <strong>Hannah</strong> <strong>Arendts</strong> Sinne ist kein Platz mehr. Im Gegenteil stehen<br />

Denunziation und Ausgrenzung. Auch das Verschwin<strong>den</strong> von Menschlichkeit läßt sich daraus<br />

erklären, kann diese doch nur aus einem funktionieren<strong>den</strong> Gemeinsinn entstehen.<br />

Ähnliches taucht in der Massengesellschaft <strong>auf</strong>. In ihr ist Konsum und Funktionieren <strong>im</strong><br />

kapitalistischen Akkumulationsprozeß oberste Max<strong>im</strong>e. Als Jobholders, die jederzeit um ihre<br />

Stelle bangen, verliert sich der Gemeinsinn <strong>im</strong> täglichen Konkurrenzkampf. An die Stelle der<br />

Handeln<strong>den</strong> ist hier die Bürokratie, in der <strong>den</strong> Aporien <strong>auf</strong> eigene Weise begegnet wird.<br />

Durch Regelungen, Ausführungsvorschriften und Prozessen wird der Unabsehbarkeit Herr<br />

gewor<strong>den</strong>. Nieman<strong>den</strong> kann man zur Verantwortung ziehen <strong>den</strong>n: „in einer vollentwickelten<br />

Bürokratie gibt es, wenn man Verantwortung verlangt oder auch Reformen nur <strong>den</strong> Niemand. … Bürokratie ist die<br />

Staatsform, in der es nieman<strong>den</strong> mehr gibt der Macht ausübt; und wo alle gleichermaßen ohnmächtig sind, haben wir eine<br />

Tyrannis ohne Tyrannen.“ [MG 80]<br />

Aus dieser Ohnmacht ergibt sich Passivität und Zuschauen und somit das Aussterben der<br />

Handeln<strong>den</strong>. Wo der Gemeinsinn fehlt, ist der Ruf nach Gesetzten und Regelungen groß,<br />

Partizipation und Solidarität klein.<br />

Mit dem Verlust von Gemeinsinn und der Kritik an der Gesellschaft sich selbst<br />

Verwirklichender befassen sich auch die Kommunitaristen, um die es in der folgen<strong>den</strong><br />

Betrachtung gehen soll.<br />

- 11 -


4. Der Kommunitarismus- Ein Konzept <strong>im</strong> Geiste <strong>Hannah</strong> <strong>Arendts</strong>?<br />

4.1. Liberalismus vs. Kommunitarismus<br />

Der Kommunitarismus ist eine Antwort <strong>auf</strong> <strong>den</strong> Liberalismus, wie er vor allem von John<br />

Rawls theoretisch ausgearbeitet wurde. In seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit<br />

beschreibt Rawls, die Unmöglichkeit für eine Gesellschaft, ein besonderes Ziel und einen<br />

besonderen Zweck <strong>des</strong> Lebens festzuschreiben, sondern daß vielmehr jedem die Möglichkeit<br />

gegeben wer<strong>den</strong> müßte, sein eigenes Ziel, seine eigene Vorstellung vom glücklichen Leben zu<br />

verwirklichen 7 . Ziele und Wünsche sind kontingent und je individuell, trotzdem braucht es,<br />

mit Kant gesprochen, eines kategorischen Prinzips für Moral <strong>im</strong> Miteinander 8 . Für Rawls<br />

kann sich dies nicht in der Frage <strong>des</strong> Guten erschöpfen, sondern in der nach Gerechtigkeit.<br />

Dabei stehen für ihn zwei Prämissen <strong>im</strong> Vordergrund: 1. individuelle Rechte können nicht<br />

Opfer von Gemeinwohlinteressen sein und 2. kein Gut kann als oberstes Prinzip gelten.<br />

Rawls n<strong>im</strong>mt einen „Urzustand“ an, bei dem ein „Schleier der Unwissenheit“ über <strong>den</strong><br />

Menschen liegt. In diesem Zustand müssen wir uns eine Gesellschaftsordnung geben, wobei<br />

wir nicht wissen, welche konkrete Person wir sein, in welcher sozialen Stellung wir uns dann<br />

befin<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>. Dies garantiere größte Gerechtigkeit für alle. Diesem eher metaphorischen<br />

Urzustand geht ein Menschenbild voran, wonach jeder, wie Sandel schreibt, ein<br />

„ungebun<strong>den</strong>es Selbst“[Michael Sandel in AH 20] ist. Frei von gemeinschaftlichen oder<br />

anderen Verpflichtungen ist der Mensch eine souveräne Person, die sich als Subjekt mit<br />

freiem Willen zu sich selbst verhalten kann, sich von seiner sozialen Bedingtheit wenigstens<br />

geistig zu befreien vermag und Abstand von seinen Lebensumstän<strong>den</strong> nehmen kann. Dabei<br />

ergeben sich nach Rawls zwei Prinzipien der Gerechtigkeit: 1. Gleiche Grundrechte müssen<br />

für alle gelten und 2. Ungleichheiten sind nur gerechtfertigt, wenn sie zum allgemeinen<br />

Vorteil dienen oder jedem offen stehen (Differenzprinzip).<br />

4.2. Einzelne Standpunkte der Kommunitaristen<br />

Für Michael Sandel und die anderen Kommunitarier 4 ist das ungebun<strong>den</strong>e Selbst ein Irrtum.<br />

Kein Mensch kann in dem geforderten Sinne Abstand zu seiner Umwelt nehmen. Wir wer<strong>den</strong><br />

in eine konkrete soziale Gemeinschaft hineingeboren, in der es religiöse, geschichtliche u.ä.<br />

Überzeugungen gibt, deren Erbe wir antreten. Zum einen leben wir in einer Familie, weiter in<br />

einem Staat und schließlich unter Menschen. Dabei gehen wir alte Verpflichtungen ein, haben<br />

best<strong>im</strong>mte Rechte und adaptieren so Vorstellungen und Überzeugungen, die einen Teil<br />

unserer Person definieren. Die Gemeinschaft, so die kommunitaristische These ist konstitutiv<br />

für unseren Charakter: „Sich eine Person vorzustellen, die solcher konstitutiven Einbindung unfähig ist,<br />

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edeutet nicht, sich einen idealen, frei und rational Handeln<strong>den</strong> zu <strong>den</strong>ken, sondern sich eine Person ohne<br />

jeglichen Charakter…vorzustellen.“[Sandel zit. nach RS 21] Für Sandel läßt sich Rawls<br />

Differenzprinzip nicht <strong>auf</strong> <strong>des</strong>sen Grundlage begreifen: wenn wir nur unserem individuellen<br />

Glück nachstreben, warum sollten Ungleichheiten beseitigt wer<strong>den</strong>? Dabei betont Sandel, daß<br />

man nicht absolut durch die Gemeinschaft determiniert ist, man kann sich sehr wohl zu ihr<br />

stellen, doch nicht in dem Rawlschen Maße. Das Problem von heute besteht in einem<br />

„taumeln<strong>den</strong> Subjekt“. Es gilt ein Pr<strong>im</strong>at der Selbstverwirklichung, welches garantiert wird<br />

durch die Institutionen (Gerichte, Bürokratie), wobei gleichzeitig Wohlfahrt und Solidarität<br />

gefordert wer<strong>den</strong>. Bei<strong>des</strong> widerspricht sich aber[Sandel in RS 34]. In diesem Unvereinbarem<br />

taumeln wir unzufrie<strong>den</strong> in und her. Moral entsteht erst <strong>im</strong> Miteinander, ist an dieses<br />

gebun<strong>den</strong> und bedarf einer gemeinschaftlichen Einbindung <strong>des</strong> Individuums: es bedarf dafür<br />

eines <strong>Gemeinsinns</strong>. Das Bestehen <strong>auf</strong> individuelle Rechte zerstört dabei diesen Sinn. Um ein<br />

gutes und gerechtes Leben aller zu ermöglichen, brauchen wir <strong>den</strong> Gemeinsinn.<br />

Charles Taylor sagt, daß Recht <strong>auf</strong> Recht und Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft<br />

gleichrangig seien. Wir benötigen Institutionen, um <strong>den</strong> Gemeinsinn zu fördern,<br />

Mitgestaltung an der Gesellschaft, d.h. <strong>im</strong> Sinne <strong>Hannah</strong> Arendt Handeln zu ermöglichen.<br />

Taylor nennt dabei vier Bedingungen an ein Gemeinwesen:<br />

1. Solidaritätsgefühl, d.h. die freiwillige Bindung an die Institutionen der Selbstregierung<br />

2. Partizipation, die gegen Entfremdung der Massengesellschaft einen Bürgersinn schafft<br />

3. gegenseitiger Respekt durch Aufhebung sozialer Ungleichheiten, <strong>den</strong>n nur dies ermöglicht<br />

die Partizipation aller und<br />

4. eine funktionierende Wirtschaftsordnung, wobei dem Kapitalismus in seiner durch 1-3<br />

abgeschwächten Form dem Vorrang gegeben wird.<br />

Ziel vieler Kommunitaristen ist eine Bürgergesellschaft, bei der zu dem geforderten<br />

Gemeinsinn als Grundlage, noch ein Bürgersinn, d.h. eine I<strong>den</strong>tifikation mit <strong>den</strong> staatlichen<br />

Institutionen und eine Bereitschaft, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Der<br />

Bürgersinn bezieht sich dabei nicht nur <strong>auf</strong> die Einrichtungen <strong>des</strong> Staatsapparates, sondern<br />

auch <strong>auf</strong> Partizipation außerhalb <strong>des</strong>sen, in Vereinen, Stiftungen und dergleichen.<br />

Wie bereits erwähnt ist der Kommunitarismus keine Schule, sondern vielmehr eine<br />

Zusammenfassung ähnlicher Argumente und Kritikpunkte am Liberalismus und einer<br />

Gesellschaft, die <strong>auf</strong> <strong>des</strong>sen Basis besteht. Dabei sind noch viele Punkte zu erwähnen,<br />

beispielsweise der Relativismus, der sich aus <strong>den</strong> kommunitaristischen Prinzipien ergibt und<br />

die verschie<strong>den</strong>en Antworten dar<strong>auf</strong> 4 . In vielerlei Hinsicht basieren diese Punkte <strong>auf</strong> <strong>den</strong><br />

anfänglich erwähnten Legit<strong>im</strong>ationsproblemen moderner Gesellschaften. Auch<br />

Kommunitaristen müssen sich die Frage vorlegen: Wie und <strong>auf</strong> welcher Basis kommen wir zu<br />

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universellen moralischen Einsichten. Die Antworten ähneln der von <strong>Hannah</strong> Arendt: aus dem<br />

Gemeinsinn lassen z.B. essentielle kulturelle Prinzipien( wie z.B. von Martha Nußbaum<br />

<strong>auf</strong>gestellt) extrahieren. Dabei können wir uns also die Frage vorlegen:<br />

4.3. <strong>Hannah</strong> Arendt- Eine Kommunitaristin?<br />

Die Kommunitaristen berufen sich wenig <strong>auf</strong> <strong>Hannah</strong> Arendt, obwohl doch ihre <strong>Konzeption</strong><br />

<strong>des</strong> Menschen mit Gemeinsinn sehr viele Ähnlichkeiten mit kommunitarischen Argumenten<br />

<strong>auf</strong>weist. Zunächst ist die wesentliche Übereinst<strong>im</strong>mung die Situierung <strong>des</strong> Menschen in<br />

konkrete geschichtliche und soziale, also gemeinschaftliche Kontexte. Niemand wird für sich<br />

allein geboren, niemand lebt in sozialer Isolation. <strong>Hannah</strong> Arendt hätte sicherlich Rawls<br />

Theorie mit ähnlichen Argumenten verworfen. Das ungebun<strong>den</strong>e Selbst wäre ein sich aus der<br />

Wirklichkeit der Welt Entfernender. Gerechtigkeitsprinzipien sind Tatbestände <strong>des</strong><br />

Öffentlichen, sie ergeben sich aus gemeinsamer Gebun<strong>den</strong>heit aneinander und zueinander.<br />

Rawls Schleier ist in der Hinsicht ein a-sozialer und a-politischer Blick <strong>auf</strong> <strong>den</strong> Menschen, er<br />

wird der conditio humana nicht gerecht. Ich meine, Arendt würde auch <strong>den</strong> nach individueller<br />

Glückerfüllung streben<strong>den</strong> Menschen ablehnen. Die Bedingtheit <strong>des</strong> menschlichen Lebens,<br />

unter anderen sein zu müssen, läßt bloß individuelle Glücksbegriffe scheitern. Auch diese<br />

stehen in gemeinschaftlichen Kontexten, hängen davon ab. Sicherlich ist Glück nicht<br />

universalisierbar, es ist jedoch Teil der Sphäre menschlicher Angelegenheiten und damit zum<br />

großen Teil an das Öffentliche gebun<strong>den</strong>.<br />

Ähnlich <strong>Arendts</strong> Beschreibung <strong>des</strong> Sinnverlusts <strong>des</strong> Homo faber, wo alles Zwecken<br />

unterworfen ist und zum Mittel wer<strong>den</strong> kann, ist Alasdair MacIntyres Beschreibung <strong>des</strong><br />

Verlustes <strong>des</strong> Moralitätsumfel<strong>des</strong> in der Sprache: „Die Sprache der Moral [ist] aus einem<br />

Zustand der Ordnung in einen Zustand der Unordnung übergegangen.“[MacIntyre zit. nach<br />

RS 50] Moralität hat ihren Sinn verloren, sie wird zum Mittel der „Manipulation der<br />

Menschen“ [ebd.]. Die Begriffe wer<strong>den</strong> in einen Nutzenkontext umgedeutet: der Tod ist<br />

„Bezugszeitende“ (von Rente) oder „Sozialkapital“ für Gemeinsinn [siehe RS 104] oder<br />

„Humankapital“.<br />

Bei<strong>den</strong> gemeinsam ist die Kritik an einer Entpolitisierung <strong>des</strong> Menschen in der Moderne, vor<br />

allem in der Massengesellschaft. Wie bereits oben beschrieben ist die soziale I<strong>den</strong>tität und der<br />

Gemeinsinn am verschwin<strong>den</strong>, der Einzelne in das Private zurückgeworfen. Der Handelnde<br />

wird in einer funktional arbeiten<strong>den</strong> Bürokratie an der Mitgestaltung gehindert. Deshalb<br />

plädieren Arendt, wie die Kommunitaristen für stärkere Mitgestaltungsrechte, Abseits vom<br />

Kreuzen in der Wahlkabine. Doch hier unterschei<strong>den</strong> sich die Ansichten.<br />

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<strong>Hannah</strong> Arendt steht für eine Republik der Räte, welche verspricht, eine „vollkommen<br />

anderes Organisationsprinzip [zu sein], das von unten beginnt, sich nach oben fortsetzt und<br />

das schließlich zu einem Parlament führt.“[MG 132] Die Räte sollen wesentliche<br />

Entscheidungen treffen, <strong>im</strong> Gegensatz zu politisch „bedeutungslosen“ [ebd.] Kommunen.<br />

Kommunitaristen wollen verstärktes soziales Engagement in Vereinen o.ä. „Die Räte sagen: wir<br />

wollen mitbest<strong>im</strong>men. Wir wollen unsere St<strong>im</strong>me irgendwo in der Öffentlichkeit zu Gehör bringen. … Die Zelle, in der wir<br />

unser St<strong>im</strong>mzettel abgeben, ist zweifellos zu klein, <strong>den</strong>n in dieser Zelle ist nur Platz für einen. Die Parteien sind dafür ganz<br />

ungeeignet; da sind wir doch nur St<strong>im</strong>mvieh“[ebd.]<br />

<strong>Hannah</strong> Arendt ist Kritikerin <strong>des</strong> Parteiensystems. Der Parteigänger ist weniger ein<br />

Handelnder als ein Parteiprogramm Folgender. Das Parteiensystem bietet ihr zu wenig<br />

Mitgestaltung. Mit Blick <strong>auf</strong> Amerika sagte sie: „Das System der Repräsentation führte dazu, daß die<br />

Repräsentanten allein <strong>den</strong> politischen Raum konstituierten, ‚während das Volk, das sie abordnete und theoretisch<br />

der allein legit<strong>im</strong>e Inhaber der Macht war bestenfalls vor <strong>den</strong> Türen stehen durfte.’“[FH 160] Hier ist der<br />

Unterschied zu <strong>den</strong> Kommunitaristen. Sie wollen das Bestehende nur um Elemente der<br />

Partizipation erweitern.<br />

Insgesamt ist die Kritik am Bestehen<strong>den</strong> von Arendt und <strong>den</strong> Kommunitaristen ähnlich und<br />

aus gleicher Richtung kommend. Doch in der Veränderung, d.h. in <strong>den</strong> Schlüssen aus der<br />

Analyse unterschei<strong>den</strong> sie sich doch wesentlich. So muß die Frage, die diesem Teil voransteht<br />

wohl mit einem Nein beantwortet wer<strong>den</strong>.<br />

5. Schlußbemerkungen<br />

Ich habe in dieser Arbeit versucht, <strong>Hannah</strong> <strong>Arendts</strong> Begriff <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong> herauszuarbeiten<br />

und zu interpretieren. Man kann dem Vorwerfen, daß es eine Überhöhung <strong>des</strong> <strong>Gemeinsinns</strong><br />

sei, die in Richtung einer Metaphysik der Gemeinschaft ginge, wo doch der „gemeinschaftlich<br />

Sinn“, wie Kant sagt, nur einer Idee entspricht. Deshalb war es mein Ziel, zunächst <strong>Arendts</strong><br />

Menschenbild zu erklären und klar zu machen, daß wir „inter homines esse“ [VA 17] und <strong>den</strong><br />

Gemeinsinn gerade als notwendig, dieser Grundbedingung <strong>im</strong> Rücken liegend, zu<br />

präsentieren. Aus dem Sinne für die Gemeinschaft wird schließlich der Sinn der<br />

Gemeinschaft. An Hand der Darstellung <strong>des</strong> Kommunitarismus sollte eine mögliche<br />

konzeptionelle Konsequenz aus der Gemeinschaftsgebun<strong>den</strong>heit dargestellt und daran<br />

<strong>Arendts</strong> Schlüsse verglichen wer<strong>den</strong>. Die Umsetzung der Räterepublik hat durchaus<br />

problematische Aspekte, doch bleibt <strong>im</strong> Ergebnis der Untersuchung in jedem Fall die<br />

Notwendigkeit für mehr Mitgestaltung, um der Zuschauermentalität zu entgehen.<br />

Vielleicht sind wir gar nicht mehr so obdachlos, vielleicht haben Geld und Konsum bereits die<br />

Leerstelle Gottes besetzt, und das Güterstreben dem Leben die Sinnlosigkeit genommen.<br />

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Möglicherweise ist die Leerstelle nichts als eine intellektuelle Träne, die Eink<strong>auf</strong>stempel sind<br />

die neuen Kirchen gewor<strong>den</strong> und wir die ersten, die sich das Gute k<strong>auf</strong>en können.<br />

Doch glaube ich das nicht! <strong>Hannah</strong> Arendt hat uns auch dazu etwas zu sagen; die<br />

Unzufrie<strong>den</strong>heit <strong>des</strong> Massemenschen kommt nicht von ungefähr. Sie steht mit ihrer Antwort<br />

zwischen <strong>den</strong> Stühlen. Der Mensch kann dem Menschen ein Wolf sein, wenn der Gemeinsinn<br />

nicht funktioniert. Doch mit diesem hat er die Fähigkeit und die Chance, das Zwischen der<br />

menschlichen Angelegenheiten lebenswert einzurichten, seine Bezugsgewebe mit einem<br />

guten Muster zu versehen. Ich glaube <strong>Hannah</strong> Arendt hat einen geglückten Versuch<br />

angestellt, <strong>den</strong> Glauben an die Menschen zu erhalten, ohne einen Umweg über Gott gehen zu<br />

müssen. Das Gute und das Wahre sind nicht universell, sondern müssen von jeder Generation<br />

Handelnder neu gemeinsam gefun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>. Dies klappt nur mit funktionieren<strong>den</strong><br />

Gemeinsinn.<br />

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6. Anmerkungen und Literaturverzeichnis<br />

Anmerkungen<br />

1<br />

Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Frankfurt/Main 2004<br />

2<br />

Objektiv meint hier und <strong>im</strong> folgen<strong>den</strong> objekthaft und nicht allgemein wahr, frei von<br />

subjektiven Bedingungen.<br />

3<br />

Für Aristoteles ist der Mensch ein <strong>auf</strong> Gemeinschaft mit anderen ausgerichtetes Lebewesen,<br />

<strong>des</strong>sen höchstes Glück nur in der Gemeinschaft gefun<strong>den</strong> wer<strong>den</strong> kann.<br />

4<br />

Arendt bezieht sich <strong>auf</strong> die ursprüngliche Bedeutung von Privat und Eigentum. Im L<strong>auf</strong>e <strong>des</strong><br />

Aufstiegs <strong>des</strong> Kapitalismus ging die Bedeutung <strong>des</strong> Eigentums als Bindungsort verloren.<br />

5<br />

Ich glaube, das Schachspiel ist ein sehr gutes Gleichnis <strong>des</strong> öffentlichen Raumes und auch<br />

der anderen Bedingtheiten <strong>des</strong> Menschen. Man ist als Spieler zwar allein, doch um das Spiel,<br />

und damit der seine Existenz als Spieler zu sichren, bedarf es <strong>des</strong> Mitspielers. Beide sind<br />

durch Regeln <strong>des</strong> Spiels verbun<strong>den</strong>. Jede Handlung(Zug) beeinflußt die, <strong>des</strong> anderen.<br />

6<br />

Arendt findet in Kants Ästhetik Grundsätze für ihre politische Theorie. Ihr Begriff <strong>des</strong><br />

Handeln kann dabei mit dem Geschmacksurteil verglichen wer<strong>den</strong>: interesseloses<br />

Wohlgefallen(frei von Privatbedingungen), das subjektiv allgemeingültig, d.h. ohne Begriffe,<br />

ist und sich <strong>auf</strong> <strong>den</strong> Gemeinsinn gründet.<br />

7<br />

Ich folge hier der Liberalismusdarstellung von Sandel in AH und der von Reese-Schäfer.<br />

8<br />

Für Kant ist dies das transzen<strong>den</strong>tale Subjekt, daß sich einem moral. Gesetz verpflichtet.<br />

Kommunitarismus ist keine Schule. Vielmehr faßt man unter <strong>den</strong> Begriff gleiche Kritikpunkte<br />

verschie<strong>den</strong>er Autoren am Liberalismus und ähnliche Ansatzpunkte.<br />

Literaturverzeichnis<br />

Bücher von und zu <strong>Hannah</strong> Arendt:<br />

[VA] Arendt, <strong>Hannah</strong>: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2003.<br />

[MG] dies.: Macht und Gewalt. München 1994.<br />

[LGU] dies.: Vom Leben es Geistes. Das Urteilen. München 1985.<br />

[DB] Barley, Delbert: <strong>Hannah</strong> Arendt. Einführung in ihr Werk. Freiburg 1990.<br />

[FH] Hermenau, Frank: Urteilskraft als politisches Vermögen. Zu <strong>Hannah</strong> <strong>Arendts</strong> Theorie<br />

der Urteilskraft. Lüneburg 1999.<br />

[IN] Nordmann, Ingeborg: <strong>Hannah</strong> Arendt. Frankfurt/Main 1994.<br />

Zum Kommunitarismus<br />

[AH] Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen<br />

Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt/Main 1993.<br />

Schönherr-Mann, Hans-Martin: Postmoderne Theorien <strong>des</strong> Politischen. Pragmatismus,<br />

Kommunitarismus, Pluralismus. München 1996.<br />

[RS] Reese-Schäfer, Walter: Kommunitarismus. Frankfurt/Main 2001.<br />

Weber, Verena: Tugendethik und Kommunitarismus. Würzburg 2002.<br />

Weiterhin<br />

[IK] Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Stuttgart 1963.<br />

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