Bodhicitta hervorbringen_Gendun Rinpoche_Vortrag_de
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Lama Gendün Rinpotsche<br />
Der Erleuchtungsgeist<br />
alte Version<br />
überarbeitet unterm Namen:<br />
<strong>Bodhicitta</strong><br />
Diese Unterweisungen wur<strong>de</strong>n an einem Wochenen<strong>de</strong> im März 1990 in<br />
Dhagpo Kagyü Ling, Dordogne, in Frankreich gegeben.<br />
Gendün Rinpotsche spricht hierin auf leicht verständliche Weise darüber,<br />
welche Motivation und welche Qualitäten wir auf <strong>de</strong>m Weg zur Erleuchtung<br />
entwickeln müssen. Auch erklärt er, wie wir auf richtige Weise meditieren<br />
können und welche Geisteshaltung dabei angemessen ist.<br />
Der Text ist nur wenig überarbeitet. Eine genauere Überarbeitung wird in<br />
Zukunft vermutlich noch vorgenommen. Bis dahin darf er aber bereits an Interessierte<br />
weitergegeben, aber nicht veröffentlicht wer<strong>de</strong>n.
All jene, die Dharma praktizieren und Erleuchtung erlangen möchten, sollten ihr Leben<br />
auf die Ansammlung von Verdiensten für an<strong>de</strong>re grün<strong>de</strong>n. Wenn wir darauf beharren,<br />
nur zu unserem eigenem Nutzen zu han<strong>de</strong>ln, so tun wir nichts an<strong>de</strong>res, als uns im Daseinskreislauf<br />
zu drehen.<br />
Zunächst sollten wir die höchste Absicht, Erleuchtung zu erlangen, <strong>hervorbringen</strong>. Dann<br />
sollten wir uns bemühen, diese Absicht in die Tat umzusetzen. So machen wir wirklich<br />
Fortschritte, bis wir Erleuchtung erreichen. Absicht bezeichnet hier <strong>de</strong>n Wunsch, an<br />
einen bestimmten Ort zu gelangen. Wenn wir zum Beispiel nach Indien reisen möchten,<br />
so ist <strong>de</strong>r Moment, in <strong>de</strong>m wir diese I<strong>de</strong>e bekommen, <strong>de</strong>r Moment <strong>de</strong>s Wunsches o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>r Absicht. Alle Bemühungen, die wir dann unternehmen, um nach Indien zu gelangen,<br />
wie auch die Reise selbst, sind die Umsetzung unseres Wunsches.<br />
Höchste und vollkommene Erleuchtung erreichen zu wollen entspricht <strong>de</strong>r Absicht, so<br />
schnell wie möglich Buddhaschaft zu erlangen, um allen Wesen helfen zu können. Dies<br />
ist die Verpflichtung in Bezug auf die Frucht o<strong>de</strong>r das Resultat, das wir erreichen möchten,<br />
die wir allen Wesen gegenüber eingehen.<br />
Der nächste Schritt ist, diese erleuchtete Geisteshaltung in Bezug auf die gegenwärtige<br />
Praxis hervorzubringen: Wir engagieren uns tatsächlich in vollkommen heilsamen<br />
Handlungen von Körper, Re<strong>de</strong> und Geist – mit <strong>de</strong>m Wunsch, dadurch Erleuchtung für<br />
alle Wesen zu erreichen. Dies ist unsere Verpflichtung hinsichtlich <strong>de</strong>r höchsten Ursache,<br />
<strong>de</strong>nn all diese Handlungen wer<strong>de</strong>n die Ursache <strong>de</strong>r Erleuchtung sein, die wir suchen.<br />
Wenn wir <strong>de</strong>n Wunsch entwickeln, vollkommene Erleuchtung zu verwirklichen, so<br />
müssen wir bestimmte Punkte be<strong>de</strong>nken. Zunächst machen wir uns klar, daß überall da,<br />
wo es Raum gibt, Wesen leben, die ihrem unterschiedlichen Karma ausgeliefert sind,<br />
die von mannigfaltigen Emotionen angetrieben wer<strong>de</strong>n und die <strong>de</strong>shalb alle Arten von<br />
Leid erfahren. Dann <strong>de</strong>nken wir daran, daß alle diese leben<strong>de</strong>n Wesen – menschlicher<br />
o<strong>de</strong>r nichtmenschlicher Art – in unseren vorherigen Leben mehrmals unser Vater o<strong>de</strong>r<br />
unsere Mutter gewesen sind.<br />
Als diese Wesen unsere Eltern waren, haben sie uns dieselbe Zärtlichkeit und Hingabe<br />
gezeigt wie die Eltern dieses Lebens. Wenn wir ihre Güte für uns nicht zu schätzen<br />
wissen und <strong>de</strong>nken, daß sie uns ganz einfach zu ihrem eigenen Nutzen aufgezogen<br />
haben und daß sie so die Ursache für unser gegenwärtiges Leid sind, so zeigt dies, daß<br />
wir noch nicht genug über das Maß und die Art <strong>de</strong>r Güte nachgedacht haben, die unsere<br />
Eltern uns am Anfang unseres Lebens reichlich zukommen ließen. Bei unserer Geburt<br />
waren wir nackt, ohne Vorräte, Geld, Nahrung, ohne Kleidung und vielen Gefahren ausgeliefert.<br />
Dank <strong>de</strong>r Fürsorge unserer Mutter konnten wir am Leben bleiben. Sie hat sich<br />
voll und ganz um uns gekümmert, hat uns gewaschen, ernährt und ist all unseren Bedürfnissen<br />
nachgekommen: weiche und warme Kleidung, Trost usw. Sie hat uns auch<br />
vor allen Arten von Gefahren wie Feuer, Sturz und Verwundungen geschützt, die unser<br />
Leben bedrohen konnten. Wenn wir krank waren, tat sie ihr Bestes, um uns die nötige<br />
Pflege zukommen zu lassen. Sie hat sich mit Hingabe um ihr Kind gekümmert, ohne<br />
auch nur einen Gedanken an sich zu verschwen<strong>de</strong>n. Dank <strong>de</strong>r Güte unserer Eltern, die<br />
uns aufgezogen haben, sind wir in <strong>de</strong>r Lage, miteinan<strong>de</strong>r zu kommunizieren, zu gehen,<br />
unsere Bedürfnisse zu befriedigen und auf ganz normale Weise als menschliche Wesen<br />
zu leben.<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 2
All diese Wesen, die zum einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Zeitpunkt in <strong>de</strong>r Vergangenheit unsere<br />
Eltern waren, sind uns darin ähnlich, daß sie alle ohne Ausnahme Glück suchen und<br />
<strong>de</strong>m Leid entkommen wollen. Trotz dieses allgemeinen Wunsches sind sie auf Grund<br />
ihrer Unwissenheit nicht in <strong>de</strong>r Lage, zwischen Handlungen und ihren Folgen zu unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Daher wissen sie nicht, daß sie positive Handlungen ausführen müssen, wenn<br />
sie Glück wünschen, und daß sie negative Handlungen vermei<strong>de</strong>n sollten, wenn sie<br />
Lei<strong>de</strong>n verhin<strong>de</strong>rn möchten. Weil die Wesen diesen Zusammenhang zwischen Handlungen<br />
und ihren Ergebnissen außer Acht lassen, führen sie auf ihrer Suche nach Glück<br />
weiterhin negative Handlungen aus, woraus einzig und allein Leid resultiert. Deshalb<br />
kreisen sie endlos im Daseinskreislauf, gehen von einem Leben zum nächsten und<br />
erfahren für ewig unterschiedliche Lei<strong>de</strong>n.<br />
Wenn wir uns das bewußt machen, entwickeln wir mit <strong>de</strong>r erleuchteten Geisteshaltung<br />
<strong>de</strong>n Wunsch, alle diese Wesen vom Daseinskreislauf und <strong>de</strong>m Leid, das sie erfahren, zu<br />
befreien –und wir beschließen, die Energie unseres Körpers, unserer Re<strong>de</strong> und unseres<br />
Geistes für Handlungen zu verwen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren einziges Ziel die Befreiung aller Wesen<br />
ist. Es ist unsere Absicht, schnellstmöglich Befreiung zu erlangen, um die an<strong>de</strong>ren<br />
befreien zu können. Diese aufrichtige und sehr tiefgehen<strong>de</strong> Geisteshaltung, die nicht nur<br />
einfach ein Satz ist, <strong>de</strong>n wir von Zeit zu Zeit rezitieren, son<strong>de</strong>rn eine echte Motivation,<br />
die wir in <strong>de</strong>r Tiefe unseres Wesens entwickeln, sollte immer in unserem Geiste gegenwärtig<br />
sein, wenn wir die Unterweisungen Buddhas praktizieren.<br />
Immer wenn wir mit dieser ganz und gar reinen Motivation Belehrungen hören, über sie<br />
nach<strong>de</strong>nken o<strong>de</strong>r sie durch Meditation zur Praxis machen, folgen wir <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>r<br />
Bodhisattvas, <strong>de</strong>r direkt zur Erleuchtung führt. Wenn wir die Unterweisungen Buddhas<br />
praktizieren, sollten wir Folgen<strong>de</strong>s stets klar im Geist behalten:<br />
Wir wer<strong>de</strong>n dieser Praxis bis zum En<strong>de</strong> folgen, ohne auf halber Strecke aufzugeben,<br />
bis daß die höchste Frucht <strong>de</strong>r Praxis, Buddhaschaft, voll und<br />
ganz verwirklicht ist, damit wir fähig wer<strong>de</strong>n, alle Wesen zur Erleuchtung<br />
zu führen.<br />
Diese Verpflichtung erfor<strong>de</strong>rt viel Mut und einen entschlossenen Geist. Wir brauchen<br />
viel Ausdauer, ohne an unserer Fähigkeit zu zweifeln, daß wir Erleuchtung verwirklichen<br />
und alle Wesen dorthin führen können. Dafür brauchen wir auch ein tiefes Vertrauen.<br />
Wenn wir diese reine Motivation ständig im Geist gegenwärtig haben, wer<strong>de</strong>n<br />
sowohl unsere spirituelle Aktivität als auch alle unsere alltäglichen Aktivitäten zu vollkommenen<br />
Mitteln, um Erleuchtung zu erlangen. Wenn wir uns unablässig fragen, wie<br />
wir an<strong>de</strong>ren behilflich sein können, so brauchen wir uns nicht mehr um unser eigenes<br />
Wohl zu sorgen, <strong>de</strong>nn dies wird sich dabei ganz spontan ergeben.<br />
In<strong>de</strong>m wir an<strong>de</strong>ren helfen, entwickeln wir auch die Möglichkeiten, die höchste Natur<br />
<strong>de</strong>s Geistes zu erkennen. Diese Verwirklichung <strong>de</strong>r wahren Natur <strong>de</strong>s Geistes<br />
ermöglicht es uns dann, uns in mannigfaltiger Form und in unendlich vielen Situationen<br />
zu manifestieren, um <strong>de</strong>n Wesen zu helfen. Wir wer<strong>de</strong>n zu einem Buddha, <strong>de</strong>r diese<br />
Verwirklichung in <strong>de</strong>r Form von Körpern, die zum Wohle <strong>de</strong>r Wesen han<strong>de</strong>ln, manifestieren<br />
kann.<br />
Wir können uns natürlich fragen, ob es wahr ist, daß wir wirklich Erleuchtung erlangen<br />
wer<strong>de</strong>n, wenn wir unseren persönlichen Vorteil völlig vergessen und uns ausschließlich<br />
<strong>de</strong>m Wohle an<strong>de</strong>rer widmen. Dies steht außer Frage – <strong>de</strong>r historische Buddha bestätigte<br />
dies und ging als Beispiel voran, in<strong>de</strong>m er je<strong>de</strong> Form von persönlichem Vorteil aufgab,<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 3
um sich voll und ganz <strong>de</strong>m Verwirklichen <strong>de</strong>r Erleuchtung zu widmen. Der Buddha<br />
sprach:<br />
Diejenigen, die sich weiterhin nur um ihren eigenen Vorteil sorgen, ohne<br />
sich um das Wohl an<strong>de</strong>rer zu kümmern, verhalten sich wie Kin<strong>de</strong>r und<br />
wer<strong>de</strong>n weiter im Daseinskreislauf kreisen.<br />
Wenn wir wie Buddha han<strong>de</strong>ln, geben wir je<strong>de</strong> Art von Selbstzufrie<strong>de</strong>nheit auf, je<strong>de</strong><br />
Form von persönlichem Gewinn, um uns ganz <strong>de</strong>m Wohle an<strong>de</strong>rer zu widmen. Alles<br />
wird zu Gunsten an<strong>de</strong>rer geopfert, die positiven Umstän<strong>de</strong>, die Erfolge o<strong>de</strong>r das Ansehen,<br />
das wir genießen. Wenn es zu Nie<strong>de</strong>rlagen, Problemen o<strong>de</strong>r Hin<strong>de</strong>rnissen kommt,<br />
nehmen wir alle Schwierigkeiten auf uns. Wir geben je<strong>de</strong> negative Haltung auf und<br />
widmen uns mit Körper, Re<strong>de</strong> und Geist uneingeschränkt einer positiven Aktivität zum<br />
Wohl <strong>de</strong>r Wesen. So können wir sicher sein, die vollkommene Buddhanatur zu<br />
verwirklichen.<br />
Im entgegengesetzten Fall bleiben wir unreif und ignorant; wir han<strong>de</strong>ln weiterhin unter<br />
egozentrischen Einfluß und wollen unsere Handlungsmöglichkeiten zugunsten an<strong>de</strong>rer<br />
nicht sehen. Unsere einzige Sorge besteht darin, größer, reicher und mächtiger zu<br />
wer<strong>de</strong>n, unseren Ruf zu bewahren – und wir gehen davon aus, daß es die Aufgabe <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren ist, auftreten<strong>de</strong> Schwierigkeiten zu ertragen, und versuchen, angenehme Situationen<br />
und Erfolge auf uns zu lenken. Den Wunsch, zum Wohle an<strong>de</strong>rer zu han<strong>de</strong>ln,<br />
verlieren wir dann ganz aus <strong>de</strong>n Augen. Unsere einzige Sorge gilt <strong>de</strong>r Sicherung unserer<br />
Vorteile und wir haben keine Be<strong>de</strong>nken, an<strong>de</strong>re zu verletzen o<strong>de</strong>r ihnen zu scha<strong>de</strong>n, um<br />
unsere Interessen zu befriedigen. Eine solche Haltung schafft nur wie<strong>de</strong>r neue Ursachen,<br />
die <strong>de</strong>n Daseinskreislauf und seine Lei<strong>de</strong>n fortdauern lassen.<br />
Daher sollten wir – unabhängig von unserer jeweiligen Aktivität – niemals die grundlegen<strong>de</strong>n<br />
Qualitäten von Liebe und Mitgefühl aufgeben. Liebe ist <strong>de</strong>r Wunsch, daß sich<br />
alle Wesen in einem Zustand von vollkommenem, andauern<strong>de</strong>m Glück befin<strong>de</strong>n mögen.<br />
Mitgefühl steht für <strong>de</strong>n Wunsch, daß alle Wesen vom Leid und <strong>de</strong>n Handlungen,<br />
die sie in dieses Leid stürzen, befreit wer<strong>de</strong>n mögen.<br />
Wir sollten immer prüfen, was sich in unserem Geist abspielt, und sollten fähig sein, unsere<br />
Motivation bei je<strong>de</strong>r Gelegenheit zu untersuchen. Bewegt uns wirklich die Absicht,<br />
<strong>de</strong>n Wesen zu Hilfe zu kommen? O<strong>de</strong>r haben wir eine Haltung, die ihnen scha<strong>de</strong>n<br />
möchte? Es ist wichtig, sich auf diese Art zu überprüfen. Sonst laufen wir Gefahr, uns<br />
zu täuschen, in<strong>de</strong>m wir glauben, eine positive Geisteshaltung zu haben und auf heilsame<br />
Art zu han<strong>de</strong>ln, während unsere Geisteshaltung in Wirklichkeit negativ, selbstbezogen<br />
und ohne wirkliches Interesse an an<strong>de</strong>ren ist. Es steht also an, eine ehrliche und echte<br />
Untersuchung unserer Geisteshaltung durchzuführen.<br />
Wenn wir beobachten, was sich abspielt, wenn wir nur an uns <strong>de</strong>nken und nur zu unserem<br />
eigenen Nutzen han<strong>de</strong>ln, so nehmen wir wahr, daß unsere Handlungen das selbstbezogene<br />
Anhaften aufrechterhalten und verstärken. Solches Verhalten ist völlig sinnlos<br />
und obendrein verantwortlich für unser Herumirren im Daseinskreislauf. Wenn unser<br />
Han<strong>de</strong>ln kein an<strong>de</strong>res Ziel hat, als diese Anhaftung zu verstärken und zu unterstützen,<br />
so hält es nur das Lei<strong>de</strong>n aufrecht. Deshalb ist es sehr wichtig, die feste Absicht zu<br />
entwickeln, das egozentrische Habenwollen zu zerstören. Dafür widmen wir uns vollkommen<br />
mit unserem Körper, unserer Re<strong>de</strong> und unserem Geist <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>r Wesen.<br />
Wir versuchen, auf je<strong>de</strong> Form von Selbstzufrie<strong>de</strong>nheit zu verzichten und niemals<br />
an<strong>de</strong>ren Scha<strong>de</strong>n zuzufügen.<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 4
Es ist von grundlegen<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, daß wir unseren Geist sorgfältig untersuchen und<br />
daß wir uns immer wie<strong>de</strong>r fragen, ob wir <strong>de</strong>n ehrlichen Wunsch haben, an<strong>de</strong>ren zu helfen<br />
o<strong>de</strong>r ob wir versuchen, ihnen zu scha<strong>de</strong>n. So können wir sofort auf eine negative<br />
Ten<strong>de</strong>nz einwirken, sobald wir sie erkennen. Wir können es vermei<strong>de</strong>n, sie in die Tat<br />
umzusetzen und eine immer stabiler wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> altruistische Motivation entwickeln.<br />
Wenn wir jedoch versuchen, zum Wohle an<strong>de</strong>rer zu wirken und gleichzeitig eine negative<br />
Geisteshaltung haben, so ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt, <strong>de</strong>nn die Absicht,<br />
zum Wohle an<strong>de</strong>rer zu wirken, nährt in diesem Fall <strong>de</strong>n selbstbezogenen Wunsch,<br />
nur für sich selbst Vorteile zu haben. Deshalb ist es ganz wichtig, <strong>de</strong>n Geist von allen<br />
negativen Ten<strong>de</strong>nzen zu befreien, die ihn daran hin<strong>de</strong>rn, die Qualität von lieben<strong>de</strong>r Güte<br />
zu entwickeln.<br />
Liebe ist nicht einfach nur eine Absicht. Wir müssen sie auch im Han<strong>de</strong>ln kultivieren,<br />
sie in die Tat umsetzen: Wir nutzen also unseren Körper, unsere Re<strong>de</strong> und unseren Geist<br />
für heilsames Han<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>ssen positives Resultat wir allen Wesen widmen, damit sie so<br />
schnell wie möglich Erleuchtung erreichen. Wir verstärken so <strong>de</strong>n Wunsch, daß unsere<br />
reine Motivation wirklich zum Wohl <strong>de</strong>r Wesen wirken möge. Liebe ist hierbei nicht<br />
nur eine Geisteshaltung, son<strong>de</strong>rn beinhaltet auch das Han<strong>de</strong>ln zum dauerhaften Glück<br />
<strong>de</strong>r Wesen.<br />
Wenn wir Mitgefühl entwickeln, müssen wir verstehen, daß die Wesen in ihrer<br />
Vergangenheit viele verschie<strong>de</strong>ne Handlungen ausgeführt haben und daß sie sich in<br />
einer Vielfalt von Bedingungen entwickeln. Aufgrund <strong>de</strong>r Vielfalt ihrer vergangenen<br />
Handlungen erfahren sie unterschiedliche Arten von gegenwärtigem Leid; und die Verschie<strong>de</strong>nartigkeit<br />
<strong>de</strong>r gegenwärtigen Situationen führt dazu, daß sie unterschiedliche<br />
Handlungen ausführen, welche die Ursache für mannigfaltige Situationen in <strong>de</strong>r Zukunft<br />
sein wer<strong>de</strong>n. Folglich gibt es eine Vielfalt von Leid und von Daseinszustän<strong>de</strong>n.<br />
Alle Daseinszustän<strong>de</strong> beinhalten Leid. Aus diesem Grund formulieren wir <strong>de</strong>n Wunsch,<br />
daß alle Lebewesen nicht nur von ihrem Leid vollkommen befreit wer<strong>de</strong>n mögen, son<strong>de</strong>rn<br />
auch von <strong>de</strong>n Ten<strong>de</strong>nzen ihres Geistes, die sie dazu antreiben, immer wie<strong>de</strong>r Leid<br />
verursachen<strong>de</strong> Handlungen auszuführen. So entwickeln wir ständig, Tag und Nacht, <strong>de</strong>n<br />
Wunsch, fähig zu wer<strong>de</strong>n, ihnen dabei zu helfen, als auch <strong>de</strong>n Wunsch, daß die Wesen<br />
in ihrem Seinsstrom positive Ten<strong>de</strong>nzen <strong>hervorbringen</strong> mögen, die zu positiven Handlungen,<br />
<strong>de</strong>n Ursachen für künftiges Glück, führen.<br />
Aber allein die Absicht, die Wesen vom Leid zu befreien, genügt nicht. Wir müssen<br />
diese Absicht noch zur Praxis machen. Wenn wir die Wesen wirklich aus <strong>de</strong>m Daseinskreislauf<br />
befreien wollen, müssen wir selbst vom Leid befreit sein. Ohne selbst aus <strong>de</strong>m<br />
Daseinskreislauf befreit zu sein, wird es uns nicht gelingen, an<strong>de</strong>ren wirklich zu helfen.<br />
So müssen wir uns zunächst von unserem eigenen Leid und je<strong>de</strong>r Art von negativen<br />
Han<strong>de</strong>ln befreien. Wir hören auf, unseren Körper, unsere Re<strong>de</strong> und unseren Geist für<br />
negative Handlungen zu benutzen, und bemühen uns ständig um das Ausführen heilsamer<br />
Handlungen. Und wir versuchen, auf an<strong>de</strong>re in diesem Sinne einzuwirken, in<strong>de</strong>m<br />
wir ihnen mit verschie<strong>de</strong>nsten Mitteln Situationen gestalten, die sie nutzen können, um<br />
Tugend zu kultivieren, was die Ursache für ihr zukünftiges Glück sein wird, und negative<br />
Handlungen zu vermei<strong>de</strong>n, die ihnen nur Leid bringen. Wenn wir unsere ganze<br />
Energie in diesem Sinne nutzen, wird es uns gelingen, an<strong>de</strong>re von Leid zu befreien.<br />
Dies ist die Praxis von Mitgefühl.<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 5
Dieses Wohlwollen sollte auf alle Lebewesen ausge<strong>de</strong>hnt wer<strong>de</strong>n, wer immer sie auch<br />
seien, ohne je<strong>de</strong> Ausnahme und mit völligen Gleichmut. Wir sollten we<strong>de</strong>r Vorlieben<br />
o<strong>de</strong>r Abneigung haben, noch sollten wir <strong>de</strong>nken, daß wir zu unseren Freun<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r unserer<br />
Familie freundlich sein sollten, während wir die ablehnen, die unsere Fein<strong>de</strong> sind<br />
o<strong>de</strong>r die wir nicht mögen, und wir diejenigen, die wir nicht kennen, ganz außer Acht<br />
lassen. Überall dort, wo es Raum gebt, leben unendlich viele Wesen, und es sollte unsere<br />
Absicht sein, all diesen Wesen gegenüber – wo und wer immer sie auch seien – eine<br />
heilsame Aktivität zu entwickeln.<br />
Der vollkommen gleichmütige, wohlwollen<strong>de</strong> Geist <strong>de</strong>s Bodhisattva ist kein einfaches<br />
Gefühl o<strong>de</strong>r ein gewöhnlicher menschlicher Geisteszustand. Alle Wesen besitzen eine<br />
gewisse Form von Liebe und Mitgefühl, die sich jedoch auf die richtet, die sie lieben<br />
und zu <strong>de</strong>nen eine enge Beziehung besteht. Selbst wil<strong>de</strong> Tiere, wie Tiger, empfin<strong>de</strong>n<br />
Liebe und Mitgefühl für ihre Jungen: Von dieser Art von Liebe und Mitgefühl angetrieben,<br />
jagen sie, bekämpfen sich und töten an<strong>de</strong>re Wesen, um ihre Nachkommenschaft<br />
zu beschützen und zu ernähren. Dies ist nur ein Gefühl weltlicher Voreingenommenheit,<br />
ohne Bezug zur echten Liebe und zum echten Mitgefühl <strong>de</strong>s Bodhisattva.<br />
Wenn wir einen Geist von Liebe und Güte kultivieren, dann wer<strong>de</strong>n alle unsere von<br />
dieser heilsamen Einstellung beeinflußten Handlungen ein höchst positives Ergebnis<br />
haben. Wenn wir auf <strong>de</strong>m Pfad zur Erleuchtung vorankommen wollen, müssen wir uns<br />
zunächst in diesem reinen Geisteszustand von grundlegen<strong>de</strong>r Güte hineinbegeben.<br />
„Reiner Geisteszustand“ be<strong>de</strong>utet, daß wir in unserem Geist keine aggressiven Gedanken<br />
o<strong>de</strong>r Ten<strong>de</strong>nzen, an<strong>de</strong>ren zu scha<strong>de</strong>n, zulassen und daß wir in unserem Wesensstrom<br />
unablässig <strong>de</strong>n Wunsch entwickeln, heilsame Aktivitäten auszuführen.<br />
Wenn wir bei unseren Anstrengungen, an<strong>de</strong>ren zu helfen, Hin<strong>de</strong>rnissen begegnen o<strong>de</strong>r<br />
wenn Schwierigkeiten auftreten, dann kann ein Gefühl von Verbitterung und Enttäuschung<br />
aufkommen, ein Zustand von Frustration. Statt uns entmutigen zu lassen, sollten<br />
wir einfach mit unseren momentanen Fähigkeiten unser Bestes tun und uns wünschen,<br />
später mit weitreichen<strong>de</strong>ren Fähigkeiten han<strong>de</strong>ln zu können, die es uns wirklich<br />
ermöglichen, <strong>de</strong>n Wesen zu Hilfe zu kommen, <strong>de</strong>nen wir momentan nicht helfen<br />
können.<br />
Welcher Art auch immer unsere Handlungen sind, wir müssen uns die Mühe machen,<br />
uns selbst zu beobachten und unseren eigenen Geisteszustand zu betrachten. Das ist<br />
nicht so leicht. Der Geist ist äußerst schwer zu erfassen, <strong>de</strong>nn er ist uns sehr nahe. Wenn<br />
wir physisch von ihm getrennt wären, fiele es uns leichter, ihn zu sehen. Unsere Wahrnehmungsfähigkeit<br />
ist ausschließlich nach außen gerichtet und verursacht naturgemäß<br />
die Neigung in uns, die Welt und die Wesen außerhalb von uns selbst zu beobachten, zu<br />
kritisieren und zu beurteilen. In <strong>de</strong>r Tat ist es sehr viel schwieriger, sich selbst zu betrachten<br />
und die Gedanken zu sehen, die kommen und gehen, <strong>de</strong>nn wir haben keinen<br />
physischen Blick, <strong>de</strong>r in unser Inneres gerichtet ist. Es ist sehr wichtig, die Fähigkeit <strong>de</strong>r<br />
Schau nach innen zu entwickeln, das Vermögen unseren Geist klar zu sehen. Wir<br />
müssen dies Schritt für Schritt tun.<br />
Solange es uns nicht gelingt, unseren Geist klar zu betrachten, bleiben wir in völliger<br />
Unkenntnis über unseren wahren Geisteszustand. Wir können uns einbil<strong>de</strong>n, voller<br />
Qualitäten zu sein, eine vollkommene altruistische Motivation zu haben, und können<br />
<strong>de</strong>nken, daß wir immer zum Wohle <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren han<strong>de</strong>ln. Fehler und Negativitäten<br />
nehmen wir fast nur bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren wahr, <strong>de</strong>nn unsere Achtsamkeit konzentriert sich<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 6
auf das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Wir ent<strong>de</strong>cken zahlreiche Fehler bei ihnen: Der eine<br />
han<strong>de</strong>lt nicht korrekt, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re hat eine schlechte Motivation und <strong>de</strong>r dritte verhält<br />
sich falsch, usw. Wir entwickeln <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren gegenüber eine kritische Haltung, was<br />
Zorn, Eifersucht und Verärgerung diesen Personen gegenüber entstehen läßt.<br />
Ein Geisteszustand, <strong>de</strong>r durch stören<strong>de</strong> Gefühle <strong>de</strong>rart verwirrt ist, ist die Quelle von<br />
Schwierigkeiten und läßt uns in einem ständig von uns selbst aufrechterhaltenem Leid<br />
versinken. Der Geist befin<strong>de</strong>t sich unter <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>r fünf Geistesgifte wie Stolz,<br />
Eifersucht, Begier<strong>de</strong>, Unwissenheit und Wut. Aufgrund <strong>de</strong>s Hervorbringens dieser fünf<br />
Arten von stören<strong>de</strong>n Gefühlen projizieren wir unseren verwirrten Geisteszustand auf<br />
an<strong>de</strong>re und unsere Sicht <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren ist gefärbt durch unseren emotionalen Zustand:<br />
Wir sehen sie voller Emotionen, voller Stolz, Eifersucht und Zorn. Diese Geisteshaltung<br />
bringt uns viel Leid, in <strong>de</strong>m Maße, wie sie dauernd <strong>de</strong>n Geist verwirrt und damit ein<br />
sehr negatives Karma schafft. Dies hängt grundlegend damit zusammen, daß es uns<br />
nicht möglich ist, unsere inneren Haltungen zu sehen und daß wir keine achtsame Prüfung<br />
unseres Geisteszustan<strong>de</strong>s vornehmen.<br />
Das Vermögen, unseren eigenen Geist beobachten zu können, nennt man das Auge <strong>de</strong>r<br />
Weisheit: Es ist die Fähigkeit, uns zu untersuchen und zu erkennen, wie wir unsere negativen<br />
Geisteszustän<strong>de</strong> auf die Ereignisse und die Wesen im Außen projizieren. Die<br />
Entwicklung <strong>de</strong>s Weisheitsauges ermöglicht uns das Verständnis, daß alle Fehler, die<br />
wir bei an<strong>de</strong>ren wahrnehmen, nur <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rschein unserer eigenen Negativitäten sind.<br />
Bisher haben wir uns immer für jeman<strong>de</strong>n Besseres gehalten. Wenn wir uns jedoch bewußt<br />
wer<strong>de</strong>n, daß all die Negativität, die wir bei an<strong>de</strong>ren bemerken, nur <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rschein<br />
unserer eigenen stören<strong>de</strong>n Gefühle ist, wird unser Stolz zur Ruhe kommen.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Stolz abnimmt, beruhigen sich die an<strong>de</strong>ren Arten von Emotionen, was<br />
folglich Platz schafft für Ruhe und Stabilität <strong>de</strong>s Geistes – Ruhe, weil wir die stören<strong>de</strong>n<br />
Gefühle, die <strong>de</strong>n Geist verwirren, besänftigt haben wer<strong>de</strong>n, – und Stabilität, weil wir fähig<br />
sein wer<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m Zustand <strong>de</strong>r Ruhe zu verweilen. Wenn wir in uns viele Qualitäten<br />
bemerken, so ist das ein Zeichen dafür, daß <strong>de</strong>r Geist sich unter <strong>de</strong>m Einfluß zahlreicher<br />
Fehler und Negativitäten befin<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>nn diese Qualitäten, die wir zu besitzen glauben,<br />
verraten lediglich das Vorhan<strong>de</strong>nsein von Stolz.<br />
Wenn wir hingegen viele Fehler in unserem Geist wahrnehmen, so ist das ein gutes Zeichen,<br />
eine Qualität, <strong>de</strong>nn wir kultivieren so die Fähigkeit, uns von Fehlern zu befreien<br />
und sie zu reinigen. Wir können dies mit einer Person vergleichen, die, obwohl sie<br />
Schmutz im Gesicht hat, stolz auf <strong>de</strong>r Straße spazierengeht und sich <strong>de</strong>s Schmutzes im<br />
Gesicht nicht bewußt ist. Nur dank eines Spiegels kann sie feststellen, daß ihr Gesicht<br />
schmutzig ist, und kann es dann säubern. Wenn wir uns unserer Negativitäten nicht bewußt<br />
sind, ist es absolut unmöglich, daß wir uns von ihnen befreien. Wenn wir sie hingegen<br />
wahrnehmen, entwickeln wir das Bestreben und die Fähigkeit, sie aufzulösen.<br />
Von da an ist es möglich, ein Buddha zu wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn ein Buddha ist ein Wesen, das<br />
jegliche Art von Fehlern, Schleiern o<strong>de</strong>r Negativitäten vollkommen aufgelöst hat, wohingegen<br />
<strong>de</strong>r Geist eines gewöhnlichen Wesens von Fehlern und Negativitäten befleckt<br />
bleibt.<br />
Wir müssen unseren Geist trainieren, damit dies automatisch abläuft. Je<strong>de</strong>smal wenn ein<br />
Gedanke o<strong>de</strong>r eine reine Absicht auftaucht, zu welcher Zeit und unter welchen Umstän<strong>de</strong>n<br />
auch immer, sollten wir dies sofort <strong>de</strong>m Wohle an<strong>de</strong>rer opfern. Wenn wir auf<br />
Negativität treffen, sollten wir sie auf uns nehmen. Wenn wir uns eine solche Haltung<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 7
zu eigen machen, han<strong>de</strong>ln wir wie ein Bodhisattva, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Austausch von sich mit <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>ren praktiziert. Diese Haltung <strong>de</strong>s Sich und An<strong>de</strong>re Austauschens – an<strong>de</strong>ren alle<br />
Vorteile zukommen zu lassen, mit <strong>de</strong>nen wir begünstigt sind, und selbst alle Verluste<br />
und Schwierigkeiten zu akzeptieren, mit <strong>de</strong>nen wir konfrontiert sind – steht im Gegensatz<br />
zu unseren gewohnten Ten<strong>de</strong>nzen. Sie pflanzt in uns <strong>de</strong>n Samen <strong>de</strong>s erleuchteten<br />
Geistes: Alle fühlen<strong>de</strong>n Wesen wer<strong>de</strong>n so zur Wurzel <strong>de</strong>s Hervorbringens von <strong>Bodhicitta</strong>,<br />
das die Blätter und Blüten <strong>de</strong>r Verwirklichung <strong>de</strong>s Dharmakaya zur Entfaltung<br />
bringen wird. Es gibt keinen Zweifel daran, daß wir durch solch eine Haltung eines<br />
Tages die höchste Frucht erfahren wer<strong>de</strong>n.<br />
Wenn wir <strong>Bodhicitta</strong> entwickeln, sollten wir uns auch in Geduld üben, sonst können wir<br />
diese erleuchtete Haltung verlieren. Wenn jemand aggressiv zu uns ist o<strong>de</strong>r versucht,<br />
uns zu scha<strong>de</strong>n, sollten wir es vermei<strong>de</strong>n, die Geduld zu verlieren und sollten Folgen<strong>de</strong>s<br />
in Betracht ziehen: Wenn uns jemand jetzt scha<strong>de</strong>n will, so haben wir in <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />
<strong>de</strong>n Grund für diese Situation geschaffen. Die Konfliktsituation ist keinem an<strong>de</strong>rn<br />
zuzuschreiben, son<strong>de</strong>rn sie ist das Resultat unserer eigenen vergangenen Handlungen.<br />
Angesichts <strong>de</strong>s Reifwer<strong>de</strong>ns schwieriger Situationen, sprechen wir <strong>de</strong>n Wunsch aus, uns<br />
von vergangenen negativen Handlungen zu reinigen. Dem Angreifer gegenüber entwickeln<br />
wir Mitgefühl, in<strong>de</strong>m wir wünschen, daß die negative karmische Frucht seines<br />
gegenwärtigen Zorns für uns und nicht für ihn reife. Wenn wir die Kontrolle über uns<br />
verlieren und in Zorn geraten, sollten wir versuchen, uns daran zu erinnern, daß die Person,<br />
die dieses Gefühl hervorruft, <strong>de</strong>m Lama ähnlich ist, da sie es uns ermöglicht, uns<br />
darüber bewußt zu wer<strong>de</strong>n, daß wir noch nicht genügend Geduld entwickelt haben. Wir<br />
sollten einer solchen Person dankbar sein, <strong>de</strong>nn wir brauchen schwierige Situationen als<br />
Unterstützung, um die Qualitäten hervorzubringen, die auf <strong>de</strong>m Weg zur Buddhaschaft<br />
zu entwickeln sind. Wenn uns niemand angreifen o<strong>de</strong>r provozieren wür<strong>de</strong>, wäre es uns<br />
unmöglich, geeignete Bedingungen zu fin<strong>de</strong>n, um Geduld zu entwickeln. Ohne Wesen,<br />
die Leid erfahren, wäre es uns ebenfalls unmöglich, Mitgefühl zu entwickeln. Um die<br />
verschie<strong>de</strong>nen Qualitäten <strong>de</strong>s Weges zu kultivieren, nutzen wir daher alle Situationen.<br />
Alle Wesen ohne Ausnahme versuchen, Leid zu vermei<strong>de</strong>n und Glück zu erlangen.<br />
Trotz dieser Anstrengungen entziehen sich Glück und Leid völlig unserer Kontrolle,<br />
<strong>de</strong>nn unsere gegenwärtige Situation und Erfahrung hängen vollkommen von unseren<br />
vergangenen Handlungen und <strong>de</strong>m Karma ab, das wir in unseren früheren Leben angesammelt<br />
haben. Buddha Shakyamuni sprach:<br />
Wenn wir wissen möchten, welches unsere vergangenen Handlungen waren,<br />
genügt es, unsere gegenwärtige Situation zu betrachten. Wenn wir unsere<br />
zukünftigen Lebensbedingungen kennenlernen möchten, müssen wir von <strong>de</strong>n<br />
Handlungen ausgehen, die wir zur Zeit verrichten.<br />
Alles was wir erfahren, ist das direkte Resultat vergangener Handlungen. Die Kraft<br />
dieser Handlungen schafft all die Lebensbedingungen, die wir zur Zeit erfahren. Durch<br />
eine achtsame Überprüfung unserer gegenwärtigen Lebensbedingungen – Gesundheit,<br />
Krankheit, Glück, Traurigkeit usw. – können wir ziemlich klar schließen, welches unsere<br />
vergangenen Handlungen waren.<br />
Karma ist we<strong>de</strong>r etwas Erwünschtes, noch etwas, was sich willkürlich ereignet. Es<br />
han<strong>de</strong>lt sich um ein natürliches und spontan zur Wirkung kommen<strong>de</strong>s Gesetz. Welche<br />
Handlung auch immer ausgeführt wird, sie zieht ein Karma nach sich. Je<strong>de</strong>r versucht,<br />
Leid zu vermei<strong>de</strong>n und Glück zu erlangen, aber trotz aller Anstrengungen treten die<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 8
erwarteten Ergebnisse nicht ein, <strong>de</strong>nn unser momentanes Glück o<strong>de</strong>r Leid hängen nicht<br />
von <strong>de</strong>n Handlungen ab, die wir jetzt ausführen. Wir können das Glück nicht kontrollieren.<br />
Selbst wenn es uns gelegentlich gelingt, ein wenig Glück zu erlangen und<br />
Leid zu vermei<strong>de</strong>n, so sind die meisten in einer Situation wirken<strong>de</strong>n Kräfte nicht unter<br />
unserer Kontrolle. Das liegt daran, daß alle Bedingungen vom Gesetz <strong>de</strong>s Karma gelenkt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Je<strong>de</strong> Handlung bringt ein beson<strong>de</strong>res Resultat mit sich und dieses Resultat wird unvermeidlich<br />
vom Urheber <strong>de</strong>r Handlung erfahren. Es ist unmöglich, Resultate von Handlungen<br />
zu erfahren, die von an<strong>de</strong>ren begangen wor<strong>de</strong>n sind. Je<strong>de</strong> Form von heilsamer<br />
Handlung bewirkt unweigerlich ein positives und glückliches Resultat, und umgekehrt<br />
rufen alle nichtheilsamen Handlungen unausweichlich Leid hervor. Diese doppelte Verknüpfung<br />
“Heilsames Han<strong>de</strong>ln – Glück“ und „Nichtheilsames Han<strong>de</strong>ln – Leid“ ist absolut<br />
unumstößlich, diese Aspekte sind immer untereinan<strong>de</strong>r auf diese Art verbun<strong>de</strong>n. Es<br />
verhält sich wie mit <strong>de</strong>m Säen <strong>de</strong>r Samen eines Orangenbaumes und eines Apfelbaumes.<br />
Je<strong>de</strong>r Same wird beim Keimen zu einem Baum, <strong>de</strong>r das Erscheinen von entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Früchten bewirkt: Es ist nicht möglich, Orangen auf <strong>de</strong>m Apfelbaum zu bekommen<br />
und umgekehrt. Wenn wir <strong>de</strong>n Wunsch haben, Leid zu vermei<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n wir<br />
je<strong>de</strong> Form von nichtheilsamen, schädlichen Handlungen aufgeben. Wünschen wir uns<br />
Glück, wer<strong>de</strong>n wir uns bemühen, jegliche Art von heilsamen, hilfreichen Handlungen<br />
auszuüben.<br />
Welchem Leid wir auch begegnen – Krankheiten, Hin<strong>de</strong>rnissen o<strong>de</strong>r Problemen – häufig<br />
bleiben wir darin stecken, haften daran und greifen danach. Wenn wir dies tun, bekommt<br />
das Leid eine beachtliche Be<strong>de</strong>utung, es wird riesengroß und vereinnahmt die<br />
Gesamtheit unseres Bewußtseinsfel<strong>de</strong>s. Das Festhalten von Leid vergrößert nur noch<br />
das Gefühl von Schmerz und läßt die Nie<strong>de</strong>rgeschlagenheit anwachsen.<br />
Im Gegensatz dazu kann Leid als Reifwer<strong>de</strong>n von negativem Karma betrachtet wer<strong>de</strong>n,<br />
das sich dank <strong>de</strong>r Güte <strong>de</strong>r Drei Juwelen in diesem Leben vollzieht. In diesem<br />
menschlichen Leben ist das Ausmaß unseres Lei<strong>de</strong>ns relativ begrenzt, verglichen mit<br />
<strong>de</strong>m Lei<strong>de</strong>n, das wir in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Daseinszustän<strong>de</strong>n ertragen wür<strong>de</strong>n. Das Leid, <strong>de</strong>m<br />
wir hier begegnen, ist unendlich viel geringer als das Leid, <strong>de</strong>m wir in <strong>de</strong>n Höllenbereichen<br />
begegnen müßten, wenn dieses Karma nicht in diesem Leben gereinigt wird: Unser<br />
jetziges Leid ist nichts im Vergleich zu <strong>de</strong>n Qualen in <strong>de</strong>n Höllen. Das Verständnis<br />
und das Akzeptieren unserer kleinen Lei<strong>de</strong>n ermöglicht uns, auf effektive Weise all das<br />
negative Karma zu reinigen, das wir bis jetzt angesammelt haben.<br />
Wenn wir in schwierigen Situationen stecken, können wir auch daran <strong>de</strong>nken, daß wir<br />
nicht die einzigen sind, die lei<strong>de</strong>n. Alle Wesen <strong>de</strong>s Universums erfahren unterschiedliche<br />
Arten von Leid, die häufig viel größer sind als das unsere. Wenn wir dies verstehen,<br />
formulieren wir <strong>de</strong>n Wunsch, daß durch unser Leid das Leid unendlich vieler Wesen gereinigt<br />
wer<strong>de</strong>n möge und wir verweilen so in einem Geist <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>, so zu ihrem Wohle<br />
han<strong>de</strong>ln können. Wenn wir diese Haltung kultivieren, können wir einen positiven und<br />
fröhlichen Geist bewahren, wenn wir mit einer leidvollen Situation konfrontiert sind.<br />
Sie weckt in uns keine Negativität.<br />
Wenn wir Leid erfahren, sollten wir uns <strong>de</strong>n Grund dafür eingestehen, nämlich das Ausführen<br />
früherer Handlungen, die in direkter Verbindung mit unserem Ichanhaften<br />
stehen: Durch das Verlangen, unser Ego zu schützen, haben wir in <strong>de</strong>r Vergangenheit<br />
eine Menge ichbezogener Handlungen ausgeführt, und diese Handlungen ziehen jetzt<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 9
Leid nach sich. So können wir Leid als eine Unterweisung betrachten, die uns zeigt, zu<br />
welchem Ergebnis ichbezogene Handlungen führen. So wird Leid zu einem Katalysator,<br />
<strong>de</strong>r uns abschreckt, weiterhin unter <strong>de</strong>m Einfluß ichbezogener Anhaftung zu han<strong>de</strong>ln.<br />
Da wir das Leid als kostbare Unterweisung schätzen, begegnen wir ihm mit einer fröhlichen<br />
Geisteshaltung. Es gibt viele Metho<strong>de</strong>n, die wir angesichts von Leid anwen<strong>de</strong>n<br />
können. Ihr unmittelbares Ergebnis ist zunehmen<strong>de</strong> Befreiung von diesem Leid, und auf<br />
höchster Ebene führen sie uns zu <strong>de</strong>m Erwachen, das frei von jeglichem Lei<strong>de</strong>n ist.<br />
Es ist wichtig, alle Wesen, die uns umgeben, wahrzunehmen, die unterschiedlichen<br />
Arten von Lei<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen sie betroffen sind, zu erkennen und ebenso die Ursachen<br />
für dieses Leid zu sehen. Wenn wir zu<strong>de</strong>m verstehen, daß alle Wesen in vergangenen<br />
Leben unsere Eltern waren, läßt dieses Verständnis in uns die Motivation entstehen, ihnen<br />
zu helfen. In <strong>de</strong>m Maße wie sich diese Geisteshaltung fortwährend manifestiert,<br />
wer<strong>de</strong>n sich die echten Qualitäten von Liebe und Mitgefühl spontan in unserem Geist<br />
entwickeln. Dabei können uns Hilfsmittel, wie zum Beispiel das Atmen, helfen: Wenn<br />
wir ausatmen, stellen wir uns vor, daß unsere Qualitäten, unser Verdienst und all das,<br />
woran wir uns freuen, sich in weißes Licht verwan<strong>de</strong>lt, das die Gesamtheit <strong>de</strong>r Wesen<br />
durchdringt und das ihnen Glück, Tugend und all die Qualitäten bringt, die zum<br />
Erlangen von Glück und zur Befreiung von Leid nötig sind. Wenn wir einatmen, stellen<br />
wir uns vor, daß wir schwarzen und dichten Rauch in uns aufnehmen, <strong>de</strong>r die Lei<strong>de</strong>n,<br />
Krankheiten und Hin<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Wesen repräsentiert. Danach <strong>de</strong>nken wir, daß diese<br />
Wesen von ihren Lei<strong>de</strong>n und Negativitäten befreit sind, und lassen schließlich <strong>de</strong>n Geist<br />
in seinem natürlichen Zustand verweilen – <strong>de</strong>r letztendlichen Wirklichkeit von Mahamudra<br />
– worin es keine dualistische Vorstellung mehr gibt, keine Trennung zwischen<br />
Meditieren<strong>de</strong>m und <strong>de</strong>m Objekt <strong>de</strong>r Meditation.<br />
Wir sollten verstehen, daß Meditation we<strong>de</strong>r ein klar <strong>de</strong>finierter Zustand noch etwas<br />
Festgelegtes ist, worauf wir unseren Geist lenken könnten. Meditation be<strong>de</strong>utet ganz<br />
einfach, all die Spannungen zu lösen, die durch unsere unterschiedlichen Ten<strong>de</strong>nzen wie<br />
Anhaftung, Ablehnung o<strong>de</strong>r Gleichgültigkeit geschaffen wur<strong>de</strong>n – Spannungen, die <strong>de</strong>n<br />
Geist gefangenhalten. Wir müssen erkennen, daß Geisteshaltungen wie Anhaftung, Ablehnung<br />
o<strong>de</strong>r Gleichgültigkeit nicht von außen kommen. Sie sind schon in unserem<br />
Geist vorhan<strong>de</strong>n und wir projizieren sie auf äußere Objekte. Wenn wir <strong>de</strong>n Geist in seinem<br />
natürlichen Zustand lassen, läßt er sich nicht mehr auf diese emotionalen Bewegungen<br />
ein und wird so nicht mehr von ihnen berührt. Er bleibt in seinem Zustand von<br />
natürlicher Entspannung und klammert sich nicht mehr an die Vorstellung von Subjekt<br />
und Objekt. Emotionen können ihm dann nichts mehr anhaben, da sie an die Polarität<br />
von Subjekt und Objekt gebun<strong>de</strong>n sind. Wenn die Anhaftung an die Vorstellungen von<br />
Subjekt und Objekt verschwin<strong>de</strong>t, gelangt <strong>de</strong>r Geist in einen Zustand von natürlicher<br />
Ruhe und Stabilität, frei von jeglichem Entstehen von Emotionen. Der Geist ist ruhig,<br />
da die Emotionen beruhigt wur<strong>de</strong>n, und stabil, weil er nicht mehr von Emotionen gestört<br />
wer<strong>de</strong>n kann. Wir müssen <strong>de</strong>n Geist einfach in seiner natürlichen Weisheitsdimension<br />
belassen, völlig entspannt und spontan, frei von je<strong>de</strong>r Art von Störung o<strong>de</strong>r<br />
Manipulation. So sollten wir meditieren.<br />
Meditation besteht nicht darin, einen beson<strong>de</strong>ren Zustand zu kultivieren, son<strong>de</strong>rn sich<br />
von Haltungen wie Anhaftung o<strong>de</strong>r Abneigung zu befreien. Der Zustand <strong>de</strong>r Meditation<br />
ist vollkommen frei von je<strong>de</strong>r Art von Ergreifen, Anhaftung und jeglicher Art von Abneigung<br />
o<strong>de</strong>r Zurückweisung. Welche Art von Gedanken und Erfahrungen auch immer<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 10
aufkommen, wir lassen sie einfach vorbeiziehen und sie verschwin<strong>de</strong>n von alleine.<br />
Diese Haltung <strong>de</strong>s Loslassens ist schon die Haltung <strong>de</strong>r Meditation selbst.<br />
Wenn wir so Meditation praktizieren, merken wir schrittweise, daß die Objekte unserer<br />
Wahrnehmung keine berührbare, substantielle Wirklichkeit haben. Wir erkennen die<br />
Dimension <strong>de</strong>r Leerheit aller Phänomene. Dieses Bewußtsein <strong>de</strong>r Leerheit taucht natürlich<br />
und spontan im Geist auf. Wenn wir über längere Zeitabstän<strong>de</strong> hinweg meditieren,<br />
erfahren wir nach und nach ein tiefes Gefühl von Glück in Körper und Geist. Wir sind<br />
vollkommen froh, heiter und glücklich; wir suchen nichts an<strong>de</strong>res mehr als Meditation<br />
und haben <strong>de</strong>n Eindruck, daß wir unbegrenzt in diesem Zustand verweilen können.<br />
Bei fortschreiten<strong>de</strong>r Meditation entwickeln wir eine solche Qualität von geistiger Klarheit,<br />
daß es scheint, daß alle Schleier und Arten von Trübung einfach verschwun<strong>de</strong>n<br />
sind. Die Erfahrungen von Nicht-Konzeptualität, Leerheit und Freu<strong>de</strong> sind Zeichen von<br />
wirklichen Fortschritten in <strong>de</strong>r Meditation von geistiger Ruhe und Stabilität <strong>de</strong>s Geistes.<br />
Wenn hingegen unser Geist immer starrer und verschleierter wird, ist dies ein Zeichen,<br />
daß unsere geistige Stabilität nicht korrekt ist. Verweilt <strong>de</strong>r Geist aber in einem Zustand,<br />
in <strong>de</strong>m Nicht-Konzeptualität, Freu<strong>de</strong> und Klarheit untrennbar sind und erscheint die<br />
Vereinigung dieser drei Arten von Erfahrungen auf natürliche Weise, ohne Ergreifen<br />
und ohne bewußte Anstrengung, so be<strong>de</strong>utet dies, daß wir <strong>de</strong>n Zustand meditativer<br />
Versenkung erreicht haben, welcher <strong>de</strong>r Stabilität <strong>de</strong>r geistigen Ruhe entspricht.<br />
Beim Meditieren ist es sehr wichtig, sich von Einstellungen wie Hoffnung o<strong>de</strong>r Furcht<br />
zu befreien. Wir dürfen die Meditation we<strong>de</strong>r mit einem beson<strong>de</strong>ren Zustand von Ruhe,<br />
Glückseligkeit, Klarheit o<strong>de</strong>r Nicht-Konzeptualität i<strong>de</strong>ntifizieren, noch sollten wir diese<br />
Art von Zustand um je<strong>de</strong>n Preis erreichen und bewahren wollen. Wir sollten die Erfahrungen,<br />
welcher Art auch immer sie seien, ganz einfach willkommen heißen, ohne daran<br />
zu haften o<strong>de</strong>r sie vermei<strong>de</strong>n zu wollen – noch sollten wir Angst haben, daß sie sich<br />
auflösen. Dies wür<strong>de</strong> viel Unruhe hervorrufen.<br />
Kommentare über unsere Meditation, wie „Sie ist korrekt, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Geist ist ruhig“ o<strong>de</strong>r<br />
im Gegensatz dazu „Sie ist nicht gut, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Geist wird von vielen Gedanken aufgewühlt“<br />
sollten vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn diese bei<strong>de</strong>n Einschätzungen schaffen Störungen:<br />
Wir versuchen entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Meditationszustand aufrechtzuerhalten, <strong>de</strong>r als<br />
annehmbar betrachtet wird, <strong>de</strong>r wir versuchen, <strong>de</strong>n Meditationszustand, <strong>de</strong>r als schlecht<br />
o<strong>de</strong>r negativ beurteilt wird, zu verän<strong>de</strong>rn, zu been<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r abzuwehren. Die Meditation<br />
zu bewerten o<strong>de</strong>r aufgrund von Bewertungen zu beeinflussen, ruft eine vollkommen<br />
künstliche Meditation hervor. Wenn wir diesem Irrtum verfallen liegt das Heilmittel in<br />
<strong>de</strong>r direkten Beobachtung <strong>de</strong>s beurteilen<strong>de</strong>n Geistes, <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>r Essenz dieses<br />
Geistes, <strong>de</strong>r da <strong>de</strong>nkt, daß die Meditation gut o<strong>de</strong>r schlecht sei. Diese Untersuchung<br />
führt zu <strong>de</strong>r Erkenntnis, daß <strong>de</strong>r beobachten<strong>de</strong>, bewerten<strong>de</strong> Geist ohne je<strong>de</strong> wirkliche<br />
Realität ist. Der Moment, in <strong>de</strong>m wir die Nichtexistenz dieses urteilen<strong>de</strong>n Beobachters<br />
erkennen, ist genau <strong>de</strong>r Augenblick, in <strong>de</strong>m wir die Natur o<strong>de</strong>r Essenz <strong>de</strong>s Geistes erkennen.<br />
Es ist also nicht nötig, über unsere Meditation zu Gericht zu sitzen. Denn wenn <strong>de</strong>r<br />
Geist in einem Zustand <strong>de</strong>r Stabilität ist, ist es <strong>de</strong>r Geist selbst – und auch wenn <strong>de</strong>r<br />
Geist in einem Zustand <strong>de</strong>r Bewegung ist, ist es immer noch <strong>de</strong>r Geist. Und wenn sich<br />
<strong>de</strong>r Geist je<strong>de</strong>s dieser bei<strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong> bewußt ist, so ist es noch immer <strong>de</strong>r Geist. An<br />
keinem dieser drei Zustän<strong>de</strong> sollten wir haften.<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 11
Wenn <strong>de</strong>r Geist von vielen Gedanken aufgewühlt ist, sollten wir ihn sich einfach entspannen<br />
lassen und es vermei<strong>de</strong>n, die Gedanken ergreifen zu wollen. Wir müssen erkennen,<br />
daß die Gedanken <strong>de</strong>m Geist selbst entspringen, und diese sich darin wie<strong>de</strong>r<br />
auflösen lassen. Wenn wir fähig wer<strong>de</strong>n, die Gedanken ganz von allein auftauchen und<br />
verschwin<strong>de</strong>n zu lassen, wer<strong>de</strong>n wir in <strong>de</strong>r Meditation verweilen können. Beim Meditieren<br />
sollten wir nicht versuchen, die Gedanken anzuhalten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n auftauchen<strong>de</strong>n<br />
Gedanken wie ein reales, faßbares Objekt zu ergreifen. Gedanken haben keine Form,<br />
noch haben sie eine ihnen innewohnen<strong>de</strong> Existenz. Sie sind nichts weiter als die Manifestation<br />
<strong>de</strong>s Geistes. Wenn wir sie als etwas Konkretes betrachten, wer<strong>de</strong>n wir sie beeinflussen<br />
und kontrollieren wollen, was nur zur Folge haben wird, Leid in unserem<br />
Geist zu schaffen, <strong>de</strong>nn die wahre Natur <strong>de</strong>r Gedanken ist ohne Form, ohne Farbe und<br />
ohne wirkliche Existenz. Gedanken sind keine von unserem Geist getrennte Wesenheiten.<br />
Wenn wir dieses Verständnis entwickeln, sind wir nicht mehr so sehr vom Auftauchen<br />
o<strong>de</strong>r Ausbleiben <strong>de</strong>r Gedanken betroffen. Wir ruhen einfach im natürlichen Zustand<br />
<strong>de</strong>s Geistes, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Fluß <strong>de</strong>r Gedanken ganz von selbst erscheint und<br />
verschwin<strong>de</strong>t.<br />
Wenn wir die Natur <strong>de</strong>r Gedanken betrachten, sobald sie auftauchen, und erkennen, daß<br />
sie keine eigene o<strong>de</strong>r unabhängige Wirklichkeit haben, so sehen wir, daß ihre Natur <strong>de</strong>r<br />
Dharmakaya o<strong>de</strong>r Wahrheitskörper ist. Ein solches Erkennen, das sich in <strong>de</strong>r Meditation<br />
vollzieht, ermöglicht es, direkt die Natur je<strong>de</strong>s Gedankens wahrzunehmen, sobald er<br />
sich manifestiert, ohne Ergreifen und ohne Abneigung. Die Gedanken wer<strong>de</strong>n wie<br />
Schneeflocken, die auf einem heißen Stein schmelzen – sie lösen sich von selbst auf,<br />
sobald sie auftreffen. Wenn <strong>de</strong>r Meditieren<strong>de</strong> diese Verwirklichung erreicht hat, ist er<br />
fähig, seinen Geist im ungehin<strong>de</strong>rten Spiel <strong>de</strong>s spontanen Erscheinens und<br />
Verschwin<strong>de</strong>ns <strong>de</strong>r Gedanken verweilen zu lassen.<br />
Gampopa sagte, daß zu seiner Zeit viele Meditieren<strong>de</strong> einen schweren Fehler begingen:<br />
Sie dachten, Meditation bestün<strong>de</strong> darin, einen gedankenfreien Zustand zu erreichen, in<br />
<strong>de</strong>m das Auftauchen und Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Gedanken völlig aufgehoben ist. Gampopa<br />
erklärte, daß diese Art von Meditation diene nur dazu, einen Zustand völliger Unbewußtheit,<br />
vergleichbar einer Ohnmacht, zu schaffen. Sie habe nichts mit echter Meditation<br />
zu tun. Er bestand darauf, daß es nicht nötig sei, das Aufkommen <strong>de</strong>r Bewegung<br />
<strong>de</strong>r Gedanken im Geist zu verhin<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn daß wir die Essenz dieser Gedanken erkennen<br />
sollten, <strong>de</strong>n Dharmakaya, <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>r höchsten Wahrheit. Wenn wir im Erkennen<br />
<strong>de</strong>r wahren Natur <strong>de</strong>r Gedanken verweilen, erscheinen und befreien sich diese<br />
auf natürliche Weise von selbst. Da dieser ständige Fluß <strong>de</strong>s Auftauchens und<br />
Verschwin<strong>de</strong>ns <strong>de</strong>r Gedanken die Dimension <strong>de</strong>r höchsten Wahrheit darstellt, erkennen<br />
wir, daß Gedanken äußerst kostbar und eine große Hilfe sind.<br />
Wäre es das Ziel <strong>de</strong>r Meditation, einen Zustand frei von jeglicher Bewegung und jeglichem<br />
Gedanken zu erreichen, so könnten wir sagen, daß die Felsen und die Er<strong>de</strong> viel<br />
bessere Meditieren<strong>de</strong> als menschliche Wesen sind! Diese Absurdität zeigt, daß es nicht<br />
das Ziel <strong>de</strong>r Meditation ist, sich <strong>de</strong>r Bewegung <strong>de</strong>r Gedanken zu entledigen, son<strong>de</strong>rn in<br />
einem natürlichen Zustand zu verweilen, <strong>de</strong>r frei Haften an <strong>de</strong>n auftauchen<strong>de</strong>n Gedanken<br />
ist.<br />
Meditation besteht darin, Körper und Geist von allen Spannungen und<br />
Fesseln zu befreien, die ihn in einem Zustand von Unruhe halten. Dieser<br />
Gendün Rinpotsche, März 1990: Der Erleuchtungsgeist. Seite 12
Prozeß <strong>de</strong>r Entspannung wird solange fortgesetzt, bis alle Ban<strong>de</strong> gelöst und<br />
Körper und Geist in völliger Entspannung sind. Das ist Meditation.<br />
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