30.10.2013 Aufrufe

Meditationen mit Einführung in die 5 Skandhas_Sommerkurs ...

Meditationen mit Einführung in die 5 Skandhas_Sommerkurs ...

Meditationen mit Einführung in die 5 Skandhas_Sommerkurs ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

EINFÜHRUNG ZU DEN FÜNF AGGREGATEN (SKANDHAS)<br />

„WER BIN ICH?“<br />

Teil E<strong>in</strong>s<br />

Lama Sönam Lhündrup<br />

Unterweisungen, <strong>Meditationen</strong>, sowie Fragen und Antworten<br />

zum ersten Kapitel der Abhandlung<br />

„<strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Vorgehensweise der Experten“<br />

verfasst vom 1. Mipham R<strong>in</strong>potsche<br />

Croizet-<strong>Sommerkurs</strong>, August 2010


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Inhaltsübersicht<br />

Vorbemerkungen .................................................................................................................. 5<br />

E<strong>in</strong>leitung .............................................................................................................................. 6<br />

Das Aggregat der Formen ................................................................................... 10<br />

Die vier Ursachenformen ................................................................................................... 10<br />

Die elf Ergebnisformen ...................................................................................................... 10<br />

Fragen: .......................................................................................................................... 14<br />

Das Aggregat der Empf<strong>in</strong>dungen ........................................................................ 19<br />

Das Aggregat der Unterscheidungen .................................................................. 23<br />

Unterscheidungen <strong>mit</strong> Merkmalen ................................................................................... 23<br />

Unterscheidungen ohne Merkmale ................................................................................... 27<br />

Weitere Unterscheidungen ................................................................................................ 27<br />

Fragen: .......................................................................................................................... 28<br />

Das Aggregat der Gestaltungen .......................................................................... 33<br />

Die fünf stets vorhandenen Geistesaktivitäten ................................................................ 34<br />

1) Interesse ....................................................................................................................... 34<br />

2) Empf<strong>in</strong>den .................................................................................................................... 35<br />

3) Unterscheiden .............................................................................................................. 35<br />

4) Bewussthalten .............................................................................................................. 35<br />

5) Kontakt ......................................................................................................................... 37<br />

Die fünf Objekt-vergewissernden Faktoren .................................................................... 39<br />

6) Streben ......................................................................................................................... 39<br />

7) Entschlossenheit ........................................................................................................... 39<br />

8) Vergegenwärtigen ........................................................................................................ 39<br />

9) Stabiles Verweilen ........................................................................................................ 40<br />

10) Verstehen .................................................................................................................... 40<br />

Fragen: .......................................................................................................................... 42<br />

Zusammenfassung ........................................................................................................ 46<br />

2


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Die elf heilsamen Geistesaktivitäten ................................................................................. 47<br />

11) Vertrauen ................................................................................................................... 47<br />

12) Gewissenhaftigkeit ..................................................................................................... 50<br />

Fragen: .......................................................................................................................... 51<br />

13) Flexibilität .................................................................................................................. 58<br />

14) Gleichmut ................................................................................................................... 59<br />

15) Selbstrespekt .............................................................................................................. 60<br />

16) Rücksichtnahme ......................................................................................................... 61<br />

Fragen und Bemerkungen der Teilnehmer ................................................................... 62<br />

17) Nicht-Begehren .......................................................................................................... 64<br />

18) Nicht-Hassen .............................................................................................................. 66<br />

19) Nicht-Verwirrtse<strong>in</strong> ..................................................................................................... 67<br />

20) Nicht-Schaden-Wollen ............................................................................................... 69<br />

21) Freudige Ausdauer ..................................................................................................... 70<br />

Fragen: .......................................................................................................................... 72<br />

Die nicht heilsamen Geistesaktivitäten ............................................................................. 75<br />

Die sechs primären Belastungen ...................................................................................... 76<br />

22) Unwissenheit .............................................................................................................. 76<br />

Fragen: .......................................................................................................................... 78<br />

23) Begierde ..................................................................................................................... 80<br />

Fragen: .......................................................................................................................... 83<br />

24) Ärger .......................................................................................................................... 90<br />

25) Stolz ............................................................................................................................ 92<br />

Fragen: .......................................................................................................................... 97<br />

26) Zweifel ...................................................................................................................... 101<br />

Fragen: ........................................................................................................................ 103<br />

27) Anschauungen .......................................................................................................... 105<br />

Die zwanzig sekundären emotionalen Belastungen ....................................................... 110<br />

28) Wut ........................................................................................................................... 110<br />

3


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

29) Groll ......................................................................................................................... 111<br />

30) Verachtung ............................................................................................................... 111<br />

31) Böswilligkeit ............................................................................................................. 111<br />

32) Eifersucht ................................................................................................................. 111<br />

Fragen: ........................................................................................................................ 112<br />

33) Unaufrichtigkeit ....................................................................................................... 114<br />

34) Sche<strong>in</strong>heiligkeit ........................................................................................................ 114<br />

35) Mangelnder Selbstrespekt ........................................................................................ 114<br />

36) Rücksichtslosigkeit ................................................................................................... 115<br />

37) Verstellung ............................................................................................................... 115<br />

38) Habgier .................................................................................................................... 115<br />

39) Selbstüberheblichkeit ............................................................................................... 116<br />

40) Mangelndes Vertrauen ............................................................................................. 116<br />

41) Faulheit .................................................................................................................... 121<br />

42) Nachlässigkeit .......................................................................................................... 122<br />

43) Verwirrtes Gedächtnis ............................................................................................. 122<br />

44) Mangelnde Bewusstheit ........................................................................................... 123<br />

45) Dumpfheit ................................................................................................................. 123<br />

46) Wildheit .................................................................................................................... 124<br />

47) Abgelenktse<strong>in</strong> ........................................................................................................... 124<br />

Fragen: ........................................................................................................................ 125<br />

Die vier veränderlichen Geistesaktivitäten .................................................................... 128<br />

48) Schlaf ........................................................................................................................ 128<br />

49) Bedauern .................................................................................................................. 129<br />

50) Nachdenken .............................................................................................................. 129<br />

51) Genaues Untersuchen .............................................................................................. 130<br />

Zusammenfassung ...................................................................................................... 131<br />

Das Aggregat des Bewusstse<strong>in</strong>s ........................................................................ 134<br />

Die sechs Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen ..................................................................................... 134<br />

Bewusstse<strong>in</strong> aus der Sicht der Nur-Geist-Schule ........................................................... 135<br />

All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> – Zeitloses Gewahrse<strong>in</strong> ........................................................... 138<br />

Zusammenfassung ............................................................................................................ 138<br />

Fragen: ........................................................................................................................ 139<br />

Widmung ........................................................................................................................... 144<br />

4


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Vorbemerkungen<br />

Ich heiße euch alle herzlich willkommen und b<strong>in</strong> sehr froh, wieder den Dharma <strong>mit</strong> euch teilen zu<br />

können.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n der Unterweisung halte ich es für angemessen, kurz an <strong>die</strong> Grundlagen der Dharmapraxis<br />

zu er<strong>in</strong>nern – zuallererst daran, wie kostbar <strong>die</strong>ses Menschenleben ist, welche unglaublichen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

zusammen kommen, dass wir jetzt <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, den Dharma unter sehr privilegierten Bed<strong>in</strong>gungen<br />

zu praktizieren.<br />

Dieses kostbare Menschenleben ist kurz. Es kann sehr viel kürzer se<strong>in</strong> als wir denken, sehr viel kürzer<br />

als das, was wir für unsere Lebenserwartung halten. Ich er<strong>in</strong>nere euch daran, dass letztes Jahr noch Lama<br />

Djangtschub unter uns war, der alle <strong>Sommerkurs</strong>e seit dem Anfang von Croizet <strong>mit</strong>gemacht hat<br />

und dessen Leben dann e<strong>in</strong> Aortenriss ganz unerwartet e<strong>in</strong> Ende gesetzt hat. Ich nutze <strong>die</strong>sen Moment,<br />

um e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Würdigung von Lama Djangtschub auszusprechen, der <strong>mit</strong> ungefähr Zwanzig den<br />

Dharma kennen gelernt hatte und dann tatsächlich jeden Tag praktiziert hat. Se<strong>in</strong>e Hauptpraxis war<br />

Tschenresig und Mahamudra, und als er dann starb, blieb se<strong>in</strong> Herz nach dem Tod noch zweie<strong>in</strong>halb<br />

Tage warm, was e<strong>in</strong> Zeichen dafür ist, dass er <strong>die</strong>sen Übergang nutzen konnte um zu praktizieren –<br />

und das aufgrund se<strong>in</strong>er ständigen Praxis, <strong>die</strong> er wirklich jeden Tag, ohne Ausnahme, ausgeführt hat.<br />

Der dritte grundlegende Gedanke ist <strong>die</strong> Überlegung, welche Ursachen ich heute setzen möchte um <strong>die</strong><br />

entsprechenden Auswirkungen <strong>in</strong> der Zukunft zu erfahren. Dieses Gesetz von Ursache und Wirkung<br />

nennt man das Gesetz von Karma, und es lässt sich <strong>in</strong> der Frage zusammenfassen: „Was für Handlungen<br />

<strong>mit</strong> Körper, Rede und Geist möchte ich heute ausführen, um den Weg des Erwachens zu gehen?“<br />

Auf dem Weg des Erwachens richten wir uns darauf aus, <strong>die</strong>se Dimension zu verwirklichen, <strong>die</strong> völlig<br />

frei von Leid ist, frei von Ich-Bezogenheit. Frei zu se<strong>in</strong> von Ich-Bezogenheit ist <strong>die</strong> Grundlage des Erwachens.<br />

Ich-Bezogenheit führt dazu, dass wir ungeschickte Handlungen ausführen, <strong>die</strong> zu Spannungen<br />

im eigenen Geist führen und zu Spannungen im Geist von anderen. All <strong>die</strong>se Spannungen s<strong>in</strong>d<br />

Ausdruck der emotionalen Verblendung, <strong>die</strong> uns bei <strong>die</strong>sem Handeln bestimmt. Diese emotionale Verblendung<br />

ist essentiell bed<strong>in</strong>gt durch <strong>die</strong>ses starke Zentriert-Se<strong>in</strong> auf ‚mich’, auf das Ich oder Selbst.<br />

Aufgrund <strong>die</strong>ser Analyse des Se<strong>in</strong>s – des samsarischen Se<strong>in</strong>s beruhend auf Ich-Bezogenheit – hat der<br />

Buddha e<strong>in</strong>en Weg gelehrt, der jenseits von Ich-Bezogenheit und Leid <strong>in</strong> <strong>die</strong> vollkommene Befreiung<br />

von allem führt, <strong>in</strong> das, was wir das Erwachen nennen. Im Grunde genommen könnte Erwachen e<strong>in</strong>fach<br />

als das Freise<strong>in</strong> von aller Ich-Bezogenheit beschrieben werden.<br />

Aufgrund derselben Analyse hat der 17. Karmapa – als ich ihm <strong>die</strong> Frage gestellt habe, welches Thema<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem <strong>Sommerkurs</strong> behandelt werden soll – sich gewünscht, dass wir <strong>die</strong> 51 Geistesfaktoren<br />

durchgehen, <strong>mit</strong>hilfe derer wir das Funktionieren des Geistes besser verstehen können; besser verstehen<br />

können, was zur Ich-Bezogenheit führt und wie wir sie auflösen können.<br />

Wir haben doch letztes Jahr Themen für den Kurs aufgeschrieben, und ich hatte aus euren Vorschlägen<br />

fünf Bereiche für <strong>die</strong> Frage an Karmapa herausgefunden. Er hat ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen <strong>die</strong>ser Bereiche<br />

wollen, sondern sofort <strong>die</strong> 51 Geistesfaktoren genannt und möchte, dass wir das <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander teilen.<br />

Die 51 Geistesfaktoren s<strong>in</strong>d das vierte der fünf <strong>Skandhas</strong> oder Aggregate, und <strong>mit</strong> der Klassifikation <strong>in</strong><br />

fünf <strong>Skandhas</strong> hat der Buddha <strong>die</strong> Fundamente unserer Ich-Bezogenheit beschrieben. Sie s<strong>in</strong>d das, worauf<br />

wir uns stützen, wenn <strong>die</strong>ses Gefühl von e<strong>in</strong>em Ich entsteht. –<br />

Worauf basiert das eigentlich?<br />

5


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

E<strong>in</strong>leitung<br />

Bevor ich <strong>mit</strong> den formellen Erklärungen beg<strong>in</strong>ne, zunächst <strong>die</strong> Beschreibung, wie es überhaupt zu<br />

<strong>die</strong>ser Unterweisung des Buddha kam:<br />

Der Buddha saß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Wäldchen, und es war möglich, <strong>mit</strong> ihm zu sprechen. E<strong>in</strong> Laienpraktizierender<br />

stellte ihm <strong>die</strong> wichtige Frage: „Verehrter Meister! Gibt es e<strong>in</strong> Ich? Gibt es so etwas<br />

wie e<strong>in</strong> Selbst, e<strong>in</strong> Atman?“<br />

Der Buddha sagte: „Schau! Mit dem Ich, <strong>mit</strong> dem Selbst ist es genau wie <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Holzhaufen, der<br />

dort liegt.“ – Die Bauern hatten Bäume geschlagen und das Holz zum Trocknen aufgeschichtet. –<br />

„Was man Individuum, Person, Ich, Selbst oder Seele nennt, ist genauso wie <strong>die</strong>ser Holzhaufen.“<br />

Haufen heißt auf Sanskrit skandha. Es ist <strong>die</strong> Anhäufung, das Zusammenkommen von mehreren Elementen,<br />

<strong>die</strong> dann wieder e<strong>in</strong> neues Gesamtbild ergeben, so wie viele Holzscheite zusammen geschichtet<br />

den E<strong>in</strong>druck von e<strong>in</strong>em Holzhaufen ergeben. Mit unserer Ich-Identifikation verhält es sich so wie<br />

<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Holzhaufen, den man aus der Entfernung betrachtet und denkt: „Ja, da drüben, da ist e<strong>in</strong><br />

richtig schöner Haufen.“ In der Wahrnehmung ist der Haufen e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit. So erleben wir uns auch<br />

selbst <strong>in</strong> unserem Körper als e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit, als e<strong>in</strong>e zusammenhängende Form oder Gestalt <strong>mit</strong> Inhalt<br />

und bemerken nicht, aus wie vielen Aspekten sich <strong>die</strong>se Existenz zusammensetzt. Es ist derselbe<br />

Irrtum, so wie wir <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Scheite aus der Ferne betrachtet für e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g halten.<br />

Wenn wir uns modernere Beispiele anschauen – e<strong>in</strong> Auto oder das Thangka oder <strong>die</strong> Scheune hier –<br />

dann f<strong>in</strong>det immer dasselbe Phänomen statt. Immer wenn wir e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g anschauen, e<strong>in</strong> Etwas, dann<br />

schaffen wir e<strong>in</strong>e Abgrenzung, d.h. dort, wo etwas aufhört und etwas anderes beg<strong>in</strong>nt, ziehen wir e<strong>in</strong>e<br />

Grenze und was <strong>in</strong>nerhalb <strong>die</strong>ser Grenze ist, wird als E<strong>in</strong>heit betrachtet. So können wir e<strong>in</strong> Auto von<br />

se<strong>in</strong>er Umgebung abgrenzen und betrachten es als e<strong>in</strong> Auto. Die Form von Tschenresig auf dem<br />

Thangka bezeichnen wir als ‚Tschenresig’, <strong>die</strong> Scheune lässt sich abgrenzen von der Erde und von der<br />

Umgebung drum herum und wird als ‚<strong>die</strong> Scheune’ betrachtet. Wir erschaffen <strong>die</strong>ses Konzept und<br />

übergehen dabei <strong>die</strong> Tatsache, dass wir ja <strong>die</strong> Autoteile ause<strong>in</strong>ander nehmen können, dass das Thangka<br />

aus vielen kle<strong>in</strong>en Pixel besteht, aus Farbpunkten, <strong>die</strong> da se<strong>in</strong> können oder auch nicht, <strong>die</strong> man<br />

übermalen kann, auswischen und dergleichen. Die Scheune kann man auch ause<strong>in</strong>andermontieren, sie<br />

kann auch <strong>in</strong> Flammen aufgehen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Teile können ause<strong>in</strong>ander fallen. Das, was e<strong>in</strong> Ganzes<br />

zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t, ist im Grunde genommen nur das zeitweilige Zusammenkommen von verschiedenen<br />

Bestandteilen.<br />

Was wir als E<strong>in</strong>heit wahrnehmen, aber aus vielen e<strong>in</strong>zelnen Bestandteilen zusammengesetzt ist, hängt<br />

von Bed<strong>in</strong>gungen ab. So lange <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen stabil s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> das Objekt zusammen halten, wird es<br />

sich als <strong>die</strong>se E<strong>in</strong>heit zeigen. Wenn <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen sich aber ändern, dann wird sich auch das Objekt<br />

ändern. Weil <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen nicht mehr vorhanden s<strong>in</strong>d, wird es ause<strong>in</strong>ander fallen. Das, was da unter<br />

bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen zusammengefügt wurde, wird wieder ause<strong>in</strong>ander fallen, wenn <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen<br />

sich ändern. Dieses Zusammenkommen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anhäufung wird ause<strong>in</strong>ander fallen, wird<br />

ause<strong>in</strong>ander gehen, sobald Bed<strong>in</strong>gungen entstehen wie Feuer oder e<strong>in</strong> Unfall für das Auto oder e<strong>in</strong>fach<br />

der Zahn der Zeit für <strong>die</strong> Scheune, was auch immer.<br />

Wenn <strong>die</strong> Erdkräfte – bei e<strong>in</strong>em Unfall wirken <strong>die</strong> Schwerkräfte – <strong>die</strong> Kräfte von Wasser, Feuer und<br />

W<strong>in</strong>d auf <strong>die</strong> äußeren Objekte e<strong>in</strong>wirken, dann verändern sich <strong>die</strong> äußeren Objekte, bzw. sie lösen sich<br />

völlig auf und verwandeln sich <strong>in</strong> etwas anderes. Das Gleiche gilt für alles andere Wahrnehmbare.<br />

Alles ist nur so lange als das, was wir sehen, wahrnehmbar, wie Bed<strong>in</strong>gungen stabil s<strong>in</strong>d. Wenn <strong>die</strong>se<br />

Bed<strong>in</strong>gungen nicht mehr stabil s<strong>in</strong>d, dann wird uns wieder bewusst: „Ah, klar! Das, was ich für<br />

permanent hielt, für ewig hielt, ist ja vergänglich. Es ist Bed<strong>in</strong>gungen unterworfen.“<br />

Wir kehren wieder zurück zum Buddha, der dem Laienpraktizierenden weiter antwortet: „Ja also: Das<br />

Atman, das Ich, das Selbst existiert so wie <strong>die</strong>ser Holzhaufen da drüben.“ – „Ja, wie? Existiert es nun<br />

oder existiert es nicht?“ – „Ja und ne<strong>in</strong>.“ Und dann wieder der Fragesteller: „Ich versteh das nicht!<br />

Kannst Du mir das noch genauer erklären?“<br />

6


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Der Buddha sagt: „Ja, schau: Was du hier als Holzhaufen betrachtest, besteht ja wieder aus vielen<br />

Holzscheiten, und auch <strong>die</strong> Holzscheite selbst: wenn man <strong>die</strong> analysiert, so s<strong>in</strong>d sie aufgebaut aus vielen<br />

Fasern und aus verschiedenen Elementen. Und genauso s<strong>in</strong>d wir, <strong>die</strong> wir uns Menschen nennen.<br />

Unser Selbst, unsere Person besteht aus fünf grundlegenden Identifikationen, <strong>die</strong> ihrerseits wieder aus<br />

nichts Beständigem bestehen.“<br />

Dann erklärt der Buddha <strong>die</strong>se fünf ‚Haufen’, <strong>mit</strong> denen wir uns identifizieren:<br />

1) Die Identifikation <strong>mit</strong> den wahrnehmbaren Formen, <strong>mit</strong> dem was wir äußerlich <strong>mit</strong> den fünf S<strong>in</strong>nen<br />

wahrnehmen, und <strong>mit</strong> dem was wir <strong>in</strong>nerlich wahrnehmen.<br />

2) Die E<strong>in</strong>stufung <strong>die</strong>ser Wahrnehmungen – Empf<strong>in</strong>dungen – <strong>in</strong> angenehm, unangenehm und neutral.<br />

3) Unterscheidungen, <strong>die</strong> wir treffen: Das ist e<strong>in</strong> Zeh, das ist e<strong>in</strong> Auge usw., all <strong>die</strong> Bezeichnungen.<br />

4) Die verschiedenen Geisteszustände, <strong>die</strong> angenehmen wie <strong>die</strong> unangenehmen: Begierde, Hass, Eifersucht<br />

und dergleichen sowie Freude, Glück, Liebe, Wissen, Verständnis, Konzentrationsfähigkeit, all<br />

das, <strong>mit</strong> dem wir uns als Ich identifizieren.<br />

5) Die verschiedenen Formen des Bewusstse<strong>in</strong>s: Augenbewusstse<strong>in</strong>, Hörbewusstse<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Fähigkeit zu<br />

erkennen, wahrzunehmen.<br />

Jeder <strong>die</strong>ser fünf Bereiche setzt sich wiederum zusammen aus e<strong>in</strong>er ständig wechselnden Vielfalt von<br />

Faktoren, <strong>die</strong> zusammenwirken. Das, was wir e<strong>in</strong> Ich nennen, ist <strong>in</strong> Wirklichkeit nicht für e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen<br />

Moment stabil. Nicht e<strong>in</strong>en Augenblick – im S<strong>in</strong>ne von nicht für e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Lidaufschlag –<br />

ist das, was wir e<strong>in</strong> Ich nennen, etwas Stabiles. Es ist e<strong>in</strong> sich ständig wandelnder Prozess. Wenn wir<br />

dessen bewusst s<strong>in</strong>d, dann werden wir verstehen, dass das, was wir e<strong>in</strong> Atman nennen, ke<strong>in</strong>erlei substanzielle<br />

Wirklichkeit besitzt, ke<strong>in</strong>erlei Stabilität. Und dann können wir überlegen, ob wir den Begriff<br />

Atman noch benutzen möchten im S<strong>in</strong>ne von e<strong>in</strong>em prozesshaften Ich, oder ob wir sagen: „E<strong>in</strong> Ich,<br />

von dem man immer spricht als etwas Stabiles, das gibt es gar nicht.“ Das ist dann e<strong>in</strong>e Frage der<br />

Wahl. Entweder def<strong>in</strong>iert man aufgrund tieferer Erkenntnis neu oder man hört auf, den alten Begriff zu<br />

benutzen.<br />

Diese Unterweisung des Buddha wurde zur Grundlage der Unterweisungen über das Nicht-Selbst,<br />

über e<strong>in</strong> nicht stabiles Selbst <strong>in</strong> allen buddhistischen Traditionen. Sie beschreibt <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen fünf Aggregaten,<br />

was <strong>die</strong> hauptsächlichen Bereiche der Identifikation s<strong>in</strong>d, und gibt natürlich auch H<strong>in</strong>weise<br />

darauf, wie man sie auflösen kann.<br />

Ich habe euch jetzt e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Überblick über <strong>die</strong> fünf Aggregate gegeben, <strong>mit</strong> denen wir uns an<br />

den nächsten Tagen befassen werden. Wir beg<strong>in</strong>nen <strong>mit</strong> dem Aggregat der Formen – es ist besser den<br />

Plural zu benutzen, denn jedes Aggregat ist wieder zusammengesetzt.<br />

Dann kommt das Aggregat der Empf<strong>in</strong>dungen und danach s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Unterscheidungen. Ihr habt<br />

vielleicht anderswo für <strong>die</strong>ses 3. Aggregat den Begriff ‚Wahrnehmungen’ gelesen, aber der Begriff<br />

‚Unterscheidungen’ passt viel besser, ihr werdet das dann später verstehen.<br />

Das 4. Aggregat s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Geistesfaktoren oder Gestaltungen und das 5. Aggregat s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sformen.<br />

Wir werden an den ersten drei Tagen <strong>die</strong> ersten drei Aggregate besprechen, dann etwa e<strong>in</strong>e Woche<br />

lang das 4. Aggregat, <strong>die</strong> Geistesfaktoren, und zum Schluss <strong>die</strong> verschiedenen Arten von Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Ich würde euch gern noch auf der <strong>in</strong>tellektuellen Ebene ermutigen, e<strong>in</strong>e neue Übersetzung aufzuschreiben:<br />

Mit Formen (Skr.: rupa) ist alles Wahrnehmbare geme<strong>in</strong>t. Wenn wir <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition von<br />

Buddha Shakyamuni anschauen, dann me<strong>in</strong>t er nämlich <strong>mit</strong> Formen das Wahrnehmbare im visuellen,<br />

auditiven, olfaktorischen, gustativen und taktilen Bereich, sowie im mentalen Bereich. All das, was<br />

dort als ‚Formen’ wahrnehmbar ist.<br />

E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Übung zum Thema der Formen, zur Identifikation <strong>mit</strong> Formen:<br />

7


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Meditation:<br />

Wir nehmen e<strong>in</strong>e Haltung e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> uns ermöglicht, e<strong>in</strong> wenig zu meditieren…<br />

und wir werden uns der körperlichen Haltung bewusst. –<br />

Wir erforschen <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dungen, all das, was wir wahrnehmen können im Körper, durch <strong>die</strong> Haut,<br />

durch Berührung wie auch im Inneren des Körpers. –<br />

Wir spüren den Körper von den Fußsohlen bis zum Scheitelpunkt des Kopfes. –<br />

Gibt es <strong>in</strong> all dem Wahrnehmbaren irgendetwas, was immer schon da war und immer da se<strong>in</strong> wird? –<br />

Gibt es im körperlich Wahrnehmbaren etwas, das sich der Veränderung, dem Wandel entzieht, das<br />

dem Wandel nicht unterliegt? –<br />

Dann gehen wir <strong>in</strong> den Bereich des Hörens und stellen uns <strong>die</strong>selbe Frage <strong>in</strong> Bezug auf das <strong>mit</strong> dem<br />

Gehör Wahrgenommene. –<br />

Gibt es irgendetwas <strong>in</strong> dem <strong>mit</strong> dem Hörs<strong>in</strong>n Wahrgenommenen, das sich dem Wandel entzieht und<br />

das nicht durch Ursachen und Bed<strong>in</strong>gungen hervorgerufen wird? –<br />

Dann gehen wir zum Geschmackss<strong>in</strong>n und untersuchen alles <strong>mit</strong> dem Geschmackss<strong>in</strong>n Wahrnehmbare.<br />

–<br />

Dann <strong>mit</strong> dem Geruchss<strong>in</strong>n. –<br />

Und dann untersuchen wir alles durch den Sehs<strong>in</strong>n Wahrnehmbare. –<br />

Gibt es <strong>in</strong> dem, was sichtbare Formen s<strong>in</strong>d irgendetwas, das sich dem Wandel entzieht oder das nicht<br />

dem E<strong>in</strong>fluss von Ursachen und Bed<strong>in</strong>gungen unterliegt? –<br />

Jetzt fragen wir uns: „Wo ist das Ich <strong>in</strong> all dem? Gibt es da <strong>in</strong> all dem, was wir jetzt untersucht haben,<br />

e<strong>in</strong> stabiles Ich, Selbst, e<strong>in</strong>e Person?“ –<br />

Das, was das verme<strong>in</strong>tliche Ich sieht oder als was es von außen gesehen wird, unterliegt dem Wandel.<br />

Das visuelle Erleben von <strong>in</strong>nen und von außen ist dem Wandel unterworfen, ist Bed<strong>in</strong>gungen unterworfen,<br />

ist e<strong>in</strong> ständiger Prozess <strong>in</strong> Veränderung. Das Gleiche gilt auch für das Wahrnehmbare im<br />

Körpers<strong>in</strong>n, das Wahrnehmbare im Geschmackss<strong>in</strong>n, im Geruchss<strong>in</strong>n, im Hörs<strong>in</strong>n, <strong>in</strong> allen Bereichen<br />

der fünf S<strong>in</strong>ne. –<br />

* * *<br />

Was ich me<strong>in</strong>e äußere Form nenne – me<strong>in</strong>e Ohren, Augenbrauen, der Glatzkopf – ändert sich, es ist im<br />

Wandel. Innerlich, <strong>die</strong> Körperempf<strong>in</strong>dung wandelt sich ständig, und auch äußerlich ist Wandel. Wo ist<br />

da e<strong>in</strong> stabiles Ich?<br />

Was ich rieche und wie me<strong>in</strong> Körper riecht, was ich höre und was ich an Geräuschen von mir gebe:<br />

Gibt es da irgendetwas Stabiles, was man e<strong>in</strong> stabiles Ich nennen könnte? Was Geschmäcker und<br />

Körperempf<strong>in</strong>dungen angeht, genauso.<br />

Das Lebewesen, dem man e<strong>in</strong>e Form geben und sagen kann: „Sieht so aus, hat <strong>die</strong>sen Geruch und hat<br />

<strong>die</strong>sen Geschmack usw.“, das gibt es nicht. Das ist <strong>die</strong> erste wichtige Schlussfolgerung, zu der wir aufgrund<br />

<strong>die</strong>ses Forschens kommen können.<br />

Meditation:<br />

Meditieren bedeutet eigentlich e<strong>in</strong>fach, dass wir uns <strong>die</strong> Zeit nehmen, wieder auf dem Sitz anzukommen,<br />

den Körper wahrzunehmen, <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dungen, den Fluss, den Strom der Wahrnehmungen. –<br />

Wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach präsent, ohne irgendetwas verändern zu wollen. –<br />

In <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>fachen Präsenz nehmen wir den Strom des Lebens, der Erfahrungen, der Wahrnehmungen<br />

wahr. –<br />

8


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Gibt es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Strom des Erlebens etwas Stabiles, das wir e<strong>in</strong> Ich nennen können? –<br />

* * *<br />

Um <strong>die</strong>se Frage zu beantworten, werden wir nache<strong>in</strong>ander <strong>die</strong> fünf Aggregate durchgehen.<br />

Warum wir <strong>die</strong>ser Frage nach dem Ich so viel Bedeutung beimessen, habe ich noch gar nicht so ausführlich<br />

erklärt. Eigentlich ist es <strong>die</strong> Frage nach der Ursache aller Schwierigkeiten. Wenn ich Stress,<br />

Spannung erlebe, wenn ich unzufrieden b<strong>in</strong>, woher kommt das eigentlich?<br />

Wenn wir genau h<strong>in</strong>schauen, bemerken wir, dass das immer wieder aus Situationen kommt, wo es<br />

heißt: „Ich will!“ – Ich will etwas bekommen, oder ich will etwas nicht: „Lass mich <strong>in</strong> Ruhe!“, oder<br />

„Ich me<strong>in</strong>e das, aber du me<strong>in</strong>st das!“, „Ich will das, und du willst es auch.“ – Spannung, Konflikt.<br />

„Ich b<strong>in</strong> nicht gut genug.“ oder „Ich b<strong>in</strong> besser als alle anderen.“, „Ich will <strong>die</strong> Kontrolle haben!“ …<br />

Immer wieder ich – ich – ich, <strong>in</strong> ganz mannigfaltigen Formen, manchmal sehr grob, manchmal sehr<br />

fe<strong>in</strong>. Immer wieder merken wir, dass <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem verme<strong>in</strong>tlichen Ich Spannung und<br />

Leid, Stress auftritt. Und wir merken auch, dass – wenn wir <strong>die</strong> Situationen analysieren, <strong>in</strong> denen wir<br />

weniger angespannt s<strong>in</strong>d – gleichzeitig dort auch e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Ich-Identifikation besteht. Das können<br />

wir schon fühlen, wenn Freude da ist, wenn wirkliche Liebe, Mitgefühl, Freigiebigkeit, Geduld da<br />

s<strong>in</strong>d. Das s<strong>in</strong>d Geisteszustände von ger<strong>in</strong>gerer Ich-Bezogenheit, und schon ist das Leben leichter.<br />

Jetzt werden wir uns anschauen, was es eigentlich ausmacht, dass wir immer wieder <strong>in</strong> <strong>die</strong>se starke<br />

Ich-Bezogenheit verfallen. Der wichtigste Punkt dabei ist, herauszuf<strong>in</strong>den, ob es denn das Ich überhaupt<br />

gibt, das wir verteidigen wollen und das wir nähren wollen. Von dem wir wollen, dass es besser<br />

wird oder dass es <strong>die</strong> Kontrolle behält oder dass es nicht stirbt – Angst vor dem Tod. Das alles hängt ja<br />

<strong>mit</strong> dem Gefühl des Ichs zusammen.<br />

In <strong>die</strong>ser Annahme e<strong>in</strong>es Ichs steckt e<strong>in</strong> enormes Potential für Konflikte. Wenn das nur e<strong>in</strong>e bloße<br />

Annahme, e<strong>in</strong>e Hypothese wäre, dann wäre das ja völlig irrelevant. Man könnte <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Hypothese<br />

arbeiten, es wäre e<strong>in</strong>e Arbeitshypothese, man würde sie nicht verteidigen müssen. Aber so s<strong>in</strong>d wir<br />

doch dabei, uns immer wieder verbessern zu wollen, uns verteidigen zu wollen.<br />

Wir verfallen <strong>in</strong> Depressionen, wenn wir uns nicht gut genug f<strong>in</strong>den. Ich f<strong>in</strong>de me<strong>in</strong>en Lebenss<strong>in</strong>n<br />

nicht, ich halte mich für ungenügend, für nicht genug geliebt. Oder wir verfallen <strong>in</strong> Stolz, weil wir <strong>die</strong><br />

Qualitäten, <strong>die</strong> wir auch <strong>in</strong> uns entdecken, e<strong>in</strong>em verme<strong>in</strong>tlichen Ich zuschreiben, als wären <strong>die</strong>se<br />

Qualitäten aus dem Ich heraus geboren.<br />

Der Buddha sagt, dass wir e<strong>in</strong>em großen Irrtum aufsitzen, wenn wir <strong>die</strong>se Arbeitshypothese e<strong>in</strong>es Ichs<br />

für e<strong>in</strong> wirkliches Ich halten, und dass <strong>die</strong>ser Grundirrtum Ursache von all unserem Leid ist, also nicht<br />

nur von e<strong>in</strong>em Teil. Dieser Irrtum ist <strong>die</strong> Ursache von aller Spannung <strong>in</strong> unserem Geist, wir nennen<br />

das Leid, dukkha. Alle Anspannung kommt aus <strong>die</strong>ser Annahme e<strong>in</strong>es Ichs.<br />

Der Buddha verwendete auch das Wort ‚Ich’: „Ich gehe, um e<strong>in</strong>e Unterweisung zu geben.“, „Ich habe<br />

Durst.“, „Morgen gehe ich dort h<strong>in</strong>, weil ich e<strong>in</strong>geladen b<strong>in</strong>.“<br />

Er hat auf e<strong>in</strong>e ganz e<strong>in</strong>fache Art und Weise das Wort ‚Ich’ benutzt, aber nur als e<strong>in</strong>en Begriff, der<br />

<strong>die</strong>sen Prozess, <strong>die</strong>sen Geistesstrom, beschreibt, der im ständigen Wandel ist, nicht als etwas Fixes<br />

oder etwas Stabiles.<br />

9


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Das Aggregat der Formen<br />

Rupa Skandha<br />

Das Aggregat von allem, was als Form bezeichnet wird, unterteilt man weiter <strong>in</strong> vier Ursachen-<br />

Formen und elf Ergebnis-Formen.<br />

Die vier Ursachenformen<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> vier großen Elementarkräfte (maha-bhuta). Hierbei stellt das Erdelement Festigkeit dar<br />

und <strong>die</strong>nt als Basis (oder Stütze). Das Wasserelement ist Flüssigkeit und b<strong>in</strong>det. Das Feuerelement<br />

ist Hitze und br<strong>in</strong>gt zur Reife. Das W<strong>in</strong>delement ist Bewegung und verstärkt.<br />

Diese vier Ursachen-Formen – Erde, Wasser, Feuer und W<strong>in</strong>d – können wir im Außen beobachten. Es<br />

gibt <strong>die</strong> Erde, wir gehen auf der Erde. Es gibt Flüsse, es gibt Regen, es gibt Wasser, das wir tr<strong>in</strong>ken. Es<br />

gibt <strong>die</strong> Sonne, es gibt Feuer, es gibt Hitze. Es gibt Bewegung, den W<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> Luft. Das alles ist sehr<br />

spürbar. Auch am eigenen Körper, der als das Zusammenkommen <strong>die</strong>ser Elemente erfahren wird,<br />

merken wir, dass es Stabilität gibt, Festigkeit, <strong>die</strong> typisch für <strong>die</strong> Erde ist. Es gibt <strong>die</strong> Kohäsion, das<br />

flüssige Element, das charakteristisch für das Wasser ist. Es gibt Wärme, charakteristisch für das<br />

Feuerelement, und es gibt Bewegung, es gibt das E<strong>in</strong>- und Ausatmen, das Pulsieren des Blutes, all das,<br />

was typisch für das W<strong>in</strong>delement und für Wandel ist.<br />

Was hier Ursachen-Formen genannt wird, ist das, was sich <strong>in</strong> immer neuen Verb<strong>in</strong>dungen als Objekte,<br />

als alles Wahrnehmbare im Universum manifestiert. Wenn wir <strong>die</strong>se verschiedenen Grundelemente<br />

von Festigkeit, Kohäsion, Wärme und Bewegung komb<strong>in</strong>ieren, dann kommt es dazu, dass verschiedenste<br />

Objekte entstehen.<br />

Zum Beispiel <strong>die</strong>ses Mikrophon hat e<strong>in</strong> starkes Erdelement, das ist se<strong>in</strong>e Festigkeit, es hat e<strong>in</strong>e Schwere.<br />

Es hat e<strong>in</strong>e Kohäsion, es fällt nicht ause<strong>in</strong>ander – das ist das Wasserelement. Es hat e<strong>in</strong>e Kühle<br />

oder e<strong>in</strong>e Wärme – das ist das Feuerelement. Und es ist <strong>in</strong>nerlich <strong>in</strong> Bewegung, was man am Zerfall<br />

sehen kann, der sich vollzieht, wenn man es z.B. zehn Jahre draußen liegen lässt. Das ist <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere<br />

Teilchenbewegung.<br />

Wenn sich <strong>die</strong> vier äußeren Elemente <strong>in</strong> unterschiedlicher Form komb<strong>in</strong>ieren, dann kommt es zu<br />

Tischen, dann kommt es zu Blättern, zu Holz. Bei e<strong>in</strong>em Blatt <strong>die</strong>ser Blume z.B. s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Anteile von<br />

dem, was Festigkeit, Wärme, Kohäsion oder Wasserelement ist, ganz anders. Es ist e<strong>in</strong> ganz anderes<br />

Verhalten der Elemente.<br />

Die vier Grundelemente, denen wir <strong>in</strong> der Natur begegnen, heißen Ursachen-Formen, weil sie <strong>die</strong> Ergebnisse<br />

produzieren, <strong>die</strong> wir als visuelle Objekte wahrnehmen. Jedes visuelle Objekt ist e<strong>in</strong> Zusammenkommen<br />

<strong>die</strong>ser vier Grundelemente. Alle <strong>die</strong>se visuellen Objekte können Klänge von sich geben,<br />

entweder aktiv oder <strong>in</strong>dem sie wie z.B. <strong>die</strong> Mikrophone hier e<strong>in</strong>fach gegene<strong>in</strong>ander geschlagen<br />

werden. Oder der Tisch, alle Objekte kl<strong>in</strong>gen und jedes Objekt hat e<strong>in</strong>en eigenen Klang, sie s<strong>in</strong>d<br />

verschieden. Das waren visuelle Form und Klangform, dann Geschmack – man kann alles schmecken,<br />

man kann alles riechen, man kann alles anfassen und spüren. Das nennt man Ergebnisformen.<br />

Die elf Ergebnisformen<br />

Zehn der elf Ergebnisformen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> fünf S<strong>in</strong>nesfähigkeiten <strong>mit</strong> ihren fünf S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halten. Die fünf<br />

S<strong>in</strong>nesfähigkeiten werden den Formen zugeordnet, weil sie auf Formen beruhen, auf Ohren, Nase,<br />

Augen usw. Da ist e<strong>in</strong>e Basis von etwas Wahrnehmbarem, was dann <strong>die</strong> eigentliche Wahrnehmung<br />

ermöglicht.<br />

Dann gibt es zusätzlich als 11. Ergebnisform <strong>die</strong> Geistesobjekte im Dharma-S<strong>in</strong>nesfeld – das, was nur<br />

mental wahrnehmbar ist. Der Ausdruck Formen wird hier im übertragenen S<strong>in</strong>n verwendet. Z.B. sagt<br />

10


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

man im Deutschen: Wir formen e<strong>in</strong>e Gruppe, wir formen uns e<strong>in</strong>e Vorstellung, wir formen uns e<strong>in</strong><br />

Bild. In <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>n wird alles, was geformt ist, Form genannt. Die 11. Ergebnisform ist also nicht<br />

Form <strong>in</strong> dem engen S<strong>in</strong>n von visueller Form, äußerlich als Materie wahrnehmbar, sondern es ist all das<br />

geme<strong>in</strong>t, was geformte Wahrnehmung ist, was als e<strong>in</strong> Bild, als Idee oder Vorstellung <strong>in</strong>nerlich entsteht.<br />

Wir machen e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Experiment:<br />

Schaut e<strong>in</strong>fach vor euch – visuelle Wahrnehmung, <strong>die</strong> sich vor euch jetzt gerade zeigt. –<br />

Jetzt schließt <strong>die</strong> Augen und schaut mal, ob ihr euch noch er<strong>in</strong>nern könnt an das, was ihr gerade <strong>mit</strong><br />

den Augen gesehen habt. –<br />

Das war <strong>die</strong> Übung für e<strong>in</strong> großes Sichtfeld. Jetzt nehmen wir e<strong>in</strong> Objekt. Nehmt e<strong>in</strong> Objekt, schaut es<br />

euch an, und nehmt dann das Objekt weg und versucht, euch an das Objekt zu er<strong>in</strong>nern. –<br />

Nimmt e<strong>in</strong>en Stift <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand.<br />

Wie heißt das, was ich <strong>in</strong> der Hand halte? Es ist e<strong>in</strong> Stift. Warum nennen wir das Stift? Wir nennen es<br />

e<strong>in</strong>en Stift aufgrund se<strong>in</strong>es Nutzens. Wir nennen es Stift, weil es andere Objekte gibt, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e gleiche<br />

Funktion und e<strong>in</strong> ähnliches Aussehen haben, <strong>die</strong> wir alle Stifte nennen.<br />

Wir haben aufgrund vielfältiger Erfahrungen <strong>in</strong> der Vergangenheit, wo wir Stifte <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand genommen<br />

und benutzt haben, <strong>in</strong>nere Vergleiche erstellt und können <strong>die</strong>s hier jetzt der Kategorie ‚Stift’<br />

zuordnen. Das geschieht aufgrund <strong>in</strong>nerer Abbilder. Wir machen deutlich den Unterschied zwischen<br />

e<strong>in</strong>em Kugelschreiber und e<strong>in</strong>em Bleistift oder e<strong>in</strong>em Füllfelderhalter. Wir können fe<strong>in</strong> unterscheiden.<br />

Wir können noch weiter unterschieden, und <strong>die</strong>se Unterscheidungen f<strong>in</strong>den aufgrund <strong>in</strong>nerer Bilder,<br />

mentaler Abbilder und Vergleiche statt.<br />

Das Sehen des Stiftes vollzieht sich <strong>in</strong> der Gegenwart. Die Augen nehmen e<strong>in</strong>en Stift wahr, das wird<br />

bereits mental verarbeitet. Aber wenn der Stift weg ist und ich mich an den Stift er<strong>in</strong>nere, dann ist das<br />

e<strong>in</strong> nur mentales Geschehen, das ke<strong>in</strong>erlei visuelle Basis mehr hat. Mit <strong>die</strong>sen mentalen Abbildern<br />

arbeiten wir ständig. Wir vergleichen <strong>mit</strong> mentalen Abbildern, wenn wir uns an andere Stifte er<strong>in</strong>nern<br />

oder an andere Autos. Wenn wir uns an unsere Mutter er<strong>in</strong>nern, <strong>die</strong> jetzt nicht hier im Raum sitzt,<br />

dann arbeiten wir <strong>mit</strong> mentalen Abbildern. Wenn wir uns an den Menschen er<strong>in</strong>nern, der uns gestern<br />

genervt hat, dann arbeiten wir <strong>mit</strong> mentalen Abbildern. Die Erfahrung ist schon längst vorbei.<br />

Wir s<strong>in</strong>d ständig dabei, <strong>mit</strong> <strong>in</strong>neren Abbildern, <strong>mit</strong> ‚Formen’ zu arbeiten, <strong>die</strong> sich geformt haben, als<br />

es direkte Erfahrung über <strong>die</strong> S<strong>in</strong>ne gab. Diese Nachbilder oder Abbilder der gemachten Erfahrungen<br />

vergleichen wir <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander, und daran hängen sich auch unsere Emotionen auf.<br />

Auch unser Ich def<strong>in</strong>iert sich über solche Abbilder und nicht über direktes Erleben. Es def<strong>in</strong>iert sich<br />

über Nachbilder, Abbilder. Ich er<strong>in</strong>nere mich aufgrund <strong>in</strong>nerer Abbilder, Nachbilder an das, was ich<br />

als K<strong>in</strong>d erfahren habe, als Jugendlicher, als Erwachsener, bis heute, und <strong>die</strong> Summe <strong>die</strong>ser ganzen<br />

Bilder, <strong>die</strong>ser Nachbilder ergibt e<strong>in</strong>e Form, e<strong>in</strong>e Gesamtform, <strong>die</strong> ich ‚Ich’ nenne: „Ich! Me<strong>in</strong> Leben.<br />

Das b<strong>in</strong> ich.“ Das s<strong>in</strong>d geistige Bilder.<br />

Wir machen e<strong>in</strong> anderes Experiment:<br />

Streicht euch über <strong>die</strong> Haut und versucht, euch dann daran zu er<strong>in</strong>nern, wie es war, als ihr euch über<br />

<strong>die</strong> Haut gestrichen habt. –<br />

Kneift euch und versucht euch danach daran zu er<strong>in</strong>nern, wie das ist, sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Haut gekniffen zu<br />

haben. –<br />

Wenn ich euch jetzt frage, welche der beiden Erfahrungen ihr lieber habt, das Streichen über <strong>die</strong> Haut<br />

oder das Kneifen, so braucht ihr es nicht e<strong>in</strong>mal zu wiederholen. Alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> Er<strong>in</strong>nerung an das Erfahrene<br />

ermöglicht euch zu sagen, dass ihr das e<strong>in</strong>e oder andere lieber habt. Das ist also e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> mentaler<br />

Prozess, er geht nicht mehr <strong>in</strong> den Körper zurück. Der Körper wird nicht erneut gestreichelt und gekniffen.<br />

11


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Das alles nennt man Formen. Es hat sich also auch aus dem taktilen Bereich heraus e<strong>in</strong> Abbild geformt,<br />

e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungsbild – <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Fall e<strong>in</strong>e taktile Form, e<strong>in</strong>e Repräsentation von dem taktilen<br />

Erlebnis im eigenen Geist.<br />

Wenn wir jetzt das Gleiche <strong>mit</strong> Klängen machen, wird es sehr e<strong>in</strong>fach. Wir können sehr gut unterscheiden:<br />

Schnippt <strong>mit</strong> den F<strong>in</strong>gern – den Klang behalten. – Schnippt noch e<strong>in</strong>mal – Wir können den<br />

Klang <strong>in</strong>nerlich wiederholen, wir können uns daran er<strong>in</strong>nern.<br />

Klatscht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hände – Auch e<strong>in</strong>e Folge von Händeklatschen und F<strong>in</strong>gerschnippen lässt sich <strong>in</strong>nerlich<br />

wiederholen. Das geht so weit, dass wir uns an Lieder, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dheit gehört haben, er<strong>in</strong>nern –<br />

z.B. ‚Bruder Jakob’. Wir wissen genau, wie <strong>die</strong> Melo<strong>die</strong> zu s<strong>in</strong>gen ist, welche Tonfolge stimmig ist<br />

und welche falsch, unserem <strong>in</strong>neren Abbild nicht angemessen.<br />

Das Gleiche gilt für den Geschmacks<strong>in</strong>n. Wir s<strong>in</strong>d durchaus <strong>in</strong> der Lage uns vorzustellen, wie e<strong>in</strong> kühles<br />

Blondes schmeckt oder e<strong>in</strong> guter Rotwe<strong>in</strong> – durchaus anders. E<strong>in</strong> Nutella-Brot ist schon wieder<br />

ganz anders, völlig unterschiedlich. Wir können <strong>in</strong> unserer Unterscheidungsfähigkeit sehr fe<strong>in</strong> werden.<br />

Es gibt We<strong>in</strong>kenner, <strong>die</strong> verschiedene Jahrgänge derselben Rebe unterscheiden können oder verschiedene<br />

Reben, verschiedene We<strong>in</strong>berge. Das ist e<strong>in</strong>e ganz fe<strong>in</strong> ausgeprägte Fähigkeit, <strong>in</strong>nere Abbilder<br />

<strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander zu vergleichen.<br />

Mit dem Geruchss<strong>in</strong>n ist es genauso. Wir können gute Parfums von den Gerüchen der Natur unterscheiden.<br />

Wir können uns vielleicht an Rosenduft er<strong>in</strong>nern oder wie Kaffee morgens riecht. Wir haben<br />

all <strong>die</strong>se Gerüche <strong>in</strong>nerlich als Abbilder gespeichert. All das nennt man Formen.<br />

Es gibt also e<strong>in</strong>e Vielzahl solcher Formen. Alles, was sich zu e<strong>in</strong>er Erfahrung formt, wird Form genannt,<br />

egal ob es Klangbilder s<strong>in</strong>d, Geruchsbilder, visuelle Bilder oder Ideen. Und <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Vielzahl<br />

der Formen, sagt der Buddha, gibt es ke<strong>in</strong> Ich zu f<strong>in</strong>den. Es ist da e<strong>in</strong>e unendliche Vielzahl von E<strong>in</strong>drücken,<br />

<strong>die</strong> entstehen, <strong>die</strong> abgespeichert werden können oder auch nicht, und <strong>in</strong> denen sich ke<strong>in</strong> Ich<br />

und ke<strong>in</strong> Selbst f<strong>in</strong>den lässt. Es ist e<strong>in</strong>e unaufhörliche Aufe<strong>in</strong>anderfolge von Erfahrungen.<br />

Wir nehmen uns e<strong>in</strong>en Moment Zeit, um den Atem wieder zu f<strong>in</strong>den. –<br />

Um zu vermeiden, dass wir nur <strong>in</strong> mentalen Reproduktionen leben, raten uns <strong>die</strong> Meister, dass wir so<br />

viel wie möglich <strong>in</strong> das un<strong>mit</strong>telbare Erleben zurückkehren. Im un<strong>mit</strong>telbaren Erleben wird <strong>die</strong><br />

Vielfalt der E<strong>in</strong>drücke offensichtlich. Die geistigen Nachbilder s<strong>in</strong>d nicht mehr <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung <strong>mit</strong> der<br />

Wirklichkeit und ersche<strong>in</strong>en stabil. Wenn wir nur <strong>mit</strong> geistigen Abbildern leben, ersche<strong>in</strong>t uns <strong>die</strong><br />

Welt stabil. Es braucht den direkten Kontakt, <strong>die</strong> direkte Lebenserfahrung, um immer wieder unsere<br />

Vorstellung über das Erlebte anzupassen, aufzufrischen, zu erneuern.<br />

Viele von uns haben sich seit e<strong>in</strong>em Jahr vielleicht nicht gesehen, manche seit zwei Jahren oder mehr.<br />

Christian z.B. war vor zwei Jahren da, vor zwei Jahren hat sich e<strong>in</strong> Bild geformt von dem, was Christian<br />

ist. Wenn jetzt Christian wieder auftaucht und ich nur <strong>mit</strong> der Vorstellung, <strong>mit</strong> dem Abbild agiere,<br />

das ich mir damals gebildet habe, dann nehme ich vielleicht gar nicht wahr, was da jetzt für e<strong>in</strong>e Person<br />

ist, <strong>die</strong> vielleicht etwas ganz Neues hat, etwas Frisches. Dadurch lässt man der Person gar ke<strong>in</strong>e<br />

Chance, ihre Veränderung zu zeigen, zu erleben. Es braucht immer den Kontakt <strong>mit</strong> der direkten<br />

Erfahrung.<br />

Als ich noch verheiratet war, habe ich es mir zur Regel gemacht, me<strong>in</strong>e Frau <strong>mit</strong> den Augen zu betrachten,<br />

als würde ich sie nicht kennen – jeden Tag, jede Situation aufs Neue zu entdecken. Das hat<br />

total gut geholfen. Wir müssen das <strong>mit</strong> allen Personen machen, jede Person <strong>in</strong> jeder Situation neu<br />

entdecken, denn nie ist e<strong>in</strong>e Person genau so wie <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Situation zuvor. Sie ist jedes Mal neu,<br />

und das machen wir <strong>mit</strong> allen D<strong>in</strong>gen.<br />

Die mentalen Abbilder funktionieren genauso wie <strong>die</strong> <strong>in</strong> den fünf äußeren S<strong>in</strong>nen. Wir haben Vorstellungen<br />

im Geist, es haben sich Formen gebildet, z.B. Kommunismus, Kapitalismus. Da s<strong>in</strong>d Ideen entstanden.<br />

Das s<strong>in</strong>d re<strong>in</strong>e Gedankenkonstrukte, <strong>die</strong> zwar was bedeuten, aber sie s<strong>in</strong>d von Anfang an Gedankenprodukte,<br />

geistige Produkte, und wir jonglieren da<strong>mit</strong>. Wir hören was – z.B. Demokratie – und<br />

<strong>die</strong>ses Konzept löst was aus, oder wir hören ‚Christentum, katholische Kirche, Papst’. Bei e<strong>in</strong>igen öffnet<br />

es das Herz und bei e<strong>in</strong>igen schließt es das Herz. Je nachdem, was wir <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen <strong>in</strong>neren Formen,<br />

<strong>die</strong>sen <strong>in</strong>neren Abbildern verb<strong>in</strong>den. Bei vielen <strong>die</strong>ser Formen lässt sich klar sehen, dass sie gar ke<strong>in</strong>e<br />

12


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Basis im konkreten Erleben haben. – Wer von uns ist denn z.B. schon Sarkozy begegnet oder Merkel?<br />

Wer hat dem Papst schon <strong>die</strong> Hand geschüttelt? – Aber wir haben Bilder und Anschauungen und<br />

Reaktionen dazu.<br />

Wir haben aufgrund von Austausch, von Gesprächen Ideen gebildet. Auch das schöne Wort Liebe ist<br />

eigentlich nur e<strong>in</strong>e Idee. Es ist e<strong>in</strong> abstrakter Begriff, der sich gebildet hat, um bestimmte Formen des<br />

Zusammense<strong>in</strong>s, des Austauschs, der Herzenswärme und dergleichen zu beschreiben. Das ist e<strong>in</strong>e<br />

mentale Welt, <strong>die</strong> gar nicht mehr direkte S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke beschreibt.<br />

Ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser mentalen Welt e<strong>in</strong> Ich zu f<strong>in</strong>den? Ergeben <strong>die</strong>se mentalen Formen, <strong>die</strong>se Konstrukte, e<strong>in</strong><br />

Ich, e<strong>in</strong> Selbst?<br />

Im Dharma-S<strong>in</strong>nesfeld gibt es fünf Arten von Formen:<br />

1) „Geschlussfolgert“ s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Formen der kle<strong>in</strong>sten Teilchen, <strong>die</strong> – obwohl sie Formen<br />

s<strong>in</strong>d – nur mental erkannt werden.<br />

2) „Räumlich“ oder „als Raum ersche<strong>in</strong>end“ s<strong>in</strong>d Formen, <strong>die</strong> – wie zuvor [unter visuellen<br />

Formen] beschrieben – anderes nicht beh<strong>in</strong>dern.<br />

3) „Aus richtigem Annehmen entstehend“ s<strong>in</strong>d Formen, <strong>die</strong> [für gewöhnliche Lebewesen]<br />

nicht offenkundig s<strong>in</strong>d.<br />

4) „Vorgestellte Formen“ s<strong>in</strong>d wie Spiegelbilder [im Geist] oder Formen im Traum.<br />

5) „Beherrschte Formen“ s<strong>in</strong>d Formen, <strong>die</strong> kraft der Meisterschaft meditativer Versenkung<br />

ersche<strong>in</strong>en, wie Vollständiges Blau und dergleichen.<br />

Die Details hier s<strong>in</strong>d nicht so wichtig. Es geht darum, dass wir das Pr<strong>in</strong>zip verstehen. Manche <strong>die</strong>ser<br />

Formen s<strong>in</strong>d durch Schlussfolgerungen entstanden, andere s<strong>in</strong>d z.B. wie Raum <strong>die</strong> Abwesenheit von<br />

etwas anderem. Manche entstehen aufgrund subtiler Wahrnehmungen – wenn z.B. jemand hier im<br />

Raum wäre, der <strong>die</strong> Aura, das Energiefeld um e<strong>in</strong>en Menschen herum, sehen könnte, dann würde das<br />

e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren E<strong>in</strong>druck im Geist h<strong>in</strong>terlassen und ebenso zu e<strong>in</strong>er Formwahrnehmung führen, <strong>die</strong><br />

nachher Emotionen und Identifikationen auslösen kann. Es gibt re<strong>in</strong>e Vorstellungen, wie Traumbilder,<br />

und es gibt Formen, <strong>die</strong> aufgrund von Erfahrungen <strong>in</strong> der Meditation entstehen, wo es ke<strong>in</strong>e Erfahrung<br />

<strong>in</strong> den fünf äußeren S<strong>in</strong>nen gibt, sondern wo sich Meditations-Erfahrungen zu Formen verdichten, an<br />

denen wir anhaften oder <strong>die</strong> wir ablehnen mögen. Da f<strong>in</strong>den ebenfalls Identifikationen statt.<br />

Wichtig ist hier zu verstehen, dass <strong>in</strong> den sechs S<strong>in</strong>nen unaufhörlich Formen ersche<strong>in</strong>en. Jede bietet<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit, sich zu identifizieren, aber eigentlich ist es nur e<strong>in</strong> ständiges Spiel wechselnder Ersche<strong>in</strong>ungen.<br />

Wenn wir uns <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Strom aufsteigender Formen, aufsteigender Erfahrungen irgendwo identifizieren,<br />

dann führt das zu Stockungen, zu Blockaden. Wir s<strong>in</strong>d <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Form mehr identifiziert als <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>er anderen, wollen im Ausschluss der anderen Form mehr <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Form se<strong>in</strong>, was natürlicherweise<br />

zu Spannungen führt. Egal <strong>mit</strong> welcher Form wir uns identifizieren, es wird immer im Ausschluss zu<br />

anderen Wahrnehmungen se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> Konkurrenz zu anderen Wahrnehmungen. Z.B.: „Ich b<strong>in</strong> Sozialdemokrat,<br />

Deutscher, Mann usw.“ bis h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Detail. „Ich trage e<strong>in</strong>en Bart, habe <strong>die</strong> und <strong>die</strong> Brille,<br />

nehme das und das Parfum. Ich kleide mich so und so….“ Je weiter <strong>die</strong> Identifikationen sich verfe<strong>in</strong>ern,<br />

desto mehr entsteht Spannung zu anderen Formen, <strong>die</strong> auch S<strong>in</strong>neswahrnehmungen s<strong>in</strong>d.<br />

Diese Identifikation kann so weit gehen, dass ich z.B. heute nicht glücklich b<strong>in</strong>, dass ich depressiv b<strong>in</strong>,<br />

weil gestern, letztes Jahr oder <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit etwas schief gelaufen ist. Das ist aber heute nicht<br />

mehr <strong>die</strong> aktuelle Erfahrung. Ich identifiziere mich aber <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Erfahrungs-Form, <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er geistigen<br />

Reproduktion, <strong>die</strong> bereits vorbei ist und b<strong>in</strong> dadurch nicht mehr offen für <strong>die</strong> Erfahrung, <strong>die</strong> jetzt<br />

gerade ist. Das ist der Prozess, wie wir Leiden <strong>mit</strong> uns tragen, wie wir es <strong>mit</strong>nehmen und wie es uns<br />

weiterh<strong>in</strong> begleitet aufgrund der geistigen Abbilder, an denen wir haften.<br />

* * *<br />

13


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Fragen:<br />

Sitzhaltung<br />

Soll beim Meditieren das rechte Be<strong>in</strong> vorne se<strong>in</strong>? Ich habe manchmal das Bedürfnis zu wechseln. Was<br />

hat das für e<strong>in</strong>e Bedeutung?<br />

Du kannst <strong>mit</strong> dem rechten Be<strong>in</strong> und <strong>mit</strong> dem l<strong>in</strong>ken Be<strong>in</strong> vorne praktizieren. Wenn <strong>die</strong> Be<strong>in</strong>e übere<strong>in</strong>ander<br />

liegen, dann soll – wenn das rechte Be<strong>in</strong> über dem l<strong>in</strong>ken liegt – auch <strong>die</strong> rechte Hand über<br />

der l<strong>in</strong>ken liegen und umgekehrt. Es geht nur darum, dass <strong>die</strong> Zirkulation der Energien harmonisch ist.<br />

Eigene Abwertung<br />

E<strong>in</strong>e sehr persönliche Frage. Es geht um <strong>die</strong> Tendenz, sich aus e<strong>in</strong>er Gruppe auszuschließen aufgrund<br />

der eigenen Abwertung.<br />

Ich kann <strong>in</strong> der Kürze der Zeit nicht viel dazu sagen, aber der Rat wäre, da<strong>mit</strong> zu beg<strong>in</strong>nen, sich selbst<br />

zu akzeptieren und sich weniger zu bewerten; auch zu wissen, dass von außen gar nicht so viel wahrzunehmen<br />

ist. Wir blähen <strong>in</strong>nerlich oft sehr auf, was wir an uns nicht akzeptieren können. Es wäre<br />

sicherlich hilfreich, Tonglen <strong>mit</strong> sich selbst zu praktizieren.<br />

Ich praktiziere Tonglen schon lange und recht <strong>in</strong>tensiv aber offensichtlich vorwiegend <strong>mit</strong> anderen. Es<br />

ist so schwierig, Liebe und Mitgefühl auch für sich selbst zu empf<strong>in</strong>den.<br />

Liebe und Mitgefühl für sich selber zu entwickeln ist aber <strong>die</strong> notwendige Basis. Um Liebe und Mitgefühl<br />

auch auf andere auszudehnen, brauchen wir erst e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong>ses Akzeptieren von uns selbst.<br />

Förderliche Stabilität im Leben<br />

Im Zusammenhang <strong>mit</strong> der Flexibilität des Geistes g<strong>in</strong>g es darum, dass wir <strong>mit</strong> dem Erwachsen-Werden<br />

steifer werden. Aber wenn wir praktizieren wollen, dann brauchen wir doch e<strong>in</strong>e Art von Stabilität<br />

– <strong>in</strong>nerlich und <strong>in</strong> den äußeren Bed<strong>in</strong>gungen.<br />

Das war natürlich e<strong>in</strong> bisschen scherzhaft gesagt, es war e<strong>in</strong> Scherz <strong>mit</strong> etwas Lebenserfahrung. Aber<br />

wir können beobachten, dass <strong>die</strong> so genannten Erwachsenen dazu neigen, es sich <strong>in</strong> ihrer eigenen Welt<br />

e<strong>in</strong>zurichten <strong>mit</strong> sehr festen Bezugspunkten, <strong>mit</strong> Anschauungen und Wertvorstellungen, <strong>die</strong> immer unverrückbarer<br />

werden, sodass sie dann im greisen Alter völlig unflexibel s<strong>in</strong>d.<br />

Das ist aber nicht der Prozess, der unbed<strong>in</strong>gt stattf<strong>in</strong>den muss. E<strong>in</strong> Erwachsener, der durch e<strong>in</strong>e wahre<br />

spirituelle Entwicklung geht, wird e<strong>in</strong>e andere Richtung e<strong>in</strong>schlagen. Die Stabilität, <strong>die</strong> er dabei f<strong>in</strong>det,<br />

ist e<strong>in</strong>e Stabilität, <strong>die</strong> sich dem Wandel nicht mehr widersetzt. Es ist <strong>die</strong> Fähigkeit, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weisen,<br />

<strong>mit</strong>fühlenden Art <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Prozess zu se<strong>in</strong>. Die Stabilität liegt <strong>in</strong> den Qualitäten, <strong>die</strong> sich im Geist<br />

zeigen und nicht <strong>in</strong> den festgefahrenen Ideen <strong>in</strong> der Welt. Äußere Stabilität kann man sich erarbeiten.<br />

E<strong>in</strong> Erwachsener kann <strong>in</strong> ziemlich stabilen äußeren Bed<strong>in</strong>gungen leben. Wahre Stabilität ist aber <strong>die</strong><br />

e<strong>in</strong>es flexiblen, geschmeidigen Geistes. Je flexibler der Geist wird, je weniger er sich der Realität<br />

widersetzt, umso stabiler wird er.<br />

E<strong>in</strong> rigider Geist ist eigentlich recht <strong>in</strong>stabil, weil er ständig angespannt und deshalb ziemlich emotional<br />

ist. Diese so genannte ‚Stabilität der Fixierung’ ist e<strong>in</strong> sehr riskanter Zustand, denn aufgrund<br />

<strong>in</strong>nerer Anspannung und aufgrund von Emotionen wird man immer wieder <strong>in</strong> schwierige Situationen<br />

geraten. Die schwierigste Situation ist wohl das Sterben, wenn man <strong>in</strong> Fixierung verharrt und nicht <strong>in</strong><br />

den Prozess des Loslassens f<strong>in</strong>den kann. Wenn man im Fluss ist, sich auf Neues e<strong>in</strong>lassen und es<br />

annehmen kann, dann kann der Tod viel leichter se<strong>in</strong> – eigentlich sehr leicht.<br />

Visualisation – mentale Abbilder?<br />

Wir haben heute gehört, dass wir eigentlich fast immer <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen mentalen Abbildern umgehen. Wenn<br />

wir visualisieren, arbeiten wir auch <strong>mit</strong> mentalen Abbildern. Inwiefern könnten <strong>die</strong> uns denn helfen, zu<br />

<strong>die</strong>ser direkten Wahrnehmung vorzustoßen?<br />

14


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Du hast völlig Recht, <strong>die</strong> Bilder <strong>in</strong> der Visualisation s<strong>in</strong>d Bilder der gleichen Art, eigentlich wie <strong>die</strong><br />

Bilder, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong> unserer eigenen Erfahrung erzeugt haben. Der Unterschied besteht dar<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong><br />

Bilder, <strong>mit</strong> denen wir <strong>in</strong> den Visualisationen arbeiten, aus e<strong>in</strong>em erwachten, aus e<strong>in</strong>em freien Erleben<br />

stammen und eigentlich e<strong>in</strong>e Provokation für unsere normalen Fixierungen s<strong>in</strong>d.<br />

Wenn ich z.B. dich jetzt als äußere Person fixiere und dann visualisiere, dass sowohl du wie auch ich<br />

Tara oder Tschenresig s<strong>in</strong>d, dann ist das e<strong>in</strong>e Herausforderung für unsere normale Sichtweise. Wir<br />

arbeiten gezielt <strong>mit</strong> solchen Herausforderungen für <strong>die</strong> normale Sichtweise durch <strong>die</strong>se Bilder aus dem<br />

erwachten Erleben, um unsere Fixierung aufzulösen und zu neuen Sichtweisen der Realität zu kommen.<br />

Später dann geht es auch darum, <strong>die</strong>se Visualisationen loszulassen. Sie s<strong>in</strong>d Heil<strong>mit</strong>tel, Hilfs<strong>mit</strong>tel,<br />

um Zugang zu Tiefen, Weiten der Wahrnehmung zu gew<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> uns ohne <strong>die</strong>se Hilfen nicht<br />

so leicht zugänglich wären.<br />

Ist es <strong>mit</strong> dem Mantra dasselbe? Gibt man das am Ende des Weges auch auf?<br />

Ja, denn bei der Mantra-Rezitation geht es darum, zu e<strong>in</strong>er Dimension der Rede vorzudr<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> völlig<br />

frei von Ich-Bezogenheit ist. Wenn das Erwachen sich vollzogen hat, ist alle Rede – egal, ob was<br />

gesungen, erklärt oder ob geschwiegen wird – re<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Kommunikation ist völlig frei von Ich-<br />

Bezogenheit. Da braucht man nicht ständig Mantras zu wiederholen.<br />

E<strong>in</strong> Buddha drückt e<strong>in</strong>fach das aus, was spontan notwendig ist und das ist Mantra, das hat <strong>die</strong>se mantrische<br />

Qualität. Allerd<strong>in</strong>gs dürfen wir nicht davon ausgehen, dass sich <strong>die</strong>ser Prozess vollständig <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem Leben vollzieht. Es ist also nicht so, dass wir für fünf Jahre Mantra praktizieren und dann<br />

schon an dem Punkt s<strong>in</strong>d, wo es nicht mehr notwendig ist. Vermutlich wird es doch e<strong>in</strong> bisschen länger<br />

dauern.<br />

Wenn ich e<strong>in</strong>em Buddha begegne, reicht das dann auch?<br />

Ja, wenn unser Geist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Dimension des völligen Freise<strong>in</strong>s von Ich-Bezogenheit ist, dann s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

Worte, <strong>die</strong> wir dann sprechen werden, re<strong>in</strong>e Kommunikation, wie Mantra. Dann brauchen wir nicht<br />

extra noch Mantras rezitieren, sondern alles wird wie Mantra. Wenn der Geist voll wahrer Liebe, Offenheit,<br />

tiefer Weisheit ist, dann s<strong>in</strong>d alle Worte, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Geisteszustand ausgedrückt werden,<br />

eben Ausdruck <strong>die</strong>ser Dimension und haben da<strong>mit</strong> <strong>die</strong>se mantrische Qualität.<br />

Mitgefühl ohne Bezugspunkt<br />

Wenn Buddha <strong>die</strong>sen Zustand erreicht hat, dann kann man vielleicht sagen, er hat ke<strong>in</strong> Ich mehr <strong>in</strong><br />

dem S<strong>in</strong>n gehabt, dass er an etwas angehaftet hat. Das heißt, da ist freier Raum, er nimmt auf und gibt<br />

zurück, was im Raum ist und sonst nichts … freier Fluss. Wenn man dann sagt „zum Wohle der<br />

Menschheit“, setzt er da ‚noch e<strong>in</strong>es drauf’ und versucht, se<strong>in</strong>en Fluss <strong>in</strong> <strong>die</strong> Richtung zu lenken oder<br />

bleibt es e<strong>in</strong>fach Fluss?<br />

Ja, das hast du gut beobachtet. Es bleibt e<strong>in</strong>fach Fluss. Es ist nicht nötig, dass er se<strong>in</strong>em Handeln e<strong>in</strong>e<br />

Richtung gibt zum Wohle aller Menschen, zum Wohle aller Wesen. Er braucht <strong>die</strong>sen Wunsch, der für<br />

uns sehr wichtig ist, nicht mehr zu konzeptualisieren, das ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Geisteszustand selbstverständlich.<br />

Gibt es e<strong>in</strong>e Wirklichkeit außerhalb des Geistes?<br />

Mir ist heute Morgen klar geworden, dass ich <strong>die</strong> gesamte Welt eigentlich nur über me<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dungen<br />

wahrnehme und <strong>die</strong>se Welt der Empf<strong>in</strong>dung, der Wahrnehmung, ist ja e<strong>in</strong>e sehr persönliche,<br />

geistige Welt, wo ich gar nicht <strong>in</strong> Kontakt <strong>mit</strong> der Realität b<strong>in</strong>.<br />

Gibt es e<strong>in</strong>e Realität außerhalb von de<strong>in</strong>em Geist?<br />

Ne<strong>in</strong>!<br />

Das ist e<strong>in</strong>e wirklich wichtige Frage: Gibt es außerhalb de<strong>in</strong>es Geistes e<strong>in</strong>e Realität?<br />

Doch! Ja, es gibt e<strong>in</strong>e Wirklichkeit außerhalb von me<strong>in</strong>em Geist.<br />

15


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Dann kann ich verstehen, warum du versuchst, <strong>mit</strong> ihr <strong>in</strong> Kontakt zu se<strong>in</strong>.<br />

Das Dilemma hier ist das, was alle Lebewesen erfahren, wenn sie <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen dualistischen Mustern<br />

funktionieren: ‚Hier b<strong>in</strong> ich und um mich herum ist <strong>die</strong> Welt, <strong>die</strong> Wirklichkeit, und ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> Kontakt<br />

<strong>mit</strong> der Welt.’ Wenn ich dann höre, dass alles über den Prozess der Wahrnehmung geht und merke,<br />

dass ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Welt der geistigen Wahrnehmung b<strong>in</strong>, dann frage ich mich: ‚Wie komme<br />

ich denn da raus <strong>in</strong> <strong>die</strong> Begegnung <strong>mit</strong> der richtigen Welt, <strong>mit</strong> dem, was <strong>die</strong> Wirklichkeit dann ist?’<br />

Das ist das große Dilemma, das sich stellt, wenn wir versuchen, <strong>mit</strong> dem dualistischen Funktionieren<br />

unseren spirituellen Weg zu gehen.<br />

Den Versuch, e<strong>in</strong>e Wirklichkeit, e<strong>in</strong>e Welt außerhalb unserer S<strong>in</strong>ne, unserer Wahrnehmungen zu kontaktieren<br />

– fünf äußeren S<strong>in</strong>ne und der geistige S<strong>in</strong>n –, <strong>die</strong>ses Unterfangen müssen wir aufgeben. Die<br />

Möglichkeit, solch e<strong>in</strong>e Wirklichkeit außerhalb des Geistes zu kontaktieren, besteht nicht. Was auch<br />

immer wir anstellen, es wird immer durch unsere fünf S<strong>in</strong>ne und den Geistess<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>. Erleben f<strong>in</strong>det<br />

halt dar<strong>in</strong> statt.<br />

Man könnte auch sagen: „Lassen wir das doch <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>en machen! Wir lassen <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>en <strong>die</strong><br />

Wirklichkeit untersuchen und lesen dann <strong>die</strong> Ergebnisse ab.“ Aber <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d auch von Menschen<br />

konstruiert und von Menschen <strong>in</strong>terpretiert und fügen sich e<strong>in</strong> <strong>in</strong> unsere Welt der Interpretation.<br />

Die Lösung ist, das geistige Erleben voll bewusst zu erleben. So wie man e<strong>in</strong>en Film, e<strong>in</strong>en Traum <strong>in</strong><br />

vollem Bewusstse<strong>in</strong> als das erfährt, was es ist, ohne dem Erfahrenen, den Abbildern, den Nachbildern<br />

e<strong>in</strong>e wirkliche Existenz zuzuschreiben. Das ist der Weg, auf dem wir zu e<strong>in</strong>er Lösung kommen<br />

können.<br />

Die verschiedenen Konstrukte, <strong>mit</strong> denen wir leben, speziell das Konstrukt von Subjekt und Objekt –<br />

Beobachter und Beobachtetes – <strong>die</strong>se Annahmen über <strong>die</strong> Wirklichkeit werden <strong>in</strong> sich zusammenfallen,<br />

wenn wir entspannt dessen gewahr s<strong>in</strong>d, was sich vollzieht. Nicht das Erleben muss sich ändern,<br />

sondern unsere Interpretationen des Erlebens müssen korrigiert werden, bzw. brauchen nicht<br />

mehr stattzuf<strong>in</strong>den. Nicht das Erleben ist verkehrt, sondern das, was wir daraus machen.<br />

Erleben im Moment<br />

Wie war das geme<strong>in</strong>t <strong>mit</strong> „wieder <strong>in</strong> den gegenwärtigen Moment zurückzuf<strong>in</strong>den“? Da war das Beispiel<br />

<strong>mit</strong> dem Kaffee, man er<strong>in</strong>nert sich an den Geruch des Kaffees. Man kann doch aber nicht <strong>in</strong> das<br />

vergangene Erleben wieder zurückf<strong>in</strong>den, das bleibt doch e<strong>in</strong> Bild.<br />

Da hast du mich e<strong>in</strong> bisschen missverstanden. Ich me<strong>in</strong>te nicht das Zurückf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> das Erleben der<br />

Vergangenheit, sondern es geht darum, <strong>in</strong> das Erleben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuf<strong>in</strong>den, was jetzt gerade stattf<strong>in</strong>det. So<br />

taucht das Beispiel von Kaffee auf, weil ich vielleicht Durst habe. Da spüre ich, „Ich habe Durst!“, und<br />

b<strong>in</strong> beim Erleben: „Ja, ich habe Durst!“ oder ich habe Hunger, weil ich das Bild von Schokolade habe.<br />

Aber wenn ke<strong>in</strong> Kaffee da ist, dann tut es auch Wasser. Also erst h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Erleben – „Was ist jetzt<br />

gerade los?“ – dann geschickter Umgang da<strong>mit</strong>, <strong>die</strong> entsprechende Antwort, ohne an Bildern festzuhalten.<br />

Da gibt es Leute, <strong>die</strong> müssen sich um Mitternacht aufmachen, um unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e bestimmte Biersorte<br />

oder Wurstsorte, oder sonst was zu besorgen. Sie f<strong>in</strong>den dann irgendwo noch im Flughafen e<strong>in</strong>en offenen<br />

Laden, wo sie das kriegen können. Das s<strong>in</strong>d Fixierungen im Geist, <strong>die</strong> uns das Leben unglaublich<br />

schwer machen, weil wir unbed<strong>in</strong>gt das wollen und nichts anderes. Dabei geht es eigentlich nur darum,<br />

satt zu se<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>en entspannten Geist zu haben. Eigentlich geht’s nur darum, und <strong>die</strong> Fixierungen<br />

führen dazu, dass das Leben sehr, sehr schwierig und sehr kompliziert wird.<br />

Die elfte Ergebnisform<br />

Ich habe e<strong>in</strong>e Frage zur elften Ergebnisform. Ich habe es bisher so verstanden, dass das recht rudimentär<br />

ist, also es s<strong>in</strong>d mentale Vorstellungen, Bilder oder Repräsentationen von Gerüchen. In den<br />

Erklärungen heute Morgen kamen dann auch noch Ideologien usw. dazu, also ausgearbeitete mentale<br />

Konstrukte, <strong>die</strong> ich vorher den späteren <strong>Skandhas</strong> zugeordnet hätte. Das hat mich etwas überrascht.<br />

16


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Du hast es heute Morgen richtig verstanden, denn <strong>die</strong>se Ergebnisform be<strong>in</strong>haltet alle geistigen Bilder.<br />

Da gibt es nicht noch irgendwo anders <strong>in</strong> den <strong>Skandhas</strong> e<strong>in</strong>en Ort, wo <strong>die</strong> auftauchen würden. Das andere<br />

s<strong>in</strong>d dann noch weitere Komplikationen durch emotionelle Verknüpfungen. Die Bilder, <strong>die</strong> ich<br />

angesprochen habe, können recht kompliziert se<strong>in</strong>, genauso wie auch visuelle E<strong>in</strong>drücke oder auch auditive<br />

E<strong>in</strong>drücke sehr vielfältig, sehr kompliziert se<strong>in</strong> können.<br />

Das s<strong>in</strong>d komplexe, <strong>in</strong>nere Bilder. Man weiß gar nicht, wo man e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Bild f<strong>in</strong>den kann. Selbst<br />

das Bild ‚der Duft von Kaffee’ ist eigentlich ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Bild. Da<strong>mit</strong> hängt auch unter Umständen<br />

ganz viel zusammen, es hört sich nur e<strong>in</strong>fach an. Da s<strong>in</strong>d im Grunde genommen alle mentalen Bilder<br />

enthalten. Die Texte sagen: So wie das, was <strong>in</strong> Träumen auftaucht. – Das ist sehr komplex, was <strong>in</strong><br />

Träumen auftaucht.<br />

Es gibt auch sonst ke<strong>in</strong>en Ort <strong>in</strong> den <strong>Skandhas</strong>, wo das Arbeiten <strong>mit</strong> den Formen, der <strong>in</strong>neren Repräsentation,<br />

<strong>die</strong>ses Fixieren auf Formen sonst untergebracht wird. Form, z.B. das Bild ‚Mutter’ oder<br />

‚Vater’ ist extrem komplex. Es ist aber auch eigentlich nur e<strong>in</strong> momentaner E<strong>in</strong>druck, obwohl er <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Komplexität – bis sich der E<strong>in</strong>druck gebildet hat – unglaublich lange gebraucht hat. Es s<strong>in</strong>d<br />

Zigtausende von Erfahrungen, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Bild kompensieren.<br />

Direkte Erfahrung als Ziel von Meditation?<br />

Worum geht es hier eigentlich? Wir haben <strong>die</strong> Wahrnehmung und <strong>die</strong> darauf aufbauenden Schlussfolgerungen,<br />

<strong>die</strong> Repräsentationen im Geist und <strong>die</strong> Konzeptualisierung, <strong>die</strong> dann stattf<strong>in</strong>det. Geht es<br />

darum, soviel wie möglich <strong>in</strong> der direkten Erfahrung zu bleiben? Ist das das Ziel?<br />

Das Ziel lässt sich vielleicht etwas anders def<strong>in</strong>ieren. Wenn wir davon sprechen, dass es darum geht,<br />

wieder <strong>in</strong>s direkte Erleben zurückzuf<strong>in</strong>den, so nur deshalb, weil es notwendig ist, anhand des direkten<br />

Erlebens unsere Annahmen über <strong>die</strong> Wirklichkeit zu korrigieren. Das brauchen wir <strong>in</strong> dem Maße wie<br />

unsere Annahmen nicht der Wirklichkeit entsprechen, wir müssen <strong>die</strong>sen Widerspruch zwischen<br />

Annahme und Wirklichkeit auflösen. Aber es f<strong>in</strong>det ke<strong>in</strong>e Idealisierung des direkten Erlebens statt. Es<br />

ist nicht so, dass direktes Erleben <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>neserfahrungen das Ziel spiritueller Praxis wäre, ke<strong>in</strong>eswegs.<br />

E<strong>in</strong> Erwachter benutzt Sprache, benutzt philosophische Konzepte, benutzt alle Möglichkeiten, <strong>die</strong><br />

menschliche Kultur zur Verfügung stellt. Aber er glaubt nicht an <strong>die</strong> Wirklichkeit der Abbildungen,<br />

der konzeptuellen Repräsentationen, der begrifflichen Bilder und Konstrukte, <strong>die</strong> man da benutzt. Er<br />

bleibt im Fluss, erzeugt nicht neue Fixierungen, <strong>die</strong> sich dann wieder als Blockaden auswirken, als<br />

Spannung zwischen dem, was man annimmt und dem, was wirklich ist. Es geht darum, <strong>die</strong>se<br />

Spannung zwischen Annahme und Wirklichkeit aufzulösen. Im Fluss zu bleiben und immer <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

zu se<strong>in</strong> <strong>mit</strong> dem, was ist, <strong>in</strong> völliger Harmonie des Se<strong>in</strong>s, wo es ke<strong>in</strong>erlei verkehrte Annahme<br />

über <strong>die</strong> Wirklichkeit mehr gibt.<br />

Um das noch weiter ausführend zu beantworten: Wir werden dann im 4. Skandha sehen, dass <strong>die</strong><br />

sechste Wurzelverblendung ‚Sichtweisen’ heißt. Und der Buddha beschrieb alle Sichtweisen als h<strong>in</strong>derlich<br />

für <strong>die</strong> Befreiung. Es geht dem Buddha nicht darum, dass wir verkehrte Sichtweisen auflösen,<br />

um dann <strong>die</strong> richtige Sichtweise anzunehmen, sondern dass wir alle Me<strong>in</strong>ungen, alle Anschauungen<br />

über <strong>die</strong> Wirklichkeit loslassen und das Se<strong>in</strong> leben, ohne philosophische Konstrukte, Me<strong>in</strong>ungen über<br />

das Se<strong>in</strong> aufzubauen.<br />

Um das zu erklären, benutzt der Buddha aber durchaus Begriffe und philosophische Ausdrücke, um<br />

uns zu helfen, uns aus <strong>die</strong>sen unnötigen Verwicklungen zu befreien. Das Ziel des buddhistischen<br />

Weges ist also e<strong>in</strong> Auflösen aller Me<strong>in</strong>ungen, aller Anschauungen über <strong>die</strong> Wirklichkeit, <strong>mit</strong> denen<br />

wir uns identifizieren und <strong>die</strong> wir dann wieder für <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zig richtige halten.<br />

Freie Entscheidung?<br />

Wie ist das <strong>mit</strong> der freien Entscheidung? Der Geruch des Kaffees taucht auf oder wir er<strong>in</strong>nern uns an<br />

e<strong>in</strong> Lächeln – jemand hat uns tagsüber angelächelt. Es tauchen solche Bilder auf, und <strong>die</strong> Bilder lösen<br />

doch sofort e<strong>in</strong>e Reaktion im Körper aus, e<strong>in</strong>e Beschleunigung der Herzfrequenz, es bildet sich viel-<br />

17


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

leicht Speichel im Mund, wenn wir an Nahrungs<strong>mit</strong>tel denken. Dann wird es doch recht schwierig <strong>mit</strong><br />

der freien Entscheidung, wenn <strong>die</strong>se physiologischen Prozesse schon im Gange s<strong>in</strong>d.<br />

Ja, wenn das denn so wäre, dann würden wir wie e<strong>in</strong> Roboter e<strong>in</strong>fach mechanisch <strong>die</strong>sen Bildern folgen.<br />

E<strong>in</strong> Bild löst e<strong>in</strong>e physiologische Erregung aus und wir folgen ihr, um <strong>die</strong> auszuleben, umzusetzen,<br />

um wieder Frieden herzustellen.<br />

Es gibt aber auch e<strong>in</strong>en anderen Weg: Es gibt <strong>die</strong> Möglichkeit, das Bild loszulassen. Dann beruhigt<br />

sich auch <strong>die</strong> physiologische Stimulation und es entsteht e<strong>in</strong> Raum, <strong>in</strong> dem wir uns entscheiden können,<br />

ob wir dem folgen wollen oder nicht, oder ob etwas anderes für uns wichtiger ist. Da entscheidet<br />

sich, ob jemand das Menschse<strong>in</strong> wirklich voll nutzt, oder ob wir eigentlich nur unseren Impulsen oder<br />

Trieben folgen. Da haben wir <strong>die</strong> Möglichkeit, frei zu werden.<br />

Diese Freiheit des Sich-Entscheiden-Könnens f<strong>in</strong>den wir durch Entspannung, und wir erlernen sie<br />

durch Meditation. Das ist das Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsfeld, das Übungsfeld.<br />

* * *<br />

Gestern haben wir uns <strong>mit</strong> dem ersten der fünf Aggregate, dem Aggregat der Formen, befasst. Wir haben<br />

darüber gesprochen, dass <strong>mit</strong> Form alles Wahrnehmbare geme<strong>in</strong>t ist, alles was <strong>in</strong> den sechs S<strong>in</strong>nen<br />

– <strong>in</strong> den fünf äußeren S<strong>in</strong>nen und dem mentalen S<strong>in</strong>n – wahrnehmbar ist. Man kann sagen, es s<strong>in</strong>d<br />

<strong>die</strong> grundlegenden S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>formationen, das was wahrnehmbar wird, und <strong>mit</strong> dem wir dann unseren<br />

weiteren Prozess gehen.<br />

Dieses erste Aggregat der Formen funktioniert nie alle<strong>in</strong>e. Es ist nicht möglich, e<strong>in</strong>fach bei der bloßen<br />

Wahrnehmung von S<strong>in</strong>nes-Empf<strong>in</strong>dungen zu bleiben, ohne dass sich danach andere Prozesse anschließen.<br />

Auch wenn wir schon bemerken, dass es ganz un<strong>mit</strong>telbar zu Fixierung, zu Identifikationen<br />

kommt, so ist der Wunsch es bei bloßer Wahrnehmung zu belassen nicht angebracht, weil alles Weitere,<br />

alles Erkennen, alles Verstehen, alle S<strong>in</strong>ngebung im Leben, alle Kommunikation auf den anschließenden<br />

Prozessen basiert, von denen wir noch mehr hören werden. Es ist also nicht angebracht<br />

zu denken, man könnte <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Aggregat alle<strong>in</strong>e funktionieren. Die Aggregate gehören zusammen,<br />

<strong>die</strong> Prozesse greifen <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander und s<strong>in</strong>d auch gar nicht streng vone<strong>in</strong>ander abzutrennen.<br />

Wir fahren jetzt fort <strong>mit</strong> dem Aggregat der Empf<strong>in</strong>dungen. Dabei geht es um den Gefühls-Ton, <strong>mit</strong><br />

dem <strong>die</strong> Erfahrungen gemacht werden. Entweder ist es angenehm, unangenehm oder neutral. Man<br />

kann auch sagen angenehm und schmerzhaft.<br />

18


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Das Aggregat der Empf<strong>in</strong>dungen<br />

Vedana Skandha<br />

Das Merkmal von Empf<strong>in</strong>dungen ist, dass sie erfahren werden.<br />

Das Aggregat der Empf<strong>in</strong>dungen wird <strong>in</strong> drei Arten unterteilt: angenehme, schmerzhafte und<br />

neutrale Empf<strong>in</strong>dungen. Wenn <strong>die</strong> ersten beiden weiter unterteilt werden, ergibt <strong>die</strong>s fünf<br />

Arten: angenehme [physische] Empf<strong>in</strong>dungen und mentale Freude, schmerzhafte [physische]<br />

Empf<strong>in</strong>dungen und mentales Unglücklichse<strong>in</strong> sowie neutrale Empf<strong>in</strong>dungen.<br />

Diese Unterscheidung <strong>in</strong> angenehm, unangenehm und neutral – weder angenehm noch unangenehm –<br />

beruht auf früheren E<strong>in</strong>drücken, man kann sagen auf Karma, auf den Mustern, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong> unserem<br />

Geist aufgebaut haben. Das hängt <strong>mit</strong> unserer Empf<strong>in</strong>dlichkeit zusammen, <strong>mit</strong> unserer Geschichte, <strong>mit</strong><br />

gemachten Erfahrungen. Und so kann <strong>die</strong> e<strong>in</strong>fache Berührung der Haut, das Streicheln über <strong>die</strong> Haut<br />

bei e<strong>in</strong>zelnen Menschen als un<strong>mit</strong>telbar unangenehm erfahren werden, sie ziehen sich zurück. Andere<br />

f<strong>in</strong>den es sehr angenehm, sie möchten mehr davon, und andere berührt es nicht weiter. Es kommt<br />

natürlich auch sehr auf <strong>die</strong> aktuelle Situation an. Wir s<strong>in</strong>d nicht programmiert, immer gleich zu<br />

empf<strong>in</strong>den. Die gleiche S<strong>in</strong>neserfahrung, von gleicher Stärke, am gleichen Ort, kann zu unterschiedlichen<br />

Zeiten und <strong>in</strong> unterschiedlichen Situationen durchaus anders bewertet werden.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt auch, dass <strong>die</strong>selbe Empf<strong>in</strong>dung je nach ihrer Intensität andere Reaktionen <strong>in</strong> uns hervorrufen<br />

kann. Die schönste Musik, <strong>die</strong> schönste Stimme wird – wenn sie zu laut, zu <strong>in</strong>tensiv wird –<br />

als schmerzhaft empfunden, <strong>die</strong> schönste Stimme schallt dann zu laut aus den Lautsprechern. Diese<br />

Unterscheidungen <strong>in</strong> angenehm und unangenehm treten fast un<strong>mit</strong>telbar auf. So wie z.B. heute Morgen,<br />

als wir um den Buddha herum meditiert haben. – Sonnenstrahlen auf der Haut, früh morgens, das<br />

bisschen Wärme ist sofort angenehm. Das Gefühl von angenehmer Empf<strong>in</strong>dung taucht un<strong>mit</strong>telbar <strong>mit</strong><br />

dem Sonnenstrahl auf. Oder: E<strong>in</strong>ige saßen <strong>mit</strong> dem Gesicht zur Sonne. Das Gefühl geblendet zu<br />

werden löst fast unweigerlich e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Reaktion von unangenehm aus: „Das ist mir unangenehm,<br />

das ist zu stark.“ Es ist schwer, <strong>die</strong>se un<strong>mit</strong>telbaren oder fast un<strong>mit</strong>telbaren Reaktionen zu verh<strong>in</strong>dern,<br />

so entspannt zu se<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong>se <strong>in</strong>itialen Bewertungen erst gar nicht auftauchen.<br />

Die Möglichkeit besteht, sich so <strong>in</strong> Geistesruhe zu schulen, dass es nicht e<strong>in</strong>mal zu <strong>die</strong>sen <strong>in</strong>itialen<br />

Bewertungen kommt. Gut möglich ist aber, dass <strong>die</strong> Bewertungen zwar auftauchen, wir uns aber da<strong>mit</strong><br />

entspannen und dem nicht weiter nachgehen. Normalerweise würden wir ja sagen: „Angenehm, mag<br />

ich, davon möchte ich mehr – unangenehm, mag ich nicht, will ich vermeiden“. So kommen wir <strong>in</strong>s<br />

Reagieren. Wir kommen aus dem E<strong>in</strong>stufen der S<strong>in</strong>nesempf<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> das Reagieren, z.B. mehr haben<br />

zu wollen, das Gesicht der Sonne entgegenzustrecken oder wegzuziehen oder <strong>die</strong> Augen zu schließen.<br />

Wir kommen <strong>in</strong>s Reagieren und <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Reagieren s<strong>in</strong>d wir dann schon e<strong>in</strong>e Stufe weiter. Wir s<strong>in</strong>d<br />

dann schon <strong>in</strong> den Folgeersche<strong>in</strong>ungen <strong>die</strong>ser Unterscheidung <strong>in</strong> angenehm, unangenehm und neutral.<br />

Die Unterscheidung <strong>in</strong> angenehm, unangenehm und neutral spiegelt <strong>die</strong> Aktivität von Begierde, Abneigung<br />

und Unwissenheit oder Des<strong>in</strong>teresse wieder und zeigt, dass <strong>die</strong>se drei grundlegenden Tendenzen<br />

eigentlich ständig <strong>in</strong> uns aktiv s<strong>in</strong>d. Wenn sie nicht vorhanden wären, dann würden wir <strong>die</strong> Natur<br />

der Empf<strong>in</strong>dungen als leer, als ohne Wesenskern, als illusorisch wahrnehmen.<br />

In <strong>die</strong>sen Unterscheidungen <strong>in</strong> angenehm, unangenehm und neutral verbergen sich auch Überlebens-<br />

Inst<strong>in</strong>kte. Man unterscheidet ganz schnell <strong>in</strong> etwas, was hilfreich se<strong>in</strong> könnte, das Leben angenehmer,<br />

besser gestalten würde, z.B. hilfreich ist um sich zu ernähren, um besser zu überleben und <strong>in</strong> etwas,<br />

was gefährlich werden und das Lebens bedrohen könnte, oder etwas ist im Moment irrelevant, weder<br />

bedrohlich noch förderlich.<br />

Diese zusätzliche Erklärung stammt von Thrungpa R<strong>in</strong>poche. Er hat auf <strong>die</strong>se Vermischung von angenehm<br />

und unangenehm <strong>mit</strong> hilfreich und bedrohlich h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

19


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ihre Stütze ist folgende: Der Kontakt, d.h. das Zusammenkommen von Augen, Ohren, Nase,<br />

Zunge, Körper und Mentalem [<strong>mit</strong> ihren Objekten und ihrem jeweiligen Bewusstse<strong>in</strong>] ruft sechs<br />

Arten von Empf<strong>in</strong>dungen hervor. Wenn <strong>die</strong>se weiter <strong>in</strong> freudvoll, leidvoll und ausgeglichen unterteilt<br />

werden, ergibt <strong>die</strong>s 18 Arten von Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> geistige Aktivität begleiten.<br />

Mit dem ersten Aggregat der Formen erleben wir den Kontakt, Kontakt zwischen den sechs S<strong>in</strong>nesfähigkeiten<br />

und den sechs S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halten, es kommt zum Kontakt. Beim Kontakt werden zunächst e<strong>in</strong>mal<br />

Formen bewusst, aber sie bleiben nicht e<strong>in</strong>fach Formen, sondern werden direkt empfunden <strong>in</strong> ihrer<br />

Erlebensqualität als angenehm, unangenehm oder neutral. Die Basis für Empf<strong>in</strong>dungen ist also<br />

Kontakt. Wo ke<strong>in</strong> Kontakt ist, wo ke<strong>in</strong> Zusammentreffen von aktivierten S<strong>in</strong>nesorganen <strong>mit</strong> S<strong>in</strong>nesfähigkeiten<br />

und den entsprechenden Objekten ist, kommt es nicht zu e<strong>in</strong>er Empf<strong>in</strong>dung.<br />

Zudem werden noch zahlreiche weitere Arten von Empf<strong>in</strong>dungen aufgeführt: körperliche Empf<strong>in</strong>dungen,<br />

welche <strong>die</strong> Wahrnehmungen der fünf Tore begleiten; geistige Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong><br />

mentale Wahrnehmung begleiten; aufwühlende Empf<strong>in</strong>dungen <strong>die</strong> körperliches Verlangen begleiten;<br />

nicht aufwühlende Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> frei von Verlangen s<strong>in</strong>d; Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> das<br />

Verlangen nach den fünf S<strong>in</strong>nesfreuden begleiten und Grundlage des Festhaltens s<strong>in</strong>d; sowie<br />

Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> frei von Festhalten und Grundlage der Befreiung s<strong>in</strong>d.<br />

Natürlich können wir auch unterscheiden zwischen den Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> durch den Kontakt <strong>mit</strong> den<br />

fünf äußeren S<strong>in</strong>nen stattf<strong>in</strong>den – wir nennen sie oft körperliche, durch <strong>die</strong> körperlichen Organe stattf<strong>in</strong>dende<br />

S<strong>in</strong>nesempf<strong>in</strong>dungen – und geistigen S<strong>in</strong>nesempf<strong>in</strong>dungen.<br />

Wir können <strong>die</strong> mentalen und auch <strong>die</strong> körperlichen Empf<strong>in</strong>dungen weiter unterscheiden <strong>in</strong> Empf<strong>in</strong>dungen,<br />

<strong>die</strong> aufwühlend s<strong>in</strong>d, und <strong>in</strong> Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> nicht aufwühlend s<strong>in</strong>d. Körperliche Empf<strong>in</strong>dungen,<br />

<strong>die</strong> aufwühlend s<strong>in</strong>d, beruhen auf Bedürfnissen, <strong>die</strong> im Körper gespürt werden. Geistig aufwühlende<br />

Empf<strong>in</strong>dungen beruhen auf dem Verlangen, das im Geist gespürt wird. Die nicht aufwühlenden<br />

Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> frei von Verlangen und Festhalten s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d Grundlage der Befreiung.<br />

Diese Empf<strong>in</strong>dungen werden im vollen Gewahrse<strong>in</strong> der wahren Natur der Ersche<strong>in</strong>ungen gemacht.<br />

Diese Unterscheidung <strong>in</strong> aufwühlende und nicht aufwühlende Empf<strong>in</strong>dungen ist sehr wichtig, weil sie<br />

uns darauf h<strong>in</strong>weist, wo wir ansetzen können, um den Weg zur Befreiung zu gehen. Normalerweise<br />

entsteht im Prozess der Wahrnehmung e<strong>in</strong>e Kette: Kontakt führt zur Wahrnehmung, <strong>die</strong> Wahrnehmung,<br />

<strong>die</strong> als angenehm oder unangenehm empfunden wird, führt zu emotionalen Reaktionen und<br />

dann zum entsprechenden Verhalten. Das S<strong>in</strong>nvollste wäre, wir könnten ganz früh <strong>in</strong> der Kette zu<br />

e<strong>in</strong>er Entspannung f<strong>in</strong>den und bewusst entscheiden, ob wir reagieren, darauf e<strong>in</strong>gehen wollen oder<br />

nicht. – „Gibt es etwas zu tun oder gibt es nichts zu tun? Kann ich e<strong>in</strong>fach weitermachen <strong>mit</strong> dem, was<br />

ich ohneh<strong>in</strong> gerade dabei b<strong>in</strong> zu tun?“ Es geht also um Entspannung, <strong>die</strong> so früh wie möglich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Kette e<strong>in</strong>setzen sollte.<br />

Es ist offenkundig, dass wir hier an dem Punkt ankommen, wo <strong>die</strong> Meditation e<strong>in</strong>e enorme Rolle<br />

spielt. In der Meditation setzen wir uns h<strong>in</strong> und sagen uns: „Okay! Jetzt bleibe ich e<strong>in</strong>e Weile still<br />

sitzen, ohne mich zu bewegen.“ Und dann tauchen Empf<strong>in</strong>dungen auf, im Körper oder vielleicht auch<br />

von außen, entweder juckt mich was, wo ich mich normalerweise kratzen würde, oder es kommt e<strong>in</strong>e<br />

Fliege und setzt sich mir auf <strong>die</strong> Stirn. Normalerweise würde ich vielleicht e<strong>in</strong>e Handbewegung<br />

machen, um sie zu verscheuchen, aber jetzt bleibe ich sitzen und nehme erst e<strong>in</strong>mal wahr: „Ja, es ist<br />

etwas unangenehm aber auch nicht so stark.“ Me<strong>in</strong>e sonstige Bewertung ‚unangenehm genug, um<br />

sofort zu reagieren’ wird schon etwas entspannt. Es ist e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Geduldsprobe, aber es ist nicht so<br />

wahns<strong>in</strong>nig unangenehm und so kann ich bemerken, dass Fliegen sich auf me<strong>in</strong>e Stirn setzen und dann<br />

wieder fort fliegen, dass es eigentlich gar nichts zu tun gibt. Es mag aber se<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong> Käfer <strong>in</strong> me<strong>in</strong><br />

Ohr krabbeln möchte, und das geht dann zu weit. Ich entscheide: „Das geht zu weit, jetzt aber fort!“,<br />

oder ich lasse es zu. Das ist <strong>die</strong> Fähigkeit, bewusst zu entscheiden.<br />

Es gibt Schmerzen im Körper, <strong>die</strong> auftauchen aber auch wieder weggehen, ohne dass ich mich bewegt<br />

habe. Das kann ich nur herausf<strong>in</strong>den, wenn ich still sitzen bleibe. Ich nehme dann wahr, dass es z.B.<br />

zu Spannungen kommt, <strong>die</strong> sich von selbst wieder auflösen, obwohl ich nichts <strong>mit</strong> dem Körper<br />

unternommen habe, um das aufzulösen. Solche Entdeckungen kann ich nur machen, weil ich still<br />

sitzen geblieben b<strong>in</strong>. Ich entdecke dadurch auch <strong>die</strong> Geistesruhe, <strong>die</strong> ich nicht entdecken würde, wenn<br />

ich ständig dabei wäre, mich zu bewegen, zu drehen, zu räkeln, zu kratzen usw., dann würde ich nie<br />

<strong>die</strong> Entdeckung der Geistesruhe machen.<br />

20


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wir entdecken also <strong>mit</strong> der Meditation Freiräume, <strong>die</strong> wir vorher nicht kannten: Freiräume, wo wir<br />

nicht mehr verpflichtet s<strong>in</strong>d, wo wir nicht mehr unter dem Zwang stehen zu reagieren. Wenn wir lang<br />

genug meditieren, werden jede Menge <strong>in</strong>nerer Bilder auftauchen: Wunschvorstellungen, Angstvorstellungen,<br />

<strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>drücke von früher. Das ganze Zeug, das wir so weggesteckt haben, kommt hoch. All<br />

unsere halb oder kaum verdauten E<strong>in</strong>drücke werden aufsteigen. All <strong>die</strong>se E<strong>in</strong>drücke werden e<strong>in</strong>er<br />

neuen Betrachtung unterzogen, <strong>in</strong>dem wir zunächst e<strong>in</strong>mal nicht reagieren. Dar<strong>in</strong> liegt e<strong>in</strong>e große<br />

Chance. Etwas, das unglaublich unangenehm war, taucht jetzt <strong>in</strong> Form von Er<strong>in</strong>nerungsbildern auf,<br />

löst noch e<strong>in</strong>mal Reaktionen aus, wird aber nicht mehr gleich bewertet. Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em viel entspannteren<br />

Geisteszustand und lernen, D<strong>in</strong>ge anders zu erleben, entspannter zu erleben.<br />

Wenn wir länger <strong>in</strong> Meditation sitzen, wird all das auftauchen, was <strong>in</strong> uns noch aufgewühlt ist, was<br />

noch von früher am Köcheln ist. Wir nennen das das ‚Reif-Werden von Karma’. In der buddhistischen<br />

Lehre wird beschrieben, dass <strong>die</strong> Folgen früherer Gedanken, Worte und physischer Handlungen, und<br />

was <strong>die</strong>se Handlungen an Spuren h<strong>in</strong>terlassen haben, im Empf<strong>in</strong>den reif wird – als Empf<strong>in</strong>dung im<br />

Körper und als Empf<strong>in</strong>dung im Geist. Wer also se<strong>in</strong> Karma ‚re<strong>in</strong>igen’ oder auflösen möchte, muss unweigerlich<br />

durch e<strong>in</strong>en Prozess des Erfahrens gehen, <strong>in</strong> dem all das, was noch nicht aufgelöst ist, wieder<br />

<strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> aufsteigt. Im Bewusstse<strong>in</strong> wird es neu verstanden, es wird im Licht der Weisheit<br />

neu betrachtet und kann sich dann auflösen. Die alten Reaktionsmuster spr<strong>in</strong>gen nicht mehr an, das<br />

was aufsteigt, wird voll wahrgenommen und kann sich im nicht-haftenden Geist auflösen. Das nennt<br />

man den Prozess der Re<strong>in</strong>igung von Karma. Er kann nirgendwo sonst stattf<strong>in</strong>den als im Erleben selbst,<br />

<strong>in</strong> den Empf<strong>in</strong>dungen.<br />

Was auch immer auftaucht, ob es angenehme oder unangenehme Erfahrungen s<strong>in</strong>d, alles wird <strong>in</strong> das<br />

Gewahrse<strong>in</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> genommen. Da können sehr angenehme, verführerische Bilder, E<strong>in</strong>drücke auftauchen,<br />

<strong>die</strong> uns normalerweise <strong>in</strong> Richtung Anhaften, Begierde, Habenwollen leiten würden. Normalerweise<br />

würden wir reagieren, wir kleben an <strong>die</strong>sen E<strong>in</strong>drücken. Oder es können andere E<strong>in</strong>drücke<br />

auftauchen, <strong>die</strong> uns Angst machen, <strong>die</strong> Verteidigungsreaktionen auslösen, <strong>die</strong> uns ärgerlich machen,<br />

weil sie so unangenehm s<strong>in</strong>d, weil sie uns angreifen. Auch <strong>die</strong>se aggressiven Reaktionen oder Fluchtreaktionen<br />

f<strong>in</strong>den nicht mehr statt, deswegen geht der Kreislauf karmischen Reagierens nicht mehr<br />

weiter, <strong>die</strong> Bewusstse<strong>in</strong>s<strong>in</strong>halte steigen auf, werden wahrgenommen und <strong>in</strong> ihrer wahren Natur erkannt.<br />

Um das tun zu können, gibt es e<strong>in</strong>e Reihe von Methoden, <strong>die</strong> wir e<strong>in</strong>setzen können, aber der grundlegende<br />

Prozess ist, entspannt zu bleiben bei allem was kommt. Das ist der grundlegende Prozess der<br />

karmischen Re<strong>in</strong>igung.<br />

Wenn wir weiter gehen, als uns nur zu entspannen, dann br<strong>in</strong>gen wir Verstehen <strong>in</strong> den Prozess h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

und das beschleunigt den Prozess noch. Je tiefer wir verstehen, desto schneller lösen sich <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge<br />

auf und desto mehr Raum gibt es für <strong>die</strong> weiteren E<strong>in</strong>drücke, sich zu manifestieren.<br />

Was da an Empf<strong>in</strong>dungen aufsteigt, braucht natürlich nicht nur aus der Vergangenheit zu kommen.<br />

Eben jetzt f<strong>in</strong>den viele Empf<strong>in</strong>dungen statt. Da ist e<strong>in</strong> unzähliger Strom von Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> jetzt<br />

gerade Anhaften und Abneigen auslösen können. Wir sitzen z.B. bei unserer schönen Buddha-Statue<br />

und im H<strong>in</strong>tergrund fängt e<strong>in</strong> Bauer an, <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>em Trecker das Feld zu bestellen. Entweder ist es für<br />

uns schnell erledigt, wir sehen: „Wunderbar, er bestellt das Feld. Das muss so se<strong>in</strong>. Ich meditiere, das<br />

darf auch so se<strong>in</strong>.“ – Ke<strong>in</strong> Konflikt, oder ich erkenne sogar <strong>die</strong> illusorische Natur von Geräuschen, <strong>die</strong><br />

E<strong>in</strong>heit von Klang und Leerheit. Oder aber ich beg<strong>in</strong>ne mich zu nerven: „Was muss der auch gerade<br />

jetzt, wo ich hier <strong>in</strong> Ferien b<strong>in</strong> und meditieren möchte, se<strong>in</strong> Feld bestellen! Nicht e<strong>in</strong>mal hier kann ich<br />

<strong>in</strong> Ruhe meditieren!“ und irgendwann packe ich me<strong>in</strong> Kissen und dampfe ab. In dem Fall hätte ich<br />

wieder neues Karma angesammelt, frisches Karma von Ablehnung, Fixierung und Ich-Bezogenheit.<br />

Oder im ersten Fall: nicht nur dass sich ke<strong>in</strong> neues Karma aufgebaut hat, sondern es ist sogar zusätzliches<br />

Verständnis entstanden. Dieselbe Situation, aber unterschiedlicher Umgang da<strong>mit</strong> hat ganz<br />

unterschiedliche Folgen.<br />

Soweit zum Aggregat der Empf<strong>in</strong>dungen. Vielleicht können wir festhalten: Jede Empf<strong>in</strong>dung kann zur<br />

Basis von tieferem Verständnis und Freiheit werden oder zur Basis von karmischen Reaktionen. Genau<br />

dort liegt also unsere Praxis, genau da setzen wir an zusammen <strong>mit</strong> dem 3. Aggregat.<br />

21


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Meditation:<br />

Lasst uns <strong>mit</strong> den Empf<strong>in</strong>dungen im Körper, <strong>mit</strong> den Berührungsempf<strong>in</strong>dungen anfangen. Dar<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d<br />

auch das Pulsieren, das Vibrieren im Körper e<strong>in</strong>bezogen, <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dungen der Haltung, von Schwere<br />

und Leichtigkeit, von Wärme und Kühle. Das alles ist <strong>mit</strong> Körperempf<strong>in</strong>dungen geme<strong>in</strong>t. –<br />

Was ist alles los <strong>in</strong> unserem Körper? –<br />

Gibt es unter den Empf<strong>in</strong>dungen im Körper welche, <strong>die</strong> ich als unangenehm empf<strong>in</strong>de? –<br />

Gibt es welche, <strong>die</strong> ich als angenehm empf<strong>in</strong>de? –<br />

Und welche s<strong>in</strong>d weder angenehm noch unangenehm? –<br />

Gibt es welche, wo ich jetzt schon am liebsten reagieren würde und z.B. <strong>die</strong> Körperhaltung ändern<br />

möchte? –<br />

Jedes Mal, wenn ich mich bewege und das Kissen verändere oder mich strecke oder das Be<strong>in</strong> hebe, so<br />

ist das Ausdruck davon, dass e<strong>in</strong>e unangenehme Empf<strong>in</strong>dung mich bewegt, um Erleichterung zu f<strong>in</strong>den,<br />

etwas mehr Komfort zu f<strong>in</strong>den. –<br />

Jetzt lasst uns <strong>die</strong>selbe Übung <strong>mit</strong> den Klängen, den Geräuschen machen.<br />

Gibt es Geräusche, <strong>die</strong> ich lieber nicht hätte, nicht hören will? –<br />

Gibt es angenehme Geräusche und Klänge? –<br />

Gibt es Klänge, <strong>die</strong> weder angenehm noch unangenehm s<strong>in</strong>d? –<br />

Stellt euch vor, dass <strong>die</strong> Geräusche stärker werden. Würde das etwas ändern <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>schätzung als<br />

angenehm? –<br />

Und jetzt gehen wir zum Sehs<strong>in</strong>n. Wie erfahren wir, empf<strong>in</strong>den wir <strong>die</strong> visuellen E<strong>in</strong>drücke? –<br />

S<strong>in</strong>d <strong>die</strong> alle neutral oder gibt es angenehmere visuelle E<strong>in</strong>drücke als andere? –<br />

* * *<br />

Ihr habt sicherlich bemerkt, dass das Benennen von angenehm, unangenehm und neutral nichts Festes<br />

ist, dass unsere E<strong>in</strong>schätzung vielen E<strong>in</strong>flüssen und Bed<strong>in</strong>gungen unterliegt.<br />

Der Buddha hat uns <strong>die</strong>ses zweite Skandha nicht nur erklärt, da<strong>mit</strong> wir das Funktionieren des Geistes<br />

besser verstehen, sondern auch <strong>mit</strong> der Frage: Gibt es <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Vielfalt von Empf<strong>in</strong>dungen e<strong>in</strong> Ich, e<strong>in</strong><br />

Selbst? Gibt es da etwas Konstantes, das wir Ich nennen könnten? Oder ist das nicht vielleicht auch<br />

e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> Strom wechselnder E<strong>in</strong>schätzungen, wechselnder Bewertungen unter dem E<strong>in</strong>fluss vielfältiger<br />

Bed<strong>in</strong>gungen?<br />

Das gilt es zu untersuchen. Ihr werdet sehen, dass <strong>die</strong>ses zweite Aggregat <strong>mit</strong> dem dritten unglaublich<br />

eng zusammen hängt.<br />

* * *<br />

22


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Das Aggregat der Unterscheidungen<br />

Samjna Skandha<br />

Unterscheiden ist das Erfassen von Merkmalen.<br />

Mit Unterscheiden ist das Erfassen der beschreibenden Merkmale geme<strong>in</strong>t, der Merkmale von dem,<br />

worauf sich unsere S<strong>in</strong>neswahrnehmungen richten. Das Aggregat des Unterscheidens von Merkmalen<br />

ist <strong>die</strong> mentale, <strong>in</strong>tellektuelle Komponente des Unterscheidens, während das 2. Aggregat stärker<br />

affektiv ist – „Mag ich“ oder „Mag ich nicht.“<br />

Se<strong>in</strong>e Stütze s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> sechs Arten von Unterscheidungen, <strong>die</strong> aus dem Kontakt, dem Zusammenkommen<br />

von Augen [Ohren, Nase, Zunge und Körper] bis h<strong>in</strong> zum Mentalen entstehen.<br />

Wie auch für <strong>die</strong> anderen Aggregate, f<strong>in</strong>det das Unterscheiden <strong>in</strong> allen sechs Bereichen der S<strong>in</strong>neswahrnehmungen<br />

statt – im Körperbereich, im Hören, im Sehen, im Schmecken, im Riechen und im<br />

Denken, der geistigen Wahrnehmung.<br />

Beim Erfassen von Merkmalen gibt es das Erfassen von S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halten, wie Ersche<strong>in</strong>ungen als<br />

blau, gelb und dergleichen zu erfassen, sowie das Erfassen von Konventionen, wie <strong>die</strong> Vorstellung<br />

von e<strong>in</strong>em Mann und e<strong>in</strong>er Frau. Es gibt ebenso viele weitere Unterteilungen, wie es Erkennbares<br />

gibt.<br />

In <strong>die</strong>sem Unterscheiden der Merkmale stützen wir uns zunächst e<strong>in</strong>mal auf <strong>die</strong> erfassten S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halte<br />

<strong>mit</strong> ihren Merkmalen, <strong>die</strong> sie beschreiben, z.B. rot, rechtw<strong>in</strong>klig, glatt, stabil, solide usw. – Das s<strong>in</strong>d<br />

<strong>die</strong> Merkmale <strong>die</strong>ses roten Tisches hier, auf dem ich me<strong>in</strong>en Text liegen habe. Dieses Objekt wird also<br />

durch se<strong>in</strong>e Adjektive beschrieben, <strong>die</strong> erst e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> offenkundigen Merkmale des Objektes s<strong>in</strong>d.<br />

Diese Merkmale s<strong>in</strong>d anders als <strong>die</strong> der roten Tischchen, <strong>die</strong> ihr benutzt, <strong>die</strong> nicht ganz rechtw<strong>in</strong>kelig<br />

s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e andere Oberflächenstruktur haben, nicht so glatt s<strong>in</strong>d usw. Man könnte sie bis <strong>in</strong>s kle<strong>in</strong>ste<br />

Detail beschreiben.<br />

Das ist das Erfassen von Merkmalen, z.B. das Blatt hier ist grün, gewölbt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Spitze auslaufend.<br />

Auf der Basis der erfassten Merkmale gibt man dem Objekt dann e<strong>in</strong>en Namen. Mit dem Benennen<br />

wird das Objekt der Gruppe all jener Objekte zugeordnet, <strong>die</strong> den gleichen Namen haben, und <strong>die</strong>se<br />

Unterscheidungen können sehr fe<strong>in</strong> oder sie können grob se<strong>in</strong>. Ob ich Pflanze oder Blatt sage, ist<br />

schon e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Unterschied, und dann kann man noch weiter unterscheiden.<br />

Unterscheidungen werden weiter <strong>in</strong> sechs Arten unterteilt:<br />

Unterscheidungen <strong>mit</strong> Merkmalen<br />

be<strong>in</strong>halten alle Unterscheidungen außer solche ohne Merkmale.<br />

Der Prozess des Unterscheidens von wahrgenommenen Objekten aufgrund ihrer Merkmale ist erst e<strong>in</strong>mal<br />

ke<strong>in</strong> affektiver Prozess. Es sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> logischer Prozess zu se<strong>in</strong> auf der Basis des Erkennens ähnlicher<br />

Merkmale im Vergleich <strong>mit</strong> bereits bekannten. Im Vergleich <strong>mit</strong> bereits Bekanntem wird das<br />

Objekt dann e<strong>in</strong>er bestimmten Kategorie von D<strong>in</strong>gen zugeordnet.<br />

Das hier ist z.B. e<strong>in</strong>e Uhr. Um festzustellen, ob es sich wirklich um e<strong>in</strong>e Uhr handelt, vergewissert<br />

man sich: Das D<strong>in</strong>g hat e<strong>in</strong> Armband, Zeiger, Ziffern für <strong>die</strong> E<strong>in</strong>teilung der Zeit, <strong>die</strong> Zeiger bewegen<br />

sich sogar, … Es sche<strong>in</strong>t sich tatsächlich um e<strong>in</strong>e Uhr zu handeln. Manchmal geht man deduktiv vor,<br />

manchmal <strong>in</strong>duktiv, je nachdem was man zuerst präsentiert bekommt. Anhand der Merkmale vergewissern<br />

wir uns dann, wozu das Objekt gehört.<br />

Dieser Prozess des Unterscheidens lässt sich besonders gut verfolgen, wenn wir uns <strong>in</strong> unserer Wahrnehmung<br />

nicht sicher s<strong>in</strong>d.<br />

23


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

E<strong>in</strong> visuelles Beispiel: Da h<strong>in</strong>ten bewegt sich was, neben dem Baum ist so was Dunkles, e<strong>in</strong> dunkler<br />

Schatten, der sich bewegt. Ich strecke me<strong>in</strong>en Hals und schau genauer h<strong>in</strong>, ich versuche, mich visuell<br />

e<strong>in</strong>zuzoomen. Ah ja, das bewegt sich so ähnlich wie e<strong>in</strong> Mensch. Ja genau, das ist e<strong>in</strong> Mensch, das<br />

kann ich jetzt an den Bewegungen identifizieren. Ich weiß noch nicht, ob es e<strong>in</strong> Mann oder e<strong>in</strong>e Frau<br />

ist. –<br />

Ich versuche, anhand der wahrnehmbaren Merkmale herauszuf<strong>in</strong>den, um was es sich denn wohl genau<br />

handelt. Dieser Prozess ist eben dann besonders offenkundig, wenn nicht klar ist, um was es sich handelt.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Klang: Ich höre e<strong>in</strong> Geräusch. Es hört sich nach e<strong>in</strong>em künstlichen Geräusch<br />

an, wie schneiden oder bohren. Es sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> motorgetriebenes Geräusch zu se<strong>in</strong>. Ne<strong>in</strong>, es ist ke<strong>in</strong><br />

Bohren, es ist vielleicht … „Ah! Das muss der Serge se<strong>in</strong>, der <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Flex <strong>die</strong> Kacheln durchschneidet.“<br />

So komme ich durch h<strong>in</strong>hören, wieder h<strong>in</strong>hören, noch e<strong>in</strong>mal h<strong>in</strong>hören, vergleichen <strong>mit</strong><br />

bekannten Klängen zum Schluss: „Ah! Das muss es se<strong>in</strong>.“<br />

Wir können jede Menge Beispiele nehmen. Da sehe ich jemanden sitzen und schau genau h<strong>in</strong>. Er hat<br />

blonde Haare, lacht, das Alter hat er auch. Das müsste der Rob<strong>in</strong> se<strong>in</strong>! Ich gebe e<strong>in</strong>en Namen und dann<br />

weiß ich: „Er ist es!“ Ich kann mich aber auch getäuscht haben, wenn ich nicht genau h<strong>in</strong>geschaut habe.<br />

Sobald ich dem Objekt e<strong>in</strong>en Namen gegeben habe, ist es für mich normalerweise e<strong>in</strong>e erledigte Geschichte.<br />

„Ah! Da s<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e Amsel.“ Ich b<strong>in</strong> <strong>mit</strong> dem Namen Amsel zufrieden und höre dann auf, h<strong>in</strong>zuhören,<br />

es ist e<strong>in</strong>geordnet. Da liegt <strong>die</strong> Quelle für jede Menge von Irrtümern und Fehlern, weil ich<br />

<strong>mit</strong> dem Benennen me<strong>in</strong>e, etwas erfasst zu haben, es eigentlich aber nur e<strong>in</strong>er Gruppe zugeordnet habe<br />

und gar nicht mehr h<strong>in</strong>höre, wie denn <strong>die</strong>se Amsel jetzt gerade s<strong>in</strong>gt. Das Spezielle der Situation kriege<br />

ich gar nicht mehr <strong>mit</strong>. Wie geht es denn <strong>die</strong>sem Rob<strong>in</strong> heute, jetzt gerade, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Moment? Ich<br />

habe ihm e<strong>in</strong>fach se<strong>in</strong>en Namen verpasst und schaue gar nicht mehr h<strong>in</strong>, wie es ihm eigentlich geht.<br />

Wenn <strong>die</strong>ses Zuordnen zu Kategorien dazu führt, dass wir da<strong>mit</strong> aufhören h<strong>in</strong>zuspüren, h<strong>in</strong>zuhören,<br />

h<strong>in</strong>zuschauen, dann wird sich unser Leben <strong>in</strong> Kategorien vollziehen. Wir leben immer <strong>mit</strong> denselben<br />

Menschen, fahren <strong>mit</strong> demselben Auto zur Arbeit, nehmen <strong>die</strong>selbe Strecke, begegnen auch so denselben<br />

Menschen, essen <strong>die</strong>selbe Nahrung. Das Leben wird grau. Das Leben wird dann <strong>in</strong> den Kategorien<br />

der Wahrnehmung gelebt und nicht mehr <strong>in</strong> der eigentlichen Wahrnehmung. Es verliert se<strong>in</strong>e Vielgestaltigkeit,<br />

se<strong>in</strong>e unendliche Vielfalt, wo ke<strong>in</strong>e Erfahrung <strong>mit</strong> der anderen identisch ist. Darunter leiden<br />

viele Menschen heute. Darunter haben <strong>die</strong> Menschen aber auch schon vor 2500 Jahren gelitten, als der<br />

Buddha davon sprach, dass wir e<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Kategorien wahrnehmen und nicht genau h<strong>in</strong>fühlen, nicht<br />

genau h<strong>in</strong>spüren: Wir nehmen <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge nicht mehr <strong>in</strong> ihrer Frische wie gerade jetzt wahr. Wir<br />

schlucken das Essen e<strong>in</strong>fach runter, wir nehmen Getränke zu uns, ohne überhaupt <strong>mit</strong>zubekommen,<br />

was wir da tr<strong>in</strong>ken und schmecken.<br />

Dieses Problem, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er begrifflichen Welt zu leben, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Erfassen von Kategorien und sich dann<br />

<strong>in</strong> Kategorien zu bewegen, gab es also schon damals zu Zeiten des Buddha. Es lag dem Buddha<br />

besonders am Herzen, <strong>die</strong> Begrifflichkeit um das Ich herum aufzulösen, <strong>die</strong>ses Gefühl, als e<strong>in</strong> stabiles<br />

Ich zu leben und von der tatsächlichen Erfahrung <strong>die</strong>ses Geistesstroms weg zu se<strong>in</strong>. Der Begriff Ich ist<br />

ja durchaus s<strong>in</strong>nvoll, um <strong>die</strong> Kont<strong>in</strong>uität zu beschreiben von dem, was sich da von unserer K<strong>in</strong>dheit<br />

bis heute fortsetzt als e<strong>in</strong> Strom des Erlebens <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er gewissen Kont<strong>in</strong>uität. Zu dem sagt man dann<br />

aus der eigenen Perspektive heraus ‚Ich’ und <strong>die</strong> anderen sagen dazu Tilman oder Lhündrup, wenn sie<br />

mich betrachten. In dem Moment, <strong>in</strong> dem wir <strong>die</strong> Begrifflichkeit benutzen, besteht <strong>die</strong> Gefahr, dass<br />

wir uns von dem eigentlichen Erleben entfernen, denn der Begriff ist statisch. Begriffe wandeln sich<br />

nicht. Begriffe bleiben, während das, was da<strong>mit</strong> beschrieben wird, e<strong>in</strong>en ständigen Wandel erfährt,<br />

und dar<strong>in</strong> liegt <strong>die</strong> große Gefahr.<br />

Wir müssen also sehr aufpassen, denn wenn wir nur <strong>mit</strong> Konzepten leben würden, würde uns das weit<br />

entfernen von dem, was tatsächlich geschieht, was wir tatsächlich erleben. Der Begriff, <strong>mit</strong> dem wir<br />

uns tatsächlich bezeichnen – Marianne, Elg<strong>in</strong> usw. – <strong>die</strong> Namen wandeln sich ja nicht, aber was da<strong>mit</strong><br />

beschrieben wird, ist <strong>in</strong> jedem Moment etwas Neues und enorm unterschiedlich von e<strong>in</strong>em Tag zum<br />

anderen, von e<strong>in</strong>er Stimmung zu anderen. Aber von der Perspektive des Namens aus ist es <strong>die</strong>selbe<br />

Elisabeth, derselbe Lhündrup.<br />

24


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wir haben seit Tausenden von Jahren Bäume. Bäume, <strong>die</strong> wachsen, da draußen s<strong>in</strong>d Bäume, Bäume,<br />

Bäume. Es werden auch <strong>in</strong> Hunderten von Jahren noch Bäume se<strong>in</strong>, hoffentlich. Mit dem Begriff<br />

„Baum“ sehen wir aber nicht <strong>die</strong> Individualität des Baumes. Wenn wir weiter unterscheiden, dann hat<br />

es da draußen Eichen, Buchen, Nussbäume usw. Da<strong>mit</strong> kommen wir zwar etwas näher ran, unsere<br />

Kategorie verfe<strong>in</strong>ert sich, aber <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Eiche, <strong>die</strong> vielen verschiedenen Eichen, <strong>die</strong> z.B. hier auf dem<br />

Grundstück s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> verschiedenen Buchen, <strong>die</strong> verschiedenen Haselnusssträucher oder Kastanien<br />

und dergleichen s<strong>in</strong>d da<strong>mit</strong> nicht erfasst. Jeder e<strong>in</strong>zelne Baum ist unterschiedlich.<br />

Das erfassen wir nicht <strong>mit</strong> der Kategorie, und so erfassen wir auch nicht <strong>die</strong> Unterschiedlichkeit des<br />

Menschen vor uns, wenn wir ihm nur den Namen geben oder nur das Attribut sehen, z.B. das Attribut<br />

„Mutter“, „me<strong>in</strong>e Mutter“. Das wird ja <strong>in</strong> uns zu e<strong>in</strong>em Bild. Da hat sich was verfestigt, was wir für<br />

„me<strong>in</strong>e Mutter“ halten. Was für e<strong>in</strong> Wesen sich tatsächlich h<strong>in</strong>ter dem Begriff „me<strong>in</strong>e Mutter“ verbirgt,<br />

das muss ich jedes Mal neu herausf<strong>in</strong>den. Das ist ja jedes Mal e<strong>in</strong>e andere Mutter oder e<strong>in</strong> anderer<br />

Vater, es ist ja nicht e<strong>in</strong> immer gleich bleibender Vater. Ich habe den irgendwann e<strong>in</strong>mal abgespeichert,<br />

als ich den Begriff „Vater“ gelernt oder geprägt habe und habe dann dazu gelernt. Dieser<br />

Begriff hat sich verfe<strong>in</strong>ert. „Me<strong>in</strong> Vater“ ist aber geprägt von all dem, was ich da<strong>mit</strong> assoziiere. Das,<br />

was ich als me<strong>in</strong>en Vater betrachte, ist also e<strong>in</strong> Komplex von Assoziationen <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Begriff.<br />

Ob ich noch offen b<strong>in</strong> für den immer neuen Menschen, der sich h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong>sem Begriff verbirgt, ist<br />

dann e<strong>in</strong>e wirklich wichtige Frage. Wenn ich ständig zu „me<strong>in</strong>em Vater“ spreche und <strong>die</strong> Person, <strong>die</strong><br />

da aber tatsächlich ist, völlig verpeile, nicht erfasse, dann kommt es zu Konflikten. Es kommt zu ganz<br />

starken Missverständnissen, wo sich ke<strong>in</strong>er von beiden verstanden fühlt. – So geht es uns ständig.<br />

Wir bewegen uns ständig <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Konflikt zwischen Begriff und Wirklichkeit. Ihr sprecht mich an<br />

als Lama Lhündrup. Ja, wo ist denn <strong>die</strong>ser Lama Lhündrup? Da ist e<strong>in</strong> Mensch, der von Moment zu<br />

Moment anders ist, der ganz vielseitig ist und der <strong>mit</strong> der Rolle auch gar nicht komplett zu erfassen ist.<br />

Man kann sich teilweise darauf e<strong>in</strong>lassen, um dem Bild zu entsprechen, aber es ist e<strong>in</strong> Kompromiss, es<br />

erfasst nicht <strong>die</strong> ganze Person. Und so geht es jedem von uns. Wir haben alle unsere Rollen, <strong>die</strong> <strong>mit</strong><br />

Begriffen belegt s<strong>in</strong>d. Man wendet sich an uns <strong>in</strong> unserer Begrifflichkeit, <strong>in</strong> unseren Rollen, aber <strong>die</strong><br />

Person, <strong>die</strong> da gerade vor e<strong>in</strong>em ist, wird nicht als ganze erfasst.<br />

Das Gleiche passiert uns <strong>in</strong> allen Lebensbereichen. Wir haben e<strong>in</strong>e Vorstellung von e<strong>in</strong>er Autobahn.<br />

E<strong>in</strong>e Autobahn ist e<strong>in</strong>e Straße, auf der man schnell vorwärts kommt, auf der man schnell von A nach<br />

B kommt. Wenn man auf der Autobahn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Stau gerät, ist man <strong>mit</strong> Merkmalen e<strong>in</strong>er Autobahn<br />

konfrontiert, <strong>die</strong> nicht vorgesehen s<strong>in</strong>d – Konflikt <strong>mit</strong> der Wirklichkeit. Auf e<strong>in</strong>er Autobahn sollte man<br />

schnell fahren können und nicht still stehen – Stress, Schwierigkeit.<br />

Me<strong>in</strong>e Mutter sollte sich doch um mich kümmern, ich b<strong>in</strong> das K<strong>in</strong>d und me<strong>in</strong>e Mutter ist doch dafür<br />

da, sich um mich zu kümmern. Wenn <strong>die</strong> Mutter <strong>mit</strong> sich selbst beschäftigt ist, ist das nicht vorgesehen<br />

<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Begriff von Mutter – Stress.<br />

Egal wo wir auch h<strong>in</strong>schauen, wenn wir nicht <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, das, was wir <strong>mit</strong> Begriffen assoziieren,<br />

ganz fl<strong>in</strong>k auf <strong>die</strong> Seite zu räumen, loszulassen und uns für <strong>die</strong> neue Situation zu öffnen und dazuzulernen,<br />

dann kommt es zu Konflikten. Es kommt zu Stress, es kommt zu Leid, zu dem, was der<br />

Buddha dukkha nannte – Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Vorstellung.<br />

Dieser Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Vorstellung ist genau das, was uns vom Erwachen<br />

trennt. Wenn <strong>die</strong>ser Widerspruch aufgelöst ist und wir ganz <strong>in</strong> der Natur der D<strong>in</strong>ge aufgehen, <strong>in</strong> völligem<br />

Gewahrse<strong>in</strong>, dann s<strong>in</strong>d wir Erwachte. Wir werden dann nicht aufhören, <strong>die</strong> Begriffe, <strong>die</strong> Kategorien<br />

zu benutzen, aber wir werden <strong>die</strong> volle Flexibilität des Geistes haben, Begriffe dafür zu nutzen,<br />

wofür sie gut s<strong>in</strong>d und sie wegzulassen, wenn sie nicht s<strong>in</strong>nvoll s<strong>in</strong>d.<br />

Die Welt der Vorstellungen ist im Konflikt <strong>mit</strong> dem, was unsere sechs S<strong>in</strong>ne uns melden, wenn wir<br />

uns tatsächlich öffnen. Wenn wir uns dafür nicht öffnen, müssen wir es zum<strong>in</strong>dest noch verstehen.<br />

Wenn wir es zutiefst verstehen, dann s<strong>in</strong>d wir im E<strong>in</strong>klang <strong>mit</strong> dem was ist, dann s<strong>in</strong>d wir im Sose<strong>in</strong>,<br />

im vollen Gewahrse<strong>in</strong> angelangt. – E<strong>in</strong> Buddha wird weiterh<strong>in</strong> Begriffe, Konzepte benutzen. Es gibt<br />

ke<strong>in</strong> Problem <strong>mit</strong> den Konzepten. Begriffe werden dann dafür e<strong>in</strong>gesetzt, wofür sie s<strong>in</strong>nvoll s<strong>in</strong>d, und<br />

sie werden weggelassen, wenn sie nicht mehr s<strong>in</strong>nvoll s<strong>in</strong>d.<br />

Diese Unterscheidungen, Unterteilungen s<strong>in</strong>d so unzählig möglich, wie es S<strong>in</strong>nesobjekte gibt. Noch<br />

e<strong>in</strong>mal das Beispiel der Eiche. Wie weit können wir eigentlich <strong>mit</strong> den Unterscheidungen gehen? Wir<br />

25


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

haben alle Eichen der Welt und dann haben wir bestimmte Eichen. Da gibt es <strong>die</strong> amerikanische<br />

Roteiche usw. – ich kenne mich <strong>mit</strong> den botanischen Bezeichnungen nicht so genau aus – schließlich<br />

f<strong>in</strong>den wir <strong>die</strong> korrekte botanische Bezeichnung für <strong>die</strong> Eiche <strong>in</strong> unserem Garten. Aber dann wollen<br />

wir noch spezifischer werden. Wir können der Eiche <strong>in</strong> unserem Garten sogar e<strong>in</strong>en persönlichen<br />

Namen geben. Das ist <strong>die</strong> Eiche Franz z.B. Da<strong>mit</strong> hat sie ihren Namen und wir denken, das wäre jetzt<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>e unverwechselbare Eiche. Aber <strong>die</strong>ser Name ist auch nicht spezifisch genug, um <strong>die</strong> Eiche <strong>in</strong><br />

ihrer Individualität von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Moment zu Moment zu erfassen. Äste<br />

brechen ab, andere Äste wachsen, mal hat sie dort Blätter, mal dort, mal ke<strong>in</strong>e mehr, verschiedene<br />

Insekten h<strong>in</strong>terlassen ihre Spuren, Moos wächst… Diese e<strong>in</strong>e Eiche wird <strong>in</strong> ihrer Individualität nie von<br />

e<strong>in</strong>em Namen befriedigend erfasst werden können.<br />

So geht es <strong>mit</strong> allen D<strong>in</strong>gen. Alle Bezeichnungen, alle Klassifikationen s<strong>in</strong>d Verallgeme<strong>in</strong>erungen.<br />

Um e<strong>in</strong>en Begriff zu f<strong>in</strong>den, müssen wir weg von dem ständigen Wandel, wir müssen e<strong>in</strong>e Verallgeme<strong>in</strong>erung<br />

treffen. Wir sagen z.B.: „Dieses Objekt, das immer an dem Ort zu f<strong>in</strong>den ist, das nenne ich<br />

me<strong>in</strong>e Eiche Franz.“ Aber da<strong>mit</strong> s<strong>in</strong>d wir dabei, etwas e<strong>in</strong>zugrenzen, wo wir nicht mehr den Wandel<br />

von Moment zu Moment erfassen können. Das ist das grundsätzliche Problem <strong>mit</strong> allen Bezeichnungen,<br />

<strong>mit</strong> allen Kategorien. Wir werden <strong>die</strong>ses Problem nie lösen können, denn der S<strong>in</strong>n von Bezeichnungen<br />

ist, Stabilität zu schaffen dort, wo es Wandel gibt.<br />

Das genau ist der S<strong>in</strong>n von Bezeichnungen: etwas bezeichnen zu können, das sich andernfalls völlig<br />

der Bezeichnung entziehen würde. Dieser Prozess ist also notwendig, nur müssen wir uns dessen bewusst<br />

se<strong>in</strong> und dürfen nicht <strong>die</strong> Bezeichnung <strong>mit</strong> dem Bezeichneten identifizieren. Wenn wir denken,<br />

sie wären identisch, haben wir e<strong>in</strong> Problem.<br />

Im Prozess der Kommunikation erschaffen wir uns also Bezeichnungen, Begriffe, <strong>die</strong> aus dem zu beschreibenden<br />

Objekt das herausfiltern, was sich nicht so schnell ändert. Um beim Beispiel der Eiche <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>em Garten zu bleiben: Dieser Baum wird se<strong>in</strong>e Eichenmerkmale nicht verlieren, solange es ihn<br />

gibt, er wird immer e<strong>in</strong>e Eiche se<strong>in</strong>. Ich kann den Baum benennen, weil ich das herausfiltere, was sich<br />

nicht so schnell verändert, das andere muss ich aber weglassen.<br />

Wenn ich dem Menschen vor mir jeden Tag e<strong>in</strong>en anderen Namen geben würde, bloß weil er jetzt gerade<br />

anders ist, könnten wir ja gar nicht kommunizieren. Begriffe brauchen e<strong>in</strong>e Stabilität. So dass jeder<br />

<strong>die</strong>se Begriffe lernen kann, Zeit hat, sich <strong>die</strong> Begriffe anzueignen, zu wissen, was da<strong>mit</strong> geme<strong>in</strong>t<br />

ist um dann <strong>mit</strong> anderen, <strong>die</strong> auch <strong>die</strong> Zeit hatten, <strong>die</strong> Begriffe zu lernen, zu kommunizieren. Dann<br />

macht <strong>die</strong> Kommunikation S<strong>in</strong>n, wir sprechen über dasselbe, wir verwenden Begriffe, <strong>die</strong> jeder verstehen<br />

kann. Es wäre überhaupt nicht angebracht, <strong>die</strong> Begriffe ständig zu verändern.<br />

Es ist aber wirklich wichtig, dass wir uns bewusst s<strong>in</strong>d, dass h<strong>in</strong>ter den Begriffen <strong>die</strong> zu entdeckende<br />

Wirklichkeit ist, <strong>die</strong> sich weiterh<strong>in</strong> ständig wandelt, wir aber wandelnde Merkmale nicht so schnell herausgefiltert<br />

haben. Wenn wir also wissen, dass wir uns <strong>mit</strong> der Sprache auf e<strong>in</strong>er virtuellen Ebene bef<strong>in</strong>den<br />

– <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge werden benannt, s<strong>in</strong>d aber nicht identisch <strong>mit</strong> dem, was beschrieben wird – wenn<br />

wir da genau s<strong>in</strong>d und nicht <strong>die</strong> Bezeichnung <strong>mit</strong> dem Bezeichneten verwechseln, dann gibt es ke<strong>in</strong><br />

Problem. Wir nutzen <strong>die</strong> virtuelle Ebene, <strong>die</strong> Ebene der Begriffe, um etwas zu kommunizieren und<br />

dann gehen wir wieder zurück <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt der Erfahrung, <strong>die</strong> immer frisch ist.<br />

Wenn ich <strong>die</strong>sen Unterschied zwischen Bezeichnung, Idee, Vorstellung und der wirklichen Welt nicht<br />

begreife, dann werde ich auch nicht begreifen, warum mich Menschen missverstehen; warum ich andere<br />

nicht verstehe; warum <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge nicht so laufen, wie ich sie geplant habe; warum mir immer wieder<br />

D<strong>in</strong>ge passieren, <strong>die</strong> ich nicht vorgesehen habe, <strong>die</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Welt eigentlich gar nicht vorkommen<br />

sollten. Das hängt da<strong>mit</strong> zusammen, dass ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt der Vorstellungen lebe und den Kontakt<br />

<strong>mit</strong> dem, was ist, verloren habe. Wenn der Kontakt wieder zufrieden stellend hergestellt wird,<br />

wird sich me<strong>in</strong>e Arbeit <strong>mit</strong> den Vorstellungen auch anpassen. Das ist der Heilungsprozess. Der Heilungsprozess<br />

geschieht dadurch, dass wir verstärkt den Kontakt aufnehmen <strong>mit</strong> dem, was ist, um unsere<br />

Begriffe, Ideen, Vorstellungen revi<strong>die</strong>ren zu können, anpassen zu können; dass wir immer wieder<br />

neu verstehen: Wer ist eigentlich me<strong>in</strong>e Mutter? Wer ist heute me<strong>in</strong> Vater? Wer ist heute me<strong>in</strong> Partner?<br />

Wie geht es me<strong>in</strong>em Freund heute? Wie sehen me<strong>in</strong>e Blumen heute im Garten aus? – e<strong>in</strong>fach immer,<br />

immer frisch, immer neu. Wenn das ständig stattf<strong>in</strong>det, gibt es ke<strong>in</strong>en Konflikt zwischen Vorstellung<br />

und Wirklichkeit.<br />

26


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Es wird im Text auch von „Unterscheidungen ohne Merkmale“ gesprochen. Das s<strong>in</strong>d Ausnahmeersche<strong>in</strong>ungen,<br />

wo wir z.B. <strong>in</strong> tiefer Meditation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Dimension e<strong>in</strong>treten, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e Merkmale mehr<br />

aufweist, <strong>die</strong> sich nicht beschreiben lässt.<br />

Unterscheidungen ohne Merkmale<br />

f<strong>in</strong>den sich:<br />

- bei Personen, <strong>die</strong> nicht <strong>in</strong> Konventionen bewandert s<strong>in</strong>d; sie sehen z.B. e<strong>in</strong>e Form,<br />

können sie aber aus Unkenntnis nicht bezeichnen.<br />

- bei Wahrnehmung e<strong>in</strong>er Dimension ohne Merkmale<br />

- <strong>in</strong> meditativer Ausgeglichenheit am Gipfel der Existenz<br />

Von Unterscheidungen ohne Merkmale spricht man bei Erfahrungen, <strong>die</strong> sich schlecht beschreiben<br />

lassen, <strong>die</strong> wir zwar ganz klar spüren, wahrnehmen, aber wo uns <strong>die</strong> Worte fehlen. Das passiert uns<br />

ständig. Wir s<strong>in</strong>d nicht <strong>die</strong> tollen Dichter, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> der Sprache so spielen, jonglieren können, dass sie<br />

selbst <strong>die</strong> fe<strong>in</strong>sten Nuancen noch erfassen können. Sprache ist eigentlich auch gar nicht dafür gedacht,<br />

alles zu erfassen, da<strong>mit</strong> muss man sich auch abf<strong>in</strong>den. Vieles braucht gar nicht bezeichnet zu werden,<br />

es wird trotzdem erlebt. Das Erleben f<strong>in</strong>det statt, <strong>die</strong> Wahrnehmung f<strong>in</strong>det statt, es braucht ja nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

beschrieben zu werden. Es wird nicht ‚wahrer’ dadurch, dass es beschrieben wird. Das ist<br />

nämlich der Punkt, auf den ich kommen möchte: Für uns haben D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> wir beschreiben können,<br />

e<strong>in</strong>en höheren Wahrheits-, Wirklichkeitsgrad als das, was wir nicht beschreiben können. Je häufiger<br />

wir e<strong>in</strong> Wort hören, desto wirklicher sche<strong>in</strong>t das, was dah<strong>in</strong>ter steckt, für uns zu se<strong>in</strong>.<br />

Lügen braucht man ja nur zu wiederholen und sie werden zur erklärten Wahrheit. Je häufiger wir Konzepte<br />

wiederholen, desto mehr sche<strong>in</strong>en sie e<strong>in</strong>en Wirklichkeitsgehalt zu haben. Nun gibt es da e<strong>in</strong><br />

Konzept, das wir recht häufig wiederholen: das Wörtchen Ich. – Ich, me<strong>in</strong>, me<strong>in</strong> Name, du, de<strong>in</strong>. –<br />

Das wiederholen wir ständig, und es bekommt e<strong>in</strong>en enormen Wahrheitsgehalt. Es sche<strong>in</strong>t wahr zu<br />

se<strong>in</strong>, weil ja alle <strong>die</strong>ses Wörtchen, <strong>die</strong>sen Namen benutzen. Gibt es denn dah<strong>in</strong>ter auch <strong>die</strong>se korrespon<strong>die</strong>rende<br />

Wirklichkeit von dem, was da bezeichnet wird? Das gilt es herauszuf<strong>in</strong>den!<br />

Dem Buddha g<strong>in</strong>g es darum, erst e<strong>in</strong>mal den Unterschied zwischen dem Beschriebenen und dem Begriff<br />

aufzuzeigen, und dann auch, dass der Begriff Ich nicht <strong>mit</strong> der Wirklichkeit übere<strong>in</strong>stimmt, nicht<br />

<strong>mit</strong> der Wirklichkeit identisch ist, <strong>die</strong> da beschrieben wird.<br />

Es g<strong>in</strong>g ihm aber auch darum, zu zeigen, dass <strong>die</strong> Summe all unserer Unterscheidungen auch ke<strong>in</strong> Ich<br />

ausmacht. Die Fähigkeit, viele D<strong>in</strong>ge benennen zu können und zu unterscheiden, ist eigentlich e<strong>in</strong> Prozess<br />

ständiger Anpassung an neue Wirklichkeiten, <strong>die</strong> es wieder zu beschreiben gilt. Diese Fähigkeit<br />

ist auch ke<strong>in</strong>e ausreichende Grundlage dafür, von e<strong>in</strong>em stabilen Ich sprechen zu können, das <strong>in</strong> sich<br />

stabil, <strong>in</strong> sich ruhend wäre. Es ist wiederum e<strong>in</strong> Prozess des Beschreibens, des Identifizierens, e<strong>in</strong><br />

Prozess, um immer wieder <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang <strong>mit</strong> der sich wandelnden Wirklichkeit zu kommen.<br />

In der Liste gibt es noch weitere Arten von Unterscheidungen:<br />

Weitere Unterscheidungen<br />

– Ger<strong>in</strong>gere Unterscheidungen entstehen aus den Wahrnehmungen des Bereichs der<br />

S<strong>in</strong>nesbegierde.<br />

– Weite Unterscheidungen entstehen <strong>in</strong> gleicher Weise aus den Wahrnehmungen des<br />

Formbereichs.<br />

– Unermessliche Unterscheidungen entstehen aus den Wahrnehmungen von „Unendlichem<br />

Raum“ und „Unendlichem Bewusstse<strong>in</strong>“.<br />

– Unterscheidungen von Nichts-was-auch-immer entstehen aus der Wahrnehmung des<br />

S<strong>in</strong>nesfeldes von Nichts-was-auch-immer.<br />

27


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Die ger<strong>in</strong>geren Unterscheidungen gelten für unsere Welt der S<strong>in</strong>nesbegierde, und <strong>die</strong> anderen stammen<br />

aus dem Bereich der Götter der Form und der Formlosigkeit. Sie s<strong>in</strong>d hier aufgelistet, um deren<br />

Lebenserfahrung <strong>in</strong> der Liste hier <strong>mit</strong> unterzubr<strong>in</strong>gen, s<strong>in</strong>d aber weiter nicht relevant für uns.<br />

Was nun den Praktizierenden, <strong>die</strong> Praktizierende angeht:<br />

Wir üben uns zunächst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>fach dar<strong>in</strong>, den Geist zu entspannen und nicht so sehr <strong>in</strong> Unterscheidungen<br />

zu funktionieren. Wir lassen es also e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>.<br />

Da ist e<strong>in</strong> Geräusch h<strong>in</strong>ten auf der Straße: Ich brauche nicht zu identifizieren, was es nun für e<strong>in</strong> Auto<br />

ist oder gar welcher Nachbar da gerade vorbei fährt. Es gibt Geräusche im Haus: Ich muss nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

identifizieren, woher <strong>die</strong>se Geräusche kommen. Ich betrachte Blumen: Ich muss nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

<strong>die</strong> Namen der Blumen wissen. Ich höre Musik: Ich muss nicht unbed<strong>in</strong>gt den Komponisten wissen.<br />

Ich muss nicht wissen, welches Orchester da gerade spielt. Ich muss nicht wissen, welches Stück es<br />

gerade ist. – Ich kann mich e<strong>in</strong>fach an der Musik erfreuen.<br />

Wir vere<strong>in</strong>fachen also <strong>die</strong> Geistesvorgänge, um mehr im direkten Erleben se<strong>in</strong> zu können, und wir benennen,<br />

klassifizieren, unterscheiden nur dann, wenn es wirklich s<strong>in</strong>nvoll ist. Es ist ganz wichtig, aus<br />

dem automatischen Benennen, aus dem Unterscheidungswahn, dem Klassifizierungswahn heraus zu<br />

kommen.<br />

Als zweiter Punkt ersche<strong>in</strong>t mir wichtig zu se<strong>in</strong>, dass wir uns – wenn wir Begriffe, also Sprache benutzen<br />

– bewusst s<strong>in</strong>d, dass es sich um Übere<strong>in</strong>künfte, um sprachliche Konventionen handelt. Übere<strong>in</strong>künfte<br />

ermöglichen uns zu kommunizieren, sie beschreiben aber nicht exakt, was beschrieben werden<br />

soll. Es s<strong>in</strong>d Verallgeme<strong>in</strong>erungen, also ist Vorsicht angebracht. Wir sollten sorgfältig <strong>mit</strong> Sprache<br />

umgehen und uns des Unterschiedes zwischen Sprache und beschriebener Wirklichkeit bewusst se<strong>in</strong>.<br />

Das ist e<strong>in</strong> zweiter Schritt.<br />

Drittens ersche<strong>in</strong>t mir wichtig, dass man dann wirklich <strong>die</strong> konfliktträchtigen Begriffe angeht und<br />

schaut, was denn dah<strong>in</strong>ter steckt. Der wichtigste Begriff ist Ich, dann du, was ist geme<strong>in</strong>t <strong>mit</strong> du, <strong>mit</strong><br />

me<strong>in</strong> Mann, me<strong>in</strong>e Frau, me<strong>in</strong>e Tochter, me<strong>in</strong> Sohn, me<strong>in</strong>e Mutter, me<strong>in</strong> Vater? Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Begriffe,<br />

um <strong>die</strong> herum sich immer wieder Erwartungen aufbauen, Identifikationen aufbauen, wo es zu Leid, zu<br />

Spannungen kommt. Was verstehe ich unter Gesellschaft, was verstehe ich unter französisch, deutsch<br />

usw.? Wir müssen h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong> Begriffe schauen. Was ist eigentlich geme<strong>in</strong>t? Was könnte geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>?<br />

Wir müssen <strong>die</strong> Begriffe vorsichtig benutzen und dürfen nicht glauben, wir könnten <strong>mit</strong> Begriffen <strong>die</strong><br />

Welt erfassen.<br />

Fragen:<br />

Das Ich als Arbeitshypothese<br />

Noch e<strong>in</strong>mal zur Geschichte <strong>mit</strong> der Frage nach der Existenz des Ich. Habe ich den Buddha richtig<br />

verstanden, wenn ich folgenden Schluss ziehe: Wenn du <strong>die</strong>sen kont<strong>in</strong>uierlichen Strom von Geistesaktivitäten<br />

als Atman bezeichnen willst, dann kannst du es tun. D.h., wenn ich <strong>in</strong> der Tat Personen,<br />

mich selbst als Kont<strong>in</strong>uität im Wandel verstehen kann, kann ich es so nennen?<br />

Der Buddha hat auf jeden Fall gesagt: „Ja, sei dir bewusst, was du <strong>mit</strong> Atman bezeichnest. E<strong>in</strong> Atman,<br />

das stabil ist, <strong>in</strong>dividuell abgegrenzt und dergleichen, kann niemand f<strong>in</strong>den. Wenn du da<strong>mit</strong> aber e<strong>in</strong>en<br />

Prozess bezeichnest, das ist okay.“ Genauso <strong>die</strong> Antwort auf <strong>die</strong> Frage zum Pendant dazu: Gibt es<br />

Brahman? Gibt es Gott? Das hat der Buddha ebenfalls weder <strong>mit</strong> ja noch <strong>mit</strong> ne<strong>in</strong> beantwortet sondern<br />

genauer ausgeführt: ‚Ja, es gibt Götter, <strong>die</strong> Teil des Dase<strong>in</strong>skreislaufs s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> sich ebenfalls befreien<br />

möchten, <strong>die</strong> sehr mächtig s<strong>in</strong>d. Sie s<strong>in</strong>d so mächtig und so langlebig, dass wir ihnen Schöpferkräfte<br />

zuschreiben, aber da ist ke<strong>in</strong> bleibender Gott. Es gibt <strong>die</strong> Dimension der Befreiung, es gibt bodhi, das<br />

Erwachen, und wenn wir wollen, steht es uns frei, das <strong>mit</strong> Namen zu belegen.<br />

In vielen Texten und Belehrungen werde ich eigentlich angesprochen als jemand, der noch an <strong>die</strong>se<br />

alte Atman-Lehre glaubt oder an Leibnizsche Monaden oder an <strong>die</strong> Theorien des 19. Jh. wo es feste<br />

28


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Charaktere oder ähnliches gab. Ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> der dynamischen Psychologie groß geworden – zugegeben,<br />

<strong>in</strong> den 2500 Jahren s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> hundert Jahre noch nicht sehr viel – und schwanke dann zwischen „Soll<br />

ich mich davon ansprechen lassen als jemand, der e<strong>in</strong>em überholten Modell anhängt?“ und „Soll ich<br />

mich darüber ärgern?“ oder „Soll ich es übergehen?“ Ich merke da e<strong>in</strong>e Irritation <strong>in</strong> mir.<br />

Ich b<strong>in</strong> mir bewusst, dass wir auf <strong>die</strong>ser Ebene – der Idee von e<strong>in</strong>em Selbst, das stabil, <strong>in</strong>dividuell beschrieben<br />

wird, verhaftet – angesprochen werden. E<strong>in</strong>e dynamische Sichtweise des Ichs wird dabei<br />

nicht <strong>in</strong> Betracht gezogen.<br />

Nun ist das aber auch gar nicht so relevant. Wenn uns – <strong>die</strong> wir <strong>die</strong>ses wunderbare Konzept über das<br />

Ich haben, das e<strong>in</strong> dynamischer Prozess ist – etwas passiert, wenn uns etwas piekst, e<strong>in</strong>e Beziehung<br />

ause<strong>in</strong>ander geht, wir e<strong>in</strong>en geliebten Menschen verlieren, dann reagieren wir aber genauso, wie <strong>die</strong><br />

Menschen, <strong>die</strong> an e<strong>in</strong>em stabilen Ich anhaften. Das heißt, <strong>die</strong> konzeptuelle Idee von e<strong>in</strong>em dynamischen<br />

Ich hat überhaupt noch nicht den Weg <strong>in</strong>s Herz gefunden. Es tut eigentlich schon gut, dass<br />

wir immer noch auf <strong>die</strong>ser Ebene angesprochen werden, denn wir verhalten uns immer noch so, als<br />

würden wir von e<strong>in</strong>em soliden Ich ausgehen. Der Weg vom <strong>in</strong>tellektuellen Verstehen <strong>in</strong>s erfahrende<br />

Erleben hat nicht stattgefunden – trotz aller Psychologen-Ausbildung und Schulung und Überzeugung.<br />

Wir reagieren immer noch wie K<strong>in</strong>der, <strong>die</strong> nichts verstanden haben, und da fühlt sich unser Stolz etwas<br />

provoziert. Wir haben es im Kopf verstanden, aber im Herzen ist es noch nicht angekommen.<br />

Die Reaktion, dass sich me<strong>in</strong> Stolz provoziert fühlt, wenn mich jemand für so unwissend hält, dass ich<br />

<strong>die</strong> Person nicht als etwas Dynamisches verstanden hätte, wird aufhören, wenn ich es wirklich verstanden<br />

habe. Dann kann ich gut da<strong>mit</strong> leben, dass jemand nicht sieht, dass ich tatsächlich <strong>in</strong> der Dimension<br />

frei von Anhaften b<strong>in</strong>.<br />

Ger<strong>in</strong>gere Unterscheidungen im Begierdebereich<br />

Was ist <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen ‚ger<strong>in</strong>geren Unterscheidungen’ geme<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Liste von sechs Unterteilungen<br />

angesprochen s<strong>in</strong>d und sich auf den Begierdebereich beziehen?<br />

Im frühen Buddhismus wurde <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Unterscheidung <strong>in</strong> drei große Dase<strong>in</strong>sbereiche gearbeitet. Der<br />

Bereich des Anhaftens an S<strong>in</strong>nesfreuden, den man auch den Begierdebereich nennt, umfasst alle<br />

Dase<strong>in</strong>sformen – angefangen von den Höllenbereichen über <strong>die</strong> Hungergeister, Tiere, Menschen,<br />

Halbgötter, bis <strong>in</strong> den Götterbereich zu den Göttern, <strong>die</strong> noch an S<strong>in</strong>nesfreuden haften. Das alles<br />

wurde Bereich des Haftens an S<strong>in</strong>nesfreuden genannt.<br />

Dann gibt es aber Götter, <strong>die</strong> nicht mehr an S<strong>in</strong>nesfreuden haften, sondern nur noch <strong>mit</strong> ihrer subtilen<br />

Form, <strong>mit</strong> der Form e<strong>in</strong>es Lichtkörpers identifiziert s<strong>in</strong>d. Man nennt das den Bereich der Form. Sie<br />

haben deutlich weniger Anhaftung als jene des Begierdebereiches. Und dann gibt es Götter im Bereich<br />

ohne Form, <strong>die</strong> auch ke<strong>in</strong>en subtilen Lichtkörper mehr haben, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Anhaftung an subtile Meditationszustände<br />

aufweisen; Meditationszustände ohne Form wie z.B. <strong>die</strong> erwähnte „Nichts-was-auchimmer-Dimension“<br />

oder der Bereich „Jenseits von Unterscheidung und Nicht-Unterscheidung“. Es<br />

gibt verschiedene Bezeichnungen für <strong>die</strong>se grenzenlose Meditation. Das s<strong>in</strong>d subtile Anhaftungen im<br />

Bereich der formlosen Götter.<br />

Ke<strong>in</strong>er <strong>die</strong>ser Dase<strong>in</strong>sbereiche dauert für immer. Jede Existenz endet da<strong>mit</strong>, dass das Karma, das <strong>die</strong>se<br />

Existenz hervorgerufen hat, erschöpft wird und man wieder <strong>in</strong> andere Dase<strong>in</strong>sformen e<strong>in</strong>tritt. Das war<br />

<strong>die</strong> Vorstellung, <strong>die</strong> der <strong>in</strong>dischen Kultur damals entsprach und sehr geeignet ist, <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge den Indern<br />

zu erklären.<br />

Zeichen des Fortschritts<br />

Woran können wir erkennen, dass unsere Entwicklung <strong>in</strong> <strong>die</strong> richtige Richtung geht, dass wir uns e<strong>in</strong>er<br />

Sichtweise annähern, <strong>die</strong> dem Erwachen förderlich ist. Ich b<strong>in</strong> mir bewusst, dass unsere Sichtweisen<br />

alle noch von Ichanhaften geprägt s<strong>in</strong>d, aber gibt es vielleicht Zeichen, an denen wir erkennen<br />

können, dass sich unsere verkehrten Sichtweisen auflösen und man sich an etwas annähert, das dem<br />

Erwachen förderlich ist?<br />

29


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Die Zeichen dafür s<strong>in</strong>d, dass unser Geist geschmeidiger wird, dass wir uns weniger <strong>in</strong> Blockaden verfangen,<br />

dass wir <strong>in</strong>nere Freiheit erleben, dass Freude auftaucht, dass Vertrauen oder gar Gewissheit im<br />

Geist auftaucht. Dass wir auch <strong>die</strong>se Anschauungen nicht zu verteidigen haben, dass sich <strong>in</strong>sgesamt<br />

e<strong>in</strong>e große <strong>in</strong>nere Befreiung breit macht aufgrund e<strong>in</strong>er Sichtweise oder Erfahrung des Lebens, <strong>die</strong><br />

schon deutlich näher an der Wirklichkeit ist, <strong>die</strong> an sich jenseits aller Sichtweisen ist.<br />

Wenn unser Geist enger wird, wenn wir merken, dass wir Sichtweisen verteidigen oder angreifen,<br />

wenn wir schwerer im Geist werden, wenn unser Geist blockiert und <strong>die</strong> Freude weggeht, dann s<strong>in</strong>d<br />

wir auf dem Holzweg. Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Anzeichen dafür, dass <strong>die</strong> Gesamtentwicklung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Richtung<br />

geht, wo wir dabei s<strong>in</strong>d, wieder festzuhalten an was auch immer an Sichtweisen sich da gerade aufgebaut<br />

hat.<br />

Aufwühlende –nicht aufwühlende Empf<strong>in</strong>dungen<br />

E<strong>in</strong>e Frage zum 2. Aggregat, den Empf<strong>in</strong>dungen: Da war <strong>die</strong> Rede von aufwühlend, nicht aufwühlend,<br />

weder aufwühlend noch nicht aufwühlend. Ich frage mich, ob das <strong>die</strong> erste Spannung im Geist ist, <strong>die</strong><br />

man wahrnehmen kann, denn das hat ja nicht <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er emotionalen Aufgewühltheit zu tun, das wäre<br />

<strong>in</strong> den <strong>Skandhas</strong> viel, viel später – oder doch? Es hat <strong>mit</strong> Emotionen ja eigentlich nichts zu tun. Ich<br />

habe es so verstanden, dass e<strong>in</strong>e Spannung im Geist dukkha ist. Aber wie kann e<strong>in</strong>e Spannung, <strong>die</strong> ich<br />

wahrnehme, nicht nicht aufwühlend se<strong>in</strong>? Ich verstehe das nicht ganz.<br />

Da hat es e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Verständnislücke gegeben. Wenn etwas Spannung im Geist verursacht, dann ist<br />

es aufwühlend. Etwas, was Anspannung ist, ist etwas, das den Geist aufwühlt, nicht beruhigt, nicht frei<br />

macht.<br />

Ja, aber wenn vorher <strong>die</strong> Unterteilung ist <strong>in</strong> angenehm, unangenehm und neutral …<br />

Das ist aber e<strong>in</strong>e andere Unterteilung, <strong>die</strong>se Unterteilungen ersetzen sich nicht. Wir sprechen von etwas<br />

anderem. Es ist nicht so, dass <strong>die</strong> angenehmen Empf<strong>in</strong>dungen nicht aufwühlend wären. Das ist<br />

nicht geme<strong>in</strong>t, auch angenehme Empf<strong>in</strong>dungen werden so <strong>in</strong>terpretiert augrund von aufwühlenden<br />

Emotionen wie z.B. Anhaftung. Der Geist ist aufgewühlt, weil ich etwas gerne mag. Das Nicht-Aufwühlen<br />

ist ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Pendant zum Angenehmen und das Aufwühlende zum Unangenehmen, das<br />

kann man so nicht sehen. Angenehm und unangenehm gehören beide <strong>in</strong> den Bereich der aufwühlenden<br />

Empf<strong>in</strong>dungen.<br />

Aber das hat <strong>mit</strong> Emotionen nichts zu tun?<br />

Doch! Das ist der Beg<strong>in</strong>n der Emotion. Das ist der Beg<strong>in</strong>n der drei Geistesgifte von Begierde, Abneigung<br />

und Unwissenheit.<br />

Aber <strong>die</strong> Emotionen setzen sich ja erst da drauf, <strong>die</strong> können sich daraus entwickeln.<br />

Ja, das hängt davon ab, wie du Emotionen def<strong>in</strong>ierst. Ihre Wurzeln s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen ganz rudimentären<br />

Reaktionen, wie „Mag ich!“ – „Mag ich nicht!“ – „Will ich nichts davon wissen!“ Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Wurzeln<br />

der dann immer stärker anwachsenden Emotionen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> ausgewachsenen, aufgeblähten Formen<br />

der Emotionen ergeben. Es kommt drauf an, wie du das Wort Emotion e<strong>in</strong>setzt. Aber was <strong>die</strong> Geistesgifte<br />

angeht, <strong>die</strong> kleshas, <strong>die</strong> beg<strong>in</strong>nen bereits hier bei <strong>die</strong>sem ersten Unterscheiden.<br />

Aber warum gibt es dann <strong>in</strong> der Unterscheidung <strong>die</strong> „nicht aufwühlenden Empf<strong>in</strong>dungen“?<br />

Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Erfahrungen z.B. von Arhats, von voll erwachten Bodhisattvas, <strong>die</strong> auch Empf<strong>in</strong>dungen<br />

im Körper haben. Aber nicht e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige <strong>die</strong>ser Empf<strong>in</strong>dungen geht <strong>mit</strong> Ich-Bezogenheit e<strong>in</strong>her und<br />

sie kommen deswegen nicht <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Muster des Anhaftens und Ablehnens. Diese nicht aufwühlenden<br />

Empf<strong>in</strong>dungen tauchen nur bei erwachten Lebewesen auf. Du hast vielleicht gedacht, dass <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Kategorie e<strong>in</strong> Feld beschrieben wird, das <strong>in</strong> der Reichweite von unseren Erfahrungen liegt, das s<strong>in</strong>d<br />

aber nur neutrale Empf<strong>in</strong>dungen. Nicht aufwühlende Empf<strong>in</strong>dungen s<strong>in</strong>d immer verbunden <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Se<strong>in</strong>s-Erkenntnis, <strong>mit</strong> dem Gewahrse<strong>in</strong> der wahren Natur der Empf<strong>in</strong>dung.<br />

Aber immer noch verbunden <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Ich-Anhaftung?<br />

Ne<strong>in</strong>! Eben nicht mehr. Das s<strong>in</strong>d Empf<strong>in</strong>dungen ohne Ich-Anhaftung. Die nicht aufwühlenden Empf<strong>in</strong>dungen<br />

s<strong>in</strong>d Empf<strong>in</strong>dungen ohne Ich-Anhaftung.<br />

30


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

– Ich habe das heute Morgen sehr schnell behandelt und b<strong>in</strong> nicht <strong>in</strong>s Detail gegangen. Deswegen b<strong>in</strong><br />

ich froh, dass wir das jetzt klären konnten.<br />

Selbstvertrauen und Krankheit aus buddhistischer Sicht<br />

Wie wird auf dem buddhistischen Weg das Selbstvertrauen gesehen?<br />

Wir stärken das Selbstvertrauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Qualitäten, <strong>die</strong> sich natürlicherweise zeigen, wenn der Geist<br />

sich öffnet und entspannt. Wenn wir uns entspannen, wenn sich der Zugriff der Ich-Bezogenheit<br />

lockert, dann kommen natürlicherweise Qualitäten zum Vorsche<strong>in</strong>, wie Freigebigkeit, Freude, Liebe,<br />

klarer Geist, Verständnis, Geduld usw. Diese Qualitäten ersche<strong>in</strong>en von selbst, sie s<strong>in</strong>d unser Erbe<br />

e<strong>in</strong>fach aufgrund dessen, dass wir e<strong>in</strong>en Geist haben. Man nennt das das Vertrauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Qualitäten<br />

der Buddhanatur. Dieses Vertrauen stärken wir auf dem Weg der Dharma-Praxis.<br />

Wir vermeiden, Vertrauen <strong>in</strong> vorübergehende äußere Qualitäten zu stärken. Wir vermeiden es, jemanden<br />

dar<strong>in</strong> zu bestärken, Vertrauen <strong>in</strong> sich zu haben aufgrund von Schönheit, Stärke oder weil man viel<br />

gelernt hat, viele D<strong>in</strong>ge tun kann, erfolgreich oder anerkannt ist. Wir vermeiden es, das Vertrauen <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>se Qualitäten, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Welt e<strong>in</strong>e Rolle spielen, aufzubauen, denn sobald Krankheit auftritt, sobald<br />

es zu Unfällen kommt, sobald sich <strong>die</strong> Lebens-Situation ändert, wir schwerem Karma begegnen, bricht<br />

all das <strong>in</strong> sich zusammen. Wir s<strong>in</strong>d nicht mehr schön; wir s<strong>in</strong>d nicht mehr stark; wir schaffen es nicht<br />

mehr, unsere D<strong>in</strong>ge zu regeln, aber <strong>die</strong> <strong>in</strong>newohnenden Qualitäten des Geistes bleiben. Darauf kann<br />

man tatsächlich bauen, auch im Übergang vom Leben <strong>in</strong> das, was danach kommt.<br />

Wie sieht man Krankheit auf dem buddhistischen Weg?<br />

Ich werde <strong>die</strong> Frage möglichst grundlegend beantworten, sodass ich für alle Buddhisten sprechen<br />

kann: Alle s<strong>in</strong>d sich e<strong>in</strong>ig dar<strong>in</strong>, dass Krankheit e<strong>in</strong> Ungleichgewicht ist, das durch ungeschicktes Denken,<br />

ungeschicktes Sprechen und ungeschicktes Handeln hervorgerufen wird. E<strong>in</strong> Denken, das von<br />

starkem Anhaften geprägt ist, von starker Ich-Bezogenheit; e<strong>in</strong> Sprechen, das von Negativität und Ich-<br />

Bezogenheit geprägt ist und <strong>die</strong> entsprechenden Handlungen, <strong>die</strong> auch e<strong>in</strong>en Mangel an Respekt, e<strong>in</strong>en<br />

Mangel an Offenheit und Gewahrse<strong>in</strong> ausdrücken.<br />

Diese Stress-Muster auf den drei Ebenen von Körper, Rede und Geist produzieren e<strong>in</strong> Ungleichgewicht<br />

<strong>in</strong> den subtilen Energien; das ist der Zwischenschritt. Und das Ungleichgewicht <strong>in</strong> den subtilen<br />

Energien, im Strömen <strong>die</strong>ser Energien <strong>in</strong> uns, produziert <strong>die</strong> strukturellen Veränderungen, was wir<br />

dann als körperliche Krankheit wahrnehmen oder es produziert so feste, so starke geistige Muster, was<br />

dann als geistiges Krankse<strong>in</strong> erfahren wird.<br />

Im buddhistischen Ansatz verfolgen wir alles zurück auf den Umgang <strong>mit</strong> unserem Geist, und je mehr<br />

Anspannung, je mehr Blockaden da vorhanden s<strong>in</strong>d, desto stärker wirkt sich das auf des Energiesystem<br />

und dann auf den Körper aus. So erklären wir alle Krankheiten.<br />

Wie ist es dann möglich, dass hoch verwirklichte Lamas z.B. an Krebs sterben?<br />

Sie sterben an e<strong>in</strong>em Ungleichgewicht <strong>in</strong> ihrem Organismus, und man kann sich fragen: Kommt <strong>die</strong>ses<br />

Ungleichgewicht von ihrem persönlichen Karma, das reif wird, oder ist es möglich, dass sie dank ihrer<br />

Herzenspraxis Ungleichgewichte auf sich nehmen, dass sie tatsächlich <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, etwas aufzunehmen,<br />

was sonst andere belasten würde. Diese Frage kann man sich stellen. Es gibt <strong>die</strong>se Möglichkeit.<br />

Es gibt natürlich auch Krankheiten, <strong>die</strong> entstehen, weil <strong>die</strong>ser Körper e<strong>in</strong>fach alt wird, weil er ohneh<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>mal ause<strong>in</strong>ander fallen wird, alle sterben ja irgendwann e<strong>in</strong>mal. E<strong>in</strong> früher Krebs ist natürlich e<strong>in</strong>e<br />

besondere Situation, wie z.B. beim 16. Karmapa, der ja drei verschiedene Formen von Krebs <strong>in</strong> sich<br />

hatte, als er starb. Man behauptet – ich kann das ja auch nicht überprüfen – dass er tatsächlich Wünsche<br />

gemacht hat, <strong>die</strong> immense Kraft des Krebses <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Welt zu transformieren <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Praxis, um es anderen zu erleichtern, <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Krankheit umzugehen. – Aber das kann ich nicht beurteilen,<br />

das wird so gesagt.<br />

Karmapa brauchte ke<strong>in</strong>erlei Schmerz<strong>mit</strong>tel, er war bis zur Zeit se<strong>in</strong>es Todes stets freudig gelaunt und<br />

nahm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Zimmer stets jeden offen auf. Es war e<strong>in</strong>e Freude für <strong>die</strong> Krankenschwestern und<br />

Ärzte, zu ihm zu kommen und e<strong>in</strong> absolutes Wunder für sie, wie jemand <strong>in</strong>nerlich zerfressen werden<br />

31


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

konnte, ohne Schmerz<strong>mit</strong>tel zu brauchen. Das war also offenbar e<strong>in</strong> Praktizierender höchster Güte, der<br />

vielleicht nicht dabei war, e<strong>in</strong> persönliches Karma auszuleben. Das lassen wir e<strong>in</strong>mal offen. Jedenfalls<br />

war er nicht <strong>in</strong> dukkha, er war <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Prozess nicht <strong>in</strong> Schmerz und Leid gefangen.<br />

Gendün R<strong>in</strong>poche – dessen Arzt ich ja war – sagte immer: „Ich hatte ke<strong>in</strong>erlei Krankheit, ich kannte<br />

nicht e<strong>in</strong>mal Fieber, bis ich nach In<strong>die</strong>n kam. Als ich von e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> fünf- sechstausend Metern<br />

runterkam <strong>in</strong> das feuchte Klima von Nord<strong>in</strong><strong>die</strong>n auf tausend oder fünfhundert Meter Höhe. Da habe<br />

ich Malaria bekommen und zum ersten Mal <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben Fieber. Von da an g<strong>in</strong>g es <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Gesundheit abwärts, weil me<strong>in</strong> Organismus e<strong>in</strong>fach nicht gewohnt war, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Breitengraden zu<br />

leben.“<br />

Gendün R<strong>in</strong>poche hatte von sich selber gesagt – ich b<strong>in</strong> mir nicht sicher, ob er es genau so gesagt hat –<br />

dass er dabei war, Reste von se<strong>in</strong>em Karma aufzuarbeiten.<br />

Entspannung<br />

Zur Bedeutung der Entspannung, um den Durchbruch zu <strong>die</strong>ser direkten Wahrnehmung zu bekommen:<br />

Du hast gesagt, man sollte entspannt dessen gewahr se<strong>in</strong>, was sich vollzieht. Ich kann mir vorstellen,<br />

dass man gerade am Lebensende nicht unbed<strong>in</strong>gt so entspannt ist. Ich frage mich, ob es trotz <strong>die</strong>ser<br />

Angst, <strong>die</strong> man aufgrund von körperlichen Symptomen wie Atemnot oder Herzklopfen hat, möglich ist,<br />

zu <strong>die</strong>ser re<strong>in</strong>en Erfahrung durchzubrechen?<br />

Ich glaube, da vermischen sich zwei Fragen: <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e nach der Wichtigkeit der Entspannung und <strong>die</strong><br />

andere, ob man noch entspannt bleiben kann, wenn körperliche Symptome auftreten. – Das Thema<br />

Angst müssen wir noch extra ansprechen.<br />

Ich muss es kurz halten. Entspannung ist entscheidend, um zu e<strong>in</strong>er Erkenntnis zu kommen, aber man<br />

kann sie nicht erzeugen. D.h. e<strong>in</strong>e gewollte Entspannung wird nie <strong>die</strong>se Wirkung haben, dass sich der<br />

Geist wirklich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> non-duales Bewusstse<strong>in</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> öffnet. Es geht darum, sich so zu vergessen wie<br />

wir uns vergessen beim E<strong>in</strong>schlafen – allerd<strong>in</strong>gs bei vollem Gewahrse<strong>in</strong>. Das ist <strong>mit</strong> letztendlicher<br />

Entspannung geme<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> Kontrollmechanismen werden so wie beim E<strong>in</strong>schlafen völlig losgelassen,<br />

aber eben bei vollem Gewahrse<strong>in</strong>.<br />

Zur Frage <strong>mit</strong> den starken Körpersymptomen: Für jemanden, der geübt ist, ist es tatsächlich möglich<br />

im Geist entspannt zu bleiben, obwohl der Körper verrückt spielt. Das geht, man muss nur wirklich<br />

geübt se<strong>in</strong>, es lernen, Körper und Geist nicht <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander zu identifizieren, sodass der Geist andere<br />

Wege gehen kann als der Körper. Man lernt das <strong>mit</strong> etwas e<strong>in</strong>facheren D<strong>in</strong>gen, z.B. sich nicht von<br />

e<strong>in</strong>em Kopfschmerz bee<strong>in</strong>flussen zu lassen oder von Hungergefühlen oder von Schmerzen im Rücken<br />

oder <strong>in</strong> den Be<strong>in</strong>en.<br />

Man lernt da<strong>mit</strong> zu leben, der Geist befreit sich aus der Fixierung auf <strong>die</strong> Körpersymptome und wird<br />

frei, obwohl der Körper Schmerzen hat. Das muss man lernen, da<strong>mit</strong> es dann auch bei schwierigen<br />

Symptomen wie Atembeklemmungen und Herzrasen möglich ist. Das geht nicht e<strong>in</strong>fach so, aber wenn<br />

man es bei anderen Symptomen bereits gelernt hat, ist es möglich, auch bei Atembeklemmungen<br />

entspannt zu bleiben. Es ist sehr schwierig, aber es ist möglich.<br />

Und zu Entspannung, Offenheit, wenn Angst da ist: Das ist e<strong>in</strong> Widerspruch <strong>in</strong> sich. Wenn Angst da<br />

ist, können wir nicht entspannt se<strong>in</strong>. Angst ist Anspannung, ist Enge des Geistes. Wenn Entspannung<br />

kommt, löst sich <strong>die</strong> Angst auf. Es ist nicht möglich, <strong>mit</strong> Angst entspannt zu se<strong>in</strong>. Man kann <strong>mit</strong> den<br />

körperlichen Symptomen von Angst entspannt umgehen und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Angst h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> entspannen. Dann<br />

wird sich <strong>die</strong> Angst auflösen. Sie wird nicht bestehen bleiben.<br />

E<strong>in</strong>e Koexistenz von Angst und Entspannung ist unmöglich. Die Angst wird sich auflösen, obwohl<br />

äußerlich e<strong>in</strong>e Gefahr droht oder etwas Wichtiges bevorsteht wie z.B. der Tod. Man kann angesichts<br />

des Todes entspannt bleiben und wird dann auch ke<strong>in</strong>e Angst haben.<br />

* * *<br />

32


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Das Aggregat der Gestaltungen<br />

Samskara Skandha<br />

Ab hier werde ich den Text Wort für Wort durchgehen. Der Text stammt von Yu Mipham R<strong>in</strong>poche,<br />

dem ersten Mipham, e<strong>in</strong>em großen Gelehrten der Ny<strong>in</strong>gma-Tradition, und enthält e<strong>in</strong>e Zusammenfassung<br />

des Abhidharma. Es ist das Standardwerk des 19. Jahrhunderts und gilt als Referenz <strong>in</strong><br />

allen L<strong>in</strong>ien des tibetischen Buddhismus, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fach gehaltene, sehr schöne Zusammenfassung.<br />

Das Kapitel über <strong>die</strong> <strong>Skandhas</strong> ist der Anfang <strong>die</strong>ses Textes. Es ist das erste der zehn großen Kapitel,<br />

<strong>die</strong> Mipham R<strong>in</strong>poche <strong>in</strong> den vier Bänden behandelt. Es heißt hier:<br />

Tatsächliches Gestalten kennzeichnet das Aggregat der Gestaltungen.<br />

Der Ausdruck für Gestaltungen auf Sanskrit ist samskara. Kara ist dasselbe Verb wie für Karma. Es<br />

bedeutet tun, handeln, gestalten, hervorbr<strong>in</strong>gen, und sam bedeutet umfassendes Gestalten, Gestalten <strong>in</strong><br />

jeder H<strong>in</strong>sicht, <strong>in</strong> jedem Aspekt.<br />

Es geht hier um das Gestalten unseres Lebens. Diese Geistesfaktoren s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Gestaltungen, <strong>die</strong> tatsächlich<br />

unser Leben ausgestalten. Sie s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Ursachen, <strong>die</strong> dazu führen, dass wir bestimmte Erfahrungen<br />

<strong>in</strong> unserem Leben machen. Sie s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Faktoren, <strong>die</strong> Karma bewirken, <strong>die</strong> Ursache-Wirkungsketten<br />

<strong>in</strong> Bewegung setzen.<br />

Hierzu zählt alles Zusammengesetzte – alles Bed<strong>in</strong>gte –, das nicht zu den vier anderen Aggregaten<br />

gehört.<br />

Wenn wir aber genauer h<strong>in</strong>schauen, dann sehen wir, dass <strong>in</strong> der Liste der Gestaltungen das 2. und 3.<br />

Aggregat wieder aufgeführt werden, so dass <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition eigentlich lauten müsste: Alles was nicht<br />

Form ist – nicht zum 1. Skandha gehört – und alles was nicht zum 5. Skandha, den verschiedenen<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sformen gehört, wird unter Gestaltungen zusammengefasst.<br />

Das Aggregat der Gestaltungen be<strong>in</strong>haltet:<br />

- <strong>die</strong> <strong>mit</strong> Geist [kognitiven Prozessen] e<strong>in</strong>hergehenden Gestaltungen d.h. alle Geistesaktivitäten,<br />

sowie<br />

- <strong>die</strong> nicht <strong>mit</strong> Geist [kognitiven Prozessen] e<strong>in</strong>hergehenden Gestaltungen, wie „Erlangthaben“<br />

usw.<br />

Gestaltungen, <strong>die</strong> nicht <strong>mit</strong> kognitiven Prozessen e<strong>in</strong>hergehen, s<strong>in</strong>d seltene Bewusstse<strong>in</strong>szustände bei<br />

Erwachten. – Kognitive Prozesse, s<strong>in</strong>d Prozesse, wo e<strong>in</strong>em etwas bewusst wird, wo etwas wahrgenommen<br />

wird.<br />

Wir werden uns im Folgenden <strong>mit</strong> den Geistesfaktoren beschäftigen, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> kognitiven Prozessen,<br />

also <strong>mit</strong> Bewusstwerden, e<strong>in</strong>hergehen und nicht <strong>mit</strong> den Ausnahmezuständen von erwachten Lebewesen,<br />

von speziellen Samadhi-Zuständen.<br />

Es gibt 51 Geistesaktivitäten – oder 55, wenn <strong>die</strong> fünf [irrigen] Anschauungen e<strong>in</strong>zeln aufgezählt<br />

werden.<br />

Es gibt auch Listen <strong>mit</strong> 53 oder <strong>mit</strong> 50 Geistesfaktoren. Die Zahl hängt davon ab, wie <strong>die</strong> Unterpunkte<br />

– speziell jene, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> Anschauungen und <strong>mit</strong> Unwissenheit zu tun haben – im E<strong>in</strong>zelnen erläutert<br />

werden. Aber ansonsten handelt es sich stets um <strong>die</strong>selben Geistesfaktoren.<br />

Bevor wir <strong>die</strong> Geistesfaktoren besprechen, möchte ich euch kurz erzählen, wie <strong>die</strong>se Liste überhaupt<br />

zustande gekommen ist. Es gibt ke<strong>in</strong> Sutra, <strong>in</strong> dem der Buddha <strong>die</strong> 51 oder 55 Geistesfaktoren aufzählt.<br />

Es gibt Stellen, an denen der Buddha sagt: „Diese fünf Geistesaktivitäten s<strong>in</strong>d stets vorhanden.“<br />

33


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

oder: „Um e<strong>in</strong> Objekt genau zu bestimmen, braucht es <strong>die</strong>se fünf objekt-vergewissernden Faktoren.“<br />

oder: „Diese Faktoren, <strong>die</strong>ser, <strong>die</strong>ser und <strong>die</strong>ser s<strong>in</strong>d z.B. heilsame Faktoren.“ An e<strong>in</strong>em anderen Ort<br />

spricht er über noch weitere heilsame Faktoren. An anderen Orten spricht er über nicht-heilsame Faktoren.<br />

Der Buddha lehrte aber nicht <strong>die</strong> komplette Liste aller heilsamen und nicht-heilsamen Faktoren<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em. Se<strong>in</strong>e Schüler haben sie später zusammengestellt. Sie haben sich alle se<strong>in</strong>e Unterweisungen<br />

<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung gerufen und dann <strong>die</strong> heilsamen Faktoren, <strong>die</strong> der Buddha erwähnt hat, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Liste<br />

zusammengefasst, dann <strong>die</strong> nicht-heilsamen Faktoren. Und schließlich auch <strong>die</strong>jenigen, von denen der<br />

Buddha gesagt hat: „Ja, das kommt drauf an. Mal ist es heilsam, mal ist es nicht heilsam.“ – Es gibt<br />

vier Faktoren, wo es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Zuordnung gibt.<br />

Die Auflistung <strong>die</strong>ser Geistesfaktoren war also <strong>die</strong> Arbeit von späteren Generationen.<br />

Ich möchte euch noch e<strong>in</strong>e ganz wichtige Bemerkung von unseren Khenpos weitergeben. Auch Khenpo<br />

Ngedön hat das kürzlich wieder angesprochen: Wir sollen nicht unserem Bedürfnis nachgehen,<br />

alles genau verstauen zu wollen wie <strong>in</strong> Schubladen. Es geht bei <strong>die</strong>sen Beschreibungen nicht darum,<br />

e<strong>in</strong>en Geistesfaktor klar von anderen abzutrennen. Es geht darum, zu verstehen, wie sie alle <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ständigen Prozess zusammenspielen, wo es nicht um e<strong>in</strong>zelne Schauspieler geht, sondern<br />

um Qualitäten des Geistes, <strong>die</strong> verschiedene Färbungen, verschiedene Stimmungen annehmen,<br />

Unterschiede <strong>in</strong> der Klarheit, <strong>in</strong> der Ausrichtung auf bestimmte Objekte. Es geht darum, das Zusammenspiel<br />

zu verstehen und nicht sich e<strong>in</strong> Wissen aufzubauen, wo <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit dann me<strong>in</strong>t, sie<br />

hätte so etwas wie e<strong>in</strong>e klare Landkarte für den Geist erstellt – „Das gehört hierzu und nicht dazu.“,<br />

„Das ist z.B. das zweite Aggregat und nicht das vierte!“ oder „Das ist das dritte und nicht das vierte.“<br />

– und wir dann <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander diskutieren: „Ja ist es denn nun <strong>die</strong>ser Geistesfaktor oder der?“<br />

Es kann gut e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von beiden se<strong>in</strong> oder von dreien oder von vieren. Es geht nicht um <strong>die</strong><br />

Abgrenzung, sondern darum, zu verstehen, welche unterschiedlichen Kräfte <strong>in</strong> unserem Geist aktiv<br />

s<strong>in</strong>d. Wir f<strong>in</strong>den nie e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen <strong>die</strong>ser Faktoren alle<strong>in</strong> aktiv wie e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Schauspieler, der<br />

gerade se<strong>in</strong>e Show abzieht. Es ist immer e<strong>in</strong> Zusammenspiel verschiedener Faktoren.<br />

Die ersten fünf Geistesaktivitäten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unserem Geist ständig vorhanden, sie spielen immer zusammen,<br />

wenn es zu e<strong>in</strong>em kognitiven Akt der Wahrnehmung kommt, wenn etwas bewusst wird.<br />

Die fünf stets vorhandenen Geistesaktivitäten<br />

s<strong>in</strong>d: Interesse, Empf<strong>in</strong>den, Unterscheiden, Bewussthalten und Kontakt.<br />

Empf<strong>in</strong>den und Unterscheiden wurden bereits erklärt – sie s<strong>in</strong>d zwar Geistesaktivitäten, zählen<br />

aber nicht zum Aggregat der Gestaltungen, da sie getrennt behandelt werden.<br />

1) Interesse<br />

ist das geistige H<strong>in</strong>bewegen zu e<strong>in</strong>em Objekt und <strong>mit</strong> ihm beschäftigt se<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong>en Stützen entsprechend<br />

– dem Zusammenkommen der Augen usw. [<strong>mit</strong> ihrem entsprechenden Objekt und<br />

Bewusstse<strong>in</strong>] – gibt es sechs Arten von Interesse.<br />

Dieser Faktor Interesse (Skr.: cetana) oder Anziehung, wie Lama Tenz<strong>in</strong> auf Französisch übersetzt, ist<br />

e<strong>in</strong> ganz rudimentäres Aktiviert-Haben des S<strong>in</strong>nesfeldes.<br />

Z.B. Hören: Wir s<strong>in</strong>d entspannt und hören eigentlich nirgendwo h<strong>in</strong>. Aber e<strong>in</strong> plötzlich auftauchendes<br />

Geräusch zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit <strong>in</strong> Richtung auf<br />

<strong>die</strong>ses Geräusch, und das geht dem eigentlichen Erkennen des Geräusches voraus. Diese grundsätzliche<br />

Bereitschaft zu hören muss gegeben se<strong>in</strong>, da<strong>mit</strong> es zu e<strong>in</strong>em Akt des Hörens kommt. Und das<br />

Gleiche gilt für <strong>die</strong> anderen S<strong>in</strong>nesfelder. Es muss e<strong>in</strong>e grundlegende Aktivierung des Sehs<strong>in</strong>ns vorhanden<br />

se<strong>in</strong>, da<strong>mit</strong> es zu Seh-Erfahrungen kommt. E<strong>in</strong>e grundlegende Aktivierung des jeweiligen<br />

S<strong>in</strong>nes muss da se<strong>in</strong>, da<strong>mit</strong> es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Bereich zu Bewusstwerdung kommen kann.<br />

34


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Es gibt Samadhis, <strong>in</strong> denen z.B. der Hörs<strong>in</strong>n oder der Körpers<strong>in</strong>n nicht mehr aktiviert s<strong>in</strong>d. Man kann<br />

tatsächlich neben jemandem, der sich <strong>in</strong> tiefer Versenkung bef<strong>in</strong>det, e<strong>in</strong>en Sprengsatz loslassen und er<br />

hört das nicht, weil se<strong>in</strong> Hörs<strong>in</strong>n nicht aktiviert ist. – Das ist <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>gem Maße vielleicht schon bei<br />

unserem Sohn, bei unserer Tochter der Fall, wenn sie auf ihrem Gameboy spielen und wir sie zum<br />

Mittagessen rufen. Die hören nichts, der Hörs<strong>in</strong>n ist nicht ausreichend aktiviert, dass es zu e<strong>in</strong>er Hörwahrnehmung<br />

kommen würde. Da muss man schon auf <strong>die</strong> Schulter klopfen und noch andere S<strong>in</strong>ne<br />

aktivieren, dass es da zur Aufnahme des Impulses kommt.<br />

Es heißt dann: Se<strong>in</strong>en Stützen entsprechend – dem Zusammenkommen der Augen usw. [<strong>mit</strong> ihrem<br />

entsprechenden Objekt und Bewusstse<strong>in</strong>] – gibt es sechs Arten von Interesse. – das Interesse für visuelle<br />

Objekte, das Interesse für auditive Objekte usw., <strong>die</strong> sechs S<strong>in</strong>ne. Es muss also das S<strong>in</strong>nesfeld aktiviert<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Wenn der Faktor Interesse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>nesfeld aktiviert ist und der Geist sich auf e<strong>in</strong>e Wahrnehmung<br />

ausrichtet, kommt es als nächstes zum Kontakt. Kontakt ist <strong>in</strong> der Liste hier erst an fünfter Stelle aufgezählt,<br />

<strong>in</strong> anderen Listen kommt er an zweiter Stelle. Das spielt ke<strong>in</strong>e Rolle, weil <strong>die</strong>se fünf so beschrieben<br />

werden, dass sie zusammenarbeiten. Es geht nicht darum, sie ause<strong>in</strong>ander zu divi<strong>die</strong>ren, sondern<br />

das geme<strong>in</strong>same Funktionieren zu verstehen, das dazu führt, dass es zu e<strong>in</strong>er kompletten S<strong>in</strong>neswahrnehmung<br />

kommt, zu e<strong>in</strong>em kognitiven Akt, zu e<strong>in</strong>em Bewusstwerden.<br />

Ihr könnt den fünften Faktor Kontakt gut an se<strong>in</strong>em Ort lassen. Wenn wir <strong>die</strong> anderen Faktoren durchgehen,<br />

werdet ihr merken, dass es auch e<strong>in</strong>en Grund gibt, dass er am Ende <strong>die</strong>ser Fünfer-Liste auftaucht.<br />

2) Empf<strong>in</strong>den<br />

Aufgrund von Kontakt entsteht e<strong>in</strong> Empf<strong>in</strong>den. Empf<strong>in</strong>den haben wir bereits als 2. Skandha kennen<br />

gelernt. Das Wichtige war, dass <strong>mit</strong> dem Empf<strong>in</strong>den bereits e<strong>in</strong>e Qualität e<strong>in</strong>hergeht, dass <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dung<br />

als angenehm, als unangenehm oder als weder noch wahrgenommen wird.<br />

3) Unterscheiden<br />

In e<strong>in</strong>em nächsten Schritt kommt es zum Unterscheiden. Dabei geht es nicht mehr um <strong>die</strong>se affektive<br />

Komponente, sondern um <strong>die</strong> kognitive Komponente, um das Unterscheiden e<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>neswahrnehmung<br />

von anderen, ähnlichen S<strong>in</strong>neswahrnehmungen – z.B. das Unterscheiden von Vogelgesang und<br />

dem Klang e<strong>in</strong>er Flöte oder e<strong>in</strong>er Geige oder noch fe<strong>in</strong>ere Unterscheidungen. Diese Unterscheidungen<br />

wurden auch bereits erklärt – das war das 3. Skandha.<br />

In e<strong>in</strong>em kognitiven Akt s<strong>in</strong>d all <strong>die</strong>se Faktoren zugleich aktiv, und es gibt da noch e<strong>in</strong>en Faktor, der<br />

ganz wichtig ist:<br />

4) Bewussthalten<br />

ist das geistige Festhalten e<strong>in</strong>es Bezugspunktes.<br />

Mit Bewussthalten (Skr.: manaskara) – manas ist der Geist und kara bedeutet handeln – ist das Handeln<br />

des unterscheidenden Geistes geme<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e Aktivität, <strong>die</strong> das Objekt so lange bewusst hält, bis es<br />

tatsächlich genau erkannt wurde. Es wird hier beschrieben als das geistige Festhalten e<strong>in</strong>es Bezugspunktes,<br />

d.h. wir halten den Klang so lange im Bewusstse<strong>in</strong>, bis wir ihn deutlich gehört haben.<br />

Wenn wir <strong>die</strong>ses Bewussthalten nicht hätten, dann würde es nicht zu e<strong>in</strong>em klaren Empf<strong>in</strong>den kommen<br />

und auch nicht zu e<strong>in</strong>em klaren Unterscheiden. Die Zeitdauer des Kontaktes wäre nicht ausreichend,<br />

da<strong>mit</strong> es zu e<strong>in</strong>em vollständigen kognitiven Akt kommt. Da<strong>mit</strong> es zu e<strong>in</strong>er klaren Wahrnehmung<br />

kommt, muss der Geist ausreichend lange beim Objekt gehalten werden.<br />

Was me<strong>in</strong>t ihr wohl, wie lange es braucht, bis e<strong>in</strong> Objekt erkannt wird?<br />

Das ist unterschiedlich. Manchmal nur Bruchteile von Sekunden, manchmal e<strong>in</strong>e halbe M<strong>in</strong>ute.<br />

Sehr unterschiedlich. Es könnte sehr viel länger se<strong>in</strong>, natürlich auch Bruchteile von Sekunden im<br />

Normalfall, aber eventuell auch sehr viel länger.<br />

Es kommt drauf an, wie klar der Geist ist.<br />

35


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ich habe das Gefühl, dass <strong>die</strong> Faktoren Interesse und Empf<strong>in</strong>den zusammengehen wie e<strong>in</strong> Paar und<br />

dass <strong>die</strong> anderen drei notwendig s<strong>in</strong>d, um zu <strong>die</strong>sen beiden zu führen, dass das Unterscheiden <strong>mit</strong> dem<br />

Bewussthalten zusammenarbeitet.<br />

Es braucht e<strong>in</strong> Interesse, das zu e<strong>in</strong>em ausreichend langen Bewussthalten führt, da<strong>mit</strong> der Kontakt von<br />

e<strong>in</strong>er solchen Klarheit und Intensität ist, dass es zu Empf<strong>in</strong>den und Unterscheiden kommen kann.<br />

Ich nehme an, de<strong>in</strong>e Annahme, dass <strong>die</strong>se beiden ersten Faktoren stärker zusammengehören, hat da<strong>mit</strong><br />

zu tun, dass der erste Faktor auf Französisch attraction genannt wird. Das bedeutet nämlich e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>gezogen-Se<strong>in</strong>,<br />

und das setzt eigentlich schon voraus, dass man etwas als angenehm empf<strong>in</strong>det, was hier<br />

aber gar nicht geme<strong>in</strong>t ist. Es ist nur e<strong>in</strong>e Aktivierung des S<strong>in</strong>nesfeldes geme<strong>in</strong>t, <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em ausreichenden<br />

Interesse, um irgendetwas wahrzunehmen, nicht e<strong>in</strong>e spezielle Empf<strong>in</strong>dung, sondern um <strong>in</strong> dem<br />

Bereich überhaupt wahrzunehmen.<br />

Wenn da<strong>mit</strong> gerade schon <strong>die</strong> Frage der Begrifflichkeit dran ist, wie passt unser deutsches Wort Neugier<br />

dazu?<br />

Neugier ist e<strong>in</strong> sehr viel komplexeres Phänomen, sie ist ke<strong>in</strong> allgegenwärtiger Faktor. Hier ist <strong>die</strong>ses<br />

Grund<strong>in</strong>teresse an der Wahrnehmung geme<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> Neugier ist schon e<strong>in</strong> weiter gehendes Verstehenund<br />

Erforschen-Wollen. Das kommt dann später.<br />

Ist <strong>die</strong>ses Bewussthalten das, was so lange dauert, bis wir das, was wir jetzt z.B. sehen, e<strong>in</strong>geordnet<br />

haben, bis wir kapiert haben, was es nun ist? Geht das so lange? Als Beispiel <strong>die</strong> berühmte Kordel <strong>in</strong><br />

der Dämmerung.<br />

Gut, dass du nachfragst, denn ich war ja gar nicht auf <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Antworten e<strong>in</strong>gegangen, wie e<strong>in</strong>e<br />

halbe M<strong>in</strong>ute oder sogar noch länger. Das ist nämlich gar nicht geme<strong>in</strong>t. Es ist nur der Moment geme<strong>in</strong>t,<br />

dass e<strong>in</strong> klarer Geistese<strong>in</strong>druck entsteht, d.h. dass e<strong>in</strong> mentales Abbild entsteht, das dann zur<br />

Verfügung steht für weitere Prozesse. Dieser weitere Prozess des Verarbeitens kann dann dauern wie<br />

lange er auch immer will, denn das <strong>in</strong>nere Bild der Wahrnehmung ist bereits als mentales Abbild<br />

entstanden.<br />

Lama Irene: Wie ich das jetzt verstehe, wird ja eben ausgedrückt, dass <strong>die</strong>se fünf Faktoren immer<br />

präsent s<strong>in</strong>d. Von daher habe ich nicht das Gefühl, dass man <strong>die</strong> so ause<strong>in</strong>anderdef<strong>in</strong>ieren kann, weil<br />

das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er wahns<strong>in</strong>nigen Geschw<strong>in</strong>digkeit geht. Aber <strong>die</strong>se Momente, <strong>die</strong> aufe<strong>in</strong>ander abfolgen, <strong>die</strong><br />

haben e<strong>in</strong>en gewissen Bezug zum vorhergehenden Moment und so<strong>mit</strong> gestaltet sich das dann immer<br />

mehr aus.<br />

Danke! Jetzt kommt das Mikrophon zu Heiko, und während Heiko spricht, beobachten wir <strong>in</strong>nerlich,<br />

wie <strong>die</strong> fünf Faktoren jetzt gerade aktiv s<strong>in</strong>d, um jede e<strong>in</strong>zelne Silbe von dem, was er sagt, zu hören,<br />

klar wahrzunehmen, zu unterscheiden und ihnen Bedeutung zu geben.<br />

Lama Heiko: Es geht eigentlich e<strong>in</strong> bisschen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Richtung von dem, was Dorje Drölma auch schon<br />

angedeutet hatte. Hier sprechen wir wirklich über ganz grundlegende Eigenschaften des Geistes. Dort<br />

wo e<strong>in</strong> Geist ist – e<strong>in</strong> dualistischer Geist, kann man vielleicht sagen – s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Faktoren e<strong>in</strong>fach da.<br />

Wenn <strong>die</strong>se Faktoren nicht da wären, dann gäbe es überhaupt ke<strong>in</strong>e Wahrnehmung. Der Geist erzeugt<br />

ja – hier geht’s ja auch um <strong>die</strong> mentale Dimension – ständig Bilder, ständig Objekte. Wenn man genau<br />

h<strong>in</strong>schaut, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se fünf Faktoren ständig präsent. Ansonsten hätten wir überhaupt ke<strong>in</strong>e Wahrnehmung<br />

im Geist. Wenn man genau h<strong>in</strong>schaut, macht der Geist selbst <strong>in</strong> Geisteszuständen, wo wir<br />

vielleicht ganz dumpf s<strong>in</strong>d oder kaum etwas wahrnehmen, immer Objekte. Es ist also immer e<strong>in</strong> Objekt<br />

da, das dem Geist ersche<strong>in</strong>t.<br />

Hier wurde ja nicht gesagt, dass wir <strong>mit</strong> dem Objekt bleiben. Wenn wir z.B. den E<strong>in</strong>druck haben, dass<br />

das Bewussthalten vielleicht e<strong>in</strong>e halbe M<strong>in</strong>ute dauert oder e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute, dann sprechen wir schon<br />

über etwas anderes, dann sprechen wir schon über <strong>die</strong> Tatsache, dass wir uns e<strong>in</strong> Objekt vornehmen<br />

und geistig immer wieder zu dem Objekt zurückkehren, es mehr und mehr analysieren oder uns im<br />

Geiste Klarheit verschaffen. Das ist hier aber gar nicht geme<strong>in</strong>t. Hier geht’s e<strong>in</strong>fach nur um <strong>die</strong><br />

grundlegende Qualität des Geistes. Da, wo e<strong>in</strong> dualistischer Geist ist, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se fünf Faktoren da.<br />

Danke Heiko. Wenn wir uns über e<strong>in</strong> Objekt Klarheit verschaffen wollen, dann s<strong>in</strong>d wir bereits <strong>in</strong> der<br />

nächsten Fünfer-Gruppe.<br />

36


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ich nehme noch e<strong>in</strong>mal auf, was Dorje Drölma und Heiko gesagt haben, um es zu unterstreichen. Ich<br />

war ja noch nicht darauf e<strong>in</strong>gegangen, wie lange so etwas dauert. Man kann nämlich nicht e<strong>in</strong>mal sagen,<br />

dass es von Moment zu Moment geht. Wir können ja nicht e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Dauer e<strong>in</strong>es Momentes def<strong>in</strong>ieren.<br />

Es ist e<strong>in</strong>e Kont<strong>in</strong>uität. Immer wenn Bewusstse<strong>in</strong> vorhanden ist, wenn es Geist gibt, dann<br />

werden <strong>die</strong>se Faktoren aktiv se<strong>in</strong>, selbst wenn es sich um e<strong>in</strong>e völlig ungenaue, neblige Wahrnehmung<br />

handelt. Dann ist <strong>die</strong>se Wahrnehmung e<strong>in</strong>fach neblig.<br />

Das Vergewissern der Wahrnehmung wird dann schon <strong>in</strong> der nächsten Gruppe behandelt. Wenn wir<br />

etwas genauer erfahren wollen, dann müssen <strong>die</strong> nächsten fünf Faktoren aktiv werden. Die e<strong>in</strong>zige<br />

Möglichkeit, dass <strong>die</strong> ersten fünf nicht mehr aktiv s<strong>in</strong>d, wäre, ke<strong>in</strong>en Geist mehr zu haben. Immer<br />

wenn es e<strong>in</strong> aktives Bewusstse<strong>in</strong> gibt, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> ersten fünf Faktoren aktiviert. Sie s<strong>in</strong>d da – auch <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em nebeligen Zustand, auch im Traumzustand, auch im ganz rudimentären Schlafzustand. Solange<br />

man noch aufgeweckt werden kann, solange es da noch jemanden gibt, der lebt, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nen<br />

ansprechbar ist, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Faktoren aktiv.<br />

Ich habe noch e<strong>in</strong>e Frage zu dem vorherigen Punkt. Gehören <strong>die</strong> so genannten drei grundlegenden<br />

Triebflüsse zu <strong>die</strong>sen fünf stets vorhandenen Geistesaktivitäten, dass ich sozusagen irgendetwas will,<br />

was ich noch nicht weiß? Ist das da<strong>mit</strong> geme<strong>in</strong>t?<br />

Ich verstehe de<strong>in</strong>e Frage. Sie ist schwierig für mich und ich brauche e<strong>in</strong>en Moment, um nachzudenken.<br />

Aus den Erklärungen, <strong>die</strong> ich bekommen habe, kann ich es mir folgendermaßen zusammenfügen:<br />

Die drei Triebflüsse werden immer als völlig unbewusst beschrieben. Das grundlegende, unbewusste<br />

Haften an Existenz und S<strong>in</strong>neserfahrungen würde dazu führen, dass wir Empf<strong>in</strong>dungen als angenehm<br />

und unangenehm wahrnehmen und <strong>in</strong> Unterscheidungen verfallen <strong>in</strong> ‚Es existiert’ und ‚Es existiert<br />

nicht’, aufgrund <strong>die</strong>ses grundlegenden Impulses, immer allen D<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>e Existenz zu geben oder halt<br />

e<strong>in</strong>e Nicht-Existenz. Die mangelnde Klarheit und Nachlässigkeit, nicht wirklich h<strong>in</strong>zuschauen, das<br />

mangelnde Gewahrse<strong>in</strong>, was da zum Ausdruck kommt, entspricht dem Trieb zur Unwissenheit. Ich<br />

würde <strong>die</strong>se Triebflüsse nicht als getrennt von <strong>die</strong>sen fünf allgegenwärtigen Faktoren beschreiben. Sie<br />

s<strong>in</strong>d genau das, was sich dann auflöst, wenn wir <strong>in</strong>s Empf<strong>in</strong>den und Unterscheiden größeres Gewahrse<strong>in</strong><br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, bis zum vollen Gewahrse<strong>in</strong>, da<strong>mit</strong> <strong>die</strong>se Faktoren nicht mehr aufgrund der Kleshas,<br />

der emotionalen Verblendung operieren, sondern aufgrund e<strong>in</strong>es wirklichen Se<strong>in</strong>sverständnisses.<br />

So würde ich es versuchen zu erklären. Das wäre e<strong>in</strong>e gute Frage für den Khenpo.<br />

5) Kontakt<br />

ist das Zusammenkommen der drei Faktoren [S<strong>in</strong>nesfähigkeit, -<strong>in</strong>halt und – bewusstse<strong>in</strong>], was<br />

<strong>die</strong> S<strong>in</strong>neserfahrung <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>schließendem Entscheiden hervorruft. Er bildet <strong>die</strong> Stütze des Empf<strong>in</strong>dens.<br />

Empf<strong>in</strong>den war der 2. Faktor, und normalerweise kommt Kontakt vor dem Empf<strong>in</strong>den. Hier aber steht<br />

er als 5. Faktor <strong>in</strong> der Liste, weil eigentlich <strong>die</strong>se fünf Faktoren das Erleben beschreiben. Wo es Bewusstse<strong>in</strong><br />

gibt, gibt es Erleben und wo Erleben erfahren wird, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se fünf Faktoren aktiv.<br />

Was <strong>die</strong> S<strong>in</strong>neserfahrung <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>schließendem Entscheiden hervorruft, wird <strong>in</strong> der Fußnote erklärt:<br />

Das e<strong>in</strong>schließende Entscheiden ist das Herausf<strong>in</strong>den, um was für e<strong>in</strong> Objekt es sich handelt. Der 2.<br />

Schritt ist dann das Vergleichen <strong>mit</strong> anderen bereits gemachten S<strong>in</strong>neserfahrungen, wobei Ungleiches<br />

ausgeschlossen wird. Das nennt man ausschließendes Entscheiden. – Das ist dann e<strong>in</strong> weiterer Schritt<br />

im Bewusstse<strong>in</strong>. Hier ist es e<strong>in</strong>fach das Wahrnehmen des Objektes an sich.<br />

Diese fünf Geistesaktivitäten werden <strong>die</strong> „stets vorhandenen“ genannt, weil sie alle Arten von<br />

geistiger Wahrnehmung begleiten.<br />

Wenn <strong>die</strong>se fünf Faktoren aktiv s<strong>in</strong>d, spricht man von e<strong>in</strong>em Lebewesen; e<strong>in</strong>em Lebewesen <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em<br />

citta auf Sanskrit, sem auf Tibetisch. Lebewesen (Tib. sem tschen) s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en Geist<br />

haben. Was man <strong>mit</strong> sem tschen me<strong>in</strong>t, s<strong>in</strong>d genau <strong>die</strong> fünf allgegenwärtigen Faktoren.<br />

Wenn wir also wissen wollen, ob e<strong>in</strong>e Blume oder e<strong>in</strong> Baum e<strong>in</strong> Lebewesen <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em solchen Geist<br />

ist, dann müssen wir schauen, ob <strong>die</strong>se fünf Faktoren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Blume aktiv s<strong>in</strong>d, ob <strong>die</strong> Blume wahrnimmt,<br />

unterscheidet, Aufmerksamkeit hat usw. Das ist e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>itionsfrage.<br />

37


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Es gibt andere Formen des Lebens, vielleicht auch des bewussten Lebens, wo aber <strong>die</strong>se fünf Faktoren<br />

nicht aktiv s<strong>in</strong>d.<br />

Habe ich richtig gesehen, dass <strong>die</strong> Arbeit des Nachdenkens, des Reflektierens, nicht <strong>in</strong> den fünf allgegenwärtigen<br />

Geistesfaktoren enthalten ist?<br />

Da hast du völlig Recht, das Nachdenken, das Reflektieren f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> den Objekt-vergewissernden Faktoren<br />

statt.<br />

Meditation:<br />

Habt ihr das Gefühl, dass <strong>die</strong> sechs S<strong>in</strong>ne lebendig s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass e<strong>in</strong> ausreichendes Grund<strong>in</strong>teresse,<br />

e<strong>in</strong>e Grundaktivität da ist, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>neserfahrung ermöglichen würde? –<br />

In welchen der sechs S<strong>in</strong>nesfelder f<strong>in</strong>den zurzeit gerade Wahrnehmungen statt? Wo f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> Erleben<br />

statt? –<br />

Was s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> den verschiedenen S<strong>in</strong>nesfeldern gerade stattf<strong>in</strong>den? –<br />

F<strong>in</strong>det zugleich <strong>mit</strong> den Empf<strong>in</strong>dungen auch e<strong>in</strong> Unterscheiden statt oder lassen <strong>die</strong> beiden sich vone<strong>in</strong>ander<br />

trennen? –<br />

Es gibt e<strong>in</strong> grundlegendes Interesse <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em gewissen rudimentären Bewussthalten, das zu Kontakt<br />

führt – Kontakt ist begleitet von Empf<strong>in</strong>dungen und Unterscheidungen. –<br />

* * *<br />

Heiko hat dafür gesorgt, dass hier e<strong>in</strong>e schöne Fußnote zum Empf<strong>in</strong>den und Unterscheiden im Text<br />

steht, Nr. 54, <strong>die</strong> euer Erforschen unterstützen soll.<br />

Empf<strong>in</strong>den und Unterscheiden wurden vom Buddha gesondert erklärt, da sie wichtige Schlüssel s<strong>in</strong>d,<br />

das Festhalten an der Vorstellung e<strong>in</strong>es Ichs zu verstehen und aufzulösen.<br />

Die folgende Erklärung stammt von Khenpo Ngedön:<br />

Sie werden gesondert als Aggregate behandelt, weil sie (1) <strong>die</strong> Ursachen der Wurzeln des Streites<br />

s<strong>in</strong>d, weil sie (2) <strong>die</strong> Ursachen der Fortdauer der Existenz s<strong>in</strong>d und (3) aufgrund der Ursachen, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Reihenfolge der Aggregate bestimmen. Empf<strong>in</strong>den ist e<strong>in</strong>e Hauptursache der Wurzeln des Streites,<br />

hauptsächlich unter Mönchen, aufgrund der Anhaftung an (S<strong>in</strong>nes)Freuden. Unterscheiden ist e<strong>in</strong>e<br />

Hauptursache der Wurzeln des Streites, hauptsächlich unter Laienpraktizierenden, aufgrund der<br />

Anhaftung an (irrige) Anschauungen. Die Existenz setzt sich fort für <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> an Empf<strong>in</strong>dungen<br />

anhaften und deren Unterscheidungen irrig s<strong>in</strong>d.<br />

Dar<strong>in</strong> wird beschrieben, wie das Anhaften an angenehmen S<strong>in</strong>neserfahrungen – natürlich auch als Gegenstück<br />

das Ablehnen von unangenehmen S<strong>in</strong>neserfahrungen – dazu führt, <strong>die</strong> Begierde-Tendenzen<br />

zu verstärken, was zu e<strong>in</strong>er Wiedergeburt, e<strong>in</strong>em weiteren „Kreisen“ im Begierdebereich führt.<br />

Das Unterscheiden führt dazu, dass wir <strong>mit</strong> Begriffen, <strong>mit</strong> Konzepten <strong>die</strong> so genannte Wirklichkeit benennen<br />

und dabei den Boden bereiten für immense Irrtümer, letztendlich für verkehrte Anschauungen.<br />

Jedes Benennen von Erfahrungen ist bereits Ausdruck der Tendenz zu glauben, <strong>die</strong> Erfahrung wäre<br />

wirklich. Je mehr wir <strong>die</strong> Erfahrungen benennen und beschreiben, für desto wirklicher halten wir sie.<br />

Seid euch <strong>die</strong>ses Prozesses bewusst: Im Erfahren und Benennen von D<strong>in</strong>gen me<strong>in</strong>en wir plötzlich, sie<br />

wären umso wirklicher.<br />

Da Empf<strong>in</strong>den und Unterscheiden zwei verschiedene Faktoren s<strong>in</strong>d – der e<strong>in</strong>e führt zum Anhaften an<br />

S<strong>in</strong>neserfahrungen, der andere führt zum Anhaften an Anschauungen – werden sie als zwei getrennte<br />

Aggregate erklärt.<br />

Lasst uns also <strong>die</strong>ser Mechanismen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> uns <strong>die</strong> ganze Zeit aktiv s<strong>in</strong>d, etwas mehr gewahr se<strong>in</strong>.<br />

38


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Jetzt kommen <strong>die</strong> fünf Geistesfaktoren oder Gestaltungen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Objekt genau erfassen, <strong>die</strong> sich des<br />

Objektes vergewissern. Diese fünf Objekt-vergewissernden Faktoren beantworten <strong>die</strong> Frage, wie man<br />

denn zu e<strong>in</strong>em genauen Erfassen e<strong>in</strong>es Objektes kommt. Was vorh<strong>in</strong> angedeutet wurde – solch e<strong>in</strong><br />

Prozess des Erfassens kann längere Zeit dauern. Zeit, <strong>die</strong> es braucht, um sich wirklich <strong>mit</strong> den verschiedenen<br />

Aspekten zu befassen, bis es zu e<strong>in</strong>em genauen Objekt-Erfassen kommt.<br />

Die fünf Objekt-vergewissernden Faktoren<br />

s<strong>in</strong>d: Streben, Entschlossenheit, Vergegenwärtigen, stabiles Verweilen und völliges Verstehen.<br />

6) Streben<br />

ist das Bemühen, gewünschte D<strong>in</strong>ge zu besitzen und bildet <strong>die</strong> Stütze, um <strong>die</strong>s <strong>mit</strong> freudiger<br />

Ausdauer <strong>in</strong> <strong>die</strong> Tat umzusetzen.<br />

Streben, könnte auch als Intention oder Wollen/Willen übersetzt werden. Dieses Streben, gewünschte<br />

D<strong>in</strong>ge zu besitzen, kl<strong>in</strong>gt erst e<strong>in</strong>mal so, als würde es sich um äußere D<strong>in</strong>ge handeln, wie z.B. dass ich<br />

<strong>die</strong>se Uhr an mich nehmen oder irgende<strong>in</strong> Objekt besitzen möchte. Das Streben kann sich aber auch<br />

auf Geistesobjekte ausrichten, als der Wunsch, e<strong>in</strong> geistiges Objekt so zu erfassen, dass es me<strong>in</strong> Eigen<br />

wird. Wir sehen <strong>mit</strong> den nächsten Faktoren noch genauer, was da<strong>mit</strong> alles geme<strong>in</strong>t ist. Auf der Basis<br />

<strong>die</strong>ses Strebens kommt es zu e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>treten <strong>in</strong> <strong>die</strong> Handlung, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> weiteres Agieren <strong>mit</strong> Körper,<br />

Rede und Geist. Streben ist also der <strong>in</strong>itiale Impuls, der das Handeln auslöst. Ob <strong>die</strong>ser Impuls weiter<br />

aufrechterhalten wird, hängt von den folgenden Faktoren ab. Es ist <strong>die</strong>ser Wunsch, sich auf etwas<br />

auszurichten und etwas da<strong>mit</strong> zu machen.<br />

Der Faktor, der <strong>die</strong>ses Streben stabilisiert ist:<br />

7) Entschlossenheit<br />

ist das Festhalten gewisser D<strong>in</strong>ge und bewirkt, dass <strong>die</strong>se nicht verloren gehen.<br />

Streben und Entschlossenheit lassen sich <strong>mit</strong> Beispielen veranschaulichen. Streben ist der <strong>in</strong>itiale Impuls<br />

z.B. zum Stupa zu gehen. Ich fühle mich <strong>in</strong>spiriert, zum Stupa zu gehen. Entschlossenheit ist auf<br />

dem Streben aufbauend der Entschluss, es tatsächlich zu tun, tatsächlich an <strong>die</strong>ser Idee festzuhalten<br />

und sie weiter zu verfolgen und umzusetzen. Das ist genauso auch <strong>mit</strong> re<strong>in</strong> mentalen Prozessen. Z.B.<br />

der Vorsatz, e<strong>in</strong>en Buddha zu visualisieren und dann <strong>die</strong> Entschlossenheit, es tatsächlich zu tun.<br />

Entschlossenheit bewirkt, dass das, wofür wir uns entschlossen haben, nicht verloren geht, dass es uns<br />

quasi nicht aus dem Visier entschlüpft, dass wir es weiter im Blickfeld behalten, weiter verfolgen und<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Tat umsetzen können.<br />

8) Vergegenwärtigen<br />

ist, e<strong>in</strong> Objekt von Interesse nicht zu vergessen. Es bewirkt Unabgelenktheit.<br />

Der Weg von hier bis zum Stupa ist ja doch mehr als hundert Schritte lang. Da kann e<strong>in</strong>e Menge<br />

passieren, was mich vom Weg abbr<strong>in</strong>gt, und der Faktor, der mich dranhält, me<strong>in</strong>en Entschluss umzusetzen,<br />

heißt hier Vergegenwärtigen. Es ist das achtsame Gewahrse<strong>in</strong>, sich immer wieder daran zu<br />

er<strong>in</strong>nern, was das Objekt me<strong>in</strong>es Interesses ist und <strong>die</strong>ses nicht zu vergessen.<br />

Dieser Faktor bewirkt also Unabgelenktheit. Egal wer mich auf dem Weg anspricht und was es für<br />

Verzögerungen gibt, ich werde me<strong>in</strong>en Weg weiter fortsetzen, bis ich dort ankomme. Genauso ist es<br />

auch bei den mentalen Aktivitäten: Ich habe mich entschlossen, auf den Buddha zu meditieren und –<br />

egal welche anderen Gedanken auftauchen – ich bleibe achtsam dabei. Ich vergegenwärtige mir immer<br />

wieder das, wofür ich mich entschlossen habe, ich komme immer wieder darauf zurück. Das ist <strong>die</strong><br />

Funktion der Achtsamkeit.<br />

39


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Diese Unabgelenktheit kann natürlich stark oder schwächer se<strong>in</strong>. Je nachdem ob ich ständig bei der<br />

Sache bleibe oder zum<strong>in</strong>dest immer wieder dah<strong>in</strong> zurückkomme.<br />

9) Stabiles Verweilen<br />

ist E<strong>in</strong>sgerichtetheit <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong> beobachtetes Objekt und unterstützt Verstehen.<br />

Wenn <strong>die</strong> Unabgelenktheit stark wird, dann sprechen wir von stabilem Verweilen. Die Funktion von<br />

stabilem Verweilen ist, dass dadurch Verständnis entstehen kann. Wir verstehen das untersuchte Objekt<br />

tiefer.<br />

Wenn <strong>die</strong>ser Faktor des stabilen Verweilens – auch samadhi genannt – aktiv ist, dann br<strong>in</strong>gt uns nichts<br />

mehr davon ab. Das Objekt ist das E<strong>in</strong>zige, was im Geist gegenwärtig ist. Es ist e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche<br />

Ausrichtung auf das Objekt, das wir uns ausgesucht haben. Mit Objekt ist also e<strong>in</strong>fach der Geistes<strong>in</strong>halt<br />

geme<strong>in</strong>t, auf den wir uns ausgerichtet haben.<br />

10) Verstehen<br />

bedeutet, <strong>die</strong> beobachteten Dharmas vollständig zu untersuchen und bewirkt das Auflösen von<br />

Unsicherheit.<br />

Wenn <strong>die</strong>ses stabile Verweilen zu e<strong>in</strong>er tiefen Konzentration führt, dann entsteht Verstehen. Verstehen<br />

oder Weisheit bedeutet, dass <strong>die</strong> beobachteten Dharmas, <strong>die</strong> beobachteten Phänomene <strong>mit</strong> ihren Qualitäten<br />

vollständig untersucht werden und sich dadurch alle Unsicherheit auflöst, d.h. wir haben das untersuchte<br />

Phänomen voll erfasst. Wir s<strong>in</strong>d am Ziel des ursprünglichen Interesses angelangt. Das ursprüngliche<br />

Streben hat – unterstützt von Entschlossenheit und ständigem Vergegenwärtigen – zu dem<br />

stabilen Verweilen geführt, das zu e<strong>in</strong>em klaren Verstehen, zu e<strong>in</strong>er umfassenden Kenntnis des Objektes<br />

geführt hat.<br />

Diese fünf Faktoren können sowohl auf der ganz alltäglichen Ebene erklärt werden als auch als <strong>die</strong><br />

Faktoren, <strong>die</strong> zum Erwachen führen <strong>mit</strong> allen Zwischenstufen. Es gibt viele Möglichkeiten, wie <strong>die</strong>se<br />

fünf Schritte <strong>in</strong> unserem Geist aktiv se<strong>in</strong> können.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel aus dem alltäglichen Leben: Wir haben e<strong>in</strong> Projekt, z.B. e<strong>in</strong>e Prüfung zu bestehen, wie e<strong>in</strong>e<br />

unserer Teilnehmer<strong>in</strong>nen hier, <strong>die</strong> sich gerade mehrere Stunden pro Tag auf e<strong>in</strong>e Mathematikprüfung<br />

vorbereitet. Da braucht es zunächst Streben, es braucht Entschlossenheit, dann muss man sich<br />

immer wieder daran er<strong>in</strong>nern und sich zu <strong>die</strong>ser Aufgabe zurückholen. Es braucht tiefe Konzentration,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong> Verständnis der Thematik ermöglicht. So s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se fünf Faktoren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em alltäglichen Projekt<br />

aktiv.<br />

Dieselben fünf Faktoren s<strong>in</strong>d aber auch aktiv, wenn ich – zurückkommend auf das Beispiel – <strong>in</strong> der<br />

Ferne etwas sehe, was ich nicht genau erkennen kann. Ich habe <strong>die</strong> Motivation es erkennen zu wollen.<br />

Ich entschließe mich, wirklich dabei zu verweilen. Ich bleibe unabgelenkt dabei, bis ich <strong>die</strong>sen sich<br />

bewegenden Schatten <strong>mit</strong> stabiler Konzentration so genau erfasse, dass ich genau erkennen kann, was<br />

es ist. Es ist also e<strong>in</strong>e ganz kle<strong>in</strong>e Handlung, eigentlich nur das Erkennen von etwas, was da <strong>in</strong> der<br />

Ferne sichtbar ist – oder das Erkennen von e<strong>in</strong>em Geräusch, <strong>mit</strong> dem ich e<strong>in</strong>sgerichtet verweile und<br />

unterscheide bis klar wird, worum es sich handelt. Selbst bei ganz kle<strong>in</strong>en Handlungen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se fünf<br />

Faktoren aktiv. Es braucht e<strong>in</strong> unabgelenktes Dabei-Se<strong>in</strong> auf der Basis von Streben und Entschlossenheit,<br />

bis es zu <strong>die</strong>sem Verständnis kommt.<br />

Wie wirken <strong>die</strong>se fünf Faktoren auf unserem spirituellen Weg? Ich nehme als Beispiel das Erwachen,<br />

<strong>die</strong> Erkenntnis der Natur des Geistes, Befreiung. Ich höre davon und <strong>die</strong> Vorstellung, dass es so etwas<br />

gibt, manifestiert sich im Geist. Es entsteht e<strong>in</strong> Streben, e<strong>in</strong> Wunsch, <strong>die</strong>s zu verstehen. Dann verdichtet<br />

sich der Wunsch zu e<strong>in</strong>er Entschlossenheit: „Doch! Tatsächlich, ich habe mich umgeschaut, das<br />

sche<strong>in</strong>t es zu se<strong>in</strong>, worauf es ankommt! Da möchte ich h<strong>in</strong>gehen.“ Diese Entschlossenheit ist <strong>die</strong><br />

Ausrichtung auf das Erwachen, auf <strong>die</strong> Natur des Geistes. Es ist wie das tiefe <strong>in</strong>nere Zufluchtnehmen –<br />

da geht es für mich lang. Dann geht es darum, dass ich mir das immer wieder vergegenwärtige und<br />

e<strong>in</strong>e Unabgelenktheit entwickle <strong>in</strong> der Ausrichtung auf <strong>die</strong>se Erkenntnis, von der ich gehört habe, dass<br />

es sie gibt, <strong>die</strong> ich aber noch nicht kenne. Es braucht e<strong>in</strong>e unabgelenkte Ausrichtung, <strong>die</strong> dann so weit<br />

führt, dass ich völlig unabgelenkt, stabil, im Gewahrse<strong>in</strong> des Geistes verweilen kann, bis ganz<br />

offenkundig wird, ohne jeden Zweifel, ohne jede Unsicherheit, was <strong>die</strong> Natur des Geistes ist.<br />

40


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Diese fünf Faktoren beschreiben also unter Umständen den gesamten Weg bis zum Erwachen. Sie<br />

können aber auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Meditationssitzung aktiv se<strong>in</strong>: Man setzt sich h<strong>in</strong>, nimmt Zuflucht,<br />

er<strong>in</strong>nert sich daran, worum es geht, lässt <strong>die</strong> Ablenkungen sich auflösen, bis der Geist <strong>in</strong> tiefe Stabilität<br />

e<strong>in</strong>tritt, <strong>in</strong> der sich <strong>die</strong> Schau der Natur des Geistes offenbart.<br />

Es ist nicht programmiert, wie lange es dauert, aber <strong>die</strong>se Faktoren müssen zusammenkommen, bis es<br />

zu e<strong>in</strong>em vollständigen Verstehen kommt.<br />

Diese zehn bisher genannten Geistesaktivitäten werden <strong>die</strong> „zehn geistigen Grundlagen“ (mahabhumika)<br />

genannt.<br />

Warum? Weil man <strong>mit</strong> ihnen alles andere macht. Alles geschieht <strong>mit</strong> Hilfe <strong>die</strong>ser zehn Faktoren. Diese<br />

zehn Faktoren s<strong>in</strong>d ständig aktiv. Wenn ich mich verliebe, kommt es zu e<strong>in</strong>em Streben, zu e<strong>in</strong>er Entschlossenheit,<br />

ich möchte <strong>die</strong> Person kennen lernen, me<strong>in</strong>e Energien richten sich auf sie aus, bis es zu<br />

e<strong>in</strong>em Erleben, e<strong>in</strong>em Erfahren <strong>die</strong>ses angestrebten Objektes kommt. Mit Ablehnung geht es genauso:<br />

Ich möchte etwas absolut vermeiden, das ist me<strong>in</strong> Wunsch. Ich b<strong>in</strong> entschlossen, me<strong>in</strong>e Energien<br />

richten sich darauf aus, alle Anstrengung geht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Richtung, bis ich es vielleicht irgendwann schaffe,<br />

das zu vermeiden.<br />

Diese letzten fünf Faktoren können schwach oder mangelhaft ausgeprägt se<strong>in</strong>. Was passiert, wenn <strong>die</strong>se<br />

Faktoren nicht ausreichend ausgeprägt s<strong>in</strong>d? In e<strong>in</strong>er psychotherapeutischen Praxis z.B. kommen<br />

Menschen zu uns, <strong>die</strong> zum Teil gar nicht wissen, was sie wollen. Ihnen ist nicht klar, was ihr Anliegen<br />

<strong>in</strong> ihrem Leben, <strong>in</strong> verschiedenen Lebensbereichen ist. Sie können deswegen auch gar ke<strong>in</strong>e gezielte<br />

Aktivität entwickeln, weil sie gar nicht wissen, woh<strong>in</strong> <strong>die</strong> gehen soll. Wir werden ihnen helfen, ihr<br />

Anliegen zu klären. Wir werden ihnen helfen, <strong>die</strong>ses Anliegen so klar zu machen, dass es zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren<br />

Entschlossenheit kommt, <strong>die</strong>ses Anliegen auch umzusetzen. Beim Umsetzen <strong>die</strong>ses Anliegens<br />

kann es dann se<strong>in</strong>, dass sie völlig abgelenkt s<strong>in</strong>d, dass sie nie <strong>die</strong> Kräfte zusammenkriegen, konstant<br />

bei der Sache zu bleiben. Wir müssen ihnen also helfen, E<strong>in</strong>sgerichtetheit, Unabgelenktheit, stabiles<br />

Verweilen, Konzentration zu entwickeln. Wir müssen ihnen helfen, <strong>die</strong>ses stabile Verweilen so zu stabilisieren,<br />

dass ihr Anliegen tatsächlich zu Ende geführt werden kann, sodass Klarheit entsteht; dass<br />

e<strong>in</strong> Punkt im Leben abgehakt ist; dass etwas verstanden wurde; dass der Geist bei der Sache, bei dem<br />

Objekt des Interesses bleiben kann bis e<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres Verstehen entsteht oder bis äußerlich etwas klar<br />

geworden ist.<br />

Wenn <strong>die</strong>se Faktoren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person sehr stark ausgeprägt und sehr stabil s<strong>in</strong>d, dann kann man solch<br />

e<strong>in</strong>en Menschen sehr schnell fortschreiten sehen. Es kommt ganz schnell zu Verständnis, weil der<br />

Geist unabgelenkt bei der Sache ist – unabgelenkt beim Zuhören, unabgelenkt beim Beobachten,<br />

unabgelenkt beim Lesen, beim Stu<strong>die</strong>ren, unabgelenkt im Erfahren der eigenen Emotionen. Die Möglichkeit,<br />

unabgelenkt etwas zu tun oder zu untersuchen, führt dazu, dass sich ganz schnell Verständnis<br />

aufbaut, dass ganz schnell Zusammenhänge erkannt werden, ganz schnell <strong>die</strong> wirklichen Merkmale<br />

von D<strong>in</strong>gen und von Situationen von Menschen erkannt werden.<br />

Wir können bei Menschen, bei denen <strong>die</strong>se Faktoren schwach ausgebildet s<strong>in</strong>d, beobachten, dass sie<br />

nur ganz zögerliche Fortschritte machen; ganz langsam, weil sie kaum ausreichend bei der Sache<br />

bleiben können, um wirklich zu e<strong>in</strong>em Verständnis zu kommen, um den Nebel aufzulösen. Ihnen ist<br />

nur selten möglich, das Interesse so zu stabilisieren und bei der Sache zu bleiben, da<strong>mit</strong> sie etwas verstehen.<br />

Sie machen immer wieder <strong>die</strong> gleichen Fehler, weil sie gar nicht sehen können, woran es liegt.<br />

Ihre Aufmerksamkeit reicht nicht aus, um zu dem Verständnis zu gelangen, das notwendig wäre, ihr<br />

ungeschicktes Verhalten oder Denken aufzulösen.<br />

Wenn wir uns also untere<strong>in</strong>ander unterstützen wollen, dann sollten wir uns helfen, <strong>die</strong>se fünf Faktoren<br />

zu stabilisieren, denn <strong>die</strong> bewirken wirklich Klärung im Geist.<br />

Über <strong>die</strong>se fünf Faktoren könnte man sicherlich mehr sagen, aber das reicht für e<strong>in</strong>en Überblick.<br />

41


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Fragen:<br />

Die fünf Objekt-vergewissernden Faktoren <strong>in</strong> der Therapie<br />

Bei der zweiten Gruppe von fünf Faktoren wurde erwähnt, dass sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Therapie auch zu stärken<br />

seien. Ich habe beobachtet, dass es bei bestimmten Menschen <strong>mit</strong> psychologischen Ausfällen – z.B. bei<br />

Abhängigen – zwar gel<strong>in</strong>gt, <strong>die</strong>se Faktoren manchmal für e<strong>in</strong>e Aufgabe zu stimulieren. Aber für <strong>die</strong><br />

nächste Aufgabe sche<strong>in</strong>t <strong>die</strong>se Form der Konzentration und Ausdauer nicht mehr zur Verfügung zu<br />

stehen, als würde man wieder von neuem anfangen.<br />

Bei Alkoholabhängigkeit kann es so se<strong>in</strong>, dass manchmal <strong>die</strong> Entschlusskraft ausreicht, um den Menschen<br />

zu stabilisieren und er der Versuchung widerstehen kann. Das heißt aber nicht, dass es für alle<br />

Situationen ausreicht, weil <strong>die</strong> Kraft der gewohnheitsmäßigen Tendenzen noch nicht ausreichend geschwächt<br />

ist. Da muss man noch arbeiten, sodass <strong>die</strong> verführerischen Bilder – wie schön es wäre wieder<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Flasche zu tr<strong>in</strong>ken – nicht stärker werden als <strong>die</strong> heilsame Entschlusskraft dem<br />

Tr<strong>in</strong>ken zu entsagen. Man muss daran arbeiten, dass das, was <strong>die</strong>se Gewohnheitstendenzen nährt, geschwächt<br />

wird.<br />

Noch e<strong>in</strong> anderes Beispiel dazu: Es gibt Menschen, denen D<strong>in</strong>ge so hervorragend gel<strong>in</strong>gen, denen es<br />

aber auch gel<strong>in</strong>gt, immer wieder nach e<strong>in</strong>er Phase des großen Gel<strong>in</strong>gens e<strong>in</strong> völliges Versagen zu<br />

produzieren, <strong>die</strong> ihre eigenen Schlappen hervorragend vorprogrammieren.<br />

Dass man sich selber den Misserfolg vorprogrammiert, ist auch wieder e<strong>in</strong>e Frage der gewohnheitsmäßigen<br />

Tendenzen. Warum? Da muss man re<strong>in</strong>schauen und genau <strong>die</strong>se Tendenzen, <strong>die</strong>se emotionalen<br />

Muster müssen geschwächt bzw. aufgelöst werden.<br />

Was wir e<strong>in</strong>e gewohnheitsmäßige Tendenz nennen, ist e<strong>in</strong> Zusammenwirken mehrerer emotionaler<br />

Aspekte. Das ist nicht e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne, leicht zu identifizierende Emotion, sondern e<strong>in</strong> Zusammenwirken<br />

von Emotionen, <strong>die</strong> uns immer wieder <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung treiben.<br />

Zusammenhang von Empf<strong>in</strong>dungen, Emotionen und Trans<strong>mit</strong>tern<br />

Wie ist das <strong>mit</strong> den Neuro-Trans<strong>mit</strong>tern und Hormonen, wo es bei jeder Emotion zu e<strong>in</strong>em Ausstoß<br />

von <strong>die</strong>sen Stoffen kommt? Verschiedene Emotionen bewirken dadurch verschiedene Erfahrungen.<br />

Man ist wie unter Drogen gesetzt, wenn es zu solch e<strong>in</strong>em neurohormonalen Ausstoß kommt, im Gehirn<br />

oder im ganzen System. Wie kann man da<strong>mit</strong> umgehen?<br />

In der Klassifikation, <strong>die</strong> wir hier kennen gelernt haben, würden wir das unter Empf<strong>in</strong>dungen e<strong>in</strong>reihen,<br />

denn was <strong>die</strong>se Trans<strong>mit</strong>ter-Hormone bewirken, s<strong>in</strong>d besondere Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Emotionen e<strong>in</strong>hergehen. Jede Emotion hat ihre Empf<strong>in</strong>dungen. Wenn wir unseren Organismus<br />

gut kennen, dann können wir oft schon anhand der Empf<strong>in</strong>dungen identifizieren, was für e<strong>in</strong>e Emotion<br />

wir haben, und dann geht es darum, <strong>die</strong> Bahnung, <strong>die</strong> durch wiederholtes Empf<strong>in</strong>den <strong>die</strong>ser Art stattgefunden<br />

hat, allmählich aufzulösen. – Es s<strong>in</strong>d ja vertraute Bahnen, <strong>in</strong> denen wir immer wieder funktioniert<br />

haben und uns <strong>die</strong> Gewohnheit auch immer wieder dar<strong>in</strong> funktionieren lässt. – Es geht darum<br />

zu lernen, an Empf<strong>in</strong>dungen nicht zu haften, Empf<strong>in</strong>dungen nicht wiederholen zu wollen, aber auch<br />

andere Empf<strong>in</strong>dungen zu entdecken. Andere Lösungen zu entdecken, <strong>die</strong> m<strong>in</strong>destens ebenso befriedigend<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Ärger führt z.B. aufgrund des Adrenal<strong>in</strong>ausstoßes und der vielen anderen Trans<strong>mit</strong>ter, <strong>die</strong> da<strong>mit</strong> verbunden<br />

s<strong>in</strong>d, zu e<strong>in</strong>em sehr lebendigen Gefühl. Es kann wie e<strong>in</strong>e Droge se<strong>in</strong>, sich immer schön <strong>in</strong> Ärger<br />

zu halten, um sich lebendig zu fühlen, wirklich da zu fühlen. Es müssen andere Wege entdeckt<br />

werden, um sich ebenso lebendig und wach zu fühlen, Wege <strong>die</strong> nicht so schädlich s<strong>in</strong>d. Ich muss<br />

also, um mich zu motivieren und mehr Gleichmut zu erlangen, zum e<strong>in</strong>en darüber nachdenken und<br />

sehen, dass das Wiederholen-Wollen <strong>die</strong>ser Empf<strong>in</strong>dungen durch Ärger sehr viel Schaden bewirkt,<br />

sehr viel Nichtheilsames. Zum anderen muss ich entdecken, wie ich <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er geistigen Frische leben<br />

kann, mich lebendig fühlen kann, ohne dass es dafür Ärger braucht.<br />

Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Entdeckungen, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong> tiefer Entspannung <strong>mit</strong> klarem Geist machen, wenn wir meditieren,<br />

oder wir können all <strong>die</strong> verschiedenen Formen von Lebendigkeit entdecken, wenn wir den Weg<br />

des Herzens gehen, wenn wir Herzensaustausch pflegen.<br />

42


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wenn wir den Weg des Herzens gehen, <strong>die</strong> Offenheit des Geistes entdecken, dann entdecken wir so<br />

viel befriedigende Erfahrung, dass wir den Geschmack an den Erfahrungen, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> den Emotionen<br />

e<strong>in</strong>hergehen, völlig verlieren. Wir s<strong>in</strong>d nicht mehr angezogen von <strong>die</strong>sen Emotionen. Sie s<strong>in</strong>d enge,<br />

aufgewühlte Geisteszustände, <strong>in</strong> denen wir unsere Klarheit verlieren und wir haben gar ke<strong>in</strong>e Lust<br />

mehr darauf, <strong>in</strong> solche Geisteszustände e<strong>in</strong>zutreten. Aber es braucht den Kontrast, es braucht das Vergleichen.<br />

Wir müssen andere Erfahrungen haben, <strong>die</strong> uns e<strong>in</strong>en Vergleich ermöglichen, da<strong>mit</strong> wir<br />

sehen können, dass das eigentlich nicht so anziehend ist.<br />

Es gibt Menschen, <strong>die</strong> genau das Gegenteil als <strong>in</strong>neren Prozess haben. Sie suchen also ke<strong>in</strong>e befriedigenden<br />

Lösungen, sondern s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Destruktivität und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Triumph fixiert, <strong>mit</strong> dem sie den<br />

Therapeuten, den Lama, wen auch immer, außer Schach setzen, lahm legen. Dabei hilft schon, das zu<br />

benennen, weil es e<strong>in</strong>e fehlende Spiegelung ist, wo frühe Affekte <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dheit nie ausreichend gespiegelt<br />

wurden.<br />

Es gibt aber auch Leute, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Stück da dr<strong>in</strong> bleiben. Da kann man aber auch versuchen zu unterscheiden<br />

– heilsame und nichtheilsame Handlungen, Grenzen zu setzen – oder unter Umständen sich<br />

vielleicht auch zurückziehen und <strong>die</strong> Destruktivität nicht <strong>mit</strong>machen.<br />

Ich habe mich gerade gefragt, wie es für so e<strong>in</strong>e Person ist, sich selbst auf <strong>die</strong> Schliche zu kommen.<br />

Da braucht es ja e<strong>in</strong> Gegenüber. Wie kann das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em selbstanalytischen Prozess gehen oder was<br />

braucht es an Gegenüber, Annahme oder sonst was?<br />

Das ist tatsächlich e<strong>in</strong> schwieriger Prozess, solche Menschen werden sich auch <strong>in</strong> der Meditation oft<br />

nicht bewusst, was an Spielen abläuft. Sie brauchen tatsächlich – wie du das sagst – oft e<strong>in</strong> Gegenüber.<br />

E<strong>in</strong> wirklicher Meister steigt normalerweise nicht auf <strong>die</strong>se Tendenzen e<strong>in</strong>, weil es bei ihm nicht mehr<br />

<strong>die</strong> Angelpunkte gibt, man kann ihn nicht mehr an se<strong>in</strong>em Stolz, an se<strong>in</strong>em Bedürfnis nach Anerkennung<br />

und dergleichen <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gen, aushebeln.<br />

In solchen D<strong>in</strong>gen völlig untra<strong>in</strong>ierte Meister wirken von daher wie e<strong>in</strong> fantastischer Spiegel, wenn so<br />

etwas versucht wird, weil sie gar nicht darauf e<strong>in</strong>steigen und gar nicht auf <strong>die</strong>ser Wellenlänge reagieren.<br />

Lamas wie ich und andere, wir fallen darauf schon re<strong>in</strong> und es kann dann gut passieren, dass auch<br />

wertvolle Zeit verloren wird.<br />

Der Prozess der Selbstanalyse, selber <strong>in</strong> den Spiegel zu schauen, erfordert e<strong>in</strong> hohes Maß an Achtsamkeit,<br />

was <strong>die</strong> eigenen Motivationen und <strong>die</strong> da<strong>mit</strong> zusammenhängenden Gedanken, <strong>die</strong> im Geist aufsteigen,<br />

angeht. Da b<strong>in</strong> ich mir nicht sicher, ob Meditation für Menschen <strong>mit</strong> solch stark ausgeprägten<br />

Tendenzen noch wirklich ausreichend ist. Ich habe erlebt, dass Praktizierende sich jahrelang was vormachen<br />

und immer wieder bei den Meistern auflaufen, zurückkehren, dann frustriert s<strong>in</strong>d, meditieren,<br />

sich wieder e<strong>in</strong> gewisses Ego aufbauen, e<strong>in</strong>e Identifikation <strong>mit</strong> ihrer tollen Praxis – z.B. wie sie besser<br />

s<strong>in</strong>d als <strong>die</strong> Lehrer, dann wieder frustriert s<strong>in</strong>d, dass sie ke<strong>in</strong>e Anerkennung bekommen bis sie irgendwann<br />

das Handtuch werfen. Dann gehen sie woanders h<strong>in</strong>, weil sie hier nicht <strong>die</strong> Bestätigung bekommen,<br />

<strong>die</strong> sie eigentlich möchten. Der Heilungsprozess hat aber auch nicht stattgefunden.<br />

Das ist e<strong>in</strong>e klassische Situation, wo e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation gut wäre – Schulungen <strong>in</strong> Achtsamkeit und<br />

therapeutische Begleitung. E<strong>in</strong> Idealfall ist auch, wenn so etwas <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Retreatgruppe passiert. Wir<br />

haben das <strong>in</strong> Langzeitgruppen erlebt, wo <strong>die</strong> Retreatgruppe als e<strong>in</strong>e Vielfalt von Spiegeln wirkt, wo<br />

der andere e<strong>in</strong>e Chance hat, sich dar<strong>in</strong> zu sehen. Da ist das Leben <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft der Ersatz für<br />

<strong>die</strong> therapeutische Behandlung.<br />

De<strong>in</strong>er Beschreibung nach würde ich sagen, <strong>die</strong>se Person ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er narzisstischen Störung. Solche<br />

Menschen haben es am schwersten, den Weg zu f<strong>in</strong>den, weil sie auch am wenigsten bereit s<strong>in</strong>d, hilfreiche<br />

Unterstützung, Korrekturen anzunehmen. Da braucht es e<strong>in</strong>e geballte Dosis von Spiegeln um<br />

sie herum. Es braucht Lebenssituationen, wo Schwierigkeiten auftauchen, wo sie alle<strong>in</strong>e nicht mehr<br />

weiterkommen, wo sie ihre Schwäche e<strong>in</strong>gestehen müssen. Es braucht e<strong>in</strong>e Summe solcher Bed<strong>in</strong>gungen,<br />

um <strong>die</strong>sen Menschen zu helfen, da heraus zu f<strong>in</strong>den.<br />

Ursache des Interesses<br />

Wir s<strong>in</strong>d heute <strong>die</strong>se Sachen <strong>mit</strong> dem Willen und dem Erkennen <strong>die</strong>ser fünf Zustände durchgegangen.<br />

Da fiel mir auf, wenn ich etwas will, dann ist es ja etwas Bestimmtes, was <strong>mit</strong> mir zu tun hat, es ist ja<br />

43


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

nichts, was irgendwie aus der Luft gegriffen wäre, sonst kann ich mich ja nicht dran halten. Ich habe<br />

mich dann gefragt, wo kommt das her? Wo kommt <strong>die</strong> Tendenz her, sich <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Speziellen, was<br />

auch immer das ist, zu beschäftigen?<br />

Was me<strong>in</strong>st du, wo das herkommt?<br />

Spontan habe ich gedacht, dass da wieder <strong>die</strong>ser sogenannte Karmagedanke e<strong>in</strong>e Rolle spielt, oder<br />

das was wir an Anhaftungsmustern <strong>mit</strong>br<strong>in</strong>gen. Das schien mir dann aber e<strong>in</strong> bisschen dumm.<br />

Es gibt ganz viele Möglichkeiten, warum sich unser Interesse auf etwas ausrichtet: Es kann se<strong>in</strong>, dass<br />

e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Notwendigkeit entsteht, dass e<strong>in</strong>e Situation etwas braucht. Es kann se<strong>in</strong>, dass starke ichbezogene<br />

Motivationen dabei e<strong>in</strong>e Rolle spielen, dass Gewohnheitstendenzen e<strong>in</strong>e Rolle spielen, oder<br />

es kann se<strong>in</strong>, dass Bodhicitta e<strong>in</strong>e Rolle spielt und den Geist auf etwas ausrichtet. Es gibt da ganz viele<br />

Möglichkeiten. Tatsache ist, dass e<strong>in</strong>e Ausrichtung entsteht, und da beg<strong>in</strong>nt <strong>die</strong> Beschreibung. Woher<br />

sie kommt, bleibt erst e<strong>in</strong>mal offen. Es gibt etwas, worauf sich der Geist ausrichtet, was wichtig ersche<strong>in</strong>t.<br />

Was <strong>die</strong> Gründe s<strong>in</strong>d, wird hier nicht beschrieben.<br />

Dieser Prozess hier beschreibt ganz e<strong>in</strong>fach, was Lebewesen – hier am Beispiel der Menschen – tun,<br />

um sich e<strong>in</strong>es Objektes zu vergewissern oder e<strong>in</strong>e Aufgabe zu bewerkstelligen. Was sie dazu bewegt,<br />

was für e<strong>in</strong>e Art von Aufgabe und was für e<strong>in</strong>e Art von Objekt das ist, wird hier auf der Seite gelassen,<br />

denn das ist <strong>die</strong> Vielfalt des Lebens aller Lebewesen <strong>mit</strong> unzähligen Möglichkeiten.<br />

Karma als Ursache der <strong>Skandhas</strong> oder umgekehrt?<br />

I would like to cont<strong>in</strong>ue Angelika’s question, I was wonder<strong>in</strong>g before: If one can say that karma lays<br />

underneath of the five aggregates, is karma the reason of the five aggregates or is it the opposite, that<br />

because of the five aggregates we have such karma?<br />

This is an <strong>in</strong>terest<strong>in</strong>g question. What do you th<strong>in</strong>k?<br />

Of coarse they are <strong>in</strong>terdependent, but <strong>in</strong> details I don’t know.<br />

Good answer! Right, they are <strong>in</strong>terdependent.<br />

Let’s take the forms as an example: the perception of forms is different accord<strong>in</strong>g to different people,<br />

is different from humans to animals – to <strong>in</strong>sects, fish, horses, birds… We know that different be<strong>in</strong>gs<br />

have different faculties of hear<strong>in</strong>g, of smell, vision and so on. And that has a big <strong>in</strong>fluence on what<br />

form is perceived, for example these night birds which perceive ultrasound which we cannot perceive.<br />

So, forms already depend on the karma that makes us be<strong>in</strong>g born <strong>in</strong> a certa<strong>in</strong> existence.<br />

The same goes on for the sensations. The karmic tendencies we have created will lead to judg<strong>in</strong>g certa<strong>in</strong><br />

sensations as agreeable, desirable, others as not desirable and so on. So, karmic predisposition<br />

enters fully <strong>in</strong>to the game, the same with the dist<strong>in</strong>ctions. We make the dist<strong>in</strong>ctions accord<strong>in</strong>g to our<br />

karmic tendencies, our viewpo<strong>in</strong>t, as if we were look<strong>in</strong>g at the world with our karmic glasses. And<br />

then of coarse it is the same th<strong>in</strong>g with the mental processes, the mental formations we will go through<br />

now; they arise <strong>in</strong> accordance to our karma.<br />

This is the first half of the answer.<br />

And now, every time if there is identification with this k<strong>in</strong>d of perception, this k<strong>in</strong>d of sensation, this<br />

k<strong>in</strong>d of dist<strong>in</strong>guish<strong>in</strong>g th<strong>in</strong>gs and enter<strong>in</strong>g certa<strong>in</strong> emotional states, mental states we are creat<strong>in</strong>g forces;<br />

we are creat<strong>in</strong>g karmic forces by the acts of body, speech and m<strong>in</strong>d; we are creat<strong>in</strong>g different<br />

effects. So, def<strong>in</strong>itely gett<strong>in</strong>g engaged <strong>in</strong> the aggregates is produc<strong>in</strong>g effects, produc<strong>in</strong>g karma.<br />

Your question is correct <strong>in</strong> both ways.<br />

Unzulänglichkeiten der Faktoren des Vergewisserns<br />

Du hast gesagt, dass <strong>die</strong> fünf letzten Faktoren Mängel aufweisen könnten. Aber es ist doch offenkundig,<br />

dass da Mängel s<strong>in</strong>d.<br />

44


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Da s<strong>in</strong>d Mängel. Nicht nur, dass es so se<strong>in</strong> könnte, da s<strong>in</strong>d auf jeden Fall welche, speziell wenn ich an<br />

<strong>die</strong> Konzentrationsfähigkeit denke und an <strong>die</strong> Weisheit.<br />

Ich war auch nur nett und höflich, als ich sagte, „Da könnten ja gewisse Schwächen se<strong>in</strong>“. Natürlich<br />

s<strong>in</strong>d da Schwächen und <strong>die</strong>se Faktoren s<strong>in</strong>d erst dann völlig präsent, wenn wir das vollständige Erwachen<br />

erlangen. Erst dann ist <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit, <strong>die</strong> der destabilisierende Faktor für <strong>die</strong>se Faktoren<br />

ist, völlig aufgelöst.<br />

Um es ganz konkret zu sagen, der vierte und entscheidende Faktor, der Faktor des Samadhis, des<br />

stabilen Verweilens, wird völlig stabil <strong>mit</strong> dem Vajra-Samadhi, <strong>mit</strong> dem unzerstörbaren Samadhi, der<br />

den E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Buddhaschaft beschreibt.<br />

Ich hätte auch noch e<strong>in</strong>e Frage zu den fünf Objekt-vergewissernden Faktoren. Ich hatte so <strong>die</strong> Phantasie,<br />

dass es e<strong>in</strong>e Hierarchie dar<strong>in</strong> gibt. Wenn ich unabgelenkt b<strong>in</strong> und mich mehr <strong>in</strong> so e<strong>in</strong> Gewahrse<strong>in</strong><br />

entspannen kann, stell ich mir vor, dass dann das Streben und <strong>die</strong> Entschlossenheit, Vergegenwärtigung<br />

gar nicht mehr so e<strong>in</strong> Akt s<strong>in</strong>d, dass es mehr so fast von selbst entsteht, und dass ich<br />

umgekehrt auch, wenn ich viel <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen ersten Faktoren arbeite, irgendwann <strong>in</strong> so e<strong>in</strong> tieferes Verweilen<br />

usw. komme.<br />

Ja, das hast du völlig richtig verstanden oder erahnt. Es ist sogar so, dass jemand, dessen Geist sehr<br />

stabil ist, eigentlich gar ke<strong>in</strong>en Entschluss aufzubr<strong>in</strong>gen hat. Der Geist richtet sich auf etwas aus was<br />

s<strong>in</strong>nvoll ist, und bleibt dabei. So e<strong>in</strong>fach ist das. Es braucht ke<strong>in</strong>erlei Anstrengung dafür. Man nennt<br />

das <strong>die</strong> anstrengungslose Aktivität.<br />

Geistesfaktoren <strong>in</strong> Wach- und Traumbewusstse<strong>in</strong><br />

Vorh<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Gruppe kam mir <strong>die</strong> Frage, ob man <strong>die</strong> Geistesfaktoren vielleicht wohl besser verstehen<br />

könnte, wenn man sie dem Traumgeschehen gegenüberstellt. Inwiefern unterscheiden sich <strong>die</strong> Geistesfaktoren<br />

im Traum von denen im Wachbewusstse<strong>in</strong>?<br />

Um es kurz zu sagen, <strong>die</strong> fünf allgegenwärtigen Faktoren s<strong>in</strong>d auch im Traum aktiv.<br />

Aber für jemanden, der des Traumes nicht bewusst ist, fallen <strong>die</strong> anderen Faktoren weg im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es<br />

bewussten Gestaltens. Es kann aber aufgrund e<strong>in</strong>er Emotion zu e<strong>in</strong>em Gestalten kommen, z.B. <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Albtraum <strong>in</strong> völliger Verzweiflung nach e<strong>in</strong>em Ausweg zu suchen, und <strong>die</strong>ses verzweifelte<br />

Suchen aktiviert natürlich auch Faktoren des Bei-der-Sache-Bleibens, Interesse und dergleichen, genauso<br />

wie auch e<strong>in</strong> Begierde-Traum zu e<strong>in</strong>er Ausrichtung auf das Objekt führt und dergleichen. Das<br />

ist dann e<strong>in</strong> emotionales Sich-Ausrichten, was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Grade <strong>die</strong>se Faktoren stimuliert. Im<br />

Traum ist das Ganze sehr <strong>in</strong>stabil. Wenn man absieht von Praktizierenden, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en sehr stabilen<br />

Traumjoga entwickelt haben, ist im Traum ke<strong>in</strong>er <strong>die</strong>ser Faktoren wirklich stabil.<br />

Die letzten beiden – stabiles Verweilen und Weisheit – s<strong>in</strong>d im Traum normalerweise nicht vorhanden<br />

und <strong>die</strong> anderen s<strong>in</strong>d ganz schwach. So kann man es grob sagen. Das ändert sich, wenn der Traum<br />

wirklich gemeistert und zu e<strong>in</strong>er Praxissituation wird. Dann ist es genauso wie im täglichen Leben.<br />

Ist das, was du eben für den Traum beschrieben hast, so ähnlich im Bardo?<br />

Ja, es ist tatsächlich so. Wenn wir den Bardo meistern, dann s<strong>in</strong>d alle Faktoren stabil so wie <strong>in</strong> der Meditationspraxis.<br />

Wenn wir aber von <strong>die</strong>sen traumgleichen Bildern im Bardo <strong>mit</strong>gerissen werden, dann<br />

ist alles genauso <strong>in</strong>stabil wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em normalen Traum.<br />

* * *<br />

45


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Zusammenfassung<br />

Wir haben bereits <strong>die</strong> drei ersten <strong>Skandhas</strong> kennen gelernt und auch den Anfang des vierten. Bisher ist<br />

es um e<strong>in</strong>e Beschreibung der Wahrnehmungsprozesse gegangen bis h<strong>in</strong> zu den Faktoren, <strong>die</strong> notwendig<br />

s<strong>in</strong>d, um <strong>die</strong>se Wahrnehmung zu stabilisieren, sodass man zu e<strong>in</strong>em tiefen Verständnis<br />

kommt.<br />

Bereits <strong>in</strong> der Beschreibung des 1. <strong>Skandhas</strong>, dem Skandha der Formen g<strong>in</strong>g es dem Buddha darum,<br />

unsere Identifikationen aufzulösen, <strong>die</strong> Identifikation <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>er Form und <strong>mit</strong> den Formen, <strong>die</strong> ich<br />

wahrnehme, <strong>mit</strong> all dem Wahrnehmbaren. In all dem Wahrnehmbaren <strong>in</strong> den sechs S<strong>in</strong>nesbereichen<br />

gibt es nichts, was stabil ist. Es ist e<strong>in</strong>e unaufhörliche Folge von Wahrnehmung verschiedener Objekte,<br />

wo sowohl <strong>die</strong> Wahrnehmung als auch das Wahrgenommene ke<strong>in</strong>erlei Stabilität aufweisen. Es gibt<br />

nichts <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Form – z.B. <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Körper – was es rechtfertigen würde, von e<strong>in</strong>em Ich, von<br />

e<strong>in</strong>em stabilen Selbst zu sprechen.<br />

Genauso geht es <strong>mit</strong> dem 2. Skandha, dem Skandha der Empf<strong>in</strong>dungen. Im Prozess des Empf<strong>in</strong>dens<br />

f<strong>in</strong>det automatisch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stufung statt <strong>in</strong> angenehm, unangenehm und im Moment irrelevant oder<br />

nicht von Interesse, was wir auch neutral nennen. Diese Empf<strong>in</strong>dungsnuancen zeichnen sich ständig <strong>in</strong><br />

unserem Geist ab, aber sie wandeln sich auch ständig. Sie s<strong>in</strong>d auch ke<strong>in</strong>eswegs fest etabliert, es ist<br />

nicht so, dass dasselbe Objekt immer <strong>die</strong>selben Empf<strong>in</strong>dungen auslösen würde. Es gibt <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem ganzen<br />

Prozess des Empf<strong>in</strong>dens <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en affektiven Bewertungen nichts, was konstant wäre. Es gibt<br />

dar<strong>in</strong> nichts, was man e<strong>in</strong> stabiles Selbst, e<strong>in</strong> Individuum nennen könnte.<br />

Das gilt auch für das 3. Skandha, das Skandha des Unterscheidens. Der Prozess des Unterscheidens<br />

von Merkmalen verschiedener Objekte, der Sehwahrnehmung, der Hörwahrnehmung, usw. bis h<strong>in</strong> zur<br />

mentalen Wahrnehmung f<strong>in</strong>det ständig statt. Wir s<strong>in</strong>d ständig dabei, uns aufgrund von Unterscheidungen<br />

zwischen wahrgenommenen Objekten zu orientieren. Es gibt aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Prozess des Unterscheidens<br />

und Bemerkens von Merkmalen und Benennens von Merkmalen nichts Stabiles, ke<strong>in</strong>e<br />

Konstante, <strong>die</strong> wir Ich nennen können.<br />

Im 4. Skandha, dem Skandha der gestaltenden Faktoren, werden zuerst <strong>die</strong> fünf allgegenwärtigen<br />

Faktoren behandelt. Diese fünf Faktoren s<strong>in</strong>d bei jedem Wahrnehmungsakt vorhanden. Sobald Bewusstse<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong> Geist da ist, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se fünf Faktoren aktiv, ganz von selbst, ohne dass es da jemanden<br />

braucht, der das stimuliert, der sich sagt: „Jetzt muss ich aber!“ – völlig überflüssig. Immer wenn<br />

Geist aktiv ist, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se fünf Faktoren vorhanden und aktiv. Sie s<strong>in</strong>d tagsüber aktiv und auch im<br />

Traum.<br />

Die nächsten fünf Faktoren des 4. <strong>Skandhas</strong> s<strong>in</strong>d jene, <strong>die</strong> sich des Objektes vergewissern. Angefangen<br />

vom Interesse über das Stabilisieren des Geistes bis h<strong>in</strong> zum Faktor des tiefen Verstehens oder<br />

Erkennens s<strong>in</strong>d fünf Faktoren aktiv, <strong>die</strong> bewirken, dass wir e<strong>in</strong> Objekt genau erfassen und tief verstehen<br />

können, worum es sich dabei handelt. Diese fünf beschreiben aber auch den ganzen Prozess<br />

vom ursprünglichen Entwickeln der Motivation, <strong>die</strong> Natur des Geistes zu verstehen oder zu erwachen,<br />

bis h<strong>in</strong> zu der Erkenntnis, <strong>die</strong> tatsächlich <strong>die</strong> Erkenntnis der Natur des Geistes ist.<br />

Bei <strong>die</strong>sen Faktoren fragt man sich natürlich: Braucht es e<strong>in</strong> Ich, um den Geist auf e<strong>in</strong> Objekt auszurichten?<br />

Braucht es e<strong>in</strong> Ich, e<strong>in</strong> Selbst, um den Weg des Erwachens zu gehen, oder funktionieren auch<br />

<strong>die</strong>se Faktoren ohne Bezug auf e<strong>in</strong> Ich und Selbst zu nehmen? – Da will ich jetzt nicht vorgreifen. Das<br />

wird <strong>mit</strong> den anderen Faktoren des 4. <strong>Skandhas</strong> und <strong>mit</strong> den verschiedenen Bewusstse<strong>in</strong>sformen noch<br />

klarer werden.<br />

Die Frage aber, an der wir ab jetzt arbeiten werden, ist: Braucht es, da<strong>mit</strong> <strong>die</strong> eben beschriebenen Faktoren<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geistesstrom aktiv s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> Ich? S<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Faktoren eventuell das Ich?<br />

* * *<br />

46


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Von jetzt an werden wir e<strong>in</strong>er anderen Form der Darstellung begegnen. Es geht <strong>in</strong> der Folge darum,<br />

welche Faktoren auf dem Weg des Erwachens tatsächlich heilsam und welche nicht heilsam s<strong>in</strong>d.<br />

Dabei ist wichtig zu verstehen, dass der gesamte Abhidharma als <strong>die</strong> Wissenschaft des Geistes <strong>in</strong> der<br />

buddhistischen Lehre ohneh<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e neutrale Wissenschaft ist sondern e<strong>in</strong>e zielorientierte Beschreibung<br />

<strong>die</strong>ser Phänomene. Es geht immer darum herauszuf<strong>in</strong>den, was zum Erwachen beiträgt und was<br />

es verh<strong>in</strong>dert, was aus dem Leiden herausführt und was das Leiden vermehrt. Es ist also nicht e<strong>in</strong>fach<br />

e<strong>in</strong> Beschreiben der Phänomene und wie sie erfassbar werden, sondern e<strong>in</strong>e Beschreibung im H<strong>in</strong>blick<br />

auf e<strong>in</strong> Ziel – e<strong>in</strong>e Ontologie.<br />

Die elf heilsamen Geistesaktivitäten<br />

Heilsam bedeutet hier: das, was den Geist im Heilsamen verweilen lässt und schlussendlich zum Erwachen<br />

führt; das, was <strong>die</strong> Anspannung verr<strong>in</strong>gert, was aus dem Leiden heraus und <strong>in</strong> das Erwachen<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> führt.<br />

11) Vertrauen<br />

ist <strong>in</strong>spiriertes, strebendes und überzeugtes Vertrauen <strong>in</strong> Bezug auf das Wahre. Es unterstützt<br />

Streben.<br />

Was wir <strong>in</strong>spiriertes Vertrauen nennen, ist <strong>die</strong> Inspiration, <strong>die</strong> Herzensöffnung, <strong>die</strong> Freude. Lama<br />

Tenz<strong>in</strong> nennt es heitere Freude oder ausgeglichene Freude, <strong>die</strong> wir erfahren, wenn wir Unterweisungen,<br />

Lehrern oder anderen Aspekten des spirituellen Weges begegnen, <strong>die</strong> uns <strong>in</strong>spirieren. Sie lassen<br />

unser Herz aufgehen, wir s<strong>in</strong>d berührt von der Tiefe, von der Klarheit, von der Herzensgüte, von den<br />

verschiedenen Aspekten des Dharma. Das ist <strong>die</strong> Inspiration. Das erste Erwachen des Vertrauens geht<br />

meistens über <strong>die</strong>se Inspiration.<br />

In dem Moment, wo wir <strong>die</strong>se Inspiration erfahren, weil wir bestimmten Qualitäten begegnen, löst<br />

sich Spannung <strong>in</strong> unserem Geist auf. Es fühlt sich heilsam an <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass <strong>die</strong>ser Geistesstrom<br />

nicht im Leid verfangen ist. In dem Moment, wo das <strong>in</strong>spirierte Vertrauen präsent ist, s<strong>in</strong>d wir nicht <strong>in</strong><br />

großer Besorgtheit, wir spüren <strong>die</strong>ses Vertrauen <strong>in</strong> uns.<br />

Die zweite Art von Vertrauen ist das strebende Vertrauen. Aufgrund der Inspiration entsteht e<strong>in</strong> Streben,<br />

e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>wendung zu <strong>die</strong>sen Qualitäten <strong>mit</strong> dem Wunsch, dass sich <strong>die</strong>se Qualitäten <strong>in</strong> uns e<strong>in</strong>stellen<br />

mögen, dass wir dorth<strong>in</strong> kommen, wo sich <strong>die</strong>se Qualitäten f<strong>in</strong>den. Es entsteht e<strong>in</strong>e Ausrichtung<br />

auf das Erwachen, es entsteht e<strong>in</strong> Elan, e<strong>in</strong>e Herzenskraft, <strong>die</strong> uns bewegt, <strong>die</strong> uns zieht, <strong>die</strong> uns<br />

schiebt, <strong>die</strong> uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> Richtung <strong>die</strong>ser Qualitäten, <strong>die</strong> uns <strong>in</strong>spirieren, führt.<br />

Wenn wir <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Streben den Weg gehen, dann werden sich immer mehr Erfahrungen e<strong>in</strong>stellen,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Überzeugung, e<strong>in</strong>e Gewissheit entstehen lassen. Das nennen wir das überzeugte Vertrauen. Es<br />

beruht auf der persönlich gemachten Erfahrung, <strong>die</strong> Gewissheit h<strong>in</strong>terlässt. Es ist e<strong>in</strong> Kennen, e<strong>in</strong><br />

Wissen um <strong>die</strong> Kraft <strong>die</strong>ser Qualitäten aus eigener Erfahrung. Wir sehen, dass sie zutiefst heilsam<br />

s<strong>in</strong>d, wir kennen ihre Kraft, wir wissen wie man dah<strong>in</strong> kommt, wir wissen was es aufzugeben gilt, um<br />

dah<strong>in</strong> zu kommen. Es entsteht e<strong>in</strong>e totale Gewissheit. Es ist dann also nicht mehr e<strong>in</strong> Vertrauen, das<br />

wir <strong>in</strong> etwas <strong>in</strong>vestieren, das wir nicht kennen, sondern es ist e<strong>in</strong>e Gewissheit, <strong>die</strong> aus der tiefen,<br />

<strong>in</strong>neren Kenntnis, dem tiefen, <strong>in</strong>neren Erfahren dessen entsteht, worauf sich unser Streben ausgerichtet<br />

hat.<br />

Streben und Inspiration, <strong>die</strong> beiden ersten Formen des Vertrauens, stellen sich eigentlich nur deswegen<br />

e<strong>in</strong>, weil <strong>die</strong>se Qualitäten schon <strong>in</strong> uns vorhanden s<strong>in</strong>d. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> uns vorhanden, wir haben e<strong>in</strong><br />

Gefühl für sie, wir nehmen sie <strong>in</strong>tuitiv wahr, obwohl unser Geist oft noch recht verschleiert ist und wir<br />

noch ke<strong>in</strong>e sehr präzise Wahrnehmung <strong>die</strong>ser Qualitäten haben. Aber sie wohnen unserem Geist <strong>in</strong>ne.<br />

Da kl<strong>in</strong>gt etwas <strong>in</strong> uns an, da vibriert etwas <strong>mit</strong>, da schw<strong>in</strong>gt etwas <strong>mit</strong>, wenn wir <strong>die</strong>sen Qualitäten<br />

47


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

begegnen. Es ist von Beg<strong>in</strong>n des Prozesses an zutiefst heilsam, <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen Qualitäten <strong>in</strong> Berührung zu<br />

kommen. Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>spiriert, weil wir das Heilsame von Anfang an schon spüren.<br />

Und dann streben wir nach Qualitäten, <strong>die</strong> verme<strong>in</strong>tlich außen s<strong>in</strong>d. Wir richten uns auf <strong>die</strong> Buddhaschaft,<br />

auf das Erwachen, auf <strong>die</strong> Befreiung aus. – Verme<strong>in</strong>tlich e<strong>in</strong> Zustand, der woanders zu f<strong>in</strong>den<br />

ist oder den wir zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> anderen me<strong>in</strong>en zu sehen, aber nicht <strong>in</strong> uns. Und doch geht der gesamte<br />

Weg dann so vor sich, dass <strong>die</strong>se Qualitäten im Streben nach dem Erwachen immer mehr <strong>in</strong> uns frei<br />

werden. Sie werden freigelegt, sie werden hervorgerufen, sie kommen unter den Schleiern hervor. Sie<br />

werden entdeckt, enthüllt und zeigen sich immer mehr, bis es zu e<strong>in</strong>er völligen Gewissheit um <strong>die</strong>se<br />

erwachten Qualitäten kommt.<br />

Das war e<strong>in</strong>e erste Darstellung <strong>die</strong>ser drei Formen des Vertrauens, <strong>die</strong> wir nicht für getrennt vone<strong>in</strong>ander<br />

halten sollten. Auch hier ist es nicht möglich, sie <strong>in</strong> getrennte Schubladen zu tun und zu denken,<br />

sie könnten unabhängig vone<strong>in</strong>ander auftreten. Bereits <strong>in</strong> der ersten Inspiration s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> gewisses Streben<br />

und e<strong>in</strong>e gewisse Gewissheit enthalten. Es wird sich immer stärker zeigen, dass <strong>die</strong>se drei Formen<br />

des Vertrauens untrennbar <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander verbunden s<strong>in</strong>d.<br />

Jigme R<strong>in</strong>poche beschrieb das <strong>in</strong>spirierte Vertrauen als vergleichbar <strong>mit</strong> dem Erlebnis e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des,<br />

das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en wunderschönen Tempel tritt und <strong>mit</strong> offenem, staunendem Mund dasteht, gar nicht fassen<br />

kann, was da alles ist, aber total berührt ist. Es ist total berührt, <strong>in</strong>spiriert, versteht nichts von all dem,<br />

was da los ist, aber <strong>in</strong>nere Qualitäten kommen zum Schw<strong>in</strong>gen. Dieses <strong>in</strong> Schw<strong>in</strong>gung-Kommen der<br />

<strong>in</strong>neren Qualitäten ist <strong>mit</strong> Inspiration geme<strong>in</strong>t, und obwohl dort noch ke<strong>in</strong> Verständnis vorhanden ist,<br />

obwohl es auch noch gar nicht zu e<strong>in</strong>em klaren Streben kommt, kann man doch sagen, eigentlich ist<br />

alles schon da. Eigentlich ist alles schon angelegt, nur muss es jetzt noch freigelegt werden. Es muss<br />

noch se<strong>in</strong>en Weg der Integration f<strong>in</strong>den, es muss zu e<strong>in</strong>er vollen Präsenz kommen.<br />

Der Buddha hat <strong>die</strong>sen Faktor des Vertrauens an den ersten Platz <strong>in</strong> der Liste gestellt, weil Vertrauen –<br />

es gibt sogar Sutras, <strong>die</strong> nur davon handeln – vermutlich <strong>die</strong> wichtigste Qualität ist, <strong>die</strong> es auf dem<br />

Weg des Erwachens zu nutzen gilt. Vertrauen beendet Zweifel, weil Vertrauen zur Gewissheit führt.<br />

Gewissheit ist das Ende aller Zweifel, das Ende des Nicht-Wissens. Vertrauen ist das, was uns jeden<br />

Schritt gehen lässt. Vertrauen ist das, was das Streben unterstützt, Vertrauen bewirkt, dass wir an der<br />

Praxis dran bleiben und den Weg weiter gehen <strong>in</strong> Richtung auf <strong>die</strong>se Qualitäten. Wenn <strong>die</strong>ses<br />

Vertrauen verloren geht, dann geht unser spiritueller Weg verloren.<br />

Wenn das Vertrauen verloren geht, dann war doch ke<strong>in</strong>e Erkenntnis da, sonst kann ich mir nicht<br />

vorstellen, wie das Vertrauen verloren gehen kann. Ich dachte immer, <strong>die</strong>ses überzeugte Vertrauen<br />

kommt erst durch Erkenntnis zustande.<br />

Du hast völlig Recht. Diese dritte Form des Vertrauens entsteht durch direktes Erkennen, direktes Erleben<br />

und wird nicht mehr durch anderes <strong>in</strong> Frage zu stellen se<strong>in</strong>. Das kann e<strong>in</strong>em niemand mehr<br />

wegnehmen, egal was <strong>die</strong> äußeren Umstände s<strong>in</strong>d.<br />

Wie ist der Zusammenhang von Vertrauen und Praxis?<br />

Wenn wir <strong>in</strong>spiriert s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong>ses Streben auf bestimmte Qualitäten h<strong>in</strong> entwickeln, dann beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong><br />

Weg. Wir beg<strong>in</strong>nen uns auf <strong>die</strong>se Qualitäten auszurichten. Wenn es dann <strong>in</strong> dem Bereich, wo wir unser<br />

Vertrauen <strong>in</strong>vestieren, etwas gibt, das <strong>die</strong>ses Vertrauen stört, es blockiert, es zusammenbrechen<br />

lässt, dann schw<strong>in</strong>det auch im gleichen Maße unsere Kraft, <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung zu gehen. In dem Moment,<br />

wo das Vertrauen zusammenbricht, gibt es ke<strong>in</strong>en Weg mehr, der <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung geht. Es ist<br />

natürlich so, dass das Vertrauen nie vollständig zusammenbricht. Im Dharma gibt es immer Aspekte,<br />

wo wir uns sicher s<strong>in</strong>d – „Das zählt weiterh<strong>in</strong> für mich, darauf möchte ich mich weiterh<strong>in</strong> ausrichten.“<br />

Bei anderem, wo wir unser Vertrauen <strong>in</strong> Äußeres oder <strong>in</strong> Ideen, <strong>in</strong> Konzepte, <strong>in</strong> Strukturen, <strong>die</strong> nicht<br />

unserer un<strong>mit</strong>telbaren Erfahrung entspr<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong>vestiert haben, kann natürlich alles zusammenbrechen.<br />

Das hängt von anderen Faktoren ab, als nur der eigenen <strong>in</strong>neren Erfahrung, und wenn das zusammenbricht,<br />

dann gibt es ke<strong>in</strong>en Weg mehr, der sich darauf ausrichtet. Dann geht der Weg nur noch dort<br />

weiter, wo man immer noch Vertrauen hat. Man wird nur das praktizieren, sich nur dar<strong>in</strong> üben, wo<br />

man tatsächlich noch Vertrauen hat.<br />

48


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wir haben alle schon <strong>in</strong> verschiedensten Situationen erlebt, dass unser Vertrauen <strong>in</strong> Menschen erschüttert<br />

wurde, dass unser Vertrauen <strong>in</strong> Gruppen erschüttert wurde, <strong>in</strong> Institutionen, <strong>in</strong> Strukturen, <strong>in</strong><br />

Ideen, <strong>in</strong> Ideologien. Und wir haben jedes Mal versucht, heraus zu f<strong>in</strong>den, wo wir denn noch Vertrauen<br />

haben können, wo es wirklich S<strong>in</strong>n hat und verlässlich ist, Vertrauen zu <strong>in</strong>vestieren, worauf wir uns<br />

eigentlich wirklich ausrichten möchten.<br />

Man kann <strong>die</strong>sen Prozess als e<strong>in</strong> Suchen nach der Zuflucht beschreiben. Wir bemühen uns, im Leben<br />

herauszuf<strong>in</strong>den, was e<strong>in</strong>e verlässliche Zuflucht ist. Wo wir <strong>die</strong> Zuflucht f<strong>in</strong>den, dort s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Qualitäten,<br />

<strong>die</strong> uns <strong>in</strong>spirieren. Die Qualitäten, <strong>die</strong> uns <strong>in</strong>spirieren, und <strong>die</strong> Zuflucht s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>s. Wir haben auf<br />

unserem Lebensweg unverlässliche Zufluchten h<strong>in</strong>ter uns gelassen und s<strong>in</strong>d dabei, immer klarer<br />

darüber zu werden, was e<strong>in</strong>e verlässliche Ausrichtung im Leben ist. So s<strong>in</strong>d viele z.B. zum Schluss<br />

gekommen, dass man sich nicht auf Menschen ausrichten kann, <strong>die</strong> noch selber <strong>in</strong> Emotionen stecken<br />

– das ist ke<strong>in</strong>e verlässliche Ausrichtung. Es geht darum, sich auf <strong>die</strong> Qualitäten des Erwachens auszurichten,<br />

auf das Erwachen selbst, nicht auf <strong>die</strong> Menschen, <strong>die</strong> es mehr oder weniger klar, Vertrauen<br />

erweckend ver<strong>mit</strong>teln.<br />

So s<strong>in</strong>d wir also alle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Prozess, herauszuf<strong>in</strong>den was uns wirklich <strong>in</strong>spiriert, woh<strong>in</strong> wir tatsächlich<br />

gehen wollen und was wir verwirklichen wollen, wor<strong>in</strong> wir Gewissheit erlangen wollen. Wenn<br />

wir darauf klare Antworten haben, haben wir <strong>mit</strong> der Kraft des Vertrauens unsere Zuflucht def<strong>in</strong>iert.<br />

Deswegen steht <strong>die</strong>ser Faktor des Vertrauens an erster Stelle der Liste, weil es der Faktor Zuflucht ist,<br />

das, was eigentlich e<strong>in</strong>e aktive Zuflucht ausmacht.<br />

Wenn das Vertrauen, <strong>die</strong>se Gewissheit, e<strong>in</strong>mal erlangt ist, ist das dann e<strong>in</strong> fixes Vertrauen, entspricht<br />

es dann nicht e<strong>in</strong>em beg<strong>in</strong>nenden Tod?<br />

Diese Gewissheit, <strong>die</strong> da entsteht, ist ke<strong>in</strong>eswegs das Ende von Lebendigkeit, sondern ist so e<strong>in</strong>fach<br />

wie das Wissen darum, wie <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge funktionieren. Wenn ich weiß, wie ich Zement anmischen muss,<br />

dann stoppt mich das nicht dar<strong>in</strong>, immer wieder Zement anzumischen, sondern ich weiß es und niemand<br />

kann es mir ausreden. Jedes Wissen, jede Klarheit, jede Gewissheit, <strong>die</strong> wir f<strong>in</strong>den, ist nicht per<br />

se Ende von etwas, sondern gibt e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Klarheit, e<strong>in</strong>en Frieden. Und so ist es auch <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Gewissheit geme<strong>in</strong>t. Wenn ich euch <strong>die</strong> Frage stellen würde, wie eben gerade Christian: „Was me<strong>in</strong>st<br />

du: Ist wahre Liebe heilsam?“ Dann wäre <strong>die</strong> Antwort: „Na klar, selbstverständlich!“, weil wir das<br />

schon erfahren haben. Diese Gewissheit, dass Liebe heilsam ist, wird uns dann nicht davon abhalten,<br />

Liebe zu leben und zu teilen <strong>mit</strong> anderen, <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise. Sie macht es sogar noch leichter.<br />

Und so ist es auch <strong>mit</strong> dem spirituellen Weg. Da kann man vielleicht e<strong>in</strong>en Unterschied sehen zu Menschen,<br />

<strong>die</strong> sich als ewige Sucher beschreiben und es wie e<strong>in</strong>e Qualität h<strong>in</strong>stellen, dass <strong>die</strong> spirituelle<br />

Suche ewig weiter geht und dass es nur deswegen e<strong>in</strong> lebenswerter spiritueller Weg ist. Das stellen wir<br />

im Dharma anders dar. Im Dharma ist es tatsächlich so, dass man zu klarem, def<strong>in</strong>itivem Verständnis<br />

kommen kann, wo sich Frieden e<strong>in</strong>stellt, wo <strong>die</strong>se Suche zur Ruhe kommt. Wo wir nicht mehr unruhig<br />

auf der Suche s<strong>in</strong>d, sondern <strong>in</strong> völliger Gelassenheit, im klaren Wissen um <strong>die</strong> Natur der D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>fach<br />

im Austausch <strong>mit</strong> der Welt s<strong>in</strong>d, im Teilen, im Austauschen <strong>mit</strong> anderen. Das ist tatsächlich e<strong>in</strong><br />

Merkmal des buddhistischen Weges: Frieden stellt sich durch tiefe Se<strong>in</strong>serkenntnis e<strong>in</strong>.<br />

Von <strong>die</strong>ser Erfahrung, von <strong>die</strong>sem Frieden hat der Buddha gesprochen, als er vom Frieden, vom Erwachen,<br />

von bodhi gesprochen hat.<br />

Ist Vertrauen e<strong>in</strong> Geistesfaktor, der ständig anwesend ist oder ist er nur kurz e<strong>in</strong>mal da und dann nicht<br />

mehr?<br />

Normalerweise haben wir den E<strong>in</strong>druck, dass sich Vertrauen durch das Leben zieht so wie e<strong>in</strong>e Grundströmung<br />

im Leben – was auch se<strong>in</strong> mag. Aber gleichzeitig gibt es auch Vertrauen als etwas, das momentan,<br />

jetzt gerade im Geist vorhanden ist, was bedeutet, dass z.B. nicht gleichzeitig Zweifel vorhanden<br />

ist. Aber zu anderen Zeiten <strong>in</strong> unserem Leben, am selben Tag, sogar sehr kurz danach, kann<br />

wieder Zweifel auftauchen. Wenn Vertrauen da ist, gibt es ke<strong>in</strong>en Zweifel, wenn Zweifel da ist, gibt es<br />

ke<strong>in</strong> Vertrauen, <strong>die</strong>se beiden Geisteszustände schließen sich gegenseitig aus, sie s<strong>in</strong>d Gegenspieler.<br />

Man kann also <strong>die</strong>se Geistesaktivitäten als etwas sehen, was immer wieder auftaucht und sich entwickelt<br />

oder was e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Moment da ist und <strong>in</strong> dem Moment se<strong>in</strong>e Kraft entfaltet. Das sagt<br />

nichts darüber aus, was im nächsten Moment ist. Aber natürlich ermöglicht das Vorhandense<strong>in</strong> von<br />

49


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Vertrauen, dass im nächsten Geistesmoment e<strong>in</strong> anderer heilsamer Faktor auftaucht, weil Vertrauen<br />

<strong>die</strong> ideale Voraussetzung für weitere heilsame Geistesfaktoren ist.<br />

Man kann sagen, immer wenn Vertrauen im Geist auftaucht, erleichtert es <strong>die</strong> Präsenz von anderen<br />

heilsamen Geistesfaktoren <strong>in</strong> den nachfolgenden Momenten des Bewusstse<strong>in</strong>s.<br />

Es heißt im Text, dass Vertrauen das Streben unterstützt, also <strong>die</strong> Funktionen der <strong>in</strong>neren Ausrichtung<br />

auf etwas, das wir anstreben. Um den Weg zu gehen, der zum Angestrebten führt, brauchen wir den<br />

nächsten Faktor <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Liste, den zwölften <strong>in</strong>sgesamt: Gewissenhaftigkeit, Sorgfalt.<br />

12) Gewissenhaftigkeit<br />

ist, sich aufrichtig und achtsam <strong>in</strong> dem zu bemühen, was zu tun und zu lassen ist. Sie bewirkt<br />

das Verwirklichen von allem Vortrefflichen <strong>in</strong> Existenz [Samsara] und Frieden [Nirwana].<br />

Dieser Faktor br<strong>in</strong>gt unser Vertrauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Anwendung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Wir bemühen uns gewissenhaft, aufrichtig<br />

und achtsam <strong>in</strong> dem, was zu tun und zu lassen ist, d.h. <strong>in</strong> dem, was zu tun ist, um zum Erwachen<br />

zu gelangen und <strong>in</strong> dem, was zu unterlassen ist, weil es zu Leid führt.<br />

Anders ausgedrückt: Wir bemühen uns <strong>in</strong> dem, was zu tun ist, um Qualitäten, das Heilsame zu nähren<br />

und <strong>in</strong> dem, was zu unterlassen ist, weil es nicht heilsam ist, weil es Leid, Spannung, Schaden bewirkt.<br />

Basierend auf Vertrauen entwickeln wir also Gewissenhaftigkeit <strong>in</strong> der Ausführung. Gewissenhaftigkeit<br />

bedeutet, dass wir uns darum bemühen, ganz fe<strong>in</strong> h<strong>in</strong>zuspüren, was denn tatsächlich heilsam ist<br />

und was nicht heilsam ist, und dass wir versuchen herauszuf<strong>in</strong>den, was denn im S<strong>in</strong>ne des Erwachens<br />

<strong>die</strong>ser Qualitäten förderlich ist und was für das Erwachen <strong>die</strong>ser Qualitäten h<strong>in</strong>derlich ist.<br />

Ohne <strong>die</strong>se Gewissenhaftigkeit <strong>in</strong> der Ausführung werden wir nicht im Erwachen ankommen. Wir<br />

müssen dabei aufrichtig se<strong>in</strong>, d.h. wir müssen ganz klar h<strong>in</strong>schauen, uns nicht täuschen über das, was<br />

zu tun und zu lassen ist und es dann achtsam umsetzen.<br />

Wenn wir unser Leben anschauen, können wir sicher se<strong>in</strong>, dass wir Leid erzeugende, Stress und Spannung<br />

erzeugende Verhaltensweisen, Denkweisen bemerken werden. Da müssen wir aufrichtig <strong>mit</strong> uns<br />

se<strong>in</strong> und wirklich entschlossen se<strong>in</strong>, nicht mehr so weiter zu funktionieren und auch daran arbeiten,<br />

nicht weiter so zu denken, zu sprechen und zu handeln. Das ist <strong>die</strong>se Gewissenhaftigkeit, es ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres<br />

Wissen um das, was heilsam ist, was aber erst noch entwickelt werden muss. Wir müssen e<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong>neren Kompass entwickeln, der uns ermöglicht, den Weg zu f<strong>in</strong>den. Der Kompass richtet sich<br />

natürlich auf das, wor<strong>in</strong> wir Vertrauen haben, das ist der vorherige Faktor. Der bestimmt, <strong>in</strong> welche<br />

Richtung wir gehen wollen. Wir müssen immer wieder schauen, ob denn <strong>die</strong> Richtung, <strong>die</strong> wir<br />

e<strong>in</strong>schlagen, wirklich dazu führt, ob sie wirklich näher an das heranführt, woh<strong>in</strong> wir wollen.<br />

Das Umsetzen dessen, was uns unser immer fe<strong>in</strong>er werdender Kompass sagt, ist das Anwenden <strong>die</strong>ser<br />

Gewissenhaftigkeit.<br />

Wenn wir <strong>die</strong>sen Kompass e<strong>in</strong>setzen, dann werden wir alles Vortreffliche, Heilsame <strong>in</strong> der Existenz –<br />

im samsarischen Se<strong>in</strong> – verwirklichen und darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> den Frieden – was jenseits von Samsara<br />

ist – h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>f<strong>in</strong>den.<br />

In <strong>die</strong>sem Streben nach dem Erwachen ist der erste Schritt zu verstehen, dass sich Erwachen oder das<br />

eigentliche wahre Glück nicht auf Leid aufbauen lässt. Wir verstehen, dass wir <strong>in</strong> unserem Streben<br />

nach Glück Handlungen unterlassen müssen, <strong>die</strong> für uns und andere Leid erzeugen. Zunächst haben<br />

wir vielleicht noch gedacht, dass wir irgendwie da<strong>mit</strong> durchkämen, dass es für andere Leid gibt, aber<br />

für uns Glück. Jetzt aber verstehen wir, dass das nicht geht.<br />

Das ist auch der Maßstab: Alle Handlungen, <strong>die</strong> Spannungen erzeugen, <strong>die</strong> Stress für uns selbst und<br />

für andere erzeugen, <strong>die</strong>se Handlungen unterlassen wir – langfristig. Kurzfristig kann ruhig e<strong>in</strong>mal<br />

Anspannung da se<strong>in</strong> – ke<strong>in</strong> Problem, aber langfristig s<strong>in</strong>d das <strong>die</strong> Handlungen, <strong>die</strong> wir unterlassen.<br />

Und das, was für alle heilsam ist, was alle öffnet, was <strong>die</strong> erwachten Qualitäten <strong>in</strong> allen fördert, das<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Handlungen, <strong>die</strong> wir ausführen.<br />

50


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Genau das ist es, was unsere Kompassnadel dann jeweils zum Ausschlagen br<strong>in</strong>gt. Wenn wir das tun,<br />

machen wir das natürlich zunächst e<strong>in</strong>mal <strong>mit</strong> unserem ich-bezogenen Geist. Wir s<strong>in</strong>d zwar noch <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em dualistischen Bewusstse<strong>in</strong>, es kommt dadurch aber zu e<strong>in</strong>er enormen Verbesserung <strong>in</strong> unserer<br />

samsarischen Existenz – samsarisch nennt man <strong>die</strong> Welt der Ich-Bezogenheit. Wir s<strong>in</strong>d noch ich-bezogen,<br />

aber es wird schon besser, wir verwirklichen alles, was vortrefflich ist <strong>in</strong> dem, was man Samsara<br />

nennt, samsarisches Glück. Wir können natürlich dann aus <strong>die</strong>sem Bereich des dualistischen Bewusstse<strong>in</strong>s<br />

heraus weiter gehen <strong>in</strong> den Bereich wahrer Verwirklichung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> den non-dualen Bereich,<br />

frei von Ich-Bezogenheit.<br />

Um <strong>in</strong> den Frieden Nirwanas, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Frieden des Herzens e<strong>in</strong>treten zu können, müssen wir herausf<strong>in</strong>den,<br />

was denn <strong>die</strong> Denkweisen und Verhaltensweisen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> immer wieder <strong>die</strong>se dualistische<br />

Spannung im Geist erzeugen. Wir lernen, auch <strong>die</strong>se Denk- und Verhaltensweisen aufzugeben und<br />

Weisen des Se<strong>in</strong>s zu ermöglichen – vielleicht kann man auch sagen zu kultivieren –, <strong>die</strong> es zu <strong>die</strong>ser<br />

völligen Offenheit kommen lassen, <strong>die</strong> wir das non-duale Bewusstse<strong>in</strong> nennen, Nirwana oder Frieden.<br />

Dieses wirklich <strong>in</strong> den Frieden des Herzens H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>f<strong>in</strong>den bedeutet das Ende aller Aufgewühltheit.<br />

Bei all <strong>die</strong>sen Schritten ist <strong>die</strong> Sorgfalt, <strong>die</strong>se Gewissenhaftigkeit beim H<strong>in</strong>schauen und Ausführen der<br />

entsprechenden Handlungen, der entscheidende Faktor. Das ist es, was den Weg weiter fortsetzt.<br />

Fragen:<br />

Den <strong>in</strong>neren Kompass justieren<br />

Wie können wir denn unsere Kompassnadel, was das weltliche Glück angeht, noch besser e<strong>in</strong>stellen?<br />

Man nennt da so manches weltliches Glück, wie z.B. e<strong>in</strong>e Flasche We<strong>in</strong> zu tr<strong>in</strong>ken oder gar Drogen zu<br />

nehmen. Man nennt so vieles Glück, was vielleicht gar nicht Glück ist. Wie können wir den Kompass<br />

besser justieren?<br />

Dieses E<strong>in</strong>stellen des Kompasses geht über <strong>die</strong> eigene Lebenserfahrung. Wir merken doch schnell,<br />

dass das Tr<strong>in</strong>ken e<strong>in</strong>es guten Roten oder e<strong>in</strong>es Whiskeys nur für sehr kurze Zeit Glück br<strong>in</strong>gt, e<strong>in</strong>e<br />

sehr kurze Offenheit, gerade so lange wie es dauert, bis der Geist sich zuzieht. Meistens ist am nächsten<br />

Morgen nicht mehr viel von <strong>die</strong>ser Offenheit, von <strong>die</strong>ser kurzen Entspannung, <strong>die</strong> wir da erlebt<br />

haben, zu f<strong>in</strong>den. So geht es <strong>mit</strong> allen D<strong>in</strong>gen.<br />

Was hier weltliches Glück genannt wird, s<strong>in</strong>d eigentlich <strong>die</strong> wirklich anstrebenswerten Zustände <strong>in</strong>neren<br />

Friedens, <strong>in</strong>nerer Ausgeglichenheit, von Freude, Liebe, Mitgefühl, von meditativer Versenkung –<br />

all das, was e<strong>in</strong> Praktizierender, e<strong>in</strong> Mensch dessen Herz, dessen Geist sich öffnet, auf dem Weg erlebt,<br />

solange er noch nicht verwirklicht ist. All das wird hier weltliches Glück genannt. Da gehören all<br />

<strong>die</strong> Erfahrungen h<strong>in</strong>zu, <strong>die</strong> wir im Bereich von Geistesruhe – sh<strong>in</strong>e oder samatha – machen. Da gehören<br />

<strong>die</strong> Erfahrungen h<strong>in</strong>zu, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong> der Welt aufgrund von sehr gutem Karma, von sehr heilsamen<br />

Handlungen der Vergangenheit, <strong>die</strong> jetzt ihre Früchte zeigen, machen. Da gehören Qualitäten h<strong>in</strong>zu<br />

wie Liebe, Mitgefühl, Freigebigkeit, Geduld usw., <strong>die</strong> erlebt und praktiziert werden, aber noch <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>em ich-bezogenen Geist. Das ist das, was den weltlichen Qualitäten quasi e<strong>in</strong>en Rahmen gibt. Es<br />

s<strong>in</strong>d all <strong>die</strong> wunderbaren Geisteszustände, <strong>die</strong> man erfahren kann, <strong>die</strong> noch <strong>mit</strong> Ich-Bezogenheit verbunden<br />

s<strong>in</strong>d. Und wenn es ke<strong>in</strong>e Ich-Bezogenheit mehr gibt, so s<strong>in</strong>d das dann <strong>die</strong> erwachten Qualitäten<br />

– <strong>die</strong>selben Qualitäten, um <strong>die</strong> es vorher g<strong>in</strong>g, aber völlig frei von aller Ich-Bezogenheit.<br />

Wir sprechen also von Freuden und von Glück <strong>in</strong> der Welt und von der großen Freude, dem wahren<br />

Glück jenseits der Welt, was bedeutet jenseits von Ich-Bezogenheit.<br />

Indikatoren für hilfreiches, heilsames Handeln<br />

Ich würde gerne noch genauer verstehen, welche Indikatoren uns denn zeigen können, welche Handlungen<br />

tatsächlich hilfreich s<strong>in</strong>d?<br />

Dar<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den wir uns alle wieder. Wir s<strong>in</strong>d alle <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Mischung von ich-bezogenen Impulsen und<br />

dem Wunsch, tatsächlich Bodhicitta zu praktizieren, also zum Wohle aller zu wirken. Deswegen sitzen<br />

51


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

wir hier. Wenn wir handeln, müssen wir uns <strong>die</strong>ser Mischung bewusst se<strong>in</strong>, d.h. wir dürfen uns nichts<br />

vormachen, nicht denken wir wären nur schlecht oder nur gut, wir würden z.B. jemandem aus re<strong>in</strong>em<br />

Bodhicitta helfen und s<strong>in</strong>d dann erstaunt, dass es nicht recht ankommt. Da haben wir nicht gemerkt,<br />

dass wir <strong>in</strong> unserem Helfen voll von ich-bezogenen Impulsen waren und dass das natürlich auch se<strong>in</strong>e<br />

Auswirkungen hat. Wenn wir jemandem etwas schenken voller Erwartungen etwas zurück zu bekommen,<br />

dann ist das für denjenigen, der es erhält, ke<strong>in</strong>e Quelle von Glück und auch nicht für uns.<br />

Das zeigt uns unsere Lebenserfahrung, und so verfe<strong>in</strong>ern wir unseren <strong>in</strong>neren Kompass. Wir s<strong>in</strong>d uns<br />

zu Beg<strong>in</strong>n der Handlung unserer Motivation und <strong>die</strong>ser Mischung voll bewusst. Wir s<strong>in</strong>d bewusst<br />

während wir <strong>die</strong> Handlung ausführen, und wenn <strong>die</strong> Handlung abgeschlossen ist, nehmen wir uns Zeit<br />

zu schauen, was sie denn tatsächlich für Auswirkungen gehabt hat. Das hilft uns beim nächsten Mal,<br />

wenn e<strong>in</strong>e ähnliche Situation auftaucht, weiser zu handeln und sich z.B. erst e<strong>in</strong>mal Zeit zu nehmen<br />

<strong>die</strong> Motivation zu klären, <strong>die</strong> ich-bezogenen Impulse etwas zur Ruhe kommen zu lassen. Wir schauen<br />

aufrichtig, wo wir uns dabei um uns selbst kümmern, was <strong>die</strong> Notwendigkeit für <strong>die</strong> anderen ist, wie<br />

man das vielleicht sogar vere<strong>in</strong>baren kann. Wir werden weiser, aufrichtiger, weiser und sorgfältiger im<br />

Umsetzten dessen, was wir da erkannt haben.<br />

Das wichtigste Mittel, um <strong>die</strong>se Klärung zu bewirken, ist Meditation. Meditation bedeutet ja e<strong>in</strong> Raum<br />

des Nichtstuns, wo wir nicht unter Zugzwang stehen, wo wir e<strong>in</strong>fach nur se<strong>in</strong> können, beobachten und<br />

h<strong>in</strong>fühlen können, das Ganze sich setzen zu lassen. Es ist ganz wichtig, solche Räume zu haben.<br />

Tr<strong>in</strong>ken von Alkohol – schlechtes Gewissen<br />

Ich komme noch e<strong>in</strong>mal auf das Tr<strong>in</strong>ken von Alkohol zu sprechen. Du hast vorh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Beispiel vom<br />

exzessiven Tr<strong>in</strong>ken gebracht. Aber ich tr<strong>in</strong>ke jeden Abend zwei Gläser guten Rotwe<strong>in</strong> zusammen <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>er guten Mahlzeit und ich genieße den We<strong>in</strong>, ich kann auch dank des We<strong>in</strong>es gut schlafen. Gestern<br />

habe ich versucht nicht zu tr<strong>in</strong>ken, weil ich sonst e<strong>in</strong> schlechtes Gewissen gehabt hätte. Aber immer,<br />

wenn ich versuche, e<strong>in</strong> guter Buddhist zu se<strong>in</strong>, dann verklemmt sich alles <strong>in</strong> mir. Ich fühle mich speziell<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schwierigen Situation, wenn ich dann von anderen Menschen – von e<strong>in</strong>em Dharmalehrer<br />

– höre, dass es vielleicht nicht gut wäre, Alkohol zu tr<strong>in</strong>ken. Ich werde dann unsicher und bekomme<br />

Schuldgefühle.<br />

Du vertrittst da<strong>mit</strong> den Großteil der Franzosen, <strong>die</strong> gerne ihren täglichen Roten tr<strong>in</strong>ken und du hast<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich auch mehr als <strong>die</strong> Hälfte der französischen Ärzte h<strong>in</strong>ter dir. Egal, was man sonst über<br />

<strong>die</strong> Auswirkungen des Alkohols weiß, der Rotwe<strong>in</strong> wird vertreten. –<br />

Es geht nicht darum, den eigenen Kompass nach den Me<strong>in</strong>ungen anderer auszurichten, sondern selber<br />

zu spüren, was denn tatsächlich gut tut und da e<strong>in</strong>fach so genau wie es geht h<strong>in</strong>zuspüren. Und du sagst<br />

ja, dass es dir tatsächlich gut tut um dich zu entspannen, und dass du im E<strong>in</strong>klang <strong>mit</strong> de<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren<br />

Kompass bist. Das können wir immer so halten. Wir nehmen das, was uns andere vorschlagen oder<br />

sagen – auch Dharmalehrer – als e<strong>in</strong>e Möglichkeit, unseren Kompass noch e<strong>in</strong>mal zu überprüfen. Wir<br />

schauen, und dann müssen wir selbst entscheiden, was wir tun und was wir lassen. Es geht nicht<br />

anders. Wir können nicht das Lebensprogramm von anderen leben.<br />

Die Spielregel dabei ist e<strong>in</strong>fach. Wir müssen uns darüber klar se<strong>in</strong>, dass wir selbst <strong>die</strong> Früchte unserer<br />

Handlungen ernten werden und Verantwortung dafür übernehmen, was wir tun und was wir lassen.<br />

Schädliches Verhalten um eigenen Nutzen daraus zu ziehen<br />

Wenn ich e<strong>in</strong> Verhalten pflege, das anderen oder eventuell sogar mir vorübergehend e<strong>in</strong>en gewissen<br />

Schaden zufügt, so tue ich das aller Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit nach, weil ich doch e<strong>in</strong>en Nutzen daraus ziehe.<br />

Ich ziehe also e<strong>in</strong>en Nutzen daraus, wie ich mich verhalte. Was wird mich denn dann bewegen, <strong>die</strong>ses<br />

Verhalten zu ändern? Ich müsste dann ja me<strong>in</strong>en eigenen Nutzen aufgeben.<br />

Diesen persönlichen Nutzen werden wir erst aufgeben – und nur dann –, wenn wir sehen, dass es sich<br />

gar nicht um den wahren erstrebten Nutzen handelt, den wir im Leben anstreben. Ich nehme e<strong>in</strong> etwas<br />

grobes Beispiel: Wir können recht glücklich se<strong>in</strong> und recht wohlhabend werden, weil wir andere betrü-<br />

52


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

gen, weil wir unseren Profit auf dem Rücken anderer machen. Dieses Profitstreben wird uns ganz normal<br />

vorkommen, wir leben da<strong>mit</strong>, es funktioniert gut.<br />

Erst wenn wir durch fe<strong>in</strong>eres Gewahrse<strong>in</strong> merken, dass wir uns selbst <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Profitstreben verheddern;<br />

dass unser Denken immer auf den persönlichen Vorteil ausgerichtet ist; dass wir gar nicht entspannen<br />

können; dass wir anderen gar nicht mehr offen und ehrlich begegnen können; dass wir immer<br />

etwas zu verheimlichen haben. Erst wenn wir all das bemerken, wird es dazu kommen, dass wir motiviert<br />

s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong>se Art des Handelns aufzugeben. Es braucht e<strong>in</strong>e ganze Menge an E<strong>in</strong>sicht, an fe<strong>in</strong>er<br />

Wahrnehmung, um solche e<strong>in</strong>geschliffenen Muster der Ich-Bezogenheit aufzugeben. Solange wir<br />

nicht bemerken, was wirklich los ist, haben wir immer noch das Gefühl: „Das ist der beste Weg für<br />

mich, um glücklich zu se<strong>in</strong>.“<br />

Erst wenn wir <strong>die</strong> Grenzen <strong>die</strong>ses Verhaltens entdecken, all <strong>die</strong> Begleitersche<strong>in</strong>ungen, <strong>die</strong> Spannungen,<br />

<strong>die</strong> da<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>hergehen, s<strong>in</strong>d wir wirklich motiviert es aufzugeben. Solange wir das nicht s<strong>in</strong>d,<br />

werden wir weiterh<strong>in</strong> so handeln, selbst wenn wir von außen sogar bestraft werden und gewisse E<strong>in</strong>schränkungen<br />

<strong>in</strong> Kauf nehmen müssen. Wir haben dadurch verme<strong>in</strong>tlich e<strong>in</strong>en so großen <strong>in</strong>neren,<br />

emotionalen, affektiven Gew<strong>in</strong>n, dass wir weiter machen, weil wir noch nicht klarer geworden s<strong>in</strong>d.<br />

Wir haben noch nicht genauer h<strong>in</strong>geschaut.<br />

Deswegen werden wir auch alle <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er guten Dosis Ich-Bezogenheit weiter funktionieren, weil wir<br />

noch gar nicht gesehen haben, <strong>in</strong> welchem Ausmaß das Spannungen <strong>in</strong> unserm Geist erzeugt und zum<br />

Leiden von uns selbst und von anderen beiträgt. In dem Maße, <strong>mit</strong> dem wir das mehr und mehr sehen,<br />

werden wir motiviert se<strong>in</strong>, das loszulassen.<br />

Ist es dann tatsächlich so, dass man erst unzufrieden se<strong>in</strong> muss, dass man erst e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Leere erfahren<br />

muss, dass <strong>die</strong> bisherigen Muster nicht wirklich glücklich machen, bevor man sich ändert?<br />

Ja, normalerweise braucht es e<strong>in</strong>e klare Erfahrung von Unzufriedenheit, um sich zu ändern. Es ist selten,<br />

dass Menschen sich e<strong>in</strong>fach aus Mitgefühl ändern. Der Buddha nannte das <strong>die</strong> Erfahrung von<br />

dukkha, <strong>die</strong> Erfahrung von Leid oder Nicht-befriedigt-Se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> uns zu Veränderung antreibt.<br />

E<strong>in</strong>ordnung des Gleichgewichts-S<strong>in</strong>nes<br />

Die fünf S<strong>in</strong>ne gibt es ja auch im klassischen europäischen Denken, nur gibt es da e<strong>in</strong> paar mehr als<br />

nur <strong>die</strong> fünf. Die Körperempf<strong>in</strong>dungen kann man ja unterscheiden <strong>in</strong> Tastempf<strong>in</strong>dung, Berührung,<br />

Temperatur, Schmerz und alles Mögliche. Das kann ich alles <strong>in</strong> <strong>die</strong> Körperempf<strong>in</strong>dungen reihen, aber<br />

wo br<strong>in</strong>ge ich den Gleichgewichtss<strong>in</strong>n unter?<br />

Er gehört auch zu den Körperempf<strong>in</strong>dungen. Ich b<strong>in</strong> mir nicht sicher, ob <strong>die</strong> Asiaten das Organ für den<br />

Gleichgewichtss<strong>in</strong>n im Ohr angesiedelt haben, aber er wird beschrieben als <strong>die</strong> Fähigkeit, <strong>die</strong> eigene<br />

Körperhaltung wahrzunehmen.<br />

Gibt es e<strong>in</strong>en Zeits<strong>in</strong>n?<br />

Solange wir <strong>in</strong> der dualistischen Wahrnehmung funktionieren, vergleichen wir Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft. Wenn wir im nondualen Gewahrse<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d, gibt es ke<strong>in</strong>e Zeit, wobei aber beides<br />

dem Geistes-S<strong>in</strong>n zugeordnet wird, das ist mentales Empf<strong>in</strong>den.<br />

Unterschied zwischen Konzepten der 11. Ergebnisform und dem 3. Skandha<br />

Es gibt beim Skandha der Formen <strong>die</strong>sen elften Faktor der Geistesobjekte. Wo ist der Unterschied zu<br />

all dem, was wir im dritten Skandha besprochen haben – Merkmale zur Unterscheidung, Konzepte. Du<br />

hattest auch da von mentalen Objekten wie Altruismus, Kommunismus usw. gesprochen. Wo ist da genau<br />

der Unterschied.<br />

Es ist ke<strong>in</strong> Unterschied. Im ersten Aggregat s<strong>in</strong>d wir mehr beschäftigt <strong>mit</strong> dem Objekt, <strong>mit</strong> dem Wahrgenommenen,<br />

und im dritten Aggregat <strong>mit</strong> dem Prozess des Wahrnehmens und Unterscheidens. Das<br />

ist der e<strong>in</strong>zige Unterschied. Das e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Formen, <strong>die</strong> wahrgenommen werden, alles Wahrnehmbare,<br />

und dann geht es <strong>in</strong>s Empf<strong>in</strong>den, Unterscheiden, Gestalten, das s<strong>in</strong>d dann <strong>die</strong> Aktivitäten des<br />

Geistes.<br />

53


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wenn wir von Empf<strong>in</strong>dungen wie angenehm, unangenehm und neutral und all den Unterscheidungen<br />

– dem 3. Skandha – sprechen, so s<strong>in</strong>d das so was wie Zutaten zu dem, was durch den Prozess des<br />

Unterscheidens, des Bewertens und dann des Gestaltens wahrgenommen wird. Es kommen immer<br />

mehr Prozesse h<strong>in</strong>zu.<br />

Zum Bild des Holzhaufens<br />

Wenn ich dann zu <strong>die</strong>sem Bild des Holzhaufens, von dem der Begriff Skandha kommt, zurückgehe, ist<br />

es dann so, dass wir uns aus dem Holzhaufen e<strong>in</strong> Stück Holz herausgreifen und <strong>die</strong> folgenden<br />

<strong>Skandhas</strong> sich eigentlich aus der genaueren Betrachtung <strong>die</strong>ses beliebigen Holzstückes entwickeln,<br />

oder s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> gleichwertig <strong>mit</strong> dem ganzen Holzstück?<br />

Der Buddha wollte anhand <strong>die</strong>ses Bildes zeigen, dass <strong>die</strong> Gesamtheit des Holzstoßes aus der Entfernung<br />

als E<strong>in</strong>heit wahrgenommen wird und dass all <strong>die</strong> vielen Aspekte – <strong>die</strong> Holzscheite – bei näherem<br />

H<strong>in</strong>schauen dann <strong>die</strong>sen Holzstoß ausmachen, der sich dadurch als e<strong>in</strong> Konstrukt entpuppt. Den Holzstoß<br />

als solchen gibt es gar nicht. Und dann gibt es <strong>die</strong> Holzscheite, auch <strong>die</strong> s<strong>in</strong>d wiederum zusammengesetzt,<br />

sie s<strong>in</strong>d auch Aggregate. Man könnte also sagen, dass der Holzhaufen zum<strong>in</strong>dest aus fünf<br />

Scheiten zusammengesetzt ist, <strong>die</strong> dann weiter unterschieden werden, aber dem Buddha kam es nicht<br />

darauf an. Ich b<strong>in</strong> überzeugt, dass man auch andere Klassifikationen als <strong>die</strong>se fünf hätte wählen<br />

können. Es braucht e<strong>in</strong> Beschreiben der Vielfältigkeit des Erlebens, wobei <strong>die</strong>se Vielfältigkeit dann<br />

eigentlich das ausmacht, was wir normalerweise Individuum nennen. Es geht darum, dass es nichts<br />

Konstantes gibt, nichts Gleichbleibendes.<br />

Kann man Buddhist se<strong>in</strong>, auch wenn man nicht praktiziert?<br />

Ja, man ist e<strong>in</strong>fach Buddhist aufgrund dessen, dass man <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unterweisungen des Buddha Vertrauen<br />

hat. Man braucht auch nicht unbed<strong>in</strong>gt auf dem Kissen zu sitzen, es reicht, dass wir <strong>die</strong> Unterweisungen<br />

im Herzen bewegen und wach halten. Das macht uns zu Dharma-Praktizierenden.<br />

Der <strong>in</strong>nere Kompass – Ratschläge der Meister<br />

Könntest du bitte noch e<strong>in</strong>mal über das E<strong>in</strong>stellen des <strong>in</strong>neren Kompass’ sprechen? Ich hab mir von<br />

Anfang an angewöhnt, das zu tun, was <strong>die</strong> Lehrer sagen. Welchen Rat kannst du dazu geben?<br />

Dazu gibt es e<strong>in</strong>e Grundregel: Wenn man sich auf e<strong>in</strong>en Lehrer ganz e<strong>in</strong>lässt – das gilt für e<strong>in</strong>en<br />

Vajra-Meister, e<strong>in</strong>en sehr weisen Menschen, den man auch getestet hat –, dann kann man ihm zwei<br />

Mal widersprechen. Wenn er beim dritten Mal immer noch darauf besteht, dann sollte man nachgeben.<br />

Wenn du <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Prozess sagst: „Ne<strong>in</strong>! Kann ich nicht, mag ich nicht, versteh ich nicht! Will ich<br />

nicht!“, dann folgst du de<strong>in</strong>em Kompass. Die Lehrer wünschen sich, dass du ausdrückst, was du im<br />

Herzen hast, dass du nicht e<strong>in</strong>fach nur tust, was gesagt wird, sondern dass da e<strong>in</strong>e Rückmeldung<br />

kommt. In den meisten Fällen wird dann <strong>die</strong> Instruktion an de<strong>in</strong>e Situation angepasst und lautet dann<br />

schon anders. Vermutlich ist nach dem ersten Mal, wo du E<strong>in</strong>spruch e<strong>in</strong>legst, <strong>die</strong> Instruktion schon so,<br />

dass du sehr viel mehr da<strong>mit</strong> anfangen kannst, weil es nur den Austausch gebraucht hat.<br />

Der erste Prozess ist also h<strong>in</strong>zuhören: „Stimmt das <strong>mit</strong> mir übere<strong>in</strong>? B<strong>in</strong> ich <strong>in</strong> völligem E<strong>in</strong>klang <strong>mit</strong><br />

dem, was mir da vorgeschlagen wird oder s<strong>in</strong>d da unklare Fragen?“ Und dann klärt man <strong>die</strong> Unklarheiten.<br />

Wenn du dann immer noch Zweifel hast, dann sagst du es noch e<strong>in</strong>mal: „Es stimmt immer noch nicht!<br />

Das geht so nicht für mich!“ Und dann hat der Lehrer e<strong>in</strong> zweites Mal <strong>die</strong> Gelegenheit, auf de<strong>in</strong>e Bedenken<br />

und Schwierigkeiten e<strong>in</strong>zugehen, es kommt zu e<strong>in</strong>er noch fe<strong>in</strong>eren Anpassung.<br />

Danach darfst du immer noch sagen, dass du Schwierigkeiten hast, und dann wird er unter Umständen<br />

se<strong>in</strong>e letzte Karte ziehen und sagen: „Mach es aber jetzt so!“, ohne es weiter anzupassen oder er passt<br />

es noch e<strong>in</strong> drittes Mal an. Und dann kann man sagen: „Mach ich!“ oder „Mach ich nicht!“ Das darf<br />

man sagen, auch beim dritten Mal. Aber das ist dann schon <strong>in</strong>tensiv, weil ja e<strong>in</strong> Austausch stattgefunden<br />

hat. Man muss sich überlegen, ob man fähig ist, <strong>die</strong> Situation richtig e<strong>in</strong>zuschätzen. Es ist ziemlich<br />

<strong>in</strong>tensiv, wenn man ne<strong>in</strong> sagt.<br />

54


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wenn e<strong>in</strong> Vajra-Meister zum dritten Mal <strong>die</strong>selbe Instruktion gibt, dann ist er sich sicher, dann hat er<br />

drei Mal geschaut und ist sich sicher. Wir haben ja den Wunsch, <strong>in</strong> <strong>die</strong> erwachte Dimension e<strong>in</strong>zutreten,<br />

und <strong>in</strong> dem Fall ist es normalerweise schon geraten, das dann auch auszuprobieren.<br />

Ich war <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>er Situation <strong>mit</strong> der Übersetzung des ‚Kostbaren Schmuckes der Befreiung’, wo ich<br />

zwei Mal gesagt habe: „Ne<strong>in</strong>, das geht nicht, das kann ich nicht, es ist jenseits me<strong>in</strong>er Möglichkeiten!“<br />

Gendün R<strong>in</strong>poche hat nicht e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>en Auftrag angepasst. Er hat drei Mal dasselbe wiederholt.<br />

Beim dritten Mal habe ich dann zugestimmt und das war e<strong>in</strong>e riesige Lern-Erfahrung. Es war dann<br />

wunderbar, <strong>mit</strong> dem Segen des Lamas e<strong>in</strong>e so schwierige Aufgabe anzugehen.<br />

Da ich jetzt <strong>die</strong> Beziehung zum Vajra-Meister angesprochen habe, muss ich auch sagen, dass bei allen<br />

anderen Dharmalehrern, Khenpos und dergleichen ke<strong>in</strong>erlei Verpflichtung besteht, so zu tun, wie sie<br />

sagen. Es ist e<strong>in</strong>e sehr spezielle Beziehung zu e<strong>in</strong>em Vajra-Meister, den ich vorher getestet habe. Es<br />

kann Jahre dauern, bis ich e<strong>in</strong>en Vajra-Meister als me<strong>in</strong>en Wurzellama annehme und so praktiziere.<br />

Alle anderen s<strong>in</strong>d spirituelle Freunde, sie geben mir Rat. Sie kennen den Dharma gut und ich habe<br />

tiefen Respekt für sie. Ich respektiere <strong>die</strong>s als Rat e<strong>in</strong>es wirklich guten Freundes, werde <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Rat <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Herz gehen und me<strong>in</strong>en Kompass da<strong>mit</strong> abgleichen. Ich werde schauen, was das <strong>mit</strong> mir<br />

macht. Dabei kann ich immer wieder nachfragen und sie geben immer wieder Rat als gute spirituelle<br />

Freunde.<br />

Im tibetischen Buddhismus hat e<strong>in</strong>e Vermischung stattgefunden. Der Begriff des Vajra-Meisters wurde<br />

übertragen auf spirituelle Freunde, <strong>die</strong> nicht unsere Vajra-Meister und Wurzellamas s<strong>in</strong>d. Das was<br />

über <strong>die</strong> Beziehung zum Wurzellama gesagt wurde, der e<strong>in</strong> Vajra-Meister ist, wurde plötzlich angewendet<br />

auf alle, <strong>die</strong> Lamas heißen, weil <strong>in</strong> den Texten von Lamas gesprochen wird. Da<strong>mit</strong> ist der<br />

Vajra-Meister geme<strong>in</strong>t, und <strong>die</strong>se Vermischung müssen wir absolut beenden, das muss vorbei se<strong>in</strong>.<br />

Diese Vermischung ist sehr gefährlich, sie führt dazu, dass man Schuldgefühle hat, wenn man dem gut<br />

geme<strong>in</strong>ten Rat e<strong>in</strong>es geschätzten Dharmalehrers nicht folgt, weil man anderer Anschauung ist. Andere<br />

kritisieren e<strong>in</strong>en, wenn man anderer Ansicht ist und es anders im Herzen fühlt. Das war alles nicht<br />

S<strong>in</strong>n der Sache. Beim Wurzellama geht es um <strong>die</strong> Beziehung zu e<strong>in</strong>em Menschen, <strong>in</strong> den man außerordentliches<br />

Vertrauen hat, den man getestet hat und der außerdem e<strong>in</strong> verwirklichter Vajrameister ist.<br />

Das muss klar se<strong>in</strong>, alles andere s<strong>in</strong>d weitere Gelegenheiten, unseren Kompass zu schärfen.<br />

Das gilt auch für Lamas, <strong>die</strong> den Titel ‚R<strong>in</strong>poche’ tragen. Nur weil jemand e<strong>in</strong>en Titel hat, hat er nicht<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit, e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> unser Leben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu wirken, und wir dürfen auch nicht denken, dass das<br />

von ihrer Seite aus so geme<strong>in</strong>t wäre. Sie geben uns e<strong>in</strong>en Rat und gehen auch gar nicht davon aus, dass<br />

wir den zu Hundert Prozent annehmen und denken, das wäre dann unsere Geschichte. Sie gehen<br />

meistens davon aus, dass wir noch da<strong>mit</strong> arbeiten, dass wir <strong>in</strong>nerlich noch <strong>die</strong>se Kompass-Arbeit<br />

machen.<br />

Wurzellama – Vajrameister<br />

Was genau macht den Wurzellama aus?<br />

Wir brauchen gar ke<strong>in</strong>en Wurzellama. Den Wurzellama brauchen wir erst, wenn wir anfangen, <strong>in</strong>tensiv<br />

Vajrayana zu praktizieren. Wenn wir <strong>in</strong>tensiv Yidam-Praktiken ausführen, brauchen wir e<strong>in</strong>e klare<br />

Ausrichtung auf e<strong>in</strong>en Vajrameister.<br />

Auch das ist e<strong>in</strong>e Inflation <strong>die</strong>ses Begriffes, von der du vielleicht gar nichts <strong>mit</strong>bekommen hast: In tibetischen<br />

Kreisen me<strong>in</strong>t jeder, er bräuchte e<strong>in</strong>en Wurzellama. Das ist gar nicht notwendig, man hat<br />

Lamas, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>em Rat geben und das reicht aus. Der geme<strong>in</strong>same Wurzellama, der alle anderen vertritt<br />

oder <strong>in</strong> sich vere<strong>in</strong>t, wird Vajradhara oder Dorje Tschang genannt. Er ist <strong>die</strong> Essenz des Erwachens, es<br />

ist ke<strong>in</strong>e Person.<br />

Den Wurzellama entdeckt man erst nach Jahren e<strong>in</strong>er vertrauensvollen Beziehung zu e<strong>in</strong>em Vajrameister,<br />

wo man aufgrund des Herzenskontaktes e<strong>in</strong> solch klares Vertrauen spürt, dass man <strong>die</strong>se<br />

<strong>in</strong>tensive Beziehung <strong>mit</strong> dem Vajrameister e<strong>in</strong>geht. Das gilt wirklich nur für <strong>die</strong>, <strong>die</strong> den Vajrayana<br />

<strong>in</strong>tensiv praktizieren. Alle anderen bleiben unsere normalen Lamas.<br />

55


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ich hab das vorh<strong>in</strong> so verstanden, dass der Wurzellama durchaus e<strong>in</strong>e lebende Person se<strong>in</strong> kann, weil<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>em ja auch <strong>die</strong>se Instruktionen gibt, wo man zwei Mal widersprechen kann. Woran erkennt<br />

man, ob es sich um e<strong>in</strong>en Vajrameister handelt? Wird der ernannt oder ist das e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Angelegenheit<br />

zwischen e<strong>in</strong>em Meister und e<strong>in</strong>em Schüler?<br />

E<strong>in</strong> Vajrameister, der e<strong>in</strong>em solche Instruktionen gibt, ist immer e<strong>in</strong> lebender Meister, das ist für <strong>die</strong>jenigen,<br />

<strong>die</strong> tatsächlich <strong>die</strong> Ermächtigung und <strong>die</strong> Instruktionen zur Vajrayana-Praxis bei ihm nehmen.<br />

Von e<strong>in</strong>em Vajrayana-Meister werden <strong>die</strong> drei Aspekte wang, lung und tri übertragen. Er muss also<br />

ermächtigt se<strong>in</strong>, Ermächtigungen zu geben. Das alle<strong>in</strong> reicht aber noch nicht aus, er sollte auch verwirklicht<br />

se<strong>in</strong>. Er sollte weitere Qualitäten haben, und er wird erst dann zu me<strong>in</strong>em Wurzellama, wenn<br />

von me<strong>in</strong>er Seite <strong>die</strong>ses Band auch wirklich hergestellt wird, sonst bleibt er e<strong>in</strong>fach der Vajrameister,<br />

der e<strong>in</strong>em <strong>die</strong>se Ermächtigung gegeben hat.<br />

E<strong>in</strong> Vajrameister – da gibt es auch e<strong>in</strong>e Liste von Qualifikationen – sollte e<strong>in</strong> hoch entwickelter, spiritueller<br />

Freund se<strong>in</strong>. In Gampopas ‚Kostbarer Schmuck der Befreiung’ werden <strong>die</strong> Merkmale e<strong>in</strong>es spirituellen<br />

Freundes aufgeführt: acht Merkmale für e<strong>in</strong>en hoch verwirklichten Lehrer, <strong>in</strong> der nächsten<br />

Gruppe vier und dann zwei Merkmale. Von <strong>die</strong>sen Merkmalen sollten viele vorhanden se<strong>in</strong>, zudem<br />

noch e<strong>in</strong>e volle Qualifikation <strong>in</strong> der Vajrayana-Praxis. In allen vier L<strong>in</strong>ien des Tibetischen Buddhismus<br />

sollte e<strong>in</strong>e Erlaubnis und Unterstützung von e<strong>in</strong>em oder den Hauptl<strong>in</strong>ienhaltern gegeben se<strong>in</strong>,<br />

tatsächlich <strong>die</strong>se Aktivität e<strong>in</strong>es Vajrameisters auszuüben. Das ist also ke<strong>in</strong>e Privatsache zwischen<br />

Schüler und Lehrer, es ist öffentlich. E<strong>in</strong> Vajrameister ist von den anderen L<strong>in</strong>ienhaltern als solcher<br />

anerkannt.<br />

Ist es <strong>in</strong> unserer L<strong>in</strong>ie so, dass es ganz bestimmte Vajrameister gibt, <strong>die</strong> von Karmapa als solche<br />

ernannt s<strong>in</strong>d. Wenn ja, wer ist das?<br />

Ja, Karmapa selbst, Shamar R<strong>in</strong>poche, Beru Khyentse R<strong>in</strong>poche, Sherab Gyaltsen R<strong>in</strong>poche, Khandro<br />

R<strong>in</strong>poche. Ich mag jetzt nicht alle aufzählen, ich würde auf jeden Fall welche vergessen, aber das s<strong>in</strong>d<br />

Meister, Meister<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> tatsächlich <strong>die</strong>se Übertragung haben, wobei Khandro R<strong>in</strong>poche mehr noch<br />

zur Nyj<strong>in</strong>gma-L<strong>in</strong>ie gehört, aber auch bei uns unterrichtet. Da gibt es solche Lehrer, <strong>die</strong> ganz klar <strong>die</strong>se<br />

Aufgabe haben.<br />

Es sche<strong>in</strong>en aber wenige zu se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> das praktizieren.<br />

Ja, das stimmt. Es s<strong>in</strong>d tatsächlich ganz wenige, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Art von Beziehung e<strong>in</strong>gehen, und <strong>die</strong> es<br />

auch notwendig haben, <strong>die</strong>se Beziehung e<strong>in</strong>zugehen.<br />

Es besteht so was wie e<strong>in</strong>e spirituelle Gier, e<strong>in</strong>en Vajrameister als Wurzellama zu haben, obwohl man<br />

gar nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Form der Praxis ist, <strong>die</strong> das notwendig macht. Es s<strong>in</strong>d wirklich nur wenige, und man<br />

muss sich selber gut überlegen, dass man nicht e<strong>in</strong>fach anderen folgt, wo das so gang und gäbe ist,<br />

dass man e<strong>in</strong>en Vajrameister als Wurzellama haben muss.<br />

Ist jemand, der e<strong>in</strong> Tulku ist, dann automatisch auch e<strong>in</strong> R<strong>in</strong>poche?<br />

Ja, normalerweise ist das e<strong>in</strong>fach so, dass <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> als Tulku anerkannt werden, später dann<br />

auch den Titel R<strong>in</strong>poche bekommen. Man muss sich dabei aber klar se<strong>in</strong>, dass weder der e<strong>in</strong>e Titel<br />

noch der andere notwendigerweise das Vorhandense<strong>in</strong> von Qualitäten beschreibt. Man kann als Wiedergeburt<br />

e<strong>in</strong>es großen Praktizierenden anerkannt se<strong>in</strong>, aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Leben nicht <strong>die</strong> Qualitäten entwickelt<br />

haben, Menschen tatsächlich <strong>in</strong> ihrer Praxis so zu führen, wie das von e<strong>in</strong>em Vajrameister erwartet<br />

wird.<br />

Deswegen aufgepasst: nicht den Titel <strong>mit</strong> den Qualitäten verwechseln. Es gibt R<strong>in</strong>poches, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen<br />

Titel tragen, wo man besser e<strong>in</strong> bisschen vorsichtig ist und es gibt andere, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Titel tragen und<br />

<strong>in</strong> vollem Umfang vertrauenswürdig s<strong>in</strong>d. Aber da muss man eben auch dem eigenen Kompass folgen.<br />

Was s<strong>in</strong>d Yidam-Praktiken?<br />

E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Beispiel ist, wenn du dich selber als Tschenresig visualisierst und da<strong>mit</strong> <strong>in</strong>tensiv praktizierst.<br />

Es gibt Praktiken <strong>mit</strong> Buddha-Aspekten, wo man sich selber als solcher visualisiert und das den<br />

ganzen Tag über, vier Sitzungen zu drei Stunden <strong>mit</strong> wirklich <strong>in</strong>tensiver Praxis über Wochen, Monate<br />

sogar Jahre. Da das e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Praxis <strong>mit</strong> den eigenen Emotionen, Identifikationen, der eigenen<br />

56


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Sichtweise ist, braucht man jemanden, der so e<strong>in</strong> bisschen <strong>die</strong> Leitplanke, <strong>die</strong> Sicherung darstellt für<br />

unseren Weg.<br />

Chakren<br />

Wird im Buddhismus auch von den verschiedenen Körpern wie physischer, energetischer, ätherischer<br />

Körper, von Chakren gesprochen.<br />

Ich b<strong>in</strong> nicht <strong>in</strong> der Lage, für Theravada und Zen-Buddhismus zu sprechen, aber ich kann für den tibetischen<br />

Buddhismus antworten. Im tibetischen Buddhismus sprechen wir nicht nur vom physischen<br />

Körper sondern auch vom Energiekörper, wobei es verschiedene Stufen der Subtilität gibt. Wir<br />

sprechen auch von Chakren, von fünf, sechs oder sieben Chakren, <strong>die</strong> mehr oder weniger an denselben<br />

Orten s<strong>in</strong>d wie auch im h<strong>in</strong>duistischen System. Wir arbeiten <strong>mit</strong> den Chakren, aber ohne sie normalerweise<br />

zu erwähnen. Das heißt, man braucht nichts von den Chakren zu wissen, da<strong>mit</strong> sie sich harmonisieren,<br />

öffnen, ausgleichen, entwickeln. Es reicht, wenn wir <strong>mit</strong> den <strong>mit</strong> ihnen verbundenen Qualitäten<br />

arbeiten, z.B. ist es ganz natürlich, dass e<strong>in</strong> Großteil der Arbeit, wo wir uns auf Liebe und Mitgefühl<br />

ausrichten, <strong>mit</strong> dem Herzchakra stattf<strong>in</strong>det. So ist es auch <strong>mit</strong> vielen anderen Qualitäten. Ganz automatisch<br />

wird unser Energiesystem angesprochen und <strong>die</strong> Praktiken führen zu e<strong>in</strong>em harmonischeren<br />

Fließen der Energien. Wir sprechen ganz selten über <strong>die</strong> Chakren, e<strong>in</strong>fach auch deswegen, weil <strong>die</strong><br />

meisten – auch ich – <strong>die</strong> Chakren nicht sehen können, und dann macht es ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, darüber zu<br />

sprechen, weil es nicht im Bereich der persönlichen Erfahrung liegt. Es ist dann nicht unbed<strong>in</strong>gt förderlich,<br />

da<strong>mit</strong> so viel Zeit zu verbr<strong>in</strong>gen.<br />

Man arbeitet da<strong>mit</strong> ja bei jeder Niederwerfung, wo man <strong>die</strong> 3 Chakren berührt oder wenn man sie <strong>mit</strong><br />

OM AH HUNG, anspricht.<br />

Wir brauchen also nichts weiter zu tun, als es e<strong>in</strong>fach so auszuführen, so zu üben und <strong>die</strong> Stimulation<br />

der Chakren f<strong>in</strong>det von selbst statt. Wir brauchen dazu ke<strong>in</strong> zusätzliches Wissen.<br />

Vertrauen <strong>in</strong> Buddha –Vertrauen <strong>in</strong> Gott<br />

Ist es <strong>in</strong>kompatibel, gleichzeitig Vertrauen <strong>in</strong> Gott und <strong>in</strong> Buddha zu haben? Ich fühle mich zu beiden<br />

h<strong>in</strong>gezogen und damals, als ich im Algerienkrieg im E<strong>in</strong>satz war, habe ich zwei ganz starke Erfahrungen<br />

gehabt. Ich habe durch me<strong>in</strong>e Gebete an Gott Gnade erfahren. Ich habe selber ke<strong>in</strong>en Schuss<br />

abgeben müssen und wurde auch nicht verletzt. Ich habe vor dreißig Jahren <strong>in</strong> der Nacht e<strong>in</strong>e Licht-<br />

Erfahrung gehabt, und es ist nicht <strong>die</strong>ser persönliche Gott. Mitten <strong>in</strong> der Nacht, als ich <strong>in</strong> tiefster Verzweiflung<br />

war, hat mich <strong>die</strong>ses Licht aus dem Bett auf den Bretterboden geworfen und ich war von unermesslicher<br />

Liebe erfüllt. Es hat nicht lange gedauert, aber da war e<strong>in</strong> totales Akzeptieren. E<strong>in</strong>erseits<br />

war da <strong>die</strong>se Neurose – ich selbst <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>em neurotischen Gesicht – und e<strong>in</strong>e Sicht voller Liebe, wo<br />

es immer nur <strong>die</strong>ses annehmende Ja gesagt hat. Das hat vielleicht 20 Sekunden gedauert, vielleicht<br />

auch e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute. E<strong>in</strong> Jahr später hat sich das noch e<strong>in</strong>mal wiederholt. Aus <strong>die</strong>ser Erfahrung, <strong>die</strong> ich<br />

<strong>mit</strong>ten im Krieg hatte, ziehe ich Inspiration für me<strong>in</strong>e Tschenresig-Praxis.<br />

Ich kann dich nur dar<strong>in</strong> unterstützen, <strong>die</strong>se Inspiration weiter für de<strong>in</strong>e Praxis zu nützen. Möge dir das<br />

als Inspiration <strong>die</strong>nen. Diese grenzenlose, bed<strong>in</strong>gungslose Liebe ist tatsächlich das, was <strong>die</strong> Liebe von<br />

Tschenresig ist, <strong>die</strong> Liebe aller Buddhas, <strong>die</strong> Liebe aller erwachten Meister und <strong>die</strong>se Meister bzw.<br />

<strong>die</strong>se Dimension hat nichts dagegen, wenn man sie auch <strong>mit</strong> dem Namen ‚Gott’ bezeichnet. Namen<br />

spielen dabei ke<strong>in</strong>e Rolle.<br />

* * *<br />

57


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wir haben bereits <strong>die</strong> ersten beiden heilsamen Faktoren gesehen: Vertrauen und Gewissenhaftigkeit.<br />

Vertrauen entspricht der Kraft, <strong>die</strong> h<strong>in</strong>ter der Zuflucht steht, Vertrauen gibt unserem Leben <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere<br />

Ausrichtung. Gewissenhaftigkeit und <strong>die</strong>se fe<strong>in</strong>e Achtsamkeit, <strong>mit</strong> der <strong>die</strong> Handlung begonnen wird,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong>se begleitet und <strong>mit</strong> der sie nachher betrachtet wird, bewirken, dass wir alles Vortreffliche <strong>in</strong><br />

der Welt und jenseits der Welt der Ich-Bezogenheit verwirklichen können.<br />

13) Flexibilität<br />

ist, Körper und Geist arbeitsfähig zu machen, um sie für Heilsames anspornen zu können. Sie<br />

überw<strong>in</strong>det das E<strong>in</strong>treten <strong>in</strong> negative Zustände.<br />

Diese Flexibilität macht Körper und Geist arbeitsfähig, macht sie geschmeidig, anpassungsfähig, e<strong>in</strong>satzbereit.<br />

Natürlich geht es <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie um den Geist, und Flexibilität bedeutet hier das Gegenteil<br />

von Widerständen, von Blockaden.<br />

Wir haben das Vertrauen, d.h. wir kennen <strong>die</strong> Richtung, <strong>in</strong> <strong>die</strong> wir wollen. Wir haben <strong>die</strong> Gewissenhaftigkeit,<br />

alles umsetzen zu wollen, was <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung führt. Was könnte uns jetzt aufhalten? Das<br />

s<strong>in</strong>d Widerstände und Blockaden, <strong>die</strong> das verh<strong>in</strong>dern. Da braucht es Flexibilität, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> Gewissenhaftigkeit<br />

verb<strong>in</strong>det, sodass wir <strong>mit</strong> dem was ist, s<strong>in</strong>nvoll, hilfreich umgehen können und <strong>die</strong><br />

auftauchenden Schwierigkeiten tatsächlich bewältigen können. E<strong>in</strong> rigider Geist ist dazu nicht <strong>in</strong> der<br />

Lage, er wird an den auftauchenden Schwierigkeiten, Widerständen, H<strong>in</strong>dernissen hängen bleiben.<br />

Dieser Faktor Flexibilität, der sich darauf ausrichtet, das Heilsame umsetzen zu können, immer wieder<br />

zum Heilsamen zurückzuf<strong>in</strong>den, das Heilsame zu stimulieren und im Geist leben zu lassen, bewirkt,<br />

dass wir nicht <strong>in</strong> negative Geisteszustände e<strong>in</strong>treten und uns nicht von ihnen gefangen nehmen lassen.<br />

Flexibilität überw<strong>in</strong>det <strong>die</strong> negativen Geisteszustände. – Negativ bedeutet hier all das, was unsere<br />

Widerstände s<strong>in</strong>d, unsere emotionalen Verhaftungen, alles was <strong>in</strong> Richtung Nicht-Heilsames geht.<br />

Wenn wir Flexibilität hören, dann haben wir auch se<strong>in</strong> Gegenstück Starrheit oder Sturheit im Geist.<br />

Jemand, der <strong>in</strong> Samsara ist, <strong>in</strong> den Mustern von Ich-Bezogenheit <strong>mit</strong> all den vielen, vielen e<strong>in</strong>hergehenden<br />

Anhaftungen und Identifikationen lebt, ist wie auf Gleisen. Er ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Reaktionsmustern<br />

vorhersehbar, wir brauchen nur <strong>die</strong> richtigen Knöpfe zu f<strong>in</strong>den. Wir drücken auf <strong>die</strong> Knöpfe und <strong>die</strong><br />

vorhersehbare emotionale Reaktion wird e<strong>in</strong>treten, weil <strong>die</strong> <strong>in</strong>neren Mechanismen anspr<strong>in</strong>gen. Es ist<br />

ke<strong>in</strong>e Flexibilität da, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> anderes Reagieren ermöglichen würde. Dieser Mensch kann nicht ausweichen,<br />

er schafft es nicht, sich nicht zu identifizieren. Wenn wir <strong>die</strong> Identifikation berühren, kommt<br />

es zu e<strong>in</strong>er vorhersehbaren emotionalen Reaktion. Dieser Mensch ist wie gefangen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Mustern.<br />

Das nennt man den Mangel an Flexibilität oder <strong>die</strong> Starrheit der emotionalen Muster.<br />

Wenn wir von Flexibilität sprechen, bedeutet das, dass der Druck auf <strong>die</strong> alten Knöpfe ke<strong>in</strong>e Reaktion<br />

mehr auslöst, da ist ke<strong>in</strong>e Identifikation mehr dah<strong>in</strong>ter. Der Knopfdruck geht <strong>in</strong>s Leere, weil das Anhaften<br />

sehr viel schwächer geworden ist. Es besteht <strong>die</strong> Möglichkeit auszuweichen, e<strong>in</strong>e andere<br />

Sichtweise e<strong>in</strong>zunehmen, e<strong>in</strong>e andere Haltung oder e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge so se<strong>in</strong> zu lassen wie sie s<strong>in</strong>d,<br />

ohne zu reagieren. Das ist <strong>die</strong> Flexibilität oder Geschmeidigkeit des Geistes, und da<strong>mit</strong> können wir<br />

natürlich Unglaubliches vollbr<strong>in</strong>gen. Wir hätten nie gedacht, dass es uns möglich wäre, <strong>die</strong>se oder jene<br />

Aufgabe zu vollbr<strong>in</strong>gen. Mit der Geschmeidigkeit, der Flexibilität des Geistes passen wir uns immer<br />

wieder an <strong>die</strong> neuen Situationen an, f<strong>in</strong>den Lösungen und verlieren unsere Ausrichtung nicht.<br />

Im Deutschen gibt es das Sprichwort: „E<strong>in</strong> steter Tropfen höhlt den Ste<strong>in</strong>“. Da<strong>mit</strong> wird auf <strong>die</strong> Qualität<br />

des Wassers h<strong>in</strong>gewiesen, das – obwohl so weich, so flexibel, im Grunde genommen stärker ist als<br />

Ste<strong>in</strong> durch <strong>die</strong> kont<strong>in</strong>uierliche Ausrichtung. Wasser, das vom Berg herunter fließt, wird immer se<strong>in</strong>en<br />

Weg f<strong>in</strong>den – um Felsen herum, über Felsen oder sogar unten drunter, selbst wenn wir Deiche bauen,<br />

wird es irgendwann überfließen und <strong>die</strong> Deiche <strong>mit</strong> der Zeit wieder e<strong>in</strong>reißen. Das ist <strong>die</strong> Kraft des<br />

Wassers, e<strong>in</strong> gutes Beispiel für <strong>die</strong>sen Faktor der Geschmeidigkeit oder Flexibilität des Geistes.<br />

E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Aufgabe: Bitte visualisiert jetzt e<strong>in</strong>en rosa Elefanten im Raum vor euch. –<br />

Geht das? Gut, das war <strong>die</strong> Flexibilität des Geistes, <strong>die</strong> das möglich gemacht hat.<br />

58


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Zweite Aufgabe: Habt bitte für e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute ke<strong>in</strong>en Gedanken. –<br />

O.k., ich glaube, da waren e<strong>in</strong>ige Gedanken… Diese Aufgabe, <strong>mit</strong> dem Geist für e<strong>in</strong>en Moment nichts<br />

zu tun, zeigt, was eigentlich auch <strong>mit</strong> Flexibilität geme<strong>in</strong>t ist. Der Geist ist so geschmeidig, dass er<br />

auch aufhören kann, etwas zu tun. Er ist nicht zwanghaft. Jede Zwanghaftigkeit des Geistes ist Mangel<br />

an Flexibilität. Wenn ich zwanghaft denken muss und immer denken muss, dann ist das schon e<strong>in</strong><br />

Mangel an Flexibilität. Es geht nicht nur darum, den Strom der Gedanken immer auf etwas Intelligentes<br />

auszurichten, sondern es geht auch darum, e<strong>in</strong>fach mal aufhören zu können. Genauso wie es <strong>mit</strong><br />

dem Körper darum geht, auch e<strong>in</strong>fach mal still sitzen zu können, ohne sich immer bewegen zu müssen.<br />

Diese vollständige Flexibilität des Geistes ist schlussendlich für das Erwachen so wichtig. Es ist wichtig,<br />

dass wir nach eigenem Erwägen tun können und lassen können, dem folgend, was uns Weisheit,<br />

Liebe und Mitgefühl für s<strong>in</strong>nvoll ersche<strong>in</strong>en lassen. Ausgeprägte, große Flexibilität ist zu f<strong>in</strong>den, wenn<br />

jemand – obwohl von jemand anderem, der wütend ist, persönlich angegriffen – <strong>in</strong> Gleichmut bleiben<br />

kann, oder Liebe und Mitgefühl meditieren kann, oder das praktizieren kann, was am s<strong>in</strong>nvollsten ersche<strong>in</strong>t,<br />

<strong>in</strong> völliger <strong>in</strong>nerer Freiheit. Das ist Geschmeidigkeit des Geistes, und da kann man nicht mehr<br />

davon sprechen, dass auf Knopfdruck etwas Vorhersehbares passiert.<br />

Speziell <strong>mit</strong> den Methoden des Vajrayana – <strong>mit</strong> den Methoden der Visualisation, des Rezitierens von<br />

Gebeten, dem Aussprechen von Wünschen – üben wir ganz gezielt <strong>die</strong>se Flexibilität. Wir würden normalerweise<br />

über alles Mögliche Ich-Bezogene nachdenken, aber wir lenken den Geist bewusst <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Visualisation h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Sichtweise. Wir nutzen <strong>die</strong> Rede, <strong>die</strong> normalerweise ich-bezogen se<strong>in</strong><br />

würde, für das Sprechen von Gebeten, von Mantras. Genauso auch <strong>mit</strong> dem Körper: Wir machen<br />

Verbeugungen, wo eigentlich unser Körper <strong>in</strong> Ich-Bezogenheit verharren würde. Jede Dharma-Praxis<br />

führt zu Flexibilität des Geistes, zu Geschmeidigkeit.<br />

Auch <strong>die</strong> stille Meditation übt uns <strong>in</strong> Geschmeidigkeit des Geistes, z.B. nicht auf körperliches Unwohlse<strong>in</strong><br />

zu reagieren. Wir haben kle<strong>in</strong>e Schmerzen hier und dort, reagieren aber nicht sofort <strong>mit</strong> dem<br />

Körper. Oder wir steigen <strong>mit</strong> dem Geist nicht auf Gedanken e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> uns normalerweise <strong>in</strong>teressieren<br />

und zu Gedankenketten führen würden, und entspannen. Auch <strong>die</strong>se Fähigkeit zum Entspannen ist<br />

Teil des Übens <strong>in</strong> Flexibilität des Geistes. Man kann jedes Beispiel nehmen, jede Form der Dharma-<br />

Praxis übt <strong>die</strong>sen Faktor Flexibilität.<br />

Wenn wir unsere Lehrer anschauen, <strong>die</strong> großen Meister, dann können wir <strong>die</strong>ses außergewöhnliche<br />

Ausmaß an Flexibilität, an Geschmeidigkeit des Geistes, an Anpassungsfähigkeit wahrnehmen. Trotz<br />

aller Schwierigkeiten, <strong>die</strong> ihnen zugetragen werden, bleiben sie stets <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er enormen Geschmeidigkeit<br />

im Heilsamen und s<strong>in</strong>d ganz stabil dar<strong>in</strong>. Denn <strong>die</strong>se Flexibilität, von der wir hier sprechen, ist<br />

nicht etwa e<strong>in</strong>e Flexibilität um den eigenen, persönlichen Interessen möglichst gerecht zu werden und<br />

persönliche Vorteile zu ergattern. Es ist <strong>die</strong> Flexibilität des Geistes, der sich auf das Heilsame ausgerichtet<br />

hat und im Heilsamen verweilt, ohne sich davon abbr<strong>in</strong>gen zu lassen.<br />

In <strong>die</strong>ser Flexibilität, Geschmeidigkeit, wird der nächste Faktor, der vierte Faktor aufsche<strong>in</strong>en: großer<br />

Gleichmut. Wir f<strong>in</strong>den <strong>die</strong>sen Faktor des Gleichmutes bereits <strong>in</strong> der Flexibilität, denn was uns so flexibel<br />

macht, ist, dass wir <strong>die</strong>sem kle<strong>in</strong>en Ich <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en Wünschen und den H<strong>in</strong>dernissen, <strong>die</strong> auftauchen,<br />

nicht solche Wichtigkeit beimessen. Wir bleiben unbee<strong>in</strong>druckt von den Herausforderungen des<br />

Lebens, und das macht den Geist flexibel. Wenn wir den D<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>e große Wichtigkeit beimessen<br />

würden, wären wir wieder im Starrs<strong>in</strong>n, wären wir wieder <strong>in</strong> der Rigidität. Es ist also e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Ausgeglichenheit,<br />

<strong>die</strong> beibehalten wird.<br />

14) Gleichmut<br />

ist, den Geist frei von Anhaftung, Abneigung und Verblendung natürlich ruhen zu lassen. Er bewirkt,<br />

nicht aus emotionaler Verblendung zu handeln.<br />

Im Gleichmut bleibt der Geist frei von Anhaftung, frei von Abneigung und frei von Verblendung – von<br />

<strong>die</strong>sem Mangel an Gewahrse<strong>in</strong>. Dieses Freise<strong>in</strong> von den drei grundlegenden Geistesgiften macht den<br />

Geist auch so flexibel. Es ist der Geist, der frei von <strong>die</strong>sen drei Geistesgiften natürlich ruht, d.h. er<br />

wird nicht aufgewühlt von <strong>die</strong>sen dreien.<br />

59


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wenn wir <strong>in</strong> den Unterweisungen des Buddha von Gleichmut hören – von <strong>die</strong>ser Fähigkeit ruhig, unaufgewühlt<br />

zu bleiben – dann sollten wir da<strong>mit</strong> immer auch Weisheit assoziieren. Denn was bewirkt,<br />

dass wir nicht anhaften, ablehnen und <strong>in</strong> Verblendung leben, ist Weisheit, ist das Verständnis, dass es<br />

nur Spannung br<strong>in</strong>gt, am Angenehmen zu haften und das Unangenehme wegstoßen zu wollen. Und es<br />

ist auch <strong>die</strong> Weisheit, <strong>die</strong> uns nicht <strong>in</strong> Verblendung über <strong>die</strong> wahre Natur der D<strong>in</strong>ge se<strong>in</strong> lässt. Weisheit,<br />

das Gewahr-Se<strong>in</strong> dessen, wie <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d, bewirkt <strong>die</strong> Fähigkeit loslassen zu können. Weises<br />

Loslassen von dem, was Leid erzeugt, bewirkt genau <strong>die</strong> Flexibilität, von der wir gesprochen haben<br />

und <strong>die</strong>sen Gleichmut. Das ist <strong>die</strong> Fähigkeit, <strong>die</strong> h<strong>in</strong>ter beiden steht.<br />

Nicht zu verstehen, dass Anhaften, Ablehnung und Verblendung Anspannung erzeugen, bewirkt e<strong>in</strong>en<br />

starren Geist, e<strong>in</strong>en vorhersehbaren, oft gefangenen Geist. Es zu verstehen und dadurch loslassen zu<br />

können, bewirkt zugleich Flexibilität und Gleichmut.<br />

Dieser Faktor des Gleichmutes bewirkt, nicht aus emotionaler Verblendung zu handeln. Wenn emotionale<br />

Regungen auftauchen, dann folgen wir ihnen im Gleichmut nicht, weil wir dem Ich und den Inhalten<br />

<strong>die</strong>ser Emotionen, den Objekten <strong>die</strong>ser Emotionen nicht <strong>die</strong>se Bedeutung beimessen. Dadurch<br />

bleibt es bei der Entspannung.<br />

Wenn wir uns genau anschauen, was denn nun <strong>die</strong>sen Gleichmut ausmacht, so ist das unser Funktionieren<br />

<strong>mit</strong> dem 2. und 3. Skandha. Wenn wir Empf<strong>in</strong>dungen – was wir hören oder sehen, was uns<br />

gesagt wird, was wir erfahren, was wir am Körper spüren – als zutiefst unangenehm e<strong>in</strong>schätzen oder<br />

wenn wir unterscheiden: „Das darf so nicht se<strong>in</strong>, es sollte anders se<strong>in</strong>.“ oder „Das ist e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>heit.“<br />

Wenn solche starken Bewertungen stattf<strong>in</strong>den, dann wird auch unsere Emotion stark se<strong>in</strong>. Wenn<br />

wir <strong>die</strong>se Bewertungen entspannen können und Empf<strong>in</strong>dungen als Empf<strong>in</strong>dungen wahrnehmen und<br />

nicht als me<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dungen, und wenn wir Unterscheidungen zwar wahrnehmen, ihnen aber nicht<br />

<strong>die</strong>se Bedeutung beimessen, dann können wir gleichmütig bleiben. Dann bleibt unser Geist entspannt.<br />

Emotionale Verblendung bedeutet das Denken <strong>in</strong> Ich und me<strong>in</strong>. Der wesentliche Faktor an emotionaler<br />

Verblendung ist Ich-Bezogenheit. Wenn wir <strong>die</strong> Situationen unseres Lebens aus der Perspektive der<br />

Ich-Bezogenheit erleben und bewerten, dann s<strong>in</strong>d wir <strong>in</strong> Identifikationen gefangen und werden unseren<br />

Gleichmut verlieren.<br />

Wir haben gesehen, dass Flexibilität und Gleichmut recht eng zusammen gehören. Und das macht<br />

auch den Unterschied aus zwischen dem Faktor Flexibilität hier und der Flexibilität, <strong>die</strong> wir bei<br />

Menschen feststellen, <strong>die</strong> sich recht geschickt auf neue Situationen e<strong>in</strong>stellen können, aber trotzdem<br />

emotional aufgewühlt s<strong>in</strong>d. Der Faktor Flexibilität ist <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em ruhigen, ausgeglichenen Geist<br />

verbunden. Es ist nicht <strong>die</strong> Flexibilität, <strong>die</strong> von e<strong>in</strong>er Situation zur anderen spr<strong>in</strong>gen kann. Tiefe Ruhe<br />

im Geist ist <strong>die</strong> eigentliche Flexibilität.<br />

Die nächsten beiden Faktoren gehören wieder zusammen, Respekt auf sich selbst bezogen und<br />

Rücksichtnahme, <strong>die</strong> sich auf andere bezieht, allgeme<strong>in</strong> menschlicher Respekt.<br />

15) Selbstrespekt<br />

bewirkt, aus sich selbst heraus oder aufgrund des Dharmas selbst ger<strong>in</strong>ge schädliche Handlungen<br />

zu unterlassen. Er ist <strong>die</strong> Stütze für Gelübde <strong>in</strong> Bezug auf fehlerhaftes Verhalten.<br />

E<strong>in</strong> Beispiel für Selbstrespekt: Jemand kommt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Zimmer, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> 50-Eurosche<strong>in</strong> liegt, und<br />

obwohl er ganz alle<strong>in</strong>e ist, nimmt er <strong>die</strong>sen 50-Eurosche<strong>in</strong> nicht an sich, sondern kümmert sich darum<br />

herauszuf<strong>in</strong>den, wem der wohl gehören könnte, so dass ihn <strong>die</strong> Person, <strong>die</strong> ihn verloren hat, wieder<br />

bekommen kann. Dieses Handeln geschieht aus Respekt vor sich selbst, es ist der <strong>in</strong>nere Anstand, e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>nere Verpflichtung der grundlegenden menschlichen Ethik gegenüber und dem Dharma gegenüber.<br />

Dharma hier im S<strong>in</strong>ne von dem, was wir als zur Befreiung führend erkannt haben.<br />

Selbstrespekt unterstützt das Unterlassen von schädlichen Handlungen. Das kann sich auch durch Gelübde<br />

ausdrücken. Er bewirkt, dass wir schädliches Handeln auch unterlassen, wenn wir ganz alle<strong>in</strong>e<br />

s<strong>in</strong>d und es nie jemand anders erfahren würde. Wir s<strong>in</strong>d z.B. ganz alle<strong>in</strong> irgendwo <strong>in</strong> der Natur, im<br />

60


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wald, wo auch immer, und handeln entsprechend unserer eigenen <strong>in</strong>neren Ethik, wir bleiben bei dem,<br />

wozu wir uns entschlossen haben.<br />

16) Rücksichtnahme<br />

bewirkt, aufgrund von weltlichen oder anderen[Personen] – verwirklichten, edlen Personen, <strong>die</strong><br />

uns kritisieren könnten – selbst ger<strong>in</strong>ge schädliche Handlungen zu unterlassen.<br />

Es ist also e<strong>in</strong> Unterlassen von schädlichen Handlungen <strong>mit</strong> Rücksicht auf <strong>die</strong> Gruppe, auf <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>schaft,<br />

<strong>mit</strong> Rücksicht auf den Blick und <strong>die</strong> berechtigte Kritik von Meistern – von Menschen, <strong>die</strong><br />

für uns e<strong>in</strong>e wirkliche Referenz darstellen. Oder es ist das Unterlassen von schädlichen Handlungen<br />

<strong>mit</strong> Rücksicht auf so genannte weltliche Menschen, <strong>die</strong> betroffen se<strong>in</strong> könnten.<br />

Das bezieht sich darauf, schädliches Handeln zu unterlassen, das beobachtet wird, wenn man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Gruppe ist, oder zu zweit, bzw. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganz kle<strong>in</strong>en Gruppe. Manchmal bezieht es sich auch auf<br />

Handlungen, <strong>die</strong> man alle<strong>in</strong>e ausführt, <strong>die</strong> aber anderen zur Kenntnis kommen könnten und dann entsprechend<br />

zu berechtigter Kritik führen.<br />

Anders ausgedrückt: Im ersten Fall wird das Handeln unterlassen aufgrund von Respekt für <strong>die</strong> eigenen<br />

Werte, aus Respekt für sich selbst und im zweiten Fall aus Respekt für <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>schaft, aus<br />

Respekt für <strong>die</strong> Werte, <strong>die</strong> allgeme<strong>in</strong> anerkannt werden.<br />

Bei <strong>die</strong>sen beiden Faktoren ist wirklich wichtig, sie so wie hier zu übersetzen, als Respekt und<br />

Rücksichtnahme, denn es handelt sich nicht um Scham oder Schuldgefühle, wie es <strong>in</strong> früheren Übersetzungen<br />

hieß. In unserer Gesellschaft s<strong>in</strong>d wir vielen Formen von Schuldgefühlen und Gefühlen von<br />

Scham, <strong>die</strong> nichts <strong>mit</strong> dem zu tun haben, was hier <strong>mit</strong> den beiden Formen von Respekt geme<strong>in</strong>t ist,<br />

ausgesetzt und tragen sie <strong>mit</strong> uns herum.<br />

Es ist klar, dass wir uns aus Respekt für andere, für <strong>die</strong> Normen unserer Gesellschaft <strong>in</strong> der Öffentlichkeit<br />

nicht ausziehen. Aber das ist aus Respekt anderen gegenüber und nicht, weil wir uns etwa unseres<br />

Körpers zu schämen hätten. Wir brauchen uns auch nicht zu schämen, dass wir uns vielleicht nicht so<br />

gut ausdrücken können, dass wir <strong>die</strong> Worte nicht so gut wählen können. Wir brauchen uns nicht zu<br />

schämen für D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> wir vielleicht nicht so perfekt tun können. All das hat überhaupt nichts <strong>mit</strong><br />

dem Punkt hier zu tun.<br />

Es handelt sich um ganz grundlegende Formen des Respekts für Werte. Wichtige Werte, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Zusammenleben<br />

unter Menschen und auch <strong>mit</strong> anderen Lebewesen möglich machen. Die vielen Schuldgefühle,<br />

<strong>die</strong> wir <strong>mit</strong> uns tragen und <strong>die</strong> gar nicht <strong>mit</strong> schädlichem Handeln zu tun haben, sondern wo<br />

wir uns fast schuldig fühlen zu existieren, e<strong>in</strong>fach so zu se<strong>in</strong> wie wir s<strong>in</strong>d oder uns schuldig fühlen,<br />

dass wir jemanden nicht verstehen können, dass wir anderen nicht helfen können, all <strong>die</strong>se Formen<br />

von Schuldgefühlen s<strong>in</strong>d hier nicht geme<strong>in</strong>t. Die würden als neurotische Scham und als neurotische<br />

Schuldgefühle unter den nicht-heilsamen Geistesfaktoren e<strong>in</strong>geordnet werden, weil sie den Weg des<br />

Erwachens blockieren.<br />

Dieser grundlegende menschliche Respekt erstreckt sich auch auf Tiere und unsichtbare Lebewesen.<br />

Er be<strong>in</strong>haltet <strong>die</strong>se ganz grundlegende Form von Respekt des Lebens des anderen, des Rechts auf Leben<br />

– also nicht das Leben zu nehmen. Es ist auch Respekt vor der Identifikation des anderen geme<strong>in</strong>t,<br />

z.B. respektieren wir den Besitz anderer. Wir haben Respekt vor aufrichtiger Rede, dass man Aussagen<br />

vertrauen kann. Wir haben Respekt vor bestehenden Beziehungen.<br />

Es geht um <strong>die</strong>se vielen Formen von Respekt, <strong>die</strong> notwendig s<strong>in</strong>d, da<strong>mit</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft e<strong>in</strong><br />

heilsames Klima herrscht. Darum geht es, und das ist absolut notwendig dafür, dass wir alle den Weg<br />

des Erwachens gehen können.<br />

Diesen grundlegenden Respekt brauchen wir, da<strong>mit</strong> der Geist überhaupt Frieden f<strong>in</strong>den kann, dass er<br />

sich entspannen kann, dass er nicht <strong>in</strong> Sorge ist, dass er nichts zu verheimlichen hat. Auf <strong>die</strong>ser Basis<br />

entsteht geistige Ruhe, und auf der Basis von geistiger Ruhe entsteht tiefe E<strong>in</strong>sicht. Rücksichtnahme<br />

und Respekt s<strong>in</strong>d also notwendige Voraussetzungen, um den Weg des Erwachens zu gehen.<br />

61


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Fragen und Bemerkungen der Teilnehmer<br />

Ich bemerke an mir emotionale Reaktionen Menschen gegenüber, <strong>die</strong> Tiere töten. Me<strong>in</strong>e erste Reaktion<br />

ist immer Ablehnung, auch wenn ich weiß, dass das nicht richtig ist. Ich sollte <strong>die</strong> Person gleichmütig<br />

akzeptieren wie sie ist, ich kann sie durch me<strong>in</strong> Verhalten ja doch nicht ändern. Ich wollte das<br />

e<strong>in</strong>fach <strong>mit</strong> euch teilen, weil ich so starke Emotionen habe, wenn jemand e<strong>in</strong> Tier tötet.<br />

Bezüglich tugendhaftem Verhalten habe ich oft beobachtet, dass man sich <strong>mit</strong> so e<strong>in</strong>em tugendhaften<br />

Verhalten e<strong>in</strong>kleidet und nach außen so völlig tugendhaft auftritt, aber unten drunter irgendwo alles<br />

ziemlich faul ist. Diese Fäule, <strong>die</strong> da untendrunter steckt, gibt <strong>die</strong>ser Tugendhaftigkeit e<strong>in</strong>e ganz<br />

eigenartige Farbe, <strong>die</strong> letztlich sichtbar ist, <strong>die</strong> aber von der Person selber – da sie eben e<strong>in</strong> total tugendhaftes<br />

Verhalten nach außen anlegt – nicht wahr genommen wird. Da besteht e<strong>in</strong>e große Gefahr.<br />

Ich ermutige jeden, sich das zu Herzen zu nehmen.<br />

Schuldgefühle über Entspannung<br />

Ich sehne mich me<strong>in</strong> ganzes Leben lang nach Momenten des Nichtstuns, der Entspannung und habe<br />

immer wieder Schuldgefühle, mir <strong>die</strong>se Entspannung zu gönnen, weil ich eigentlich doch was anderes<br />

machen müsste, um me<strong>in</strong> Leben zu ver<strong>die</strong>nen.<br />

Ich kann dich nur ermutigen, dass du dir jetzt, wo du <strong>in</strong> Rente bist, e<strong>in</strong>fach wirklich <strong>die</strong>se Momente<br />

gönnst. Aus der Entspannung heraus kannst du dann OM MANI PEME HUNG rezitieren und e<strong>in</strong>fach<br />

den Menschen hilfreich se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> dir begegnen.<br />

Respektieren – E<strong>in</strong>verständnis?<br />

Wie sieht es denn <strong>mit</strong> den Grenzen von Flexibilität, Respekt und Annehmen aus? Z.B. ich bekomme<br />

<strong>mit</strong>, dass Nachbarn ihre K<strong>in</strong>der misshandeln. Wie sieht es da <strong>mit</strong> Akzeptanz und Respekt für <strong>die</strong> anderen<br />

aus?<br />

Dieses Missverstehen der Begriffe des Annehmens und Respektierens passiert recht häufig. Da<strong>mit</strong><br />

geht so oft e<strong>in</strong>e Assoziation e<strong>in</strong>her, als würden wir <strong>mit</strong> dem Handeln und Verhalten des anderen e<strong>in</strong>verstanden<br />

se<strong>in</strong>. Den anderen anzunehmen und zu respektieren bedeutet aber nicht, gleichzeitig <strong>mit</strong><br />

se<strong>in</strong>en emotionalen, verblendeten Verhaltensweisen e<strong>in</strong>verstanden zu se<strong>in</strong>, wie z.B. wenn im Nachbarhaus<br />

K<strong>in</strong>der misshandelt werden.<br />

Ich respektiere den anderen als Menschen und weiß, dass auch ich so wie der andere starke Emotionen<br />

<strong>in</strong> mir trage und dass es Situationen gibt, <strong>die</strong> ich nicht bewältige, wo ich e<strong>in</strong> schwerer Fall b<strong>in</strong>, könnte<br />

man sagen. Ich b<strong>in</strong> selber auch e<strong>in</strong> samsarischer Fall, um den man sich kümmern muss. Von daher<br />

sitzen wir alle im gleichen Boot. Wir suchen alle nach Glück und s<strong>in</strong>d mehr oder weniger geschickt<br />

dar<strong>in</strong>, <strong>die</strong>se Suche nach Glück umzusetzen. Ich behalte mir also bei allem Respekt und Akzeptieren<br />

des anderen und der Situation vor, <strong>mit</strong> offensichtlich nicht heilsamem Verhalten nicht e<strong>in</strong>verstanden<br />

zu se<strong>in</strong> und alles zu tun, um <strong>die</strong> Situation zu verbessern.<br />

Was z.B. geschlagene K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der Nachbarschaft angeht, behalte ich mir vor, tatsächlich <strong>die</strong> Polizei<br />

zu rufen, um <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der zu schützen oder aber – viele Schritte vorher – e<strong>in</strong> persönliches Gespräch zu<br />

suchen. Ich kann z.B. fragen, ob ich <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der nicht e<strong>in</strong>mal zu mir nehmen kann, um e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Entlastung zu schaffen, und, und, und … Es s<strong>in</strong>d viele Schritte möglich, um e<strong>in</strong>e Situation zu entschärfen,<br />

um sie zu verbessern.<br />

Annehmen, akzeptieren und respektieren bedeuten nicht nichts zu tun, sondern sie s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> notwendige<br />

Voraussetzung für e<strong>in</strong> heilsames Intervenieren, für geschicktes Handeln.<br />

62


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Heilen und Karma<br />

Zum Behandeln von Kranken, von Leuten <strong>die</strong> Symptome haben. Es gibt Heiler, <strong>die</strong> möchten <strong>die</strong> Person<br />

um jeden Preis heilen und andere sagen, dass <strong>die</strong> Person erst noch was lernen muss und man noch<br />

nicht e<strong>in</strong>greifen dürfe, es müsse erst noch e<strong>in</strong> Lernprozess stattf<strong>in</strong>den. Oder sie sagen, dass es ohneh<strong>in</strong><br />

das Karma der Person ist, man soll besser gar nicht e<strong>in</strong>greifen, das Karma macht schon von selber<br />

se<strong>in</strong>e Arbeit.<br />

Die Antwort ist eigentlich recht e<strong>in</strong>fach. Es gehört zum Karma e<strong>in</strong>er Person, dass sie krank wird, aber<br />

auch, dass sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Umfeld krank wird, wo Heilung möglich ist, wo es Behandlungen gibt. Das<br />

gehört auch zum Karma. Deswegen sollten wir ganz e<strong>in</strong>fach vorgehen: Wenn jemand krank wird, bieten<br />

wir alle Unterstützung an. Wir tun alles, was möglich ist, um zur Heilung beizutragen und brauchen<br />

uns ke<strong>in</strong>en Kopf darum zu machen, ob <strong>die</strong> Person auch genügend aus dem Krankheitsgeschehen<br />

lernt, denn wenn das Karma sich noch nicht auflösen kann, dann wird es sich auch nicht auflösen –<br />

auch <strong>mit</strong> der besten Behandlung nicht – bis es <strong>in</strong>nerlich verarbeitet wird.<br />

Diese Heiler, <strong>die</strong> um jeden Preis heilen wollen, s<strong>in</strong>d meistens junge Heiler, <strong>die</strong> ihre Talente frisch entdecken<br />

und relativ viele, schnelle Erfolge haben. Da gilt es e<strong>in</strong>fach abzuwarten, bis sie auf den Patienten<br />

stoßen, wo sie nichts ausrichten können, der quasi für sie unheilbar ist. Das wird sie e<strong>in</strong>e gute Lehre<br />

lehren, sie werden bescheiden und merken, dass sie auch nicht allmächtig s<strong>in</strong>d, dass sie nicht um<br />

jeden Preis jemanden heilen können. Jeder erfahrene Heiler geht <strong>mit</strong> relativ viel Rücksicht vor und<br />

weiß, dass man nichts forcieren kann. Man kann Prozesse unterstützen, man kann sie lenken, aber man<br />

kann niemanden e<strong>in</strong>fach <strong>mit</strong> dem schieren Heilungswillen aus e<strong>in</strong>er Krankheit herausholen.<br />

So e<strong>in</strong>fach ist das! Ich denke, das ist e<strong>in</strong>fach gesunder Menschenverstand.<br />

Spiel <strong>mit</strong> Emotionen der anderen<br />

Wenn ich bei jemandem auf <strong>die</strong> emotionalen Knöpfe drücke und da<strong>mit</strong> bei ihm gewisse Reaktionen<br />

auslöse: Kann das hilfreich se<strong>in</strong> oder ist das etwas, was man unterlassen sollte.<br />

Mit welcher Motivation machst du das? Wenn es <strong>mit</strong> der richtigen Motivation und auf geschickte<br />

Weise gemacht wird, kann es hilfreich se<strong>in</strong>. Aber das normale emotionale Spiel, aus der eigenen emotionalen<br />

Beteiligung heraus jemand anderen <strong>in</strong> Emotionen zu versetzen, das br<strong>in</strong>gt überhaupt nichts.<br />

Das können wir se<strong>in</strong> lassen.<br />

Schlechte Arbeit – Mangel an Respekt<br />

Ist es mangelnder Respekt, wenn wir <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e gute Arbeit zu machen aber <strong>die</strong> Arbeit<br />

dann nicht <strong>in</strong> der Qualität ausführen, zu der wir eigentlich <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d? Wir werden z.B. gebeten,<br />

e<strong>in</strong>e Mauer zu bauen und bauen <strong>die</strong> Mauer soso lala und wissen, dass sie <strong>in</strong> nicht allzu langer Zeit<br />

wieder zusammenfallen wird.<br />

Dabei handelt es sich nicht um e<strong>in</strong>en guten Dienst, deshalb ist das Mangel an Respekt für sich selbst<br />

und für andere. Wir brauchen auch nicht immer hundert Prozent perfekt zu arbeiten. Der wesentliche<br />

Punkt ist wohl, dass wir <strong>die</strong> Person, <strong>die</strong> uns bittet oder e<strong>in</strong>en Auftrag gibt, fragen, wie <strong>die</strong> Arbeit ausgeführt<br />

werden soll, was sie bereit ist dafür zu geben und ob wir <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, den Anforderungen<br />

der Person zu entsprechen. Es ist auch durchaus möglich, dass man e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>fach nur ganz flott etwas<br />

h<strong>in</strong>stellt, weil es nur kurzfristig e<strong>in</strong>en Zweck erfüllen muss und dafür ke<strong>in</strong>e gute Qualität nötig ist.<br />

Aber ansonsten s<strong>in</strong>d wir es uns aus Selbstrespekt und aus Respekt für andere zum<strong>in</strong>dest schuldig, klar<br />

zu kommunizieren, worum es geht, welche Qualität von Arbeit gewünscht wird und was von unserer<br />

Seite aus möglich ist, so dass es für alle Seiten klar ist.<br />

* * *<br />

63


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Von den heilsamen Geistesfaktoren, <strong>die</strong> wir bisher gesehen haben, beschreiben <strong>die</strong> ersten vier – Vertrauen,<br />

Gewissenhaftigkeit, Flexibilität und Gleichmut – Qualitäten des Geistes, <strong>die</strong> uns ermöglichen,<br />

tatsächlich zum Erwachen zu gehen. Sie beschreiben, warum es möglich ist, dass <strong>die</strong>ser Geist erwachen<br />

kann.<br />

Die beiden folgenden Faktoren – Selbstrespekt und Rücksichtnahme auf andere – beschreiben <strong>die</strong><br />

Grundlage e<strong>in</strong>er klaren, <strong>in</strong>neren Basis von Respekt; Respekt für alles was lebt, für den Dharma, Respekt<br />

auch für <strong>die</strong> Anstandsregeln <strong>in</strong> der Gesellschaft, für das, was allgeme<strong>in</strong>e Übere<strong>in</strong>kunft ist. Wir<br />

wollen <strong>mit</strong> unserem Verhalten nicht schockieren, sondern im Gegenteil den Weg f<strong>in</strong>den, ohne dass das<br />

Ich aus Mangel an Respekt andere verletzt oder schockiert.<br />

Die Faktoren der nun folgenden Dreiergruppe werden <strong>mit</strong> Verne<strong>in</strong>ungen ausgedrückt: Nicht-Begehren,<br />

Nicht-Hassen, Nicht-Verwirrtse<strong>in</strong>. Da<strong>mit</strong> wird nicht direkt e<strong>in</strong>e Qualität beschrieben, sondern <strong>die</strong> Abwesenheit<br />

der drei hauptsächlichen Geistesgifte, <strong>die</strong> für alles Leid, für alle Spannung, für alle Anspannung<br />

verantwortlich s<strong>in</strong>d.<br />

17) Nicht-Begehren<br />

ist, weder Existenz noch weltliche, materielle D<strong>in</strong>ge zu begehren. Es verh<strong>in</strong>dert fehlerhaftes Verhalten.<br />

Nicht-Begehren ist <strong>die</strong> Abwesenheit von Anhaftung an Existenz und auch <strong>die</strong> Abwesenheit von Anhaftung<br />

an weltlichen, materiellen D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Existenz unterstützen oder auszeichnen.<br />

Anhaftung an Existenz ist hier sehr umfassend zu verstehen. Mit Existenz s<strong>in</strong>d alle Existenzformen im<br />

Dase<strong>in</strong>skreislauf geme<strong>in</strong>t, alle samsarischen Existenzformen, angefangen von den Höllenwesen über<br />

<strong>die</strong> Hungergeister, <strong>die</strong> Tiere bis zu den Menschen und dann auch <strong>die</strong> Existenzformen der Halbgötter<br />

und Götter. Dieser Faktor be<strong>in</strong>haltet, ke<strong>in</strong>erlei Anhaftung an solche Existenzen, an solches Dase<strong>in</strong> zu<br />

haben.<br />

Dah<strong>in</strong>ter steht aber noch mehr, und zwar den Wunsch losgelassen zu haben, sich se<strong>in</strong>e Existenz zu beweisen,<br />

immer wieder <strong>die</strong> eigene Existenz zu bestätigen und neue Dase<strong>in</strong>sformen anzunehmen, sobald<br />

sich Körper und Geist getrennt haben, um wiederum auf jeden Fall klar als jemand Konkretes zu existieren.<br />

Es ist also im tiefsten S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong> Loslassen der Bestätigung e<strong>in</strong>es Ichs durch Existenz, e<strong>in</strong> Loslassen<br />

unserer eigenen Existenzbestätigung.<br />

Wie tief das geht und wie unglaublich tief wir auch noch daran arbeiten müssen, wird uns klar, sobald<br />

wir <strong>in</strong> unserer Existenz gefährdet s<strong>in</strong>d. Wenn e<strong>in</strong> Be<strong>in</strong>ahe-Unfall, e<strong>in</strong> Angriff oder Verlust unser Leben<br />

bedroht, wehren wir uns aus dem Bauch heraus und kämpfen ums Überleben.<br />

Der Ausdruck von Nicht-Anhaften, von Nicht-Begehren bezieht sich auf <strong>die</strong>sen Impuls des Haftens an<br />

Existenz, auf den Wunsch, aus ich-bezogenen Gründen wiedergeboren zu werden. Dazu gehört als<br />

Vorbereitung und auch als Begleitersche<strong>in</strong>ung, dass sich auch das Haften an den D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> zu <strong>die</strong>sen<br />

Existenzformen gehören, aufgelöst hat – das Haften am eigenen Körper, an Besitz, an Freunden und<br />

Familie, an unserer Umgebung, an bestimmten Dase<strong>in</strong>sformen, das Haften an S<strong>in</strong>neserfahrungen, sich<br />

durch S<strong>in</strong>neserfahrungen <strong>die</strong> eigene Existenz zu bestätigen.<br />

Es ist e<strong>in</strong> völliges Freise<strong>in</strong> von Haften an Dase<strong>in</strong>, da se<strong>in</strong> zu wollen, jemand se<strong>in</strong> zu wollen. Wir<br />

können es vielleicht so ausdrücken: Der Wunsch, jemand se<strong>in</strong> zu wollen, hat sich aufgelöst und <strong>die</strong><br />

Identifikation <strong>mit</strong> all dem, was uns def<strong>in</strong>iert, was für e<strong>in</strong> Jemand wir s<strong>in</strong>d, auch das hat sich aufgelöst.<br />

Wenn der Geistesstrom frei ist von dem Wunsch, e<strong>in</strong>e Existenz anzunehmen bzw. e<strong>in</strong>e Existenz aufrecht<br />

zu erhalten und zu verteidigen, tut sich e<strong>in</strong>e unglaubliche Freiheit auf. All <strong>die</strong>se Impulse, <strong>die</strong> auf<br />

Identifikation beruhen, s<strong>in</strong>d erloschen, wenn <strong>die</strong>ses Nicht-Begehren vorhanden ist.<br />

Der Text sagt, dass <strong>die</strong>ser Faktor des Nicht-Begehrens fehlerhaftes Verhalten verh<strong>in</strong>dert. Handlungen,<br />

<strong>die</strong> auf Ich-Bezogenheit aufbauen, führen zu Leid. Aus dem Haften an e<strong>in</strong>em Ich und se<strong>in</strong>er Existenz<br />

entstehen alle anderen Geistesgifte. Wenn sich <strong>die</strong>ses tiefe Anhaften aufgelöst hat, dann ist wirkliche<br />

Freiheit da, dann ist es nicht mehr möglich, <strong>in</strong> nicht-heilsames Handeln zu gleiten.<br />

64


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Unsere Praxis wird nicht notwendigerweise <strong>mit</strong> dem allertiefsten Punkt <strong>die</strong>ser Anhaftung, <strong>mit</strong> dem<br />

Auflösen des Haftens an Existenz an sich, beg<strong>in</strong>nen. Sie beg<strong>in</strong>nt eher <strong>in</strong> den Bereichen, wo uns schon<br />

ganz deutlich wird, dass Anhaften zu Leid, zu Stress, zu Spannung führt. Wir bemerken z.B., dass wir<br />

bei bestimmten Situationen an unserem Ansehen haften, daran, wie andere über uns denken; dass wir<br />

an Freunden und nahe stehenden Menschen haften, an Besitz, am Körper.<br />

Das merken wir. Vermutlich wird es uns aber dadurch noch nicht möglich se<strong>in</strong>, gleich loszulassen.<br />

Wir überlegen dann noch etwas genauer, wir schauen h<strong>in</strong>. Wir schauen uns <strong>die</strong> vergängliche Natur all<br />

<strong>die</strong>ser Objekte des Anhaftens an. Wir schauen uns an, wie s<strong>in</strong>nlos es ist, an ihnen festhalten zu wollen;<br />

wie unmöglich es ist, sie festzuhalten. Wir sehen, dass es sich tatsächlich um geistige Prozesse handelt,<br />

um Prozesse, <strong>in</strong> denen wir e<strong>in</strong>e Identifikation aufbauen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Wirklichkeit gar nicht besteht.<br />

Wenn sich Körper und Geist im Tod trennen, werden wir weder unseren Körper <strong>mit</strong>nehmen können,<br />

noch unseren Besitz, noch unsere Nächsten, noch unser Ansehen. All <strong>die</strong>se D<strong>in</strong>ge, <strong>mit</strong> denen wir<br />

me<strong>in</strong>ten e<strong>in</strong>s zu se<strong>in</strong>, <strong>mit</strong> denen wir uns identifiziert haben, s<strong>in</strong>d gar nicht das Ich.<br />

Wir klären so unsere Beziehung zu <strong>die</strong>sen zeitweiligen Attributen unserer Existenz, unseres Dase<strong>in</strong>s.<br />

Wir reduzieren aufgrund e<strong>in</strong>es immer tiefer werdenden Verständnisses das Haften daran und da<strong>mit</strong><br />

auch <strong>die</strong> Spannung, <strong>die</strong> daraus entsteht, wenn <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Bereichen Schwierigkeiten auftauchen, wenn<br />

Veränderungen auftauchen, wenn Verluste und Gefahren entstehen. Auf <strong>die</strong>se Weise reduziert sich das<br />

Ausmaß unseres Anhaftens schon ganz enorm.<br />

Wenn wir auf <strong>die</strong>se Weise <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge richtig e<strong>in</strong>schätzen, so bewirkt das natürlich, dass unser Gleichmut<br />

zunimmt. – Wir schätzen schöne Beziehungen so lange sie dauern, wir schätzen unseren Körper<br />

so lange er uns <strong>die</strong>nt, wir schätzen es, wenn angenehm über uns gesprochen wird, aber wir wissen genau:<br />

„Das b<strong>in</strong> nicht ich. Das ist nicht das, was wirklich <strong>die</strong> Essenz me<strong>in</strong>es Wesens ausmacht, das alles<br />

s<strong>in</strong>d zeitweilige Attribute.“ Wenn wir da Entspannung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, dann verstärken wir unseren<br />

Gleichmut. Nicht-Begehren, Nicht-Anhaften verstärkt den Gleichmut und befreit den Geist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

sehr viel realistischere Sicht der D<strong>in</strong>ge. Nicht-Anhaften verstärkt Weisheit, verstärkt E<strong>in</strong>sicht.<br />

Wir werden freier und können <strong>die</strong> wirklichen Prioritäten <strong>die</strong>ses Lebens viel deutlicher erkennen.<br />

Wenn ihr <strong>die</strong>se Unterweisungen hört, kann es gut se<strong>in</strong>, dass ihr hie und da Stiche im Herzen verspürt,<br />

dass es eng wird und sich alles zusammenzieht. Wenn ich z.B. davon spreche, nicht so an geliebten<br />

Menschen anzuhaften oder sich nicht so <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>em Körper zu identifizieren oder gar den Wunsch zu<br />

existieren loszulassen, da mag es sich ganz schön zusammenziehen. Und wenn wir dann daran denken,<br />

dass wir uns – selbst wenn das eigene Leben <strong>in</strong> Gefahr ist – aus Nicht-Anhaften am Leben nicht verteidigen<br />

sollten, dann steht uns das Wasser bis zum Hals. Das ist e<strong>in</strong>e direkte Konfrontation <strong>mit</strong> dem,<br />

worauf unser ganzes Leben aufbaut.<br />

Ich b<strong>in</strong> mir dessen bewusst! Aber entspannt euch, der Weg der Praxis geht <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Schritten. Wir<br />

fangen da an, wo wir selber ganz konkret merken, dass uns etwas nicht gut tut. Und dort lassen wir<br />

jeweils los, immer nur dort, wo wir selber merken, dass es uns nicht gut tut – es wird ohneh<strong>in</strong> nur dort<br />

Loslassen auftreten. Wo wir selber nicht überzeugt s<strong>in</strong>d, besteht gar ke<strong>in</strong>e Gefahr, das Loslassen aufzugeben.<br />

Es besteht nicht <strong>die</strong> ger<strong>in</strong>gste Gefahr.<br />

Ihr seid durch euer Anhaften geschützt, das ist e<strong>in</strong>e klare Barriere gegen allzu schnelles Erwachen.<br />

Wir könnten glauben, dass da jetzt e<strong>in</strong> unglaublicher Weg auf uns zukommt, wo wir anfangen <strong>mit</strong> e<strong>in</strong><br />

bisschen loslassen hier und etwas weniger Anhaftung dort, dann da noch e<strong>in</strong> bisschen Entsagung, immer<br />

mehr Entsagung, bis wir uns irgendwann e<strong>in</strong>mal <strong>mit</strong> unserer gewaltigen Entsagung <strong>in</strong>s Erwachen<br />

hochgestemmt haben. Aber das ist absolut nicht der Fall, es geht überhaupt nicht darum.<br />

Wir lassen <strong>die</strong> Ursachen des Leidens fallen, wie wir heiße Kartoffeln fallen lassen, weil wir uns sonst<br />

<strong>die</strong> Hände verbrennen. Es ist das Sehen, wie jedes Anhaften zu Leid führt, was un<strong>mit</strong>telbar zum Loslassen<br />

führt. Da<strong>mit</strong> ist ke<strong>in</strong>e Anstrengung verbunden. Ihr braucht mir doch nicht zu sagen, dass es anstrengend<br />

ist, e<strong>in</strong>e heiße Kartoffel fallen zu lassen. Das macht man doch automatisch, es ist das Loslassen<br />

von e<strong>in</strong>er Anstrengung, <strong>die</strong> Kartoffel zu halten.<br />

65


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wir s<strong>in</strong>d immer dabei, <strong>die</strong>se illusorischen Kartoffeln zu halten. Die größte Kartoffel, <strong>die</strong> wir halten, ist<br />

<strong>die</strong>ses Ich. Wir halten an <strong>die</strong>sem Ich fest, als ob es das geben würde. Aber wir brauchen gar ke<strong>in</strong> Ich<br />

loszulassen, denn das hat es nie gegeben. Dieses stabile Ich hat es nie gegeben!<br />

Es ist Weisheit, zu sehen, dass da gar nichts ist, <strong>mit</strong> dem man sich identifizieren könnte, was e<strong>in</strong>e<br />

Identifikation ermöglichen würde. Diese Weisheit führt zu jedem Schritt des Loslassens auf dem Weg.<br />

Das nennt man Nicht-Anhaften.<br />

Wenn wir erkennen, dass das, wo wir vorher dachten, dass da e<strong>in</strong> Ich wäre, <strong>die</strong>ses zeitlose Gewahrse<strong>in</strong><br />

ist – was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ständigen Prozess spontanen Erkennens agiert, sich manifestiert, gerade wie es <strong>die</strong><br />

Situation braucht – und dass es da gar ke<strong>in</strong> Ich gibt: Ja, wer will sich denn da noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Existenz<br />

als e<strong>in</strong> Ich manifestieren?<br />

Wir lassen e<strong>in</strong>fach das zeitlose Gewahrse<strong>in</strong> sozusagen se<strong>in</strong>e Arbeit machen. Wir lassen es unbeh<strong>in</strong>dert<br />

funktionieren, agieren, wie es ist. Man nennt das spontane Buddha-Aktivität. Wir brauchen uns da<br />

nicht <strong>mit</strong> unserem Anhaften e<strong>in</strong>zumischen, um daraus e<strong>in</strong>e beschränkte Existenz zu machen. Wenn<br />

man das wirklich sieht, so ist das Weisheit. Da gilt es nicht, Tausende von Anhaftungen loszulassen<br />

und auch noch dem Leben als Gott zu entsagen und dem Leben <strong>mit</strong> Menschen und lieben Freunden<br />

und Freund<strong>in</strong>nen zu entsagen. Ne<strong>in</strong>! Es geht e<strong>in</strong>fach darum zu erkennen, was ist.<br />

Das ist der Weg der Befreiung! Es geht darum, <strong>die</strong>se Klarheit des Geistes zuzulassen, aus der Klarheit<br />

wird verstanden, und wer versteht, haftet nicht mehr an.<br />

Die Buddhas s<strong>in</strong>d also ke<strong>in</strong>eswegs <strong>die</strong> großen Helden der Entsagung, sondern sie s<strong>in</strong>d Helden des Gewahr-Se<strong>in</strong>s.<br />

Aus unserer Sicht, aus der Sicht derjenigen, <strong>die</strong> nicht loslassen wollen, kommt es uns vor<br />

wie e<strong>in</strong>e Reihenfolge unglaublicher Taten, <strong>die</strong> dazu führen <strong>in</strong> solches Loslassen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zukommen.<br />

Aber aus der Sicht der Buddhas ist es ganz e<strong>in</strong>fach, dessen gewahr zu se<strong>in</strong>, was Leid erzeugt und<br />

daran nicht mehr festzuhalten. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach nicht so dumm, an dem, was Leid erzeugt,<br />

festzuhalten. Wir jedoch s<strong>in</strong>d noch so dumm. Das ist der Unterschied.<br />

Der Unterschied liegt zwischen dem Sehen, was <strong>die</strong> Ursachen des Leides s<strong>in</strong>d und sie nicht mehr zu<br />

erzeugen und <strong>die</strong> Ursachen nicht zu sehen, sie weiterh<strong>in</strong> zu erzeugen und zu me<strong>in</strong>en, das wäre der<br />

Weg zum Glück. – Ist es aber nicht.<br />

Wenn also hier im letzten Satz <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>ition gesagt wird, dass Nicht-Begehren, Nicht-Anhaften<br />

fehlerhaftes Verhalten verh<strong>in</strong>dert, dann bedeutet das Verhalten, das zu Leid führt. Genau das ist da<strong>mit</strong><br />

geme<strong>in</strong>t, dass man nur noch das denkt, spricht, tut, was aus dem Leid heraus und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Befreiung<br />

führt, <strong>in</strong> wirkliches Glück, <strong>in</strong> den Zustand des Erwachens.<br />

18) Nicht-Hassen<br />

ist <strong>die</strong> Abwesenheit e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>dseligen Geisteshaltung gegenüber fühlenden Wesen oder schmerzlichen<br />

Dharmas (Erfahrungen). Es verh<strong>in</strong>dert fehlerhaftes Verhalten.<br />

Mit Hassen, Ablehnen ist <strong>die</strong> Geisteshaltung geme<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong> Lebewesen oder irgende<strong>in</strong>e Erfahrung im<br />

Leben nicht haben zu wollen. Am liebsten wäre uns, es würde überhaupt nicht mehr <strong>in</strong> unserer Erfahrung<br />

auftauchen, <strong>die</strong>ses Lebewesen wäre ausgeschaltet, aus unserer Erfahrungswelt vertrieben oder gar<br />

vernichtet, und das Objekt e<strong>in</strong>er leidvollen Erfahrung wäre ebenfalls vernichtet, wäre e<strong>in</strong>fach nicht<br />

mehr vorhanden.<br />

Das ist e<strong>in</strong> zerstörerischer, aggressiver Impuls <strong>in</strong> der Ablehnung, wir s<strong>in</strong>d ärgerlich. Wenn wir ehrlich<br />

s<strong>in</strong>d, würden wir dann am liebsten nichts da<strong>mit</strong> zu tun haben: „Raus da<strong>mit</strong>, am besten erledigen, da<strong>mit</strong><br />

es ja nie wieder auftaucht.“ Das wäre unsere „Idealvorstellung“, wenn wir ärgerlich s<strong>in</strong>d.<br />

In kle<strong>in</strong>en Situationen des Lebens – z.B. es gibt Geräusche im Haus – zeigt sich sehr schnell, was für<br />

e<strong>in</strong> Potential an Aggressivität <strong>in</strong> uns steckt. Es wird sehr schnell aggressiv <strong>in</strong> uns, wenn andere nicht<br />

schweigen wollen, wenn wir unseren Mittagsschlaf oder Ruhe haben wollen, oder wenn wir es nicht<br />

schaffen, störende Geräuschquellen im Haus abzustellen. Dann kommen wir unter Spannung, und <strong>die</strong>se<br />

Spannung ist <strong>die</strong>ses aggressive Potenzial. Deswegen hat der Buddha <strong>die</strong>sen starken Ausdruck von<br />

Hass oder von Aggressivität gebraucht.<br />

66


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wo Nicht-Hassen, Nicht-Ablehnen oder Freise<strong>in</strong> von Aggressivität ist, da ist Akzeptanz, Toleranz von<br />

dem was ist, e<strong>in</strong> Annehmen der Tatsache, dass da leidvolle, schmerzhafte Erfahrungen im Leben s<strong>in</strong>d.<br />

Auch bei <strong>die</strong>sen Faktoren des Nicht-Hassens, der Nicht-Aggressivität könnte man denken, dass es um<br />

unglaubliche Anstrengungen geht, um zu solcher Akzeptanz und Toleranz zu f<strong>in</strong>den. Eigentlich ist es<br />

aber dasselbe wie <strong>mit</strong> dem Faktor zuvor: Es geht um Identifikation. Wir identifizieren uns <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Leben so wie wir es uns vorstellen, dann passiert jedoch etwas, was anders ist. Das provoziert <strong>die</strong> Anschauung,<br />

wie me<strong>in</strong> Leben zu se<strong>in</strong> hat, wie me<strong>in</strong>e Erfahrung se<strong>in</strong> soll. Innerlich haben wir das Gefühl:<br />

„Und das mir! Das passiert mir!“. Das zeigt, <strong>mit</strong> welch starken Identifikationen wir leben, <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick<br />

auf angenehme wie auch auf unangenehme Erfahrungen. Es ist absolut <strong>die</strong>selbe Identifikation.<br />

Wenn wir dann merken, dass <strong>die</strong> Objekte unserer Ablehnung von zeitweiliger Natur s<strong>in</strong>d, dass sie e<strong>in</strong>fach<br />

nur für gewisse Zeiten <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Leben auftauchen und sich auch wieder auflösen; dass sie an<br />

sich ke<strong>in</strong>e Substanz haben, dass sie auch nicht <strong>die</strong>se außerordentliche Wichtigkeit im eigenen Leben<br />

haben, dann relativiert das schon e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Objekte.<br />

Wenn wir darüber h<strong>in</strong>aus noch erkennen, dass es auch das Subjekt gar nicht gibt, das sich da aufregen<br />

muss, das sich verteidigen muss, das um se<strong>in</strong>e Existenz besorgt se<strong>in</strong> muss. Wenn wir wiederum <strong>die</strong>ses<br />

zeitlose Gewahrse<strong>in</strong> erkennen, dann lösen sich Subjekt und Objekt als Illusionen auf. Sie werden erkannt<br />

als das, was sie wirklich s<strong>in</strong>d, als vorübergehende Projektionen des Geistes.<br />

Wieso dann noch kämpfen, wieso im Kampf e<strong>in</strong>es Ich gegen <strong>die</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen se<strong>in</strong>? Die Ersche<strong>in</strong>ungen<br />

der Welt werden nie so se<strong>in</strong>, wie wir uns das <strong>in</strong> unseren Wünschen, Hoffnungen, Anhaftungen,<br />

Identifikationen vorstellen. Wir s<strong>in</strong>d, wenn wir nicht anhaften und nicht ablehnen, frei von Kampf.<br />

Der Geistesstrom ist nicht mehr im Kampf <strong>mit</strong> der Welt und da<strong>mit</strong> <strong>in</strong> Freiheit. Wer kämpft, wer sich<br />

auflehnt gegen <strong>die</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen, ist unfrei.<br />

Wenn wir aus e<strong>in</strong>er entspannten Perspektive, d.h. ohne Anhaftung und Ablehnung, <strong>in</strong> der Welt se<strong>in</strong><br />

können, dann erst wird es uns möglich, <strong>die</strong> Natur der D<strong>in</strong>ge wirklich zu erkennen – zum e<strong>in</strong>en <strong>die</strong> Natur<br />

der Erfahrungen und dann auch <strong>die</strong> anderen Merkmale <strong>die</strong>ser Erfahrungen, <strong>die</strong> uns entgehen, wenn<br />

wir <strong>in</strong> der Vision der Ablehnung s<strong>in</strong>d. Beim Ablehnen werden ja <strong>die</strong> unangenehmen Erfahrungsanteile<br />

aufgebläht, sie werden viel, viel stärker, sie werden vergrößert und alles andere verschw<strong>in</strong>det.<br />

Um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation wirklich weise hilfreich se<strong>in</strong> zu können, braucht es e<strong>in</strong>e gleichmütige Betrachtung,<br />

<strong>die</strong> zugleich auch noch <strong>die</strong> Natur der Ersche<strong>in</strong>ungen kennt. Das ist dann das Gewahrse<strong>in</strong> der<br />

Erwachten, das dynamisch ist, aus sich heraus tut was notwendig ist, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation hilfreich zu<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Diejenigen also, <strong>die</strong> nicht im Hassen, <strong>in</strong> der Aggressivität, <strong>in</strong> Ablehnung s<strong>in</strong>d, werden sich nicht auf<br />

fehlerhaftes Verhalten e<strong>in</strong>lassen. Sie werden ke<strong>in</strong>e weiteren Ursachen von Spannung und Leid erzeugen<br />

und da<strong>mit</strong> aussteigen aus dem Kreislauf, <strong>in</strong> dem Leid erneutes Leid erzeugt. – Ablehnung von<br />

Leid erzeugt weitere Anspannung und weitere angespannte Gedanken, Worte und physische Handlungen.<br />

19) Nicht-Verwirrtse<strong>in</strong><br />

ist, durch e<strong>in</strong>gehendes Untersuchen <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> wahre Bedeutung nicht verblendet zu se<strong>in</strong>.<br />

Es verh<strong>in</strong>dert Fehler.<br />

Der dritte Faktor <strong>die</strong>ser Serie ist das Nicht-Verwirrtse<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Abwesenheit von Täuschung. Wenn wir<br />

<strong>die</strong>ses Nicht-Verwirrtse<strong>in</strong> untersuchen, dann geht es um e<strong>in</strong>e Klarheit des Verständnisses im H<strong>in</strong>blick<br />

auf <strong>die</strong> Wahrheit an sich, <strong>die</strong> wahre Natur aller Ersche<strong>in</strong>ungen, all dessen, was es zu erleben gibt. Es<br />

wird erkannt, dass – was auch immer für Objekte der Wahrnehmung auftauchen, was für Erfahrungen<br />

auftauchen – es sich immer um e<strong>in</strong>en Prozess handelt. Immer handelt es sich um Phänomene, <strong>die</strong> im<br />

Wandel s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e fixe Identität haben, ke<strong>in</strong>en stabilen Wesenskern.<br />

Wir sehen, dass jede Erfahrung im Geist stattf<strong>in</strong>det und dass <strong>die</strong> Art, wie das Bewusstse<strong>in</strong> <strong>mit</strong> Erfahrung<br />

umgeht, <strong>die</strong> Wirklichkeit gestaltet. Wir sehen, dass <strong>die</strong> Wirklichkeit davon abhängt, wie <strong>mit</strong> ihr<br />

umgegangen wird; dass sie immer <strong>in</strong> ihrer Natur leer, d.h. illusorisch ist, ohne Wesenskern; dass auch<br />

der Erfahrende, <strong>die</strong> Erfahrende selbst ohne Wesenskern ist, e<strong>in</strong> dynamischer Prozess.<br />

67


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

So ist der Geistesstrom <strong>in</strong> der Wirklichkeit selbst, es gibt ke<strong>in</strong>e Diskrepanz mehr zwischen dem, was<br />

ist, und dem, was man darüber denkt, oder was angenommen wird. Anschauung und Wirklichkeit s<strong>in</strong>d<br />

e<strong>in</strong>s geworden, und deswegen kommt es nicht mehr zu Fehlern. Es kommt nicht mehr zu Fehlern <strong>in</strong><br />

Annahmen über <strong>die</strong> Wirklichkeit, es kommt nicht zu Fehlern im Sprechen, es kommt nicht zu Fehlern<br />

im Handeln. Das ist das Ende der Diskrepanz von Vorstellung und Wirklichkeit.<br />

Das ist das Ende der drei Geistesgifte. Wenn <strong>die</strong>se drei Faktoren abwesend s<strong>in</strong>d, dann s<strong>in</strong>d zur gleichen<br />

Zeit alle anderen Faktoren anwesend, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong>se drei ausgebremst werden.<br />

Wenn wir uns vorstellen, was alles zum Vorsche<strong>in</strong> kommt, wenn Anhaften, Ablehnen und Verblendung<br />

– Begehren, Hass und Dummheit, Täuschung – abwesend s<strong>in</strong>d, dann ist das <strong>die</strong> gesamte Liste<br />

von erwachten Qualitäten: Liebe, Mitgefühl, Freude, Dankbarkeit, Geduld, Freigebigkeit, Weisheit, …<br />

was auch immer. Solange euch Qualitäten e<strong>in</strong>fallen, sie können <strong>die</strong>ser Liste angefügt werden.<br />

Es ist sehr viel e<strong>in</strong>facher zu sagen „Abwesenheit <strong>die</strong>ser drei grundlegenden Geistesgifte“, der Rest<br />

ergibt sich daraus von selbst. Das zum Vorsche<strong>in</strong>-Kommen der verdeckten, verh<strong>in</strong>derten Qualitäten<br />

unseres Geistes ist e<strong>in</strong> natürlicher Prozess, wenn <strong>die</strong> blockierenden Faktoren abwesend s<strong>in</strong>d. Dann<br />

wird das aktiv, was natürlicher Ausdruck e<strong>in</strong>es entspannten Geistes ist.<br />

E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches Beispiel aus der eigenen Erfahrung macht uns klar, wie es <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen Qualitäten ist:<br />

Wenn wir entspannt s<strong>in</strong>d – und das s<strong>in</strong>d wir ja, wenn <strong>die</strong> Faktoren Anhaften, Ablehnen und Täuschung<br />

aufgelöst, nicht vorhanden s<strong>in</strong>d – dann s<strong>in</strong>d wir frei von Stress, frei von Anspannung. Dann kommt<br />

Freude auf, der Geist wird leicht. Dieser leichte Geist, das leichte Herz teilt <strong>mit</strong> anderen ohne anzuhaften,<br />

ohne was zu wollen. Es entsteht Vertrauen, wir s<strong>in</strong>d angstfrei, alles kommt ganz von selbst. Man<br />

braucht es gar nicht extra zu erzeugen, es ist e<strong>in</strong>fach da. Respekt ist natürlicherweise auch da, alle natürlichen<br />

Qualitäten des Geistes kommen von selbst zum Vorsche<strong>in</strong>.<br />

Meditation:<br />

Meditieren frei von Anhaften. – Wie fühlt sich das <strong>in</strong>nerlich an? –<br />

Ohne Identifikation. –<br />

Ohne Anstrengung. –<br />

In den Meditationsunterweisungen, nennt man das manchmal Nichtmeditation. –<br />

Da ist niemand, der meditiert; ke<strong>in</strong> Meditierender und ke<strong>in</strong>e Meditation, ungekünstelt. –<br />

Man nennt es auch natürliches Se<strong>in</strong>. –<br />

Wir nennen es auch selbst-gewahres Bewusstse<strong>in</strong>. –<br />

Frei von Hoffnung und Furcht. –<br />

* * *<br />

Das ist ganz e<strong>in</strong>fach: Abwesenheit von Begierde, Abwesenheit von Hass bzw. Abneigung und Abwesenheit<br />

von Verwirrung, Täuschung.<br />

Wenn der Buddha von Nicht-Begehren, Nicht-Hassen, Nicht-Verwirrtse<strong>in</strong> sprach, dann hat er uns all<br />

das gezeigt, was nicht ist – das ist es nicht, das fällt auch weg, das fällt weg, ke<strong>in</strong>e Identifikation, ke<strong>in</strong>e<br />

Hoffnung, ke<strong>in</strong>e Furcht, ke<strong>in</strong>e Anstrengung. Da<strong>mit</strong> hat der Buddha alles weggefegt, und so entsteht<br />

e<strong>in</strong> nicht näher beschriebener Raum, der sich auch der normalen Beschreibung entzieht. –<br />

Und das ist es, worum es geht. Buddha lädt uns e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Raum h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuf<strong>in</strong>den. Diesen Raum<br />

nicht zu beschreiben, nicht zu benennen, ist das größte Geschenk, das man machen kann, denn er ist<br />

eigentlich nicht benennbar.<br />

Es gab Praktizierende, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Dimension für e<strong>in</strong> Nichts hielten, weil sie durch nicht <strong>die</strong>s und nicht<br />

jenes beschrieben wird. Sie dachten, dass das, was übrig bleibt, dann wohl e<strong>in</strong> Nichts ist. Aber es ist<br />

68


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

e<strong>in</strong>e Fülle, und daraus ergeben sich dann doch <strong>die</strong> Beschreibungen <strong>die</strong>ses Zustandes <strong>mit</strong> Begriffen,<br />

wodurch <strong>die</strong>se Dimension aber nicht zu etwas D<strong>in</strong>glichem wird, bloß weil z.B. der Begriff zeitloses<br />

Gewahrse<strong>in</strong> benutzt wird. So e<strong>in</strong> Begriff ist eigentlich e<strong>in</strong> Nichtbegriff. Die Begriffe, <strong>die</strong> benutzt werden,<br />

um <strong>die</strong>se Dimension zu beschreiben, sollen über <strong>die</strong> Begrifflichkeit h<strong>in</strong>aus weisen. Wenn man sie<br />

z.B. transzendente oder befreiende Weisheit nennt, dann ist das e<strong>in</strong> Begriff, der über normale Vorstellungen<br />

von Weisheit h<strong>in</strong>aus weist.<br />

Die Beschreibungen oder Benennungen <strong>die</strong>ser Dimension sollten uns nicht dazu verleiten, zu denken,<br />

dass <strong>die</strong>se Dimension erfassbar wäre; fassbar <strong>mit</strong> Worten, oder erfassbar <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, dass e<strong>in</strong> Subjekt<br />

e<strong>in</strong>e Erfahrung beschreiben kann. Es gibt <strong>in</strong> der Beschreibung des Erwachens ke<strong>in</strong>e Trennung von<br />

Subjekt und Objekt, Erfahrender und Erfahrenes s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>s, sie s<strong>in</strong>d nicht getrennt. Darum gibt es auch<br />

ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, das zu beschreiben. Beschreibung f<strong>in</strong>det aus e<strong>in</strong>er Distanz statt, das ist e<strong>in</strong>e Spaltung.<br />

Diese Spaltung ist aufgehoben <strong>in</strong> der Erfahrung des Erwachens. Deswegen gibt es auch ke<strong>in</strong>e<br />

Begriffe, <strong>die</strong> das korrekt beschreiben können.<br />

Dieses Vorgehen – es ist nicht das, nicht jenes und auch nicht <strong>die</strong>ses – f<strong>in</strong>de ich sehr hilfreich.<br />

Natürlich auch deshalb, weil wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tradition s<strong>in</strong>d, wo dann doch <strong>die</strong> Fülle der Qualitäten, <strong>die</strong><br />

sich da auftut, beschrieben wird. Aber ich sage es noch e<strong>in</strong>mal: Eigentlich, ist es e<strong>in</strong> Geschenk unserer<br />

Lehrer, dass sie <strong>die</strong>sen Raum, der sich da auftut, nicht weiter beschreiben, weil sie uns sonst auf e<strong>in</strong>e<br />

falsche Fährte setzten würden. Es bleibt e<strong>in</strong>e Entdeckung, es bleibt das Sehen von etwas, was nicht zu<br />

entdecken oder nicht zu sehen ist. Es gibt dann auch niemanden, der es entdeckt. Es ist ganz wichtig,<br />

sich klar zu machen: Es gibt dann auch niemanden, der erwacht. Es gibt niemanden, der <strong>in</strong> der<br />

Erleuchtung ankommt.<br />

Das Ende allen Irrtums, das Ende e<strong>in</strong>es gewaltigen Irrtums, nennt man das Erwachen. Es ist nicht so,<br />

dass irgendwas noch aus dem Irrtum <strong>in</strong>s Erwachen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> käme und sich als erleuchtet erkennt.<br />

* * *<br />

Lasst uns zu unserer Liste der heilsamen Faktoren zurückkehren.<br />

Die Faktoren <strong>die</strong>ser Liste beschreiben uns, was es braucht, um <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser nicht beschreibbaren Dimension<br />

aufzugehen.<br />

20) Nicht-Schaden-Wollen<br />

ist e<strong>in</strong>e <strong>mit</strong>fühlende Geisteshaltung, <strong>die</strong> Teil von Nicht-Hassen ist. Sie bewirkt, anderen ke<strong>in</strong><br />

Leid zuzufügen.<br />

Nicht-Schaden-Wollen ist e<strong>in</strong> Unterpunkt von Nicht-Hassen und bräuchte eigentlich nicht separat aufgezählt<br />

werden. Es ist e<strong>in</strong> sekundärer Punkt, der <strong>in</strong> dem Faktor, den wir schon besprochen haben, voll<br />

enthalten ist. Nicht-Schaden-Wollen wird hier aber nochmals aufgezählt, weil es <strong>die</strong> Grundhaltung ist,<br />

<strong>die</strong> den Weg des Erwachens ermöglicht: sich und anderen ke<strong>in</strong>e Gewalt anzutun, e<strong>in</strong>e <strong>mit</strong>fühlende<br />

Geisteshaltung. Es ist wichtig, sich selbst e<strong>in</strong>zubeziehen. Das sche<strong>in</strong>t zwar völlig logisch zu se<strong>in</strong>, aber<br />

manchmal vergessen wir, dass es auch darum geht, uns selbst ke<strong>in</strong>e Gewalt anzutun.<br />

In <strong>die</strong>sem Nicht-Schaden-Wollen f<strong>in</strong>den wir nicht nur Mitgefühl sondern auch <strong>die</strong> eigentliche Quelle<br />

des Mitgefühls: Verständnis. Wir verstehen, was alles zu Leid beiträgt und <strong>in</strong>wiefern Gewalt den<br />

Kreislauf des Leidens immer weiter unterhält. Dieses Nicht-Schaden-Wollen, ke<strong>in</strong>e Gewalt anzuwenden,<br />

bedeutet im weitesten S<strong>in</strong>ne dann auch, nicht zu manipulieren. Manipulation enthält e<strong>in</strong>en Faktor<br />

von Gewalt, Gewalt antun.<br />

Wenn wir unser Leben ganz und gar auf dem Fundament aufbauen, uns selbst und anderen ke<strong>in</strong> Leid<br />

zuzufügen, nicht schaden zu wollen, dann haben wir e<strong>in</strong>e total solide Basis für unsere <strong>in</strong>nere Entwicklung,<br />

<strong>mit</strong> der wir ganz, ganz weit gehen können. Wenn wir alle Ursachen des Leidens für uns<br />

selbst und andere ausschließen können, wenn wir alle Gedanken, Worte und Handlungen, <strong>die</strong> Leid<br />

bewirken, unterlassen können, dann führt <strong>die</strong>s zu e<strong>in</strong>er Verfe<strong>in</strong>erung unseres <strong>in</strong>neren Wahrnehmens,<br />

69


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

unserer Empf<strong>in</strong>dsamkeit. Wir spüren dann auch, was gut tut – das ist ja das Pendant dazu – sodass<br />

alle<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Faktor schon e<strong>in</strong>e Revolution <strong>in</strong> unserem Leben bewirken kann.<br />

Indem wir so ganz fe<strong>in</strong> h<strong>in</strong>schauen und dabei immer weiter untersuchen was eigentlich schadet, was<br />

zu Leid beiträgt, werden wir ganz empf<strong>in</strong>dsam. Wir bekommen ganz empf<strong>in</strong>dsame <strong>in</strong>nere Antennen<br />

für all das, was Anspannung erzeugt. Wie wir durch unsere Gedanken, durch unsere Worte und unsere<br />

physischen Handlungen, Spannung um uns herum und <strong>in</strong> uns erzeugen und im Grunde genommen<br />

schaden, weil wir <strong>in</strong> Leid h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>führen. Das führt zu e<strong>in</strong>er großen Verfe<strong>in</strong>erung <strong>in</strong> unserer Wahrnehmung<br />

und <strong>in</strong> unserem Verhalten.<br />

Das ist <strong>die</strong> Geburt von wirklichem Mitgefühl. Und wo Mitgefühl stark wird, entstehen all <strong>die</strong> anderen<br />

Qualitäten des Erwachens.<br />

Es gibt e<strong>in</strong> Sutra, <strong>in</strong> dem der Buddha dann fragt: „Wenn ich nur e<strong>in</strong>e Qualität <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Handfläche<br />

hätte und <strong>die</strong>se Qualität wäre <strong>die</strong> Quelle aller anderen erwachten Qualitäten, welche wäre das?“<br />

Die Antwort ist: Mitgefühl!<br />

21) Freudige Ausdauer<br />

ist, sich <strong>mit</strong> freudvollem Geist für das Heilsame e<strong>in</strong>zusetzen. Sie bewirkt, dass alles Heilsame <strong>in</strong><br />

vollem Umfang verwirklicht wird.<br />

Freudige Ausdauer können wir auch gut <strong>mit</strong> Energie übersetzen. Es ist <strong>die</strong> Energie, heilsame Handlungen<br />

<strong>mit</strong> freudvollem Geist auszuführen. Es ist also e<strong>in</strong>e geistige Haltung der Entschlossenheit, <strong>die</strong><br />

freudig alle heilsamen Aktivitäten unterstützt.<br />

Diese freudige Ausdauer führt alle heilsamen Projekte, Anliegen bis zum Ende. Sie überw<strong>in</strong>det Faulheit,<br />

sie überw<strong>in</strong>det Entmutigung auf dem Weg. Wenn wir so enttäuscht oder entmutigt s<strong>in</strong>d, dass wir<br />

heilsame Aktivitäten e<strong>in</strong>stellen wollen, dann ist es <strong>die</strong>ser Faktor der freudigen Ausdauer, der bewirkt,<br />

dass wir <strong>die</strong>se Schwierigkeiten überw<strong>in</strong>den können.<br />

Es heißt, dass <strong>die</strong>ser Faktor der freudigen Ausdauer alle anderen erwachten Qualitäten unterstützt, dass<br />

freudige Ausdauer <strong>die</strong> Freund<strong>in</strong> all <strong>die</strong>ser Qualitäten ist. Wir können das e<strong>in</strong>mal durchspielen: Freudige<br />

Ausdauer verb<strong>in</strong>det sich <strong>mit</strong> Mitgefühl, <strong>mit</strong> Liebe, <strong>mit</strong> Freigebigkeit, <strong>mit</strong> Geduld, <strong>mit</strong> der meditativen<br />

Stabilität und bewirkt, dass wir <strong>in</strong> unserem Untersuchen der Natur der Phänomene nicht aufgeben,<br />

dass wir weitermachen bis alles Früchte trägt. Es ist der entscheidende Faktor, der H<strong>in</strong>dernisse<br />

auflöst.<br />

* * *<br />

In der buddhistischen Tradition beschränken wir uns auf <strong>die</strong>se elf Faktoren und fügen <strong>die</strong>ser Liste<br />

ke<strong>in</strong>e weiteren h<strong>in</strong>zu, da<strong>mit</strong> sie überschaubar bleibt. Sie gibt e<strong>in</strong>en guten Überblick über <strong>die</strong> wesentlichen<br />

Qualitäten, <strong>die</strong> auf dem Weg des Erwachens freigesetzt werden.<br />

In <strong>die</strong>ser Liste ist Liebe nicht enthalten, Mitgefühl taucht als Def<strong>in</strong>ition, als Unterpunkt von Nicht-<br />

Schaden-Wollen auf. Weisheit wird nicht erwähnt, Freigebigkeit und Geduld fehlen, ganz wichtige<br />

Qualitäten fehlen sche<strong>in</strong>bar.<br />

Wo würdet ihr z.B. <strong>die</strong> Liebe f<strong>in</strong>den, ist euch aufgefallen wo <strong>die</strong> Liebe h<strong>in</strong>gehören würde?<br />

Im Nicht-Hassen. –<br />

Liebe ist Anteil von all den genannten Faktoren. –<br />

Geduld. –<br />

Es ist ganz e<strong>in</strong>fach: Wenn es Gleichmut gibt, dann ist auch Geduld da. Wenn es ke<strong>in</strong> Anhaften und<br />

ke<strong>in</strong> Ablehnen gibt, dann ist Geduld da.<br />

70


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wo ist <strong>die</strong> Freigebigkeit?<br />

Gleichmut ist e<strong>in</strong>e Form von Freigebigkeit. –<br />

Es gibt <strong>in</strong> Frankreich e<strong>in</strong>e Aufschrift an Bahnübergängen: „Achtung! E<strong>in</strong> Zug kann e<strong>in</strong>en anderen verdecken.“<br />

Genauso ist es auch hier. Wenn ihr e<strong>in</strong>e Qualität sucht, sucht sie doch e<strong>in</strong>fach h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong>sen<br />

Qualitäten, <strong>die</strong> hier aufgezählt s<strong>in</strong>d. Sie s<strong>in</strong>d eigentlich alle enthalten. Es gibt ke<strong>in</strong>e Qualität, <strong>die</strong><br />

wirklich fehlt.<br />

Wo f<strong>in</strong>den wir <strong>die</strong> Bescheidenheit, Demut?<br />

Sie f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> der Nicht-Anhaftung, im Nicht-Verwirrtse<strong>in</strong>, <strong>in</strong> der Flexibilität des Geistes, im<br />

Nicht-Begehren.<br />

Ich glaube, wir können <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser kle<strong>in</strong>en Übung schon zeigen, dass <strong>die</strong> Komb<strong>in</strong>ation <strong>die</strong>ser verschiedenen<br />

Qualitäten, <strong>die</strong> hier angesprochen werden, ausreicht, um <strong>die</strong> vielen anderen, <strong>die</strong> jetzt nicht aufgeführt<br />

s<strong>in</strong>d, doch auch zu erfassen.<br />

Wenn es nur e<strong>in</strong>e Qualität gäbe, <strong>die</strong> <strong>die</strong> ganze Liste zusammenfassen sollte, welche würdet ihr nehmen?<br />

Mitgefühl, …Weisheit, …Entspannung, …Sorgfalt, …Gewissenhaftigkeit, …Gleichmut…<br />

Das s<strong>in</strong>d viele Vorschläge, und jeder Vorschlag hätte se<strong>in</strong>e gute Begründung, warum er zutreffend ist.<br />

Aber eigentlich ist doch <strong>die</strong> Flexibilität das Wichtigste.<br />

Und was sagst du zu Gleichmut? Gleichmut be<strong>in</strong>haltet doch schon <strong>die</strong> Flexibilität.<br />

Werden <strong>die</strong>se Faktoren <strong>mit</strong> dem Willen so ausgeführt?<br />

Der Wille besteht nur dar<strong>in</strong>, was wir als Zusammenfassung der Liste aussuchen wollen, aber <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Faktoren haben nicht so viel <strong>mit</strong> Wollen zu tun, z.B. der Gleichmut oder das Nicht-Anhaften.<br />

Das ist nicht etwas, das wir <strong>mit</strong> Wollen erzeugen können.<br />

Wenn ich das genauer anschaue, dann ist doch dah<strong>in</strong>ter eigentlich immer e<strong>in</strong>e große Wachsamkeit,<br />

<strong>die</strong> zu dem Erkennen führt.<br />

Du willst da<strong>mit</strong> sagen, dass das der geme<strong>in</strong>same grundlegende Faktor se<strong>in</strong> kann?<br />

Bei <strong>die</strong>sem Spiel, das wir hier gemacht haben, ist wichtig zu erkennen, dass jede <strong>die</strong>ser Qualitäten andere<br />

Qualitäten <strong>in</strong> sich trägt. Wenn man ganz fe<strong>in</strong> analysiert, dann kann man eigentlich aus jeder Qualität<br />

alle anderen ableiten. Sie be<strong>in</strong>halten sich gegenseitig, so als wären es verschiedene Aspekte e<strong>in</strong>er<br />

e<strong>in</strong>zigen Qualität, der des freien Geistes, des erwachten Geistes.<br />

Der Ausdruck Bodhicitta – citta bedeutet Geist und bodhi erwacht –, <strong>die</strong> erwachte Geisteshaltung<br />

zeigt uns, dass all <strong>die</strong>se Qualitäten im Grunde genommen e<strong>in</strong>e Geisteshaltung s<strong>in</strong>d, und hilft uns zu erkennen,<br />

dass es sich nicht um separate Qualitäten handelt, <strong>die</strong> wir e<strong>in</strong>e nach der anderen zu entwickeln<br />

hätten. Sie greifen alle <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander wie <strong>die</strong> verschieden Facetten e<strong>in</strong>es Juwels.<br />

Warum spricht man von Mitgefühl und nicht von Liebe? Liebe kommt mir viel umfassender vor als<br />

Mitgefühl.<br />

Jeder hält für sich e<strong>in</strong>e Qualität für <strong>die</strong> vielleicht wichtigste im Leben. So kann man durchaus Liebe<br />

für wichtiger oder umfassender halten als Mitgefühl. De<strong>in</strong>e Nachbar<strong>in</strong> wollte ja auch, dass Flexibilität<br />

als <strong>die</strong> umfassendste Qualität erkannt wird, und so kann man sich auf e<strong>in</strong>e Qualität stärker e<strong>in</strong>lassen<br />

und für e<strong>in</strong>en selber als wichtigste Qualität mehr <strong>in</strong> den Vordergrund heben. Aber es geht darum zu erkennen,<br />

dass sie sich alle gegenseitig be<strong>in</strong>halten.<br />

Natürlich könnte das Zitat des Buddha auch auf <strong>die</strong> Liebe gelautet haben. Es war eben <strong>mit</strong> karuna,<br />

dem Sanskrit-Ausdruck für Mitgefühl, und dar<strong>in</strong> me<strong>in</strong>t man eigentlich e<strong>in</strong>e ganz empf<strong>in</strong>dsame Geisteshaltung,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Bedürfnisse aller Wesen erkennt und erspürt. Es ist nicht das Mitleid von compassion,<br />

sondern es ist <strong>die</strong>ses fe<strong>in</strong>e Gefühl für das, was <strong>die</strong> Bedürfnisse anderer s<strong>in</strong>d, was ihre Spannungen<br />

s<strong>in</strong>d und wie man ihnen da heraushelfen kann.<br />

71


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Mitgefühl bezieht sich <strong>in</strong> der Def<strong>in</strong>ition der buddhistischen Lehre auf den Wunsch, alle Wesen aus<br />

ihren Spannungen, ihrem Leid zu befreien. Liebe ist der Wunsch, sie <strong>in</strong>s Glück h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuführen, bzw.<br />

alle Ursachen und Bed<strong>in</strong>gungen zur Verfügung zu stellen, dass Glück möglich ist. Es s<strong>in</strong>d eigentlich<br />

<strong>die</strong> beiden Seiten derselben Münze, immer und immer <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander verbunden.<br />

Übung zum Verständnis der heilsamen Faktoren:<br />

Nehmt euch e<strong>in</strong>e Qualität, <strong>die</strong> eurer Ansicht nach <strong>die</strong> meisten anderen <strong>mit</strong> <strong>in</strong> sich trägt und kontempliert<br />

tief darüber, wie sie <strong>die</strong> anderen <strong>in</strong> sich trägt, wie e<strong>in</strong>s zum anderen führt. Br<strong>in</strong>gt es eventuell<br />

sogar auch zu Papier, wie e<strong>in</strong> Faktor <strong>mit</strong> dem anderen verbunden ist. Man nimmt z.B. das Nicht-Begehren,<br />

Nicht-Anhaften als Ausgangspunkt und schaut, wie das <strong>mit</strong> dem Faktor Flexibilität zusammen<br />

hängt und dann überlegt man <strong>die</strong> Querbeziehung zu den anderen Faktoren.<br />

Da<strong>mit</strong> das Spiel auch noch <strong>in</strong>teressanter wird, nehmt dann noch e<strong>in</strong>en anderen Faktor und macht dasselbe<br />

für <strong>die</strong>sen anderen Faktor, da<strong>mit</strong> sich das Gefühl auflöst, als würde nur <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>e Faktor <strong>die</strong> anderen<br />

<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>beziehen. Dadurch lernt ihr <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Faktoren besser kennen und ihr habt auch <strong>die</strong><br />

Möglichkeit, herauszuf<strong>in</strong>den aus dem Schubladen-Denken, dass das getrennte Faktoren wären.<br />

* * *<br />

Fragen:<br />

Manipulation<br />

Wenn e<strong>in</strong> Medium oder auch e<strong>in</strong>e Regierung e<strong>in</strong>e Information weitergibt, <strong>die</strong> verfälscht ist, ist das<br />

dann auch Gewalt oder Manipulation?<br />

In dem Fall, wo es sich um e<strong>in</strong>e bewusste Absicht handelt, muss man das als Manipulation sehen. Es<br />

führt zu Schaden, wenn Informationen verdreht werden. Die Informationen, <strong>die</strong> gegeben werden, sollten<br />

korrekt se<strong>in</strong>, sie sollten nicht verdreht se<strong>in</strong>. Das gilt auch für geschriebene Informationen, das gehört<br />

auch zu dem Respekt vor anderen.<br />

Sometimes we do some manipulation for example with children. We don’t do it for ourselves, but just<br />

to help them. Is this still manipulation?<br />

This is manipulation based on love. This is a delicate question, because we always manipulate <strong>in</strong> a<br />

way, we always <strong>in</strong>fluence the situation. But with this factor here the <strong>in</strong>tention is to harm.<br />

Widmung – verschiedene Ebenen<br />

Wenn ich spirituellen Fortschritt mache, widme ich ihn allen fühlenden Wesen. Aber ich denke auch<br />

an <strong>die</strong> Wesen der Vergangenheit und der Zukunft, <strong>die</strong> auch me<strong>in</strong>e Ahnen und auch me<strong>in</strong>e Nachkommen,<br />

<strong>die</strong> noch nicht geboren s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>schließen. Me<strong>in</strong>e Frage dazu: Kann me<strong>in</strong> spiritueller Fortschritt<br />

all <strong>die</strong>sen Wesen helfen, <strong>die</strong> Möglichkeit zu erhalten, ebenfalls e<strong>in</strong>en Weg zu gehen?<br />

Die Widmung spricht sich immer für <strong>die</strong> Lebewesen von jetzt aus. Denn <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> früher waren,<br />

s<strong>in</strong>d jetzt irgendwo <strong>in</strong> den sechs Dase<strong>in</strong>sbereichen oder s<strong>in</strong>d befreit. E<strong>in</strong>e ‚Rückwärtswidmung’ für <strong>die</strong><br />

Wesen aus der Vergangenheit braucht es also nicht. E<strong>in</strong>e Widmung für <strong>die</strong> Wesen, <strong>die</strong> noch kommen<br />

werden, braucht es auch nicht, weil sie auch jetzt <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em Dase<strong>in</strong>sbereich <strong>in</strong>karniert s<strong>in</strong>d. Wenn<br />

wir für alle Lebewesen der sechs Dase<strong>in</strong>sbereiche widmen, dann s<strong>in</strong>d da<strong>mit</strong> alle erfasst.<br />

72


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Karmische Bänder <strong>in</strong> der Familie<br />

Me<strong>in</strong>e Frage ist mehr noch auf <strong>die</strong> Familie bezogen. Ich möchte gerne <strong>die</strong>se karmischen Beziehungen<br />

<strong>mit</strong> der Familie etwas klären, erleichtern und <strong>in</strong>s Familienkarma h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> wirken.<br />

Wo Beziehungen, Bänder bestehen, wirken Widmungen besonders stark. Mit Familienangehörigen,<br />

speziell <strong>mit</strong> Eltern und Geschwistern, hat man starke karmische Bänder, das geht weit zurück. Und es<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Bänder, <strong>die</strong> bewirken, dass e<strong>in</strong>e Widmung relativ starke Auswirkungen haben kann. Die<br />

karmische Beziehung zu den noch nicht geborenen Enkeln besteht noch nicht, da hat sich noch ke<strong>in</strong>e<br />

solche karmische Beziehung e<strong>in</strong>gestellt, und darum ist e<strong>in</strong> Widmen entlang <strong>die</strong>ser Verb<strong>in</strong>dungsl<strong>in</strong>ie<br />

e<strong>in</strong>fach nur nettes Wunschdenken und beruht höchstens auf karmischen Bändern aus früheren Leben.<br />

But it is possible for us to dedicate our own merit from past, future and present.<br />

Yes, all of it, whatever positive may ever arise.<br />

You talked about children <strong>in</strong> the future. The merit <strong>in</strong> the future we can dedicate?<br />

Well, well, well! It is prepar<strong>in</strong>g us not to get identified <strong>in</strong> the future as well. It is forward dedication<br />

like say<strong>in</strong>g: “May all my future lives also serve the benefit of all sentient be<strong>in</strong>gs!” It is a wish, you<br />

cannot yet dedicate anyth<strong>in</strong>g because it is not done, but you can prepare yourself like this.<br />

And then, of coarse there is someth<strong>in</strong>g about the dedication of merit which goes beyond time. So,<br />

actually the true force of merit is not to be found <strong>in</strong> past, present and future, it is timeless. So, there is<br />

also this dimension. When one dedicates merit, it becomes without a self, without identification and<br />

the comparison of time – present, past and future – drops away as well. So, dedication helps us also to<br />

enter the timeless dimension and that’s why we often f<strong>in</strong>d this mention of past, present and future because<br />

actually it is timeless. Time is dualistic, is comparison of an observ<strong>in</strong>g m<strong>in</strong>d and then you enter<br />

<strong>in</strong>to this real spirit of dedication you leave that comparative m<strong>in</strong>d beh<strong>in</strong>d.<br />

Mangel an meditativer Stabilität<br />

E<strong>in</strong>e Frage zu e<strong>in</strong>er Bemerkung aus dem Kurs des letzten Jahres. Da hast Du gesagt, dass es den so<br />

genannten Mahamudra-Praktizierenden oft an Stabilität <strong>in</strong> ihrer Meditation mangelt. Ich würde gerne<br />

mehr darüber erfahren, wie es sich <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Meditation <strong>mit</strong> dem Bild des Raumes verhält im<br />

Vergleich zu Anweisungen, wo man von E<strong>in</strong>sgerichtetheit, von Konzentration spricht.<br />

Der Fehler <strong>in</strong> der Praxis, den ich damals ansprach, war der, dass wir uns Mahamudra-Praktizierende<br />

nennen, im weiten Raum der Entspannung praktizieren, aber <strong>in</strong> Wirklichkeit dabei s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e Gedankenkette<br />

nach der anderen zu verfolgen und nicht <strong>die</strong> Energie aufbr<strong>in</strong>gen, das zu schneiden und loszulassen.<br />

Wir verwickeln uns immer wieder und nennen das Mahamudra-Praxis, obwohl es eigentlich<br />

nur Praxis der Anhaftung ist. Das hat <strong>mit</strong> dem Raum des Loslassens, der Nicht-Identifikation nichts zu<br />

tun.<br />

Der zweite Aspekt der Frage war zu E<strong>in</strong>sgerichtetheit. E<strong>in</strong>sgerichtetheit ist <strong>in</strong> Tibetisch tse tschig, es<br />

richtet sich auf e<strong>in</strong>en Gipfel aus, nicht auf e<strong>in</strong>en Punkt, es ist e<strong>in</strong>e Bewegung h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em immer<br />

höheren Punkt der meditativen Sammlung. Zunächst kann der Punkt der meditativen Sammlung e<strong>in</strong><br />

äußeres Objekt se<strong>in</strong>, das man vor sich stellt und auf das man se<strong>in</strong>en Geist völlig unabgelenkt sammelt.<br />

Von da kann man dann z.B. zu e<strong>in</strong>er Visualisation übergehen, wo es ke<strong>in</strong>en äußeren Bezugspunkt<br />

mehr gibt, aber e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren. In der Visualisation, z.B. von Tschenresi, kann man dann auch weiter<br />

gehen und direkt auf <strong>die</strong> Qualitäten meditieren, z.B. auf <strong>die</strong> Qualität von grenzenloser Liebe. Und<br />

wieder: In <strong>die</strong>ser Meditation auf grenzenlose Liebe kann man den Bezugspunkt – <strong>die</strong> Lebewesen, <strong>die</strong><br />

wie <strong>die</strong> Empfänger unserer Liebe und unseres Mitgefühls s<strong>in</strong>d – lassen und nur <strong>in</strong> der Qualität von<br />

Liebe und Mitgefühl se<strong>in</strong> ohne äußere Bezugspunkte.<br />

So geht der ‚Gipfel’, <strong>die</strong> Ausrichtung unserer Praxis, <strong>in</strong> immer subtilere Ebenen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, bis wir es lernen,<br />

sogar ohne Bezugspunkte völlig unabgelenkt zu verweilen. Und <strong>die</strong>ses völlig Unabgelenkte nennt<br />

man dann auch E<strong>in</strong>sgerichtetheit, obwohl <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Form von Präsenz ke<strong>in</strong> Bezugspunkt mehr da ist.<br />

Es gibt nichts, worauf man sich ausrichtet, aber man ist völlig unabgelenkt <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser raumgleichen<br />

Offenheit, und das lernen wir <strong>mit</strong> den vorhergehenden Übungen, wo wir ganz konzentriert dabei<br />

bleiben und <strong>die</strong> Verwicklungen <strong>in</strong> Gedankenketten auflösen.<br />

73


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Geistesgifte<br />

Ich habe noch e<strong>in</strong>e Frage zum Ende der Geistesgifte – Begehren, Hass und Dummheit. Ich hab auf<br />

dem Tangkha h<strong>in</strong>ter Dir <strong>die</strong>se Juwelen betrachtet und mir gedacht, vielleicht s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> drei Geistesgifte<br />

e<strong>in</strong>fach nur Täuschungen <strong>die</strong>ser drei Juwelen.<br />

Zunächst e<strong>in</strong>mal: Ich b<strong>in</strong> mir nicht bewusst, dass es e<strong>in</strong>e solche Verb<strong>in</strong>dung gibt. Ich b<strong>in</strong> gerade e<strong>in</strong>mal<br />

dabei, da h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu spüren. … Ich kann <strong>die</strong>se Verb<strong>in</strong>dung erst e<strong>in</strong>mal so nicht sehen, das hat auf<br />

den ersten Blick nichts <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander zu tun. Man könnte da was konstruieren. – Also ke<strong>in</strong>e weitere<br />

Antwort.<br />

Loslassen<br />

Mich hat heute Morgen das Bild von der heißen Kartoffel bee<strong>in</strong>druckt, <strong>die</strong> man dann automatisch<br />

loslässt. Ich frage mich, ob es bei uns auch so weit kommen muss, d.h. dass es so unangenehm wird<br />

und wir nicht mehr anders können, als loszulassen, oder ob es nicht auch moderater geht?<br />

Es gibt schon e<strong>in</strong>e andere Möglichkeit: Man kann anderen zuschauen, wie sie sich an ihren heißen<br />

Kartoffeln verbrennen und dann daraus lernen, was <strong>die</strong> Erfahrung der anderen ist. Das ist fortgeschrittene<br />

Weisheit. Wenn man es schafft, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, kann man sich unglaublich<br />

viel ersparen.<br />

Das wäre der Ausweg, <strong>die</strong> Erfahrung anderer steht uns zur Verfügung, das ist Dharma. Dharma stellt<br />

uns <strong>die</strong> Erfahrungen von Jahrtausenden zur Verfügung, wenn wir daraus lernen können. Wir brauchen<br />

uns dann nur noch <strong>mit</strong> anderen auszutauschen, um vielleicht noch e<strong>in</strong>mal bestätigt zu haben, dass es<br />

tatsächlich so ist. Dann könnten wir auch viel schneller loslassen, ohne es zu katastrophalen Erfahrungen<br />

kommen zu lassen. Wir versuchen <strong>in</strong> den Dharma-Unterweisungen zu beschleunigen, dass e<strong>in</strong>e<br />

heiße Kartoffel als solche erkannt wird, bevor sie e<strong>in</strong>en verbrennt.<br />

Entsagung<br />

Kann Entsagung als e<strong>in</strong>e Form der Befreiung betrachtet werden?<br />

Entsagung ist nicht nur e<strong>in</strong>e Form der Befreiung, wahre Entsagung ist wirklich Befreiung. Die wahre<br />

Entsagung ist, dem Ichanhaften zu entsagen und allen anderen Formen des Anhaftens, <strong>die</strong> Leid verursachen,<br />

und das ist wahre Befreiung.<br />

Authentische Widmung<br />

Wenn wir e<strong>in</strong>e Praxis <strong>mit</strong> starken Emotionen ausgeführt haben und selbst dann, wenn wir bei der<br />

Widmung ankommen, <strong>die</strong> Emotion immer noch nachwirkt. Hat dann <strong>die</strong> Widmung trotzdem heilsame<br />

Auswirkungen für andere?<br />

Wenn wir beim Widmen authentisch s<strong>in</strong>d und <strong>in</strong>nerlich z.B. das kle<strong>in</strong>e Bisschen Geduld <strong>mit</strong> den eigenen<br />

Emotionen <strong>in</strong> der Praxis oder <strong>die</strong> Ausdauer im Ausführen der Praxis trotz der Emotionen widmen,<br />

dann hat es tatsächlich gute Folgen.<br />

* * *<br />

74


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Heute Morgen haben wir e<strong>in</strong>ige Momente <strong>in</strong> der Meditation des Nicht-Anhaftens verbracht. Jetzt werden<br />

wir dasselbe <strong>mit</strong> dem Nicht-Ablehnen versuchen.<br />

Die Meditations-Anweisung ist ganz e<strong>in</strong>fach: Wir lehnen für e<strong>in</strong>e Weile e<strong>in</strong>mal nichts ab.<br />

Meditation:<br />

Wir üben uns dar<strong>in</strong>, nichts abzulehnen, nichts zurückzuweisen. –<br />

Übung zu Gleichmut:<br />

Nehmt euch doch jetzt noch e<strong>in</strong> Viertelstündchen oder mehr, setzt euch draußen irgendwo h<strong>in</strong> und<br />

praktiziert völligen Gleichmut, frei von anhaften und ablehnen. Gleichmut bei ganz wachem Geist.<br />

Versucht den Gleichmut e<strong>in</strong>mal als Erfahrung im eigenen Geist zu f<strong>in</strong>den!<br />

Macht es nicht zu lang, sodass ihr wirklich e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Kontakt <strong>mit</strong> Gleichmut erfahren könnt, dar<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> bisschen aufgehen könnt. Wenn es zu lang wird, dann verlieren wir vielleicht <strong>die</strong> Frische des<br />

Geistes, <strong>die</strong> da<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>hergeht.<br />

* * *<br />

Bis jetzt haben wir das Funktionieren des Geistes <strong>mit</strong>tels der allgegenwärtigen Geistesfaktoren, der<br />

Faktoren, <strong>die</strong> sich der Objekte vergewissern und den heilsamen Faktoren, <strong>die</strong> zum Erwachen führen,<br />

untersucht. Im Folgenden geht es natürlich darum, was das Erwachen, was <strong>die</strong>se völlige Offenheit des<br />

Geistes verh<strong>in</strong>dert.<br />

Die nicht heilsamen Geistesaktivitäten<br />

Diese blockierenden, h<strong>in</strong>dernden Geistesfaktoren werden nichtheilsame – oft auch nichttugendhafte –<br />

Geistesfaktoren genannt, und sie werden auch <strong>die</strong> Faktoren emotionaler Verblendung genannt. Das tibetische<br />

Wort, das immer <strong>mit</strong> emotionaler Verblendung übersetzt wird, ist nyönmong. Nyön heißt verrückt,<br />

außer S<strong>in</strong>nen und mong heißt verdunkelt oder verblendet. Es ist also e<strong>in</strong>e emotionale Verblendung,<br />

<strong>die</strong> uns nicht mehr klaren Geistes se<strong>in</strong> lässt und den Geist verdunkelt.<br />

Auf Sanskrit heißen <strong>die</strong>se Faktoren kleshas. Klesha bedeutet soviel wie e<strong>in</strong> Gebrechen, e<strong>in</strong> Leiden;<br />

etwas, das schwer auf uns lastet und uns beh<strong>in</strong>dert; e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung, Beh<strong>in</strong>derung, Belastung des<br />

Geistes.<br />

Wenn wir jetzt über emotionale Geisteszustände sprechen, dann ist es – wie wir anhand <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>itionen<br />

gesehen haben – nicht zutreffend, e<strong>in</strong>fach von Emotionen zu sprechen, wenn wir <strong>die</strong> belastenden<br />

Geisteszustände me<strong>in</strong>en. Die Bedeutung von Emotion ist e<strong>in</strong>fach Geist <strong>in</strong> Bewegung, und wir<br />

nennen <strong>in</strong> unserer Sprache auch Freude e<strong>in</strong>e Emotion. Dabei s<strong>in</strong>d Freude, Liebe oder Dankbarkeit<br />

heilsame Geistesfaktoren, sie öffnen den Geist und s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Belastungen. Wir müssen also vorsichtig<br />

se<strong>in</strong>, dass wir nicht me<strong>in</strong>en, der Dharmaweg sei bestimmt, uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zustand ohne Emotionen,<br />

ohne geistige Bewegung zu führen, ohne Gemütsbewegungen. In Französisch sagt man <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>em<br />

Fall, „jemand ist wie e<strong>in</strong> Gemüse“, bei uns würde man vielleicht sagen „wie so e<strong>in</strong> Kohlkopf“. Das ist<br />

ke<strong>in</strong>eswegs geme<strong>in</strong>t, wir s<strong>in</strong>d frei von Belastungen, wir s<strong>in</strong>d befreit von Belastungen. Darum geht es<br />

und nicht um das Auflösen von Emotionen.<br />

Wenn wir <strong>mit</strong> anderen sprechen, müssen wir also gut aufpassen, dass wir nicht e<strong>in</strong>fach von Emotionen<br />

sprechen. Wir müssen zum<strong>in</strong>dest von Störgefühlen sprechen oder von emotionaler Verblendung, von<br />

belastenden Emotionen, denn darum geht es. Das ist es, wovon wir uns zu befreien haben. Der Rest ist<br />

<strong>die</strong> Dynamik des Geistes.<br />

75


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Die nichtheilsamen Geistesaktivitäten bestehen aus sechs primären emotionalen Belastungen<br />

und zwanzig sekundären emotionalen Belastungen.<br />

Die sechs primären Belastungen<br />

kurz Hauptemotionen (klesá). – eigentlich bleiben wir lieber beim Begriff ‚emotionale Belastung’.<br />

Der erste Faktor, der das Erwachen verh<strong>in</strong>dert und uns belastet, ist Unwissenheit.<br />

22) Unwissenheit<br />

ist, Handlungen und ihre Folgen, <strong>die</strong> Wahrheiten, sowie <strong>die</strong> Fähigkeiten – <strong>die</strong> Qualitäten – der<br />

drei Juwelen nicht zu verstehen. Sie bewirkt das Entstehen aller Ersche<strong>in</strong>ungen völliger emotionaler<br />

Verblendung.<br />

Unwissenheit (tib. marigpa) bedeutet mangelndes Gewahrse<strong>in</strong>, Abwesenheit von rigpa, Abwesenheit<br />

von wirklichem Gewahrse<strong>in</strong>. Avidya im Sanskrit hat <strong>die</strong> gleiche Bedeutung, das Nichterkennen, das<br />

Nichtsehen. Es geht also nicht um das Wissen. Es ist nicht so, dass uns e<strong>in</strong> Wissen fehlt, was wir leicht<br />

aufstocken könnten um dann zu wissen, weil wir erfahren haben. Es geht um e<strong>in</strong> tiefes <strong>in</strong>neres Wissen,<br />

um e<strong>in</strong> Gewahrse<strong>in</strong>.<br />

Die erste Form von Unwissenheit, von mangelndem Gewahrse<strong>in</strong>, ist nicht gewahr zu se<strong>in</strong>, welche Beziehung<br />

besteht zwischen unseren Gedanken, Worten und Handlungen und dem was wir jetzt und <strong>in</strong><br />

Zukunft erleben. Wir s<strong>in</strong>d nicht gewahr, welche Gesetzmäßigkeiten zwischen den Handlungen auf<br />

<strong>die</strong>sen drei Ebenen und ihren Folgen e<strong>in</strong>e Rolle spielen. Wir kriegen nicht recht <strong>mit</strong>, dass wir selber<br />

<strong>die</strong> Ursachen für unser Erleben schaffen. Das ist e<strong>in</strong>e schwerwiegende Form von Nichtgewahrse<strong>in</strong>,<br />

weil wir <strong>in</strong> dem Glauben leben, dass z.B. das was uns geschieht unfair ist. „Warum muss ich das erleben<br />

und nicht jemand anders?“, „Wieso hört mir ke<strong>in</strong>er zu?“, „Warum vertraut mir ke<strong>in</strong>er?“, „Warum<br />

geht’s dem so gut und mir nicht?“ All <strong>die</strong>se Fragen, <strong>die</strong> sich stellen, s<strong>in</strong>d dar<strong>in</strong> begründet, dass wir <strong>die</strong><br />

Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht durchschauen, nicht überblicken. Das ist <strong>die</strong>se Form der<br />

Unwissenheit auf der relativen Ebene <strong>die</strong>ser jetzigen Existenz.<br />

Es ist, als würden wir <strong>die</strong> Spielregeln des Lebens nicht kennen, als wüssten wir nicht, nach welchen<br />

Gesetzen sich e<strong>in</strong> Leben entfaltet und als würden wir glauben, alles wäre irgendwie Zufall oder ungerechte<br />

Zuteilung.<br />

Wenn wir achtsamer und wirklich voller Bewusstheit aufmerksam s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf das was wir<br />

denken, sagen und physisch tun, dann bemerken wir, dass <strong>die</strong>se Geisteshaltung, <strong>die</strong>se Form von Gedanken<br />

solche Folgen haben, dass <strong>die</strong>se Art zu sprechen zu <strong>die</strong>ser Art von Spiegel im Leben führt,<br />

dass <strong>die</strong>se Art zu handeln solche Konsequenzen nach sich zieht. – Wir können das natürlich nur <strong>in</strong> der<br />

Spanne unseres jetzigen Lebens beobachten, aber <strong>die</strong>se Zusammenhänge bestehen auch <strong>in</strong> größeren<br />

Zeiträumen, sie gehen zurück <strong>in</strong> frühere Leben und sie gehen weiter über <strong>die</strong>sen Tod h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong>s nächste<br />

Leben <strong>in</strong> Form karmischer Muster. Aber es ist schon e<strong>in</strong>mal viel wert, wenn wir das mangelnde Gewahrse<strong>in</strong><br />

beheben und wirklich <strong>mit</strong>bekommen was unser Handeln <strong>mit</strong> Körper, Rede, Geist ist und was<br />

<strong>die</strong> nachvollziehbaren Auswirkungen <strong>die</strong>ses Handelns s<strong>in</strong>d. Wir wachen auf zu den <strong>in</strong>neren Kausalketten,<br />

<strong>die</strong> sich <strong>in</strong> unserem Leben abzeichnen.<br />

Es handelt sich bei <strong>die</strong>ser Kenntnis um gar nichts Mysteriöses. Es ist e<strong>in</strong>e ganz fe<strong>in</strong>e Beobachtung so<br />

wie wir sie auch <strong>in</strong> Psychologie, Soziologie, Politologie usw. f<strong>in</strong>den und <strong>in</strong> den Geisteswissenschaften,<br />

<strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen Ursache-Wirkungsketten, <strong>mit</strong> den Wechselwirkungen der verschiedenen<br />

Faktoren befassen: Bestimmte Geisteshaltungen, bestimmte Arten E<strong>in</strong>drücke zu verarbeiten führen zu<br />

klar erkennbaren Folgen. Diese Beobachtung kann jeder auch an sich selbst vornehmen.<br />

Als zweites Beispiel wird hier aufgeführt, <strong>die</strong> Wahrheiten zu kennen. Da<strong>mit</strong> s<strong>in</strong>d zunächst <strong>die</strong> vier edlen<br />

Wahrheiten, <strong>die</strong> der Buddha gelehrt hat, geme<strong>in</strong>t. Man kann es aber auch e<strong>in</strong>facher ausdrücken und<br />

sagen, das Leben gut zu kennen – das Leben <strong>mit</strong> den Wurzeln des Leidens und der Möglichkeit Befreiung<br />

zu erfahren.<br />

76


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

1. Wahrheit: Der Buddha beschreibt als guter Arzt erst e<strong>in</strong>mal ganz klar, um was für e<strong>in</strong> Leid es sich<br />

hier handelt. Er hat beobachtet, dass überall, im Geist aller Lebewesen, Spannung vorherrscht. Alle<br />

Wesen s<strong>in</strong>d zwar auf der Suche nach Glück, aber sie erfahren alle vielfältigen Formen von Leid und<br />

selbst <strong>in</strong> so genannten entspannten Geisteszuständen ist noch e<strong>in</strong> ziemliches Maß an Spannung im<br />

Geist vorhanden. Das ist <strong>die</strong> dualistische Spannung, <strong>die</strong> sich erst auflöst, wenn man <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit<br />

loslässt, wenn man sie ganz auflöst. Der Buddha beschreibt also <strong>mit</strong> der Wahrheit des Leides <strong>die</strong><br />

allgegenwärtige Spannung aller Lebewesen <strong>in</strong> allen Dase<strong>in</strong>sbereichen.<br />

2. Wahrheit: Dann schaut der Buddha als guter Arzt: Was s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Ursachen <strong>die</strong>ser Anspannung? Er<br />

beschreibt, dass all <strong>die</strong>se Anspannung aus der Ich-Bezogenheit resultiert, aus e<strong>in</strong>em mangelnden Gewahrse<strong>in</strong><br />

von dem was tatsächlich ist. Aus der irrigen Annahme e<strong>in</strong>es Ich resultieren Greifen, Festhalten,<br />

ungeschicktes Handeln <strong>mit</strong> Körper, Rede und Geist, was zu weiteren Anspannungen führt und zu<br />

all den vielfältigen Erfahrungen von Leid. Es ist e<strong>in</strong> Teufelskreis, e<strong>in</strong> ständiger Kreislauf, der genährt<br />

wird von mangelndem Gewahrse<strong>in</strong>, von Greifen und ungeschicktem Handeln, was wieder das mangelnde<br />

Gewahrse<strong>in</strong> verstärkt.<br />

3. Wahrheit: Wie e<strong>in</strong> guter Arzt es tun sollte, sucht der Buddha nach der Lösung. Nach Jahren des<br />

persönlichen Erforschens, der Suche, erfährt er den Zustand völlig frei von jeglicher Anspannung, das<br />

nonduale Gewahrse<strong>in</strong>, das Erwachen – frei von allem Leid. Und er weiß da<strong>mit</strong>, dass es möglich ist,<br />

völlig frei zu werden, dass das Herz, der Geist völlig frei von allen Belastungen wird. Er kennt jetzt<br />

den gesunden Zustand. Man nennt das <strong>die</strong> Wahrheit der Freiheit, der Freiheit von allem Leid. Es ist<br />

möglich.<br />

4. Wahrheit: Da der Buddha <strong>die</strong>se Dimension erfahren hat und auch genau weiß, wie er dah<strong>in</strong> gekommen<br />

ist, verkündet er <strong>die</strong> 4. Wahrheit, <strong>die</strong> der Therapie entspricht. Das ist <strong>die</strong> Beschreibung des Weges<br />

zur Befreiung, welchen Weg es e<strong>in</strong>zuschlagen gilt um <strong>die</strong>se vollkommene Offenheit zu erfahren und<br />

sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Man nennt <strong>die</strong>s auch <strong>die</strong> Wahrheit vom Achtfachen Weg der<br />

Edlen.<br />

Man kann also sagen, <strong>die</strong> Vier edlen Wahrheiten zu kennen, zu verstehen, bedeutet das Leben zu verstehen<br />

<strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Seite der Leidhaftigkeit und der Seite der Befreiung, und zu wissen wie man von der<br />

e<strong>in</strong>en Seite zur anderen gelangen kann, wie das Leben so oder so erfahren werden kann. Es ist das Ende<br />

von Unwissenheit, das Ende von mangelndem Gewahrse<strong>in</strong>.<br />

Aufgrund <strong>die</strong>ser Kenntnis der Vier edlen Wahrheiten aus tiefer eigener Erfahrung kennt jemand, bei<br />

dem sich <strong>die</strong> Unwissenheit aufgelöst hat, auch <strong>die</strong> Qualitäten oder Fähigkeiten der drei Juwelen –<br />

Buddha, Dharma, Sangha. Die letzte Unwissenheit hat e<strong>in</strong> Ende, wenn wir aus eigener Erfahrung wissen<br />

was Buddha bedeutet, was e<strong>in</strong> Buddha <strong>mit</strong> all den Fähigkeiten und Qualitäten, <strong>die</strong> sich aus dem<br />

vollkommenen Erwachen ergeben, ist.<br />

So jemand versteht auch, weshalb Erwachte <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge so erklären wie sie im Dharma eben erklärt<br />

werden. Er versteht <strong>die</strong> äußere Übertragung des Dharma und was <strong>mit</strong> dem Dharma eigentlich wirklich<br />

geme<strong>in</strong>t ist, <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Ebene, d.h. <strong>die</strong> Wirklichkeit selbst, <strong>die</strong> Natur der D<strong>in</strong>ge.<br />

Zugleich wissen solche Personen auch was <strong>mit</strong> Sangha geme<strong>in</strong>t ist, d.h. welche Hilfe, welche Unterstützung<br />

auf dem Weg notwendig ist um Fragen zu klären, um Zweifel aufzulösen, um <strong>die</strong> richtige<br />

Unterstützung <strong>in</strong> Studium, Meditation und Kontemplation zu bekommen. Sie wissen, was es für <strong>in</strong>spirierende<br />

Qualitäten braucht, um den Weg der Befreiung anzuspornen, um zu stimulieren, zu <strong>in</strong>spirieren.<br />

Wenn <strong>die</strong>ses Verständnis vorhanden ist, sprechen wir von Gewahrse<strong>in</strong>, von tiefem Wissen, von Se<strong>in</strong>serkenntnis.<br />

Wenn <strong>die</strong>ses Gewahrse<strong>in</strong> nicht vorhanden ist, sprechen wir von Unwissenheit, von mangelndem<br />

Gewahrse<strong>in</strong>s und nicht vorhandener Se<strong>in</strong>serkenntnis. Auf der Basis solch mangelnden Gewahrse<strong>in</strong>s<br />

entstehen alle Ersche<strong>in</strong>ungen emotionaler Verblendung. Man macht alle nur möglichen<br />

Fehler, weil man sich nicht auskennt. Wir s<strong>in</strong>d wie Kranke, <strong>die</strong> noch nicht erkannt haben, was <strong>die</strong> Ursachen<br />

ihrer Krankheit s<strong>in</strong>d und immer noch e<strong>in</strong>en nachlegen und immer kränker werden, weil wir<br />

nicht verstehen was es zu unterlassen und was es zu tun gilt.<br />

77


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wenn wir zu verstehen beg<strong>in</strong>nen, wenn wir den hilfreichen Unterweisungen zuhören und sie allmählich<br />

umsetzen, dann s<strong>in</strong>d wir wie Patienten, <strong>die</strong> beg<strong>in</strong>nen auf den Rat ihres Arztes zu hören, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Arzneien anwenden und allmählich aus ihrer Krankheit herausf<strong>in</strong>den. Wir verstehen besser, wir s<strong>in</strong>d<br />

weniger <strong>in</strong> emotionale Verblendung verwickelt, wir s<strong>in</strong>d weniger belastet, der Geist wird freier und<br />

wir verstehen mehr und mehr.<br />

Das war jetzt der erste <strong>die</strong>ser unheilsamen Faktoren, Unwissenheit. Eigentlich könnte ich hier <strong>mit</strong> der<br />

Beschreibung der nichtheilsamen Faktoren aufhören, denn da<strong>mit</strong> ist ja eigentlich schon alles gesagt.<br />

Fragen:<br />

Das große Spektrum an belastenden und heilsamen Geisteszuständen<br />

Ich würde gerne noch e<strong>in</strong>mal etwas hören zu Gedanken, belastenden Emotionen, weil ich merke, dass<br />

ich es gar nicht mehr klar kriege. Freude z.B.: da gibt es Freude, grundlose Freude, von der ich jetzt<br />

nicht aus Erfahrung sprechen kann. Vielleicht kannst Du dazu noch e<strong>in</strong>mal was sagen.<br />

Me<strong>in</strong>st du <strong>die</strong> Abgrenzung zwischen <strong>die</strong>sen emotionalen Belastungen und den heilsamen Geisteszuständen?<br />

Ist das nicht e<strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uum? So verstehe ich es jetzt. Eigentlich ist es ja nur verstandesmäßig e<strong>in</strong>e<br />

Dualität.<br />

Ja, jetzt verstehe ich de<strong>in</strong>e Frage. Was <strong>die</strong>se fließenden Übergänge angeht, so ist es genauso wie du<br />

sagst. Es gibt <strong>die</strong> Zustände ganz engen Herzens, ganz dichte Geisteszustände, wo starkes Anhaften da<br />

ist, und es gibt dann wirklich <strong>in</strong> jeder Schattierung Geisteszustände wo das leichter wird. Wenn sich<br />

das ganze Spektrum von tiefer Trauer und Verzweiflung allmählich entspannt, merkt man deutlich,<br />

wie der Geist allmählich leichter wird, wie e<strong>in</strong> gewisses Freudengefühl auftaucht – immer noch <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>er guten Menge Ich-Anhaftung – wie dann <strong>die</strong> Freude noch leichter wird, man entspannt sich noch<br />

weiter, aber auch bei sehr weiter Freude im Herzen ist e<strong>in</strong>fach noch e<strong>in</strong>e Spur Dualität dr<strong>in</strong>.<br />

Obwohl wir schon auf e<strong>in</strong>em Weg der Befreiung, des Freiwerdens von Belastungen s<strong>in</strong>d, muss man<br />

sagen, dass <strong>die</strong> Freude, <strong>mit</strong> der noch e<strong>in</strong>e Identifikation e<strong>in</strong>hergeht, immer noch e<strong>in</strong> Klesha ist, Spuren<br />

der Verblendung <strong>in</strong> sich trägt. Nur <strong>die</strong> Geisteszustände, <strong>die</strong> wirklich vollkommen frei s<strong>in</strong>d von jeder<br />

Form der Identifikation, s<strong>in</strong>d erwachte Geisteszustände. Aber <strong>die</strong> Geisteszustände, wo <strong>die</strong> Leichtigkeit<br />

dom<strong>in</strong>iert, wo der Geist oder das Herz leichter ist, wird im Vergleich zu dem was vorher war als<br />

heilsam betrachtet. Wir gehen also <strong>in</strong>s immer Heilsamere h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, bis wir uns sogar selbst vergessen<br />

können, bis <strong>die</strong> Identifikation sich auflöst und wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vollkommen freien Geisteszustand s<strong>in</strong>d.<br />

Das ist <strong>die</strong>ses Riesenspektrum, und <strong>in</strong> jeder emotionalen Schattierung können wir solche Spektren<br />

wahrnehmen. Das geht also auch <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er ganz heftigen Unwissenheit, e<strong>in</strong>em ganz heftigen mangelnden<br />

Gewahrse<strong>in</strong> bis h<strong>in</strong> zu fe<strong>in</strong>eren Gewahrse<strong>in</strong>szuständen <strong>mit</strong> Anhaftung bis wir <strong>in</strong>s zeitlose Gewahrse<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>treten, das völlig frei von Anhaftung ist.<br />

Das relativiert <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition von Emotion, wie wir sie auch früher gehört haben, dass es e<strong>in</strong>e geistige<br />

Bewegung aus e<strong>in</strong>er Ich-Bezogenheit heraus ist.<br />

Ja, das trifft doch weiterh<strong>in</strong> zu.<br />

Ja, aber es ist eben nicht so scharf abgegrenzt.<br />

Die Intensität der Ich-Bezogenheit macht dann aus, ob es sich im Vergleich zu dem, was man sonst erlebt,<br />

um e<strong>in</strong> Zurückgleiten <strong>in</strong> wirklich h<strong>in</strong>derliche, belastende Geisteszustände oder um heilsame<br />

Geisteszustände handelt. Für jemand, dessen Geist sich schon sehr weit <strong>in</strong> heilsame Geisteszustände<br />

geöffnet hat, werden Geisteszustände, <strong>die</strong> von anderen als heilsam erlebt werden, als eng oder belastend<br />

erfahren, weil <strong>in</strong>nerlich e<strong>in</strong> anderer Vergleich stattf<strong>in</strong>det. Hier ist <strong>die</strong> E<strong>in</strong>teilung der Faktoren<br />

ganz klar <strong>in</strong> das was zu Leid führt und <strong>in</strong> das was zur Befreiung und zu Glück führt. Da achten wir<br />

immer drauf. Die Faktoren werden e<strong>in</strong>geteilt aufgrund dessen was sie an Folgen auslösen oder was sie<br />

un<strong>mit</strong>telbar auch an Geistesenge oder Geistesweite bewirken.<br />

78


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ich bekomme den Begriff der Unwissenheit, auch so wie Du ihn jetzt noch e<strong>in</strong>mal erläutert hast, nicht<br />

<strong>mit</strong> der Qualität von Emotion als Geist <strong>in</strong> Bewegung auf <strong>die</strong> Reihe. Für mich ist es eher e<strong>in</strong>e Nicht-<br />

Bewegung.<br />

Zunächst muss man schon e<strong>in</strong>mal sagen, dass ‚Emotion’ e<strong>in</strong> westlicher Begriff ist, der sich e<strong>in</strong>gebürgert<br />

hat. Das ist aber hier nicht da<strong>mit</strong> geme<strong>in</strong>t. Hier s<strong>in</strong>d Geisteszustände geme<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> <strong>die</strong> geistige<br />

Klarheit untergraben – also quasi verrückt machen – und verdunkeln, <strong>die</strong> belasten. Zum Wort Emotion<br />

gibt es <strong>in</strong> den asiatischen Sprachen ke<strong>in</strong> Pendant. Die unterscheiden da ganz anders, sie unterscheiden<br />

hier zwischen heilsamen und nichtheilsamen Geisteszuständen. Aber wenn du dir anschaust, was<br />

Unwissenheit tatsächlich ist, so ist das etwas sehr Aktives. Es ist <strong>die</strong> Aktivität von Zweifeln, von<br />

Ängsten, von „Ich will – ich will nicht!“, von „Lass mich <strong>in</strong> Ruhe!“. Was wir Unwissenheit nennen,<br />

ist nicht etwa e<strong>in</strong> Loch sondern e<strong>in</strong> sehr aktiver Zustand, der so viel Aufgewühltse<strong>in</strong> im Geist produziert,<br />

dass der Geist total verdunkelt ist, so wie der Himmel von der Aktivität von Gewitterwolken.<br />

Dabei ist der Himmel verdunkelt, er ist aufgewühlt, und so ist das auch <strong>mit</strong> der Kraft der Unwissenheit.<br />

Sie ist nicht etwa e<strong>in</strong> statischer Geisteszustand, sondern da ist e<strong>in</strong>e Menge los, da s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e<br />

Menge Momente der Ich-Bezogenheit, <strong>die</strong> ganz schöne Wirbel auslösen, und <strong>die</strong>se Wirbel schaffen<br />

Unklarheit im Geist. Man kann das also durchaus als Emotionen beschreiben, man muss nur weg von<br />

<strong>die</strong>sen Begriffen Unwissenheit und mangelndes Gewahrse<strong>in</strong> und zu <strong>die</strong>sem Verständnis kommen, dass<br />

es sich um aufwühlende, von Angst besetzte, identifizierende Muster handelt, <strong>die</strong> unglaublich aktiv<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Wir müssen auch berücksichtigen, dass <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Liste hier der Faktor Angst nicht auftaucht. Angst ist<br />

<strong>die</strong> affektive Komponente von dem, was wir kognitiv als Unwissenheit beschreiben. Unwissenheit beschreibt<br />

<strong>die</strong>ses mangelnde Verständnis, beschreibt also den kognitiven Aspekt des Nichtwissens, und<br />

wenn wir uns nicht auskennen, wenn wir nicht verstehen, tritt sofort Unsicherheit <strong>mit</strong> Angst auf. Das<br />

ist <strong>die</strong> allgegenwärtige Angst. Sie steht hier nicht auf der Liste, weil sie eigentlich <strong>in</strong> Unwissenheit<br />

enthalten ist und auch <strong>in</strong> allen anderen Faktoren. Unwissenheit durchzieht alles.<br />

Der Faktor Angst wird deshalb nicht extra aufgeführt, weil er <strong>in</strong> allen anderen Faktoren allgegenwärtig<br />

ist.<br />

Wechselspiel des eigenen Karmas und dem Karma der anderen<br />

Ich lebe <strong>in</strong> der Nähe des Bahnhofes. Da treiben sich immer wieder unheimliche Gruppen herum, vor<br />

denen ich auch Angst habe. Ich kann nicht ganz glauben, dass es me<strong>in</strong>e völlig alle<strong>in</strong>ige Verantwortung<br />

ist, was passiert, wenn ich <strong>die</strong>sen Leuten begegne.<br />

Das ist e<strong>in</strong> Missverständnis von Karma. Es ist e<strong>in</strong> Wechselspiel zwischen dem Karma anderer und<br />

dem eigenen Karma, d.h. im Moment der Begegnung kommst du <strong>mit</strong> de<strong>in</strong>er ganzen karmischen Geschichte<br />

bis zu dem Punkt, wo du den anderen begegnest und sie kommen <strong>mit</strong> ihrer Geschichte bis zu<br />

dem Punkt, wo sie dir begegnen. Es f<strong>in</strong>det Austausch, e<strong>in</strong>e Wechselbeziehung statt. In <strong>die</strong>ser Wechselbeziehung<br />

können sehr starke D<strong>in</strong>ge geschehen. Die anderen werden das Ganze <strong>mit</strong> ihrer karmischen<br />

Brille erleben und du <strong>mit</strong> de<strong>in</strong>er und so geht <strong>die</strong> Geschichte dann weiter. Wir s<strong>in</strong>d so ständig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Austausch, wo das Karma des e<strong>in</strong>en dem Karma des anderen begegnet, daraus ergeben sich <strong>die</strong> Lebenssituationen,<br />

und <strong>die</strong> s<strong>in</strong>d sehr komplex. Es ist das Wechselspiel enorm vieler Kräfte. Und weil so<br />

unglaublich viele Kräfte <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Wechselspiel <strong>mit</strong>wirken, ist es auch sehr schwer präzise zu erleben,<br />

welchen Anteil wir daran haben.<br />

Es ist e<strong>in</strong> ständiges Spiel, wir reagieren ständig, tunen uns neu e<strong>in</strong>. Es ist e<strong>in</strong> ständiger Prozess von<br />

Ursache und Wirkung.<br />

Mit Karma ist <strong>die</strong> Dynamik unseres Lebens geme<strong>in</strong>t. Ursache-Wirkungs-Beziehungen im ständigen<br />

Wechselspiel <strong>mit</strong> anderen Ursache-Wirkungs-Beziehungen beschreiben das, was <strong>in</strong> unserem Leben<br />

passiert. Karma kann abgeschwächt werden, kann verstärkt werden. Es kann se<strong>in</strong>, dass bestimmte karmische<br />

Tendenzen zeitweilig gar ke<strong>in</strong>e Folgen zeigen können, sie können nicht zur Wirkung kommen,<br />

<strong>die</strong> Wirkung ist ausgesetzt. E<strong>in</strong> Karma kann auch völlig aufgelöst werden. Der Buddha hat ganz energisch<br />

korrigiert, als jemand me<strong>in</strong>te, e<strong>in</strong>e Handlung würde zu e<strong>in</strong>em bestimmten Ergebnis führen, z.B.<br />

e<strong>in</strong>en Menschen zu töten würde auf jeden Fall <strong>in</strong> <strong>die</strong> Höllenbereiche führen. Der Buddha hat da protestiert,<br />

weil vom Zeitpunkt des Tötens bis zum vollen Reifen der Frucht auf dem Weg unglaublich viel<br />

79


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

passieren kann was <strong>die</strong> Geisteshaltung des Menschen ändert, z.B. zu Reue führt oder auch zu e<strong>in</strong>er<br />

Verstärkung, zu e<strong>in</strong>er Freude über das Getane. Es können Handlungen stattf<strong>in</strong>den wie das Leben anderer<br />

zu retten usw. Es kann so viel stattf<strong>in</strong>den, dass es im schlimmsten Fall zur vollen Reifung <strong>in</strong> den<br />

Höllenbereichen kommt aber auch zu e<strong>in</strong>em gar nicht Manifestieren <strong>die</strong>ser Auswirkung, weil <strong>die</strong><br />

Handlung so auf <strong>die</strong>sen Menschen gewirkt hat, dass er <strong>in</strong> sich gegangen ist, dass er voll bereut hat und<br />

<strong>die</strong>ses Karma aufgelöst hat. Es braucht also gar nicht auf <strong>die</strong> nächste Geburt zu wirken. Es gab ja<br />

sogar e<strong>in</strong>en Massenmörder, der zur Zeit Buddhas <strong>die</strong> Arhat-Stufe erlangt hat, der also als Schüler<br />

Buddhas völlige Befreiung erlangte. Das muss man verstehen. Der Geist, das Leben ist dynamisch und<br />

Karma beschreibt <strong>die</strong> Regeln, nach denen sich <strong>die</strong>se Dynamik vollzieht.<br />

Vielleicht irre ich mich, aber beschreibt nicht Gampopa oder auch Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye <strong>die</strong><br />

bestimmten Auswirkungen von bestimmten Handlungen? Dass z.B. Töten Leben verkürzend wirkt etc.<br />

Ja genau! Lies <strong>die</strong>se Passage noch e<strong>in</strong>mal ganz genau. Da hast du z.B. beim völligen zur Reife-Kommen<br />

als Resultat <strong>die</strong> Höllenbereiche oder bei abgeschwächtem zur Reife Kommen e<strong>in</strong>e menschliche<br />

Geburt <strong>mit</strong> Krankheiten usw. Lies es noch e<strong>in</strong>mal genau, dann siehst du <strong>die</strong> Nuancen. Die Dynamik<br />

wird dar<strong>in</strong> beschrieben.<br />

* * *<br />

Der zweite Faktor <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Liste der sechs primären emotionalen Belastungen ist Begierde, Anhaftung.<br />

Begierde ist <strong>die</strong> Folge der Unwissenheit, des mangelnden Gewahrse<strong>in</strong>s. Wenn wir uns der Natur<br />

des Objektes wie auch des Subjektes klar bewusst wären, würde es nicht zu e<strong>in</strong>em Anhaften kommen.<br />

23) Begierde<br />

ist, <strong>die</strong> von den Triebflüssen geprägten Aggregate der drei Dase<strong>in</strong>sbereiche zu begehren. Sie bewirkt<br />

das Entstehen der Leiden der Existenzen. Man spricht von zwei Arten von Begierde: der<br />

„begehrenden Begierde“ des Bereiches der S<strong>in</strong>nesbegierden und der „Begierde zu existieren“<br />

der beiden höheren Bereiche.<br />

Begierde wird hier def<strong>in</strong>iert als das Anhaften an den <strong>Skandhas</strong>. Dieses Anhaften an oder Begehren der<br />

<strong>Skandhas</strong> drückt sich so aus, dass es da, wo es Formen gibt, me<strong>in</strong> Körper heißt statt e<strong>in</strong>fach Körper.<br />

Wo es Empf<strong>in</strong>dungen gibt, heißt es me<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dungen. Wo es Unterscheidungen gibt, s<strong>in</strong>d es me<strong>in</strong>e<br />

Unterscheidungen, me<strong>in</strong>e Überzeugungen, me<strong>in</strong>e Emotionen. „Ich will!“, „Ich will nicht!“ Das ist<br />

<strong>die</strong>se grundlegende Form des Anhaftens an <strong>die</strong> Aggregate, me<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong>, me<strong>in</strong> Geist.<br />

Es gibt nun <strong>die</strong> etwas genauere Erklärung, dass wir an den von Triebflüssen geprägten Aggregaten anhaften.<br />

Man spricht entweder von drei oder vier Samsara zugrunde liegenden Impulsen – hier wird <strong>in</strong><br />

vier unterteilt. Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> tiefsten Tendenzen oder Neigungen, <strong>die</strong> samsarische Existenz bestimmen.<br />

Der 1. Triebfluss, <strong>die</strong>se erste impulsive Strömung, ist das Verlangen nach S<strong>in</strong>nlichkeit, nach S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücken,<br />

e<strong>in</strong> subtiles aber ganz kräftiges Begehren zu riechen, zu schmecken, zu hören, zu fühlen,<br />

zu denken, zu sehen. Das ist der grundlegende Wunsch, S<strong>in</strong>neserfahrungen zu machen und sich<br />

natürlich darüber zu identifizieren.<br />

Wenn sich <strong>die</strong>ses S<strong>in</strong>nesverlangen stärker ausgestaltet, dann wird es zum Verlangen nach angenehmen<br />

S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücken, nach all den guten Gerüchen, dem guten Geschmack, dem schönen Aussehen, den<br />

erhebenden Gedanken usw. Es verfe<strong>in</strong>ert sich, das Verlangen gestaltet sich immer mehr aus und wird<br />

immer stärker <strong>in</strong> der Präzision se<strong>in</strong>er Objekte.<br />

Der 2. Triebfluss ist das Verlangen nach Dase<strong>in</strong>, Existenz oder Werden. Das ist der Wunsch, Geburt<br />

anzunehmen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Existenz e<strong>in</strong>zutreten. Normalerweise s<strong>in</strong>d wir uns <strong>die</strong>ser Bestrebungen gar nicht<br />

bewusst. Wir s<strong>in</strong>d uns nicht bewusst, dass <strong>in</strong> uns das subtile Verlangen zu existieren besteht. Wir s<strong>in</strong>d<br />

uns auch nicht bewusst, dass <strong>die</strong>ses subtile Verlangen, S<strong>in</strong>neserfahrungen zu machen, <strong>in</strong> uns aktiv ist.<br />

Es taucht nicht <strong>in</strong> unserem Bewusstse<strong>in</strong> auf, dass wir im Grunde genommen von <strong>die</strong>sen Impulsen<br />

getrieben s<strong>in</strong>d.<br />

80


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Der 3. Triebfluss ist das Festhalten an Standpunkten und Ansichten, das Bedürfnis, e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung zu<br />

haben, etwas, wo<strong>mit</strong> ich mich identifiziere als me<strong>in</strong>e Sichtweise. Wir s<strong>in</strong>d uns normalerweise <strong>die</strong>ses<br />

Bedürfnisses, Standpunkte e<strong>in</strong>zunehmen, gar nicht bewusst. Wir fragen uns immer nur, welchen<br />

Standpunkt wir e<strong>in</strong>nehmen wollen – ob wir nun <strong>die</strong>ser Me<strong>in</strong>ung folgen oder e<strong>in</strong>er anderen Me<strong>in</strong>ung;<br />

ob wir <strong>die</strong>ser Ansicht s<strong>in</strong>d oder e<strong>in</strong>er anderen. Und selbst wenn wir jede Ansicht verweigern, ist das<br />

e<strong>in</strong>e weitere Ansicht, e<strong>in</strong> weiterer Standpunkt. Dass dah<strong>in</strong>ter ständig <strong>die</strong>ses Streben nach Positionierung<br />

aktiv ist, e<strong>in</strong>en Standpunkt, e<strong>in</strong>en Bezugspunkt zu haben, ist uns gar nicht bewusst. Und das –<br />

me<strong>in</strong>te der Buddha – ist der grundlegende Impuls, sich <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Sichtweise zu identifizieren.<br />

Dieser dritte Punkt wird <strong>in</strong> manchen Listen der Triebflüsse gar nicht erwähnt, weil er im nächsten<br />

enthalten ist.<br />

Der 4. Triebfluss ist Unwissenheit oder mangelnde Bewusstheit, also das, was uns eigentlich immer<br />

wieder auch Zustände mangelnder Klarheit bevorzugen lässt, was uns <strong>in</strong> mangelndem Gewahrse<strong>in</strong><br />

kreisen und leben lässt. Wir s<strong>in</strong>d uns dessen gar nicht bewusst, aber <strong>die</strong>se Tendenz ist sehr stark. Wir<br />

haben nicht nur den Wunsch zu erwachen, sondern auch e<strong>in</strong>en Wunsch, möglichst nicht zu erwachen,<br />

möglichst nicht gewahr zu se<strong>in</strong>. Dieser Wunsch ist auch <strong>in</strong> uns aktiv. Normalerweise ist uns das nicht<br />

bewusst, aber <strong>in</strong> vielen Situationen ziehen wir den Schlaf dem Wachzustand vor, das unschärfere<br />

Bewusstse<strong>in</strong> dem klareren Bewusstse<strong>in</strong>. Es ist <strong>die</strong>se grundlegende Tendenz zum Nicht-Wissen. Wir<br />

haben <strong>die</strong>sen starken Wunsch zum Nicht-Wissen, zur Unwissenheit, zu weniger Klarheit, e<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>nerliches Sich-Abwenden von e<strong>in</strong>er weniger Ich-bezogenen Präsenz.<br />

Erwachen, Erleuchtung wird def<strong>in</strong>iert als das völlige Aufgelöst-Haben <strong>die</strong>ser vier Triebflüsse, und da<br />

wird uns vielleicht bewusst, wie tiefgreifend, wie umfassend Erleuchtung ist. Bis <strong>die</strong>se vier Tendenzen<br />

aufgelöst s<strong>in</strong>d, das ist e<strong>in</strong>e Revolution im Se<strong>in</strong>. Alle vier s<strong>in</strong>d ja unbewusste Strömungen <strong>in</strong> unserem<br />

Geist, e<strong>in</strong> unbewusstes H<strong>in</strong>gezogen- oder Getrieben-Se<strong>in</strong>, und es braucht e<strong>in</strong>e Menge Arbeit, all <strong>die</strong>se<br />

Tendenzen <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> hoch zu holen und tatsächlich sich auflösen zu lassen.<br />

Diese Triebflüsse s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unterschiedlichem Maße <strong>in</strong> den drei Dase<strong>in</strong>sbereichen aktiv. Im Bereich der<br />

S<strong>in</strong>nesbegierden, <strong>in</strong> dem wir leben, ist das Anhaften an S<strong>in</strong>neserfahrung besonders stark ausgeprägt.<br />

Im Bereich der Götter der Form ist das Haften an Existenz das Dom<strong>in</strong>ierende und im Bereich der<br />

Formlosigkeit ist <strong>die</strong> Tendenz zum mangelnden Gewahrse<strong>in</strong> dom<strong>in</strong>ant. Aber <strong>in</strong> unserem jetzigen Zustand<br />

können wir <strong>mit</strong> Sicherheit davon ausgehen, dass <strong>in</strong> uns jetzt – während wir hier im Saal sitzen –<br />

alle vier Tendenzen aktiv s<strong>in</strong>d. – Über <strong>die</strong> Götterbereiche mag ich nicht zu viel sagen, ich habe nicht<br />

ausreichend stu<strong>die</strong>rt, wie es sich da genau verhält.<br />

Auf der Basis <strong>die</strong>ser grundlegenden Anhaftungen und Identifikationen zeigen sich all <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Formen des Leides sämtlicher Leben, sämtlicher Existenzen <strong>in</strong> Samsara.<br />

Um nun e<strong>in</strong>e grobe Unterteilung der verschiedenen Arten von Anhaftungen zu geben, so gibt es <strong>die</strong><br />

Lebewesen, <strong>die</strong> wie wir an S<strong>in</strong>neserfahrungen anhaften und dann jene, <strong>die</strong> nicht mehr an S<strong>in</strong>neserfahrungen<br />

anhaften, aber noch an Existenz. Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Bereiche der Form und der Formlosigkeit.<br />

Die anderen Arten der Formen von Begierde s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach Ausgestaltungen <strong>die</strong>ser grundlegenden Formen<br />

von Anhaftung und Identifikation – e<strong>in</strong> Eis essen zu wollen, gestreichelt werden zu wollen, oder<br />

streicheln zu wollen – jede Form von Anhaftung und Identifikation ist e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Ausgestaltung<br />

<strong>die</strong>ser grundlegenden Tendenzen und braucht nicht weiter aufgezählt zu werden. Das ist dann e<strong>in</strong>fach<br />

<strong>die</strong> Verlängerung.<br />

Warum ist das eigentlich e<strong>in</strong> Problem?<br />

Weil wir anhaften. – Oh! Anhaften ist angenehm!<br />

Weil wir uns identifizieren. – Identifikation ist angenehm!<br />

Weil wir aus Begierde so viele negative Handlungen ausführen! – Was ist das Problem bei negativen<br />

Handlungen?<br />

Leiden! – Leiden! Das ist der spr<strong>in</strong>gende Punkt, weil dadurch so viel Anspannung, so viel Leid entsteht.<br />

81


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Es gibt ke<strong>in</strong>en Frieden <strong>mit</strong> Anhaftung, <strong>mit</strong> Begehren. Wo Begehren ist, geht der Frieden verloren; wo<br />

Standpunkte s<strong>in</strong>d, entsteht Spannung. Der Geist wird eng, er verliert se<strong>in</strong>e Offenheit. Er kennt sie gar<br />

nicht. Das ist das Problem.<br />

Das Problem ist ja nicht, <strong>die</strong> Frau, den Mann zu begehren, sondern dass <strong>in</strong> dem Moment, <strong>in</strong> dem<br />

Begehren da ist, der Geist aufgewühlt ist. Sich zu sagen: „Begehren ist nicht gut!“, „Anhaften ist nicht<br />

gut!“, hilft uns auch nicht weiter. Es geht darum, so weit zu kommen, dass wir sehen, wie tief <strong>die</strong>ser<br />

Wunsch ist, zu haben, erleben zu wollen, der Wunsch anzuhaften, <strong>die</strong>ser Durst. Der Buddha nannte<br />

das Durst. Da ist e<strong>in</strong> grundlegender existenzieller Durst <strong>in</strong> uns, Durst nach S<strong>in</strong>neserfahrung, Durst<br />

nach Bestätigung des eigenen Lebens, der eigenen Existenz; der Wunsch, e<strong>in</strong>fach Bestätigung zu erfahren<br />

durch S<strong>in</strong>neskontakt, durch Existenz; durch Erfahrungen von Existenz, <strong>die</strong> beweisen, dass es<br />

uns gibt. Dieser Durst muss gestillt werden. Erst wenn sich <strong>die</strong>ser Durst auflöst, stellt sich Frieden e<strong>in</strong>.<br />

Solange <strong>die</strong>se existenzielle Ebene von <strong>die</strong>sem Durst nicht berührt ist, werden wir immer weiter neue<br />

Facetten der Anhaftung produzieren.<br />

Daraus ergibt sich für mich der logische Schluss: So lange ich anhafte, ist wohl offenkundig, dass ich<br />

nicht davon überzeugt b<strong>in</strong>, dass Anhaften zu Leid führt. Der nächste Schritt muss dann doch se<strong>in</strong>,<br />

genau h<strong>in</strong>zuschauen, um zu entdecken, auf welche Weise Leid entsteht und dass tatsächlich <strong>in</strong> jedem<br />

Moment des Anhaftens Leid entsteht. Das muss man klarkriegen.<br />

Wie stellt man das an?<br />

Man sollte sich viel da<strong>mit</strong> befassen.<br />

Stu<strong>die</strong>ren hilft natürlich, aber es braucht Kontrast-Erfahrung. Es braucht Erfahrungen, <strong>mit</strong> denen wir<br />

vergleichen können, Erfahrungen von sehr viel ger<strong>in</strong>gerer Angespanntheit oder von kompletter Offenheit,<br />

<strong>mit</strong> denen wir vergleichen können, was denn <strong>die</strong> Geisteszustände s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen wir unter Anspannung<br />

stehen. Das geschieht durch Meditation, durch <strong>die</strong>se Momente des tiefen Loslassens. Es ist<br />

vielleicht übertrieben, zu sagen, nur das wird uns stimulieren, aber das wird uns auf lange Sicht<br />

stimulieren, weil wir den Unterschied kennen.<br />

Das ist wie bei jemandem, der krank ist. Jemand, der immer krank ist und den Zustand der Gesundheit<br />

gar nicht kennt, richtet es sich e<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Krankheit. Er hat ke<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Vergleich, hört vielleicht,<br />

dass es anders se<strong>in</strong> könnte und wird vielleicht e<strong>in</strong> bisschen <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung versuchen. Aber erst<br />

wenn sich überzeugende Erfahrungen e<strong>in</strong>stellen, <strong>die</strong> zeigen, wie frei Körper und Geist se<strong>in</strong> können,<br />

entsteht <strong>die</strong> starke Motivation, <strong>die</strong> Ursachen des Krankse<strong>in</strong>s auszuräumen. Wir brauchen <strong>die</strong>se befreienden,<br />

motivierenden Erfahrungen.<br />

Aus me<strong>in</strong>er Erfahrung als Dharmalehrer sehe ich recht deutlich, dass man sich auf dem Weg e<strong>in</strong>e ganze<br />

Weile aufgrund der <strong>in</strong>tellektuellen Überzeugung stimulieren kann. Es ist schon überzeugend, was<br />

man im Dharma hört, es ist auch <strong>in</strong> Resonanz <strong>mit</strong> unseren <strong>in</strong>neren, <strong>in</strong>tuitiven Erfahrungen und wir s<strong>in</strong>d<br />

motiviert, an uns zu arbeiten. Aber solange es nicht zu überzeugenden, tiefen Erfahrungen <strong>in</strong> der Meditation<br />

kommt, <strong>die</strong> uns wirklich den Kontrast aufzeigen, ist unser Weg <strong>in</strong>stabil, wir müssen uns immer<br />

wieder motivieren, immer wieder über den Intellekt, über das Verständnis überzeugen statt e<strong>in</strong>em<br />

„Ja, da möchte ich h<strong>in</strong>!“ Deswegen ist es wichtig, sich <strong>die</strong> Möglichkeit zu geben, Erfahrungen tiefer<br />

Offenheit zu machen – egal wie. Diese Erfahrungen werden unseren spirituellen Weg dann auch<br />

stabilisieren. Nur <strong>die</strong> persönliche Erfahrung stabilisiert uns auf dem Weg.<br />

* * *<br />

82


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Fragen:<br />

Durst stillen<br />

Du hast vorh<strong>in</strong> gesagt, es hört nur auf, wenn der Durst gestillt ist. Ich frage mich, was ist stillen und<br />

was heißt sich auflösen?<br />

Es bedeutet eigentlich dasselbe. Der Durst ist gestillt, wenn wir das zeitlose Gewahrse<strong>in</strong> erfahren.<br />

Wenn wir das wiederholt erfahren, dann löst sich <strong>die</strong>ser grundlegende Durst auf. In der Erfahrung des<br />

erwachten Gewahrse<strong>in</strong>s gibt es ke<strong>in</strong>en solchen Durst mehr, der ist dann für <strong>die</strong>sen Moment aufgelöst.<br />

Die Tendenz zu <strong>die</strong>sem Durst braucht wiederholte Erfahrung des zeitlosen Gewahrse<strong>in</strong>s, um sich<br />

aufzulösen.<br />

S<strong>in</strong>neserfahrung ohne Anhaftung<br />

Wenn ich e<strong>in</strong>e tiefe <strong>in</strong>nere Entspannung habe, kann ich doch S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke genießen, oder ist das<br />

auch Anhaften?<br />

Das musst du noch herausf<strong>in</strong>den. Es gibt e<strong>in</strong>e Möglichkeit, zu erfahren, zu erleben, sich zu erfreuen<br />

ohne anzuhaften, ohne sich zu identifizieren. Das müssen wir entdecken. Die Lösung des Rätsels wird<br />

se<strong>in</strong>: Wie sieht Erfahrung frei von Ich-Bezogenheit aus? Wenn wir das <strong>in</strong>nerlich wissen, klar kriegen,<br />

dann haben wir <strong>die</strong> Lösung zu <strong>die</strong>ser Frage gefunden.<br />

Kannst Du dafür Beispiele geben?<br />

Beispiele für Anhaften s<strong>in</strong>d das Sehen von schönen Formen, das Hören von schöner Musik, das Riechen<br />

angenehmer Düfte, das Schmecken von wohlschmeckenden Gerichten, das Fühlen angenehmer<br />

Körper-Erfahrung und das Erfahren angenehmer Geistes-Erfahrung. In all <strong>die</strong>sen sechs Bereichen<br />

kommt es normalerweise zu e<strong>in</strong>er Identifikation – ‚Ich erfahre das.’, ‚Ich habe das erfahren.’ – <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>em Anhaften – „Ich existiere.“ „Das existiert.“, „Ich möchte, dass es länger dauert.“, „Ich möchte,<br />

dass es sich wiederholt.“– Wir kleben an der Erfahrung; Subjekt und Objekt kleben ane<strong>in</strong>ander. Das<br />

ist Anhaften. Wenn <strong>die</strong> Erfahrungen ohne Mittelpunkt gemacht werden, frei von e<strong>in</strong>em Ich, das e<strong>in</strong>e<br />

Erfahrung hat, dann entsteht nicht mehr das Verlangen, sie zu verlängern, sie wieder zu machen, sie<br />

wieder zu f<strong>in</strong>den. Es gibt ke<strong>in</strong> Ich, das sagt: „Ich hab <strong>die</strong>se Erfahrung.“ oder „Ich will <strong>die</strong>se Erfahrung<br />

wieder haben.“ oder „Ich will <strong>die</strong>se Erfahrung nicht haben.“<br />

E<strong>in</strong> offener Geist wie der Himmelsraum ohne Mitte und ohne Grenzen.<br />

Ist es möglich, an Meditation anzuhaften?<br />

Selbstverständlich! Meditation führt zu angenehmen S<strong>in</strong>neserfahrungen, <strong>mit</strong> denen sich e<strong>in</strong> Ich identifiziert<br />

und anhaftet und darum auch der ganze Weg des Lernens zu meditieren ohne anzuhaften, zu<br />

se<strong>in</strong>, ohne anzuhaften. Das ist das, worum es überhaupt <strong>in</strong> der Meditation geht: Zu se<strong>in</strong> ohne festzuhalten<br />

und ohne wegzustoßen.<br />

Wie ist es, wenn <strong>die</strong>ser Durst ganz und gar wegfallen würde? Dieser Durst sche<strong>in</strong>t ja etwas zu se<strong>in</strong>,<br />

das unser Leben zutiefst bestimmt. Wir müssen ja jeden Tag überlegen, was wir so machen den ganzen<br />

Tag über. Das ist ja <strong>die</strong>ser Antrieb für all unsere Aktivitäten und unsere Erlebnisse. Wenn der Durst<br />

jetzt ganz weg fällt, was ist dann der Antrieb, um irgendetwas zu machen, um aufzustehen, sich zu<br />

beteiligen, sich auszutauschen? Ich hab mir das lebendig vorgestellt, und wenn ich mir das so<br />

überlege, dann bleibt eigentlich nur mehr das, was wir als Bodhicitta bezeichnen, <strong>die</strong>se liebevolle,<br />

freudige H<strong>in</strong>wendung – auch wenn sie nicht immer ganz gel<strong>in</strong>gt und <strong>die</strong>ser Durst sich wieder<br />

vermischt <strong>mit</strong> dem Sich-H<strong>in</strong>wenden-Wollen. Siehst Du das auch so?<br />

Das ist auch <strong>die</strong> Antwort der Meister.<br />

Und daran anschließend: Dieser Begriff ‚Durst’ wird ja vor allem im Kontext des Theravada verwendet<br />

und dort zum Ausdruck gebracht. In <strong>die</strong>sem Zusammenhang wird der Begriff ‚Bodhicitta’ eigentlich<br />

nicht verwendet. Was wird denn dann aufgezeigt als richtunggebende Kraft im Leben, wenn <strong>die</strong>ser<br />

Durst wegfällt?<br />

83


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Zuerst e<strong>in</strong>mal: Die Hypothese, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Darstellung <strong>mit</strong>geschwungen hat, wäre ja, dass der grundlegende<br />

Lebensdurst jetzt unser Leben lenkt und bestimmt, dass es das Ichanhaften ist, was unser Leben<br />

kontrolliert, lenkt, leitet, entscheidet usw. Das ist unsere Annahme. Im Grunde genommen ist es<br />

gar nicht so. Die beschriebenen Geistesfaktoren wie E<strong>in</strong>sicht, Sorgfalt, Achtsamkeit, Weisheit, auch<br />

Liebe und Mitgefühl usw. funktionieren auch jetzt gerade. Sie wirken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz fe<strong>in</strong>en Zusammenspiel,<br />

wo <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit me<strong>in</strong>t, sie wäre der Chef, aber im Grunde genommen meistens e<strong>in</strong>fach<br />

störend wirkt.<br />

Wenn <strong>die</strong>se Störung wegfällt, dann ist es nicht so, dass das Leben zusammenbricht. Das Leben geht –<br />

das kann man schon bei e<strong>in</strong>er gewissen Entspannung sehen – eigentlich besser weiter als zuvor. Die<br />

Idee, dass es der Lebensdurst <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er starken Ich-Bezogenheit ist, der unser Leben auf e<strong>in</strong>e gute<br />

oder s<strong>in</strong>nvolle Art <strong>in</strong> der Hand hätte, ist eigentlich e<strong>in</strong>e zu kurze Analyse, <strong>die</strong> nicht genau h<strong>in</strong>schaut,<br />

wie <strong>die</strong> geistigen Prozesse tatsächlich ablaufen. Wenn z.B. e<strong>in</strong>e Handlung erforderlich ist, wie kommt<br />

es eigentlich zu <strong>die</strong>ser Extraschlaufe über e<strong>in</strong> Ich, das me<strong>in</strong>t, <strong>die</strong>se Handlung auszuführen? All <strong>die</strong>se<br />

Komplikationen fallen weg und das Leben kann unbeschwerter weiterlaufen.<br />

Jetzt ist es aber tatsächlich so: Wenn wir im Theravada-Buddhismus schauen, dann würde jemand, der<br />

völlig befreit ist von <strong>die</strong>sem Lebensdurst, e<strong>in</strong> Arhat, e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong>ses Leben zu Ende leben und da der<br />

Lebensdurst erlöscht ist, nicht wieder Geburt annehmen. Das Verlangen nach Existenz ist erloschen,<br />

und da spielt das Bodhicitta <strong>die</strong> große Rolle. Wenn wir zum Wohle der Wesen wieder kommen wollen,<br />

muss e<strong>in</strong> anderer Antrieb aktiv werden, der es ermöglicht, e<strong>in</strong>e neue Existenz anzunehmen. Da<br />

spielt das Bodhicitta e<strong>in</strong>e große Rolle.<br />

Schaut <strong>in</strong> eurem Leben selber nach, ob es <strong>die</strong> Funktionen von Weisheit, Gewahrse<strong>in</strong> und dergleichen<br />

s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> <strong>die</strong> guten Entscheidungen treffen oder ob es der Lebensdurst, <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit ist. Und<br />

schaut, ob es der Lebensdurst ist, der uns am Leben erhält oder ob Existenz nicht e<strong>in</strong>fach so weiter<br />

geht, solange <strong>die</strong> Existenz-Kräfte zusammen s<strong>in</strong>d; ob es den Durst dafür braucht oder ob es auch ohne<br />

geht. Untersucht das mal, schaut nach, bevor es da zu voreiligen Rückschlüssen kommt.<br />

Wenn wir motiviert s<strong>in</strong>d zu leben, e<strong>in</strong>en Lebenss<strong>in</strong>n haben oder den S<strong>in</strong>n etwas auszuführen, ist das<br />

dann auch Anhaftung?<br />

In den Unterweisungen wird das durchaus unterschieden. Man spricht von der Möglichkeit, sich auszurichten,<br />

etwas anzustreben, e<strong>in</strong>e Ausrichtung im Leben zu haben, e<strong>in</strong>en Lebenss<strong>in</strong>n zu verfolgen,<br />

ohne dass das Anhaftung ist. Die Anhaftung vermischt sich natürlich oft da<strong>mit</strong>, aber es ist möglich,<br />

Handlungen auszuführen, e<strong>in</strong>e klare Richtung <strong>in</strong> den Handlungen zu haben, ohne identifiziert zu se<strong>in</strong>,<br />

ohne anzuhaften. Das sieht man gut daran, wenn H<strong>in</strong>dernisse, Schwierigkeiten bei den Handlungen<br />

auftauchen und es dann <strong>in</strong>nerlich zu ke<strong>in</strong>erlei emotionalen Reaktionen kommt. Das ist dank <strong>die</strong>ser Abwesenheit<br />

von Anhaftung und Identifikation. Wir beobachten <strong>die</strong>ses Ausgerichtet-Se<strong>in</strong>, <strong>die</strong>se Zielgerichtetheit<br />

ohne Anhaftung durchaus auch bei Meistern, bei erwachten Lehrern, wie sie D<strong>in</strong>ge umsetzen<br />

und dabei nicht identifiziert s<strong>in</strong>d und nicht anhaften. Da merkt man, dass es möglich ist,<br />

zielgerichtet zu handeln, ohne Ursachen des Leidens zu erzeugen.<br />

In dem Moment, wo wir zum Zufluchtnehmen <strong>die</strong> Hände zusammenlegen, denken wir daran: „Diese<br />

Situation ist dem Erwachen gewidmet! Sie <strong>die</strong>nt dem Erwachen, dem eigenen und dem der anderen.“<br />

Die Worte s<strong>in</strong>d gar nicht wichtig, e<strong>in</strong>fach nur, dass das passiert. Es gibt ke<strong>in</strong>e Rout<strong>in</strong>e!<br />

Wenn das Herz dabei ist, dann ist es immer gut, egal wie viele Rezitationen wir machen – e<strong>in</strong>e, drei<br />

oder gar ke<strong>in</strong>e. Wenn das Herz dabei ist, dann ist das egal.<br />

Re<strong>in</strong>igung von Karma<br />

Was ist der Unterschied zwischen e<strong>in</strong>er psychosomatischen Reaktion und Re<strong>in</strong>igung? Wenn ich im<br />

Körper Symptome erlebe, wie kann ich herausf<strong>in</strong>den, ob ich gerade dabei b<strong>in</strong>, Emotionen im Körper<br />

zu erleben oder ob es sich um e<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>igung handelt?<br />

84


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wir erleben <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge im Körper und wenn wir sie annehmen und nicht gegen sie ankämpfen, kann<br />

sich Karma re<strong>in</strong>igen.<br />

Wir erleben immer was im Körper. Jeder Gedanke, jede Emotion geht <strong>mit</strong> körperlichen Veränderungen<br />

e<strong>in</strong>her. Das lässt sich gar nicht stoppen, weil Körper und Geist so eng zusammen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Leben. Und was wir im Körper erleben, ist erst e<strong>in</strong>mal Körper-Erfahrung. Wenn wir sie verdrängen<br />

und nicht haben wollen, dann kommt es zu e<strong>in</strong>em Kreislauf von Nicht-Haben-Wollen und das Karma<br />

kann sich nicht völlig auflösen. Wenn wir es als solches akzeptieren und Gleichmut frei von Bewertungen<br />

empf<strong>in</strong>den, dann s<strong>in</strong>d wir tatsächlich auf e<strong>in</strong>em richtigen Weg der Re<strong>in</strong>igung. Das, was sich da<br />

manifestiert, steigt <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> auf, wird nicht verdrängt, und angenommen kann es se<strong>in</strong>en Weg<br />

gehen, den Weg des Wandels, der <strong>in</strong> Auflösung endet.<br />

Praxis aus ich-bezogener Motivation<br />

Zur Verwechslung zwischen Enthusiasmus <strong>in</strong> der Meditation und der Präsenz von Störfaktoren, emotionaler<br />

Verblendung: Es ist oft so, dass wir hoch motiviert s<strong>in</strong>d für <strong>die</strong> Meditation, wenn wir aber<br />

genauer h<strong>in</strong>schauen, sehen wir dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en großen Anteil von Ich-Bezogenheit.<br />

Auch hier gilt dasselbe: E<strong>in</strong>fach annehmen und möglichst entspannt, möglichst gleichmütig weiter<br />

praktizieren, im klaren Bewusstse<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Vermischung von Inspiration und ich-bezogenen Tendenzen.<br />

Man hört deswegen nicht auf. Man macht weiter, und zwar so entspannt wie es geht, und hat<br />

immer wieder auch e<strong>in</strong> Auge auf <strong>die</strong>se ich-bezogenen Tendenzen, um sich nicht zu täuschen; um das<br />

nicht für H<strong>in</strong>gabe oder wahre Inspiration zu halten. Es ist im Grunde genommen nur <strong>die</strong> Entdeckung,<br />

dass <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit wieder e<strong>in</strong>mal versucht, sich etwas e<strong>in</strong>zuverleiben.<br />

Karma und Zufall<br />

Ich habe e<strong>in</strong>e Frage zu Karma. Du hast letzten W<strong>in</strong>ter <strong>in</strong> Freiburg Khenpo Tschödrag zitiert, der<br />

gesagt hat, dass nur fünfzig Prozent unseres Erlebens Karma s<strong>in</strong>d. Du hast mich da<strong>mit</strong> tief erschreckt,<br />

all me<strong>in</strong>e Konzepte durche<strong>in</strong>ander geworfen. Die Frage ist, ob der Rest Zufall ist, ob es planetarische<br />

E<strong>in</strong>flüsse s<strong>in</strong>d, unsere Freiheit zwischen Achtsamkeit und Unachtsamkeit? Du hast ja damals gesagt:<br />

„Wer auf den Schlossr<strong>in</strong>g geht und nicht schaut, wird überfahren.“ Das wäre der Bereich der Achtsamkeit.<br />

Aber fünfzig Prozent ist nicht sehr viel, wir haben uns ja daran gewöhnt, dass alles Karma<br />

ist. Was machen wir jetzt da<strong>mit</strong>?<br />

Wenn Khenpo Tschödrag sagt, maximal fünfzig Prozent s<strong>in</strong>d Karma, dann me<strong>in</strong>t er da<strong>mit</strong>, dass nur<br />

vielleicht <strong>die</strong> Hälfte unserer Erfahrungen wirklich <strong>mit</strong> Kräften aus früheren Leben zu tun hat und der<br />

Rest ist das Spiel der Kräfte im Augenblick und geht nicht direkt auf frühere Leben zurück. Er nimmt<br />

den Begriff Karma im engeren S<strong>in</strong>n als etwas, das auf frühere Leben zurückgeht.<br />

Und der Rest – Okay, wir s<strong>in</strong>d geboren, männlich, <strong>in</strong> Deutschland, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stadt und dann gibt es <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser gesamten karmischen Situation e<strong>in</strong> Spiel von Bed<strong>in</strong>gungen, es hat bestimmte Formen von Wetter,<br />

Verkehrslagen, man fährt <strong>mit</strong> dem Auto oder <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Fahrrad, und dem entsprechend setzt man<br />

sich Risiken aus, und dem entsprechend werden auch Situationen auftreten. Das nennt Khenpo Tschödrag<br />

dann das Spiel des Zufalls, es s<strong>in</strong>d andere Ursache-Wirkungs-Ketten, <strong>die</strong> da e<strong>in</strong>e Rolle spielen.<br />

Das s<strong>in</strong>d nicht <strong>die</strong> Ursache-Wirkungs-Ketten, <strong>die</strong> durch frühere Handlungen <strong>in</strong> unseren früheren Leben<br />

ausgelöst wurden. In dem S<strong>in</strong>n benutzt er dann den Begriff Karma.<br />

Gendün R<strong>in</strong>poche sagt, alles ist Karma. Da<strong>mit</strong> me<strong>in</strong>t er, dass genau deswegen, weil wir aufgrund früherer<br />

Existenzen <strong>die</strong>ses Leben <strong>in</strong> dem Land, <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Familie haben usw., sich als Folge E<strong>in</strong>stellungen<br />

herausbilden, Situationen ergeben, <strong>die</strong> eigentlich alle verstanden werden können als <strong>die</strong> Konsequenz<br />

der Kräfte, <strong>die</strong> aus früheren Leben <strong>in</strong> Bewegung gesetzt wurden. Er sieht also dann alles, was dann<br />

weiter passiert, als Ausdruck <strong>die</strong>ses Karmas – <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Umfeld geboren geworden zu se<strong>in</strong>, <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Disposition, dass <strong>die</strong>ses oder jenes passieren könnte. Was dann genau passiert, ist das Spiel anderer<br />

Ursache-Wirkungs-Kräfte, das ist klar. Aber er sieht alles unter dem Blickw<strong>in</strong>kel, dass es durch unsere<br />

früheren Tendenzen <strong>mit</strong>bestimmt wird, auch z.B. <strong>die</strong> Entscheidung, ob ich jetzt bei Sonnensche<strong>in</strong> spazieren<br />

gehe oder <strong>mit</strong> dem Fahrrad fahre oder jemanden besuchen gehe.<br />

85


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Gendün R<strong>in</strong>poche würde sagen, dass auch das <strong>mit</strong>bestimmt wird durch den ganzen Strom der Prägungen,<br />

denen wir ausgesetzt s<strong>in</strong>d. Es ist also e<strong>in</strong>e etwas andere Def<strong>in</strong>ition des Begriffes Karma, wobei<br />

<strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition von Khenpo Tschödrag <strong>in</strong>sofern ganz gut ist, als sie <strong>die</strong>ses verkehrte Denken entschärft,<br />

es würde alles schon aus früheren Leben direkt vorprogrammiert se<strong>in</strong> und man müsste auch jeden Unfall,<br />

jeden Flugzeugabsturz, jedes Geschehen immer <strong>mit</strong> Karma aus früheren Leben erklären. Z.B. ob<br />

e<strong>in</strong>e Frau vergewaltigt wird oder nicht, muss man nicht <strong>mit</strong> Karma aus früheren Leben erklären. Es<br />

reicht e<strong>in</strong>fach, Frau zu se<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Situation, man zieht bestimmte Männer an und dann<br />

kann das passieren. Es ist nicht unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> vorprogrammiertes Karma. Das entschärft deutlich <strong>die</strong><br />

ganze Karmafrage, wenn es dann um <strong>die</strong> Details geht. Es ist sehr wichtig, <strong>die</strong>se Entschärfung vorzunehmen,<br />

dass wir nicht denken, alles wäre vorprogrammiert. Das me<strong>in</strong>te nämlich auch Gendün R<strong>in</strong>poche<br />

nicht.<br />

Es ist also wichtig zu verstehen, dass im Grunde genommen <strong>die</strong> Ausnahme der Regel der karmisch <strong>in</strong>teressante<br />

Fall ist. Wenn e<strong>in</strong> Flugzeug abstürzt und es e<strong>in</strong>en oder zwei Überlebende gibt, dann ist <strong>in</strong>teressant,<br />

wie es denn möglich war, dass <strong>die</strong> überleben konnten, wo alle anderen tot s<strong>in</strong>d. Oder wenn<br />

jemand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation, wo alle anderen umgebracht wurden, nicht umgebracht wurde, dann ist <strong>die</strong>se<br />

Ausnahme signifikant, aber nicht der Regelfall. Der Regelfall beruht auf den Ursachen und Bed<strong>in</strong>gungen,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> der Gesellschaft zu <strong>die</strong>ser Zeit e<strong>in</strong>fach spielen. Wenn man sich auf solche Situationen<br />

e<strong>in</strong>lässt, dann muss man da<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>fach rechnen.<br />

Ist <strong>die</strong> Geburt als Mann oder Frau karmisch?<br />

Ja, es wird erklärt, dass das tatsächlich <strong>mit</strong> den Tendenzen zu tun hat, <strong>die</strong> im Moment der Empfängnis<br />

oder schon vorher dom<strong>in</strong>iert haben. Bei e<strong>in</strong>er Frau war <strong>in</strong> dem Moment stärkere Anziehung zur<br />

Männerseite, sie hat sich dualistisch als Frau, als das entsprechende Pendant positioniert. Dadurch<br />

kommt es für <strong>die</strong> nächste Existenz zu <strong>die</strong>ser Manifestation. – Das kann ich selber nicht nachvollziehen,<br />

so wird es erklärt. Was ich aber aus den Erklärungen weiß, ist, dass das ke<strong>in</strong>eswegs für <strong>die</strong><br />

nächste Existenz festgelegt ist, da kann man sich wieder anders positionieren. Es hängt von den Kräften<br />

der Anziehung und Ablehnung <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>en Moment ab, und wenn <strong>die</strong> karmischen Kräfte sehr<br />

stark s<strong>in</strong>d, wird man sich immer wieder so positionieren, wenn sie weniger stark s<strong>in</strong>d, kann man<br />

abwechselnd als Mann oder als Frau kommen und natürlich auch <strong>in</strong> anderen Dase<strong>in</strong>sbereichen.<br />

Der edle achtfache Pfad<br />

Würdest Du bitte <strong>die</strong> vierte Wahrheit, den achtfachen Weg der Edlen erklären?<br />

Der edle achtfache Weg beg<strong>in</strong>nt <strong>mit</strong> der rechten Anschauung. Rechte Anschauung bedeutet, dass man<br />

versteht, worum es auf dem Weg des Erwachens geht. Danach kommt <strong>die</strong> rechte Ges<strong>in</strong>nung, <strong>die</strong> unser<br />

Handeln leitet, das ist unsere Motivation. Diese ersten beiden Glieder bilden <strong>die</strong> Grundlage für unsere<br />

Praxis, wenn <strong>die</strong> nicht stimmen, werden wir <strong>in</strong> <strong>die</strong> Irre gehen und <strong>mit</strong> ich-bezogener Motivation praktizieren.<br />

Die nächsten drei Faktoren bilden den Rahmen für unsere Praxis: rechte Rede, rechtes Verhalten und<br />

rechte Lebensführung. Wir geben also schädliches Verhalten auf und kultivieren Heilsames. Diese<br />

Glieder nähren wiederum <strong>die</strong> nächsten: rechtes Streben, rechte Achtsamkeit und rechte meditative<br />

Versenkung.<br />

Der letzte Faktor, rechte Sammlung oder Vertiefung, stärkt wiederum den ersten Faktor, rechte Anschauung,<br />

den Faktor des Verständnisses. So bee<strong>in</strong>flussen und nähren sich <strong>die</strong> Faktoren des<br />

achtfachen Pfades untere<strong>in</strong>ander.<br />

Wir folgen <strong>in</strong> unserer Schule meist der Erklärung der sechs Para<strong>mit</strong>as, deswegen wird der edle achtfache<br />

Pfad nicht so häufig erklärt. Man kann darüber nachlesen, z.B. <strong>in</strong> der Abschrift des Kurses vom<br />

letzen Jahr.<br />

Durst – Tendenzen – Kleshas<br />

Du hast heute Vor<strong>mit</strong>tag davon gesprochen, dass Wunsch oder Durst auf e<strong>in</strong>er unbewussten Ebene<br />

abläuft. Das s<strong>in</strong>d aber ke<strong>in</strong>e gewohnheitsmäßigen Tendenzen, denn derer kann man sich ja bewusst<br />

86


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

se<strong>in</strong>. Wenn ich an Mangel an Bewusstheit oder Ablenkung denke, dann kann ich mir dessen bewusst<br />

werden. Wunsch und Durst der Unbewusstheit liegt tiefer.<br />

Ja, das hast du völlig richtig erkannt, der Durst ist noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Schicht tiefer. Man kann drei Ebenen<br />

der Analyse beobachten. Die oberste, <strong>die</strong> un<strong>mit</strong>telbar wahrnehmbare Ebene, ist das Auftauchen<br />

e<strong>in</strong>es Kleshas, Störfaktors, e<strong>in</strong>er emotionalen Belastung – Ich b<strong>in</strong> ärgerlich, hab Anhaftung, hab Begierde.<br />

– Das kann man relativ leicht <strong>mit</strong>kriegen. Wenn man genauer schaut, sieht man auf der<br />

nächsten Ebene, dass dort <strong>die</strong> gewohnheitsmäßigen Tendenzen e<strong>in</strong>e Riesenrolle spielen, <strong>die</strong> immer<br />

wieder zu <strong>die</strong>sen Kleshas, zu den Störgefühlen führen. Und wenn man sich <strong>die</strong> Gewohnheitstendenzen<br />

anschaut, entdeckt man darunter noch e<strong>in</strong>e Schicht, <strong>die</strong> des impulsiven Anhaftens an Existenz oder des<br />

<strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven Anhaftens an S<strong>in</strong>neserfahrung. Das ist <strong>die</strong>se tiefste Schicht, von der es <strong>in</strong> den Kommentaren<br />

heißt, dass sie für normale Wesen völlig unbewusst ist. Normale Wesen haben dazu ke<strong>in</strong>en Zugang,<br />

sie können sich <strong>die</strong>ser Schicht erst allmählich bewusst werden durch fortgesetzte Meditationspraxis<br />

und natürlich auch durch Instruktionen dazu.<br />

Da<strong>mit</strong> <strong>die</strong>se unterste Ebene zum Vorsche<strong>in</strong> kommt, muss man erst <strong>in</strong> den oberen Ebenen e<strong>in</strong> bisschen<br />

aufgeräumt haben, um das zugrunde Liegende besser sehen zu können.<br />

Die dritte Ebene wäre <strong>die</strong>ser Durst?<br />

Ja, das ist <strong>die</strong>ser existentielle Durst: das Verlangen nach Existenz, das Verlangen nach S<strong>in</strong>neserfahrung,<br />

das tiefe Bedürfnis nach Standpunkten und der Hang zur Unwissenheit. Der Hang zu den Standpunkten,<br />

das s<strong>in</strong>d dann <strong>die</strong> oberen Etagen, aber das Bedürfnis danach, sich immer wieder da<strong>mit</strong> identifizieren<br />

zu wollen, das ist auf <strong>die</strong>ser tiefsten Ebene.<br />

Es sche<strong>in</strong>t, dass ihr <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Beschreibung was anfangen könnt. Sie ist zweie<strong>in</strong>halbtausend Jahre alt.<br />

Es ist schon unglaublich, wie fe<strong>in</strong> da erklärt wurde, wie fe<strong>in</strong> da h<strong>in</strong>geschaut wurde.<br />

Verlangen nach Nicht-Existenz<br />

Mir war aufgefallen, dass das Verlangen nach Nicht-Existenz jetzt nicht vorgekommen ist. Fällt das<br />

unter Verlangen nach Existenz oder ist das doch e<strong>in</strong> eigener Punkt?<br />

Ja, das wird manchmal noch separat gezählt, ist aber hier im Bereich des Verlangens nach Existenz<br />

enthalten. Es wird so erklärt, dass <strong>die</strong> Existenz zu schwierig wird, sie wird e<strong>in</strong>em zu e<strong>in</strong>er Bürde und<br />

man möchte dann nicht mehr existieren. Das ist also e<strong>in</strong>e Reaktion auf Existenz.<br />

Störgefühle als Ursachen verme<strong>in</strong>tlichen Gew<strong>in</strong>ns<br />

Ich überlege mir, warum wir <strong>die</strong>se heiße Kartoffel dann doch nicht so schnell loslassen können. Wenn<br />

ich <strong>die</strong>se Analyse anschaue, muss ich zugeben, dass ich <strong>die</strong> Kartoffel ganz schön lange <strong>in</strong> der Hand<br />

halte.<br />

Ich auch! Darf ich dich bitten, da noch e<strong>in</strong> bisschen weiter zu schauen? Warum me<strong>in</strong>st du, dass du<br />

<strong>die</strong>se heißen Kartoffeln so lange <strong>in</strong> der Hand hältst? Was ist es denn?<br />

Nach dem, was Du gerade erklärt hast, komme ich an das impulsive Anhaften nicht heran, obwohl ich<br />

vielleicht <strong>in</strong> den ersten beiden Ebenen schon e<strong>in</strong> bisschen sortiere und ich enorme Blockaden<br />

feststellen kann, Widerstände, und ich immer wieder an <strong>die</strong>se Unwissenheit komme. Aber dann plättet<br />

es mich ganz weg und dann versuch ich das Weggeplättet-Werden anzuschauen, atme wieder e<strong>in</strong><br />

bisschen… Ich spür e<strong>in</strong>fach, dass es e<strong>in</strong> großes Feld gibt, wo ich nicht an <strong>die</strong>se dritte Ebene komme<br />

und ich lass <strong>die</strong> Kartoffel <strong>in</strong> der Hand. Heute Morgen hab ich mir gedacht, dann musst du halt <strong>die</strong><br />

Verbrennung loslassen. Aber dann ist man schon verbrannt, das kann ja auch ke<strong>in</strong>e Alternative se<strong>in</strong>.<br />

Weiter geht es gerade nicht…<br />

Ich möchte dazu noch was beisteuern: Ich glaube, wir haben immer noch das Gefühl, dass <strong>die</strong>se heiße<br />

Kartoffel uns glücklich machen könnte. Ich glaube, deswegen lassen wir sie noch nicht los. Wir versuchen,<br />

sie irgendwie noch genussfertig zu bekommen, wir haben noch e<strong>in</strong>e Hoffnung dabei. Unsere<br />

E<strong>in</strong>sicht hat noch nicht aufgeräumt <strong>mit</strong> dem Gefühl: „Das könnte doch wirklich glücklich machen!“<br />

87


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

und schon gar nicht wollen wir loslassen, bevor nicht was anderes da ist, an dem wir uns festhalten<br />

können – lieber mich verbrennen, aber das hab ich sicher <strong>in</strong> der Hand.<br />

Um es noch klarer zu sagen: Ich habe <strong>die</strong> Überzeugung, dass ich aus <strong>die</strong>sen Geisteszuständen von Begierde,<br />

Ärger, Stolz noch e<strong>in</strong>en Nutzen für mich ziehen kann. Ich habe das Gefühl, es br<strong>in</strong>gt was,<br />

wenn ich mich aufrege; es br<strong>in</strong>gt was, wenn ich me<strong>in</strong>en Begierden folge; es hat was, wenn ich stolz<br />

b<strong>in</strong> – und das für alle anderen Emotionen genauso. Ich hab e<strong>in</strong>en verme<strong>in</strong>tlichen Gew<strong>in</strong>n daraus, und<br />

solange ich nicht <strong>in</strong> voller Klarheit entdecke, dass ich eigentlich auf der ganzen L<strong>in</strong>ie Verlierer b<strong>in</strong>,<br />

lasse ich nicht los. Ich möchte zum<strong>in</strong>dest den sekundären Gew<strong>in</strong>n aus dem Ärger z.B. haben – mir was<br />

vom Hals schaffen können. Da gibt es Gründe, warum wir <strong>mit</strong> bestimmten Mustern nicht aufhören,<br />

und <strong>die</strong>se Gründe gilt es zu sehen. Die müssen wir entdecken, Stückchen für Stückchen. Warum ich<br />

<strong>mit</strong> bestimmtem Verhalten nicht aufhöre, hängt <strong>mit</strong> bestimmten Mustern zusammen, weil mir e<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n<br />

daraus zuzukommen sche<strong>in</strong>t. Da muss ich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>schauen, ob es denn tatsächlich so ist, wie es zu<br />

se<strong>in</strong> verspricht.<br />

Wir werden z.B. wütend, weil wir denken, wir könnten <strong>die</strong> Situation verbessern. Diesen naiven Glauben<br />

müssen wir erst e<strong>in</strong>mal auflösen. Wir denken, Begierde, Besitzergreifen wäre der beste Weg, um<br />

uns etwas zu sichern. Das denken wir. Wir müssen das untersuchen: Ist es so oder ist es nicht so? Nur<br />

wenn wir herausf<strong>in</strong>den, dass es nicht so ist, erst dann s<strong>in</strong>d wir bereit loszulassen. Dann werden wir<br />

vielleicht e<strong>in</strong>en besseren Weg f<strong>in</strong>den.<br />

Diese achtsame Arbeit im Detail, erst h<strong>in</strong>schauen und dann merken: „Ach ja! Das führt zu Leid … für<br />

mich und andere!“, das bewirkt, dass ich bereit b<strong>in</strong>, schnell loszulassen und schnell nach anderen<br />

Wegen zu suchen, <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Welt glücklich zu se<strong>in</strong>. Diese Arbeit müssen wir machen. Im Grunde genommen<br />

müssen wir jede heiße Kartoffel neu anschauen.<br />

Gerade wurde sehr deutlich, wie sehr <strong>die</strong>ses genaue H<strong>in</strong>schauen gegen <strong>die</strong> Gesetze der Konditionierung<br />

läuft, denen wir ja unterworfen s<strong>in</strong>d – als Pawlowsche Hunde. Meistens ist ja der Erfolg kurzfristig<br />

e<strong>in</strong>mal da. Kurzfristig erlebe ich ja, dass ich mich z.B. habe durchsetzen können, ich habe e<strong>in</strong><br />

Erfolgserlebnis und das wirkt als Konditionierung. Um es <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Bild der Kartoffel zu sagen: Ich<br />

kann <strong>die</strong> heiße Kartoffel so lange zwischen me<strong>in</strong>en Händen h<strong>in</strong> und her balancieren, bis sie sich etwas<br />

abgekühlt hat, und dann schmeckt sie ja gut. Die Erfahrung hab ich gemacht.<br />

Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Grenzen des Beispiels. Wenn <strong>die</strong> Kartoffel e<strong>in</strong>mal kalt geworden ist, dann ist das Störgefühl<br />

auch ke<strong>in</strong> Störgefühl mehr, das ist nur störend, wenn es heiß ist, dann brennt es.<br />

Arhats - Mitgefühl<br />

Ich habe e<strong>in</strong>e Frage zu dem Arhat von heute Morgen. Das hatte ich schon vorgestern <strong>mit</strong> dem Gleichmut.<br />

Bisher hatte ich verstanden, dass wir <strong>mit</strong> Gleichmut jenseits von Anhaftung, von Abneigung und<br />

Unwissenheit s<strong>in</strong>d. Das war für mich immer der Punkt, wo Weisheit kam und Weisheit war für mich<br />

immer <strong>mit</strong> Mitgefühl gekoppelt. Me<strong>in</strong>e Frage: E<strong>in</strong> Arhat hat doch Gleichmut verwirklicht. Warum<br />

kommt nicht spontan, dass er zum Wohle aller Wesen wieder kommt und <strong>die</strong>se Aktivität weiterführt,<br />

sondern sich nach dem Tod <strong>in</strong> tiefe Versenkung begibt und dann für Kalpas nicht aktiv ist zum Wohl<br />

der Wesen?<br />

Das musst du e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Arhat fragen. Darüber haben sich schon viele Gedanken gemacht. E<strong>in</strong>e<br />

mögliche Erklärung aus me<strong>in</strong>er Sicht wäre, dass <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit aufgelöst ist, es aber nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

zu e<strong>in</strong>em aktiven Mitgefühl kommen muss, es sei denn man hat Wünsche <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung gemacht,<br />

dass es so se<strong>in</strong> möge; dass das Auflösen der Ich-Bezogenheit zu e<strong>in</strong>em aktiven Mitgefühl wird.<br />

Arhats haben enormes Mitgefühl, Liebe und Mitgefühl ist <strong>in</strong> enormem Ausmaß vorhanden, aber <strong>in</strong> der<br />

Form, dass sie allen anderen ebenfalls den Weg der Befreiung wünschen und frei von Eigen<strong>in</strong>teressen<br />

dann <strong>in</strong> der großen Weite aufgehen.<br />

Darüber wird viel gesprochen – auch <strong>in</strong> den Kommentaren – wie weit denn aktives Mitgefühl tatsächlich<br />

Teil der Buddhanatur ist oder <strong>in</strong>wieweit es <strong>die</strong> Folge der vielen Wünsche ist, bis es zu <strong>die</strong>sem Erwachen<br />

kommt. Da kann ich weiter wirklich nicht darauf antworten. Es ist <strong>die</strong> Frage, ob es <strong>die</strong> Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

s<strong>in</strong>d oder ob es zur Natur des Geistes gehört.<br />

88


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Unter den Arhats zur Zeit Buddhas gab es ziemliche Unterschiede. Da waren e<strong>in</strong>ige unaufhörlich zum<br />

Wohle der Wesen aktiv. Der aktivste Schüler war sicherlich Ananda – Shariputra und Maudgalyana<br />

waren auch ständig aktiv, aber Ananda hat nach Buddhas Tod noch vierzig Jahre weiter gemacht und<br />

war der zweite Regent. Von ihm heißt es sogar, er habe sich wieder <strong>in</strong>karniert. Kalu R<strong>in</strong>poche soll<br />

e<strong>in</strong>e Ausstrahlung von Ananda gewesen se<strong>in</strong>.<br />

Andere haben e<strong>in</strong> völlig zurückgezogenes Leben als Arhat geführt und haben sich reihenweise dazu<br />

entschlossen, den Körper zu verlassen, als der Buddha auch se<strong>in</strong>en Körper verlassen hat. Sie waren<br />

offenbar nicht mehr motiviert, weiter zu bleiben. Kassyapa hat sogar e<strong>in</strong>en Aufruf starten und <strong>die</strong><br />

restlichen Arhats bitten müssen, da zu bleiben und doch <strong>die</strong> Lehre weiter fortzusetzen. Er war stark<br />

motiviert, was für andere zu tun. Es sche<strong>in</strong>t also schon da Unterschiede gegeben zu haben.<br />

Das ist e<strong>in</strong>e Beschreibung von Fakten, ich kann sie nicht erklären, aber es kann was <strong>mit</strong> Wünschen zu<br />

tun haben, <strong>die</strong> auf dem Weg der Schulung gemacht worden s<strong>in</strong>d.<br />

Es gab <strong>in</strong> der Theravada-Tradition immer wieder – bis heute – sehr aktive Arhats, unglaublich aktiv<br />

zum Wohl der Wesen. Es gibt <strong>in</strong> der Welt gut 400 Millionen aktiv praktizierende Buddhisten, <strong>die</strong><br />

Hälfte s<strong>in</strong>d Theravada- und <strong>die</strong> Hälfte Mahayana-Praktizierende. Es sche<strong>in</strong>t nicht so zu se<strong>in</strong>, dass sich<br />

<strong>die</strong> Angehörigen der Bodhisattva-Schar stärker vermehrt hätten als <strong>die</strong> Angehörigen des Theravada. Es<br />

hat im Theravada immer genug Lehrer gegeben, um <strong>die</strong> Lehre vorzutragen. Das Mitgefühl hat immer<br />

ausgereicht.<br />

Ärger als Ausdruck von Weisheit?<br />

Kann Ärger nicht auch e<strong>in</strong>e Form von Weisheit se<strong>in</strong>? Oft stellt sich ja Ärger e<strong>in</strong>, wenn andere unsere<br />

Grenzen massiv überschreiten. Dann Grenzen aufzuzeigen, f<strong>in</strong>de ich eigentlich weise und deswegen<br />

denke ich, dass Ärger e<strong>in</strong>e positive Funktion haben kann. Oder kann man das nicht so sagen?<br />

Wenn wir <strong>die</strong>se Grenzen ziehen könnten <strong>mit</strong> Weisheit, <strong>mit</strong> Energie, aber ohne aufgewühlt zu se<strong>in</strong>, das<br />

wäre sicherlich noch weiser. Der Ärger, der <strong>die</strong> Grenzen zieht, ist zwar weise, weil da<strong>mit</strong> etwas Wichtiges<br />

bewirkt werden möchte, aber begleitet von <strong>in</strong>nerem Aufgewühlt-Se<strong>in</strong> und da ist Anspannung dabei.<br />

Oft ist das auch nicht so besonders effektiv. Der Ärger schafft zusätzliche Probleme, er zieht nicht<br />

nur Grenzen, er schafft Missverständnisse usw., er hat viele Nachteile und hat aber auch <strong>die</strong> erwähnten<br />

Vorteile. E<strong>in</strong> weises, gleichmütiges Verhalten wäre <strong>in</strong> der Lage, <strong>die</strong> Grenzen zu zeigen, ohne ärgerlich<br />

zu werden – <strong>die</strong> Grenzen klar zu benennen und sich dem entsprechend zu verhalten. Diese Fähigkeit<br />

lässt sich entwickeln, es ist e<strong>in</strong>e Zunahme von Weisheit, <strong>die</strong> sich immer geschickter ausdrückt, ohne<br />

dabei ärgerlich werden zu müssen.<br />

Dieses Beispiel kannst du jetzt auf alle Emotionen anwenden. Alle Emotionen haben e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Weisheit enthalten, aber man verhält sich ziemlich ungeschickt, um das zu bewirken, was <strong>die</strong>ser weise<br />

Anteil eigentlich möchte oder was er repräsentiert. Man verwickelt sich <strong>in</strong> Anspannung.<br />

Gibt es tatsächlich e<strong>in</strong>en gleichmütigen Ärger? Das sche<strong>in</strong>t doch e<strong>in</strong> bisschen paradox.<br />

Ja, man nennt das zornvolles Mitgefühl oder erwachten Zorn. Es ist paradox, aber man kann es bei<br />

Meistern sehen, <strong>die</strong> das manifestieren können. Sie haben z.B. <strong>die</strong>se starke Energie manifestiert, können<br />

dadurch auch bei anderen e<strong>in</strong>e Emotion zum Innehalten br<strong>in</strong>gen und s<strong>in</strong>d selber im nächsten Moment<br />

wieder lachend und völlig frei. Da sieht man, dass ke<strong>in</strong>erlei <strong>in</strong>nere Anspannung dabei war. Sie<br />

haben nur <strong>die</strong> kraftvolle Ersche<strong>in</strong>ung genutzt, um etwas zu beenden, was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schädliche Richtung<br />

geht. Diese Fähigkeit ist wunderbar, das ist e<strong>in</strong>e enorme Flexibilität des Geistes.<br />

Da ist nichts, was sie im nächsten Moment belastet, da ist ke<strong>in</strong> echter Ärger, da ist ke<strong>in</strong> Übelwollen,<br />

ke<strong>in</strong>e persönliche Betroffenheit. Da ist nur: „Stopp! Das geht zu weit!“<br />

* * *<br />

89


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

24) Ärger<br />

ist e<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>dselige Geisteshaltung entweder fühlenden Wesen gegenüber, dem Leiden selbst oder<br />

gegenüber der Basis des Leidens, also dem Objekt gegenüber, auf das wir uns beziehen. Er bewirkt,<br />

dass glückliche Zustände nicht erfahren werden und unterstützt fehlerhaftes Verhalten.<br />

Ärger, Wut, Zorn beabsichtigt das was unseren Ärger auslöst zu beseitigen, zu vernichten oder zum<strong>in</strong>dest<br />

auf Abstand zu halten. Zunächst e<strong>in</strong>mal kommen als Objekt unseres Ärgers Lebewesen <strong>in</strong> Frage,<br />

natürlich an erster Stelle Menschen, aber dann auch Tiere. Sogar kle<strong>in</strong>ste Insekten wie Mücken schaffen<br />

es, uns ärgerlich zu machen. Oder Ärger hat als Objekt nicht so sehr das was das Leid auslöst sondern<br />

das Leiden selbst, unangenehme Empf<strong>in</strong>dungen. Ich ärgere mich z.B. darüber, dass ich schon<br />

wieder leide, dass es mir schon wieder schlecht geht, dass ich schon wieder unangenehme Empf<strong>in</strong>dungen<br />

erleben muss.<br />

Dann kann man sich über <strong>die</strong> Bed<strong>in</strong>gungen des Leidens ärgern, z.B. über Gesellschaftsstrukturen, <strong>die</strong><br />

zu bestimmten Formen des Leides führen oder über Familienstrukturen, über verschiedene physische<br />

und emotionale Bed<strong>in</strong>gungen. Das ist so der offenkundige S<strong>in</strong>n. Man kann sich sogar darüber ärgern,<br />

dass man lebt. Man kann se<strong>in</strong>e Existenz, se<strong>in</strong>en eigenen Geist, se<strong>in</strong> Ichanhaften so fürchterlich f<strong>in</strong>den,<br />

dass man sich total ärgert überhaupt zu leben <strong>mit</strong> so e<strong>in</strong>em Geist, <strong>mit</strong> so e<strong>in</strong>em unbrauchbaren<br />

Instrument, das es nicht schafft Frieden zu f<strong>in</strong>den. Man ärgert sich im Grunde genommen über <strong>die</strong> eigenen<br />

<strong>Skandhas</strong>, über all das was unser Dase<strong>in</strong> ausmacht. So weit kann das gehen, man kann all das<br />

auch noch als Objekt des Ärgers nehmen.<br />

Ich denke ihr kennt das, wenn jemand <strong>in</strong> solch e<strong>in</strong>em Ärger ist, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Ärger über das ganze Leben<br />

und sich dann auch noch darüber ärgert, dass e<strong>in</strong>en <strong>die</strong> Eltern <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt gesetzt haben – <strong>die</strong> s<strong>in</strong>d<br />

doch schließlich dafür verantwortlich, dass man jetzt hier ist und leidet und <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Körper se<strong>in</strong><br />

muss. Der Ärger richtet sich gegen alles. Ich b<strong>in</strong> solchen Menschen wirklich begegnet, sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

furchtbaren Situation, weil ihnen der eigene Geist zum Fe<strong>in</strong>d wird. Die ganze Existenz wird ihnen<br />

zum Fe<strong>in</strong>d und sie f<strong>in</strong>den ke<strong>in</strong>erlei Ausweg mehr, es wird unerträglich.<br />

Diese Form des Leidens ist nicht auszuhalten, und <strong>die</strong>ser Ärger <strong>in</strong>filtriert wirklich <strong>in</strong> alles, nichts ist<br />

mehr e<strong>in</strong>e Basis für e<strong>in</strong> entspanntes Leben, alles wird <strong>mit</strong> großer Ablehnung bedacht. Es ist offenkundig,<br />

dass <strong>die</strong>ser Ärger dann zu solcher Verzweiflung führt, dass es zu Selbstmordgedanken kommt.<br />

Die eigenen <strong>Skandhas</strong> werden zum Fe<strong>in</strong>d. Der Körper, <strong>die</strong> Wahrnehmungen, <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong><br />

Unterscheidungen, <strong>die</strong> eigenen Gedanken, <strong>die</strong> Bewusstse<strong>in</strong>szustände, all das wird als e<strong>in</strong> unglaubliches<br />

Gefängnis erlebt.<br />

Es ist also e<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>dselige, übel wollende Geisteshaltung dem eigenen Körper gegenüber, sich selbst<br />

gegenüber, anderen gegenüber, den Ursachen und Bed<strong>in</strong>gungen gegenüber, <strong>die</strong> zu bestimmten Situationen<br />

geführt haben. Es gibt ke<strong>in</strong>e Grenzen für Ärger, er kann sich auf alles ausbreiten.<br />

Ganz offenkundig kann man <strong>in</strong> solch e<strong>in</strong>em Geisteszustand ke<strong>in</strong> Glück erfahren. Es gibt ke<strong>in</strong>en<br />

Frieden und Ärger ist <strong>die</strong> Ursache für unglückliche Geisteszustände. Man wird durch Ärger nicht<br />

glücklich.<br />

Ärger und Glück schließen e<strong>in</strong>ander gegenseitig aus. Wo wirklich e<strong>in</strong> glücklicher, friedvoller Geist ist,<br />

ist ke<strong>in</strong> Ärger und wo Ärger ist, ist ke<strong>in</strong> Frieden, ke<strong>in</strong> glücklicher Geist.<br />

Selbstverständlich bereitet Ärger den Weg für nicht heilsames, schädliches Handeln sich selbst und<br />

anderen gegenüber, was man fehlerhaftes Verhalten nennt. Man ist im Ärger ja auch wie bl<strong>in</strong>d, man<br />

me<strong>in</strong>t zwar <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge ganz scharf zu erkennen, hat aber e<strong>in</strong>e Scheuklappensicht der Wirklichkeit. Wir<br />

sehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bereich nur das, und das sehen wir ganz groß, ganz stark, besonders das was uns aufregt,<br />

was nicht angenehm ist. Das sehen wir <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er solchen Klarheit, <strong>mit</strong> solch e<strong>in</strong>er Präzision, dass<br />

wir denken, wir hätten e<strong>in</strong>en scharfen Geist. Aber wir sehen nicht den Rest, <strong>die</strong> panoramische Sicht<br />

geht verloren. Es ist e<strong>in</strong> Filter, unter dem sich unsere gesamte Aufmerksamkeit auf nur e<strong>in</strong>ige wenige<br />

Merkmale ausrichtet, und bei ganz starker Wut wird der Tunnel immer enger.<br />

Menschen haben mir sogar beschrieben, dass sie bei ganz starker Wut gar nichts mehr sehen, d.h. visuell<br />

auch gar nichts mehr wahrnehmen. Es wird alles dunkel, schwarz, sie schlagen dann nur noch<br />

drauf e<strong>in</strong>, es besteht dann nicht e<strong>in</strong>mal mehr <strong>die</strong> klare Tunnelwahrnehmung, auch <strong>die</strong> zieht sich noch<br />

vollkommen zu. Es ist total erschütternd, wenn Menschen ehrlich darüber sprechen, was <strong>mit</strong> ihnen<br />

90


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

passiert, wenn sie völlig <strong>die</strong> Kontrolle über sich verlieren. Dann geht auch der letzte Rest von Klarheit<br />

noch verloren.<br />

Wenn wir uns das anschauen, dann bemerken wir natürlich wie hilflos und gefangen jemand <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Ärger ist. Wenn wir noch tiefer h<strong>in</strong>schauen, sehen wir was für enorme Ängste da e<strong>in</strong>e Rolle spielen –<br />

Mangel an Selbstvertrauen, Verlust des <strong>in</strong>neren Gleichgewichts jeder Art – ausgelöst natürlich durch<br />

verschiedene Formen der Ich-Bezogenheit.<br />

Im Ärger, <strong>in</strong> der Wut selber ist man nicht mehr im Kontakt <strong>mit</strong> den Ängsten. Der Ärger hilft, <strong>die</strong><br />

Ängste zu vergessen, darüber h<strong>in</strong>auszugehen und sie quasi nach außen zu wenden <strong>in</strong> der Absicht zu<br />

zerstören, Grenzen zu ziehen. Man will das was verme<strong>in</strong>tlich Leid erzeugt aus der eigenen Erfahrung<br />

entfernen, zerstören. Von leichten Emotionen angefangen bis zum stärksten Zorn s<strong>in</strong>d es e<strong>in</strong>fach nur<br />

Stufen, man wird immer enger und entfernt sich immer mehr von sich selbst.<br />

Die nicht heilsamen Handlungen s<strong>in</strong>d vorprogrammiert, sie s<strong>in</strong>d ganz offenkundig da. Man beg<strong>in</strong>nt zu<br />

schimpfen, ärgerlich zu sprechen. Man sagt Worte, <strong>die</strong> man später dann bereut, man beg<strong>in</strong>nt zu schlagen,<br />

Objekte zu zerstören, man zerstört D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>em besonders am Herzen liegen. Man ist so<br />

außer Rand und Band, dass man Verwünschungen ausspricht, man sagt z.B.: „Nie, nie im Leben werde<br />

ich dir jemals wieder <strong>die</strong> Hand reichen!“ Man versucht, Menschen aus dem eigenen Leben raus zu<br />

werfen, nur ja ke<strong>in</strong> Kontakt mehr. „Wenn du jemals me<strong>in</strong>e Hilfe brauchen würdest, ich würde dir nie<br />

wieder helfen!“ Man sagt solche D<strong>in</strong>ge, man ist völlig überzeugt davon, dass das genau <strong>die</strong> richtige<br />

Haltung sei.<br />

Von daher kommt es zu Handlungen <strong>mit</strong> Körper, Rede und Geist, <strong>die</strong> wir später oftmals bereuen. Wir<br />

haben alles zerstört und es braucht lange, bis das wieder repariert werden kann, wenn überhaupt. Es<br />

braucht dazu e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Kehrtwendung, e<strong>in</strong>en großen Prozess – auch <strong>mit</strong> den anderen Menschen – um<br />

wieder zu e<strong>in</strong>er tragfähigen Beziehung zu kommen. Da steht dann e<strong>in</strong> langer Prozess der Heilung an.<br />

Ihr seht deutlich, dass <strong>mit</strong> Ärger nichts zu gew<strong>in</strong>nen ist. Ärger ist e<strong>in</strong>e sehr zerstörerische Emotion.<br />

Drum ist es sehr wichtig <strong>mit</strong> Ärger aufzuräumen, sich nicht davon überrollen zu lassen. Zunächst <strong>die</strong><br />

physischen Handlungen zu kontrollieren und dann auch <strong>die</strong> verbalen Handlungen und schließlich auch<br />

<strong>die</strong> eigenen Gedanken im Zaum zu halten und sich möglichst schnell wieder zu beruhigen. Wir<br />

müssen also lernen, auf <strong>die</strong>sen drei Ebenen von Körper, Rede und Geist zerstörerisches Verhalten aufzugeben.<br />

Ich denke, wir brauchen nicht viel über <strong>die</strong>sen Faktor zu sprechen, was darüber gesagt wird ist offenkundig.<br />

Aber es gibt e<strong>in</strong>en Bereich, der vielleicht wichtig ist anzusprechen: der verdrängte Ärger, der<br />

sich nach <strong>in</strong>nen richtet und uns <strong>in</strong>nerlich als Gift auffrisst.<br />

Wenn verdrängter Ärger wieder aufsteigt, dann geht es darum, ihn <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> kommen zu lassen<br />

und ihn nicht so auszudrücken, dass er zerstörerisch wird. Wir müssen lernen ihn so auszudrücken,<br />

dass er nicht zerstörerisch ist und dass wir unsere Scham vor <strong>die</strong>sem starken Gefühl verlieren. Wir<br />

müssen <strong>die</strong> Bewertungen, <strong>die</strong> dazu geführt haben, dass <strong>die</strong>ser Ärger verdrängt wurde, auflösen und<br />

Wege f<strong>in</strong>den, <strong>die</strong> wir damals, als wir ihn verdrängt haben noch nicht kannten, um <strong>mit</strong> ihm umzugehen.<br />

Wir müssen neue, <strong>in</strong>telligente Wege f<strong>in</strong>den.<br />

Um <strong>die</strong>sen starken Gefühlen Luft zu machen, braucht es oft e<strong>in</strong>e Übergangsphase, <strong>in</strong> der wir uns erlauben<br />

sie auszudrücken. Aber dabei geht es darum niemanden anzugreifen – weder sich selbst noch<br />

andere, noch Objekte. Z.B. zu schreien: „Mir st<strong>in</strong>kt’s! Ich kann nicht mehr!“ und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Riesenschrei<br />

ausbrechen, der aber niemanden angreift. Es ist sehr befreiend, wenn man dem e<strong>in</strong>fach Luft geben<br />

kann. Danach kann man dann normal weiter machen. Dieser Kraft e<strong>in</strong>mal Ausdruck zu geben ist total<br />

hilfreich. Danach f<strong>in</strong>det man dann noch <strong>in</strong>telligentere, noch weisere Wege da<strong>mit</strong> umzugehen, aber<br />

zunächst hilft e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Ventile zu öffnen, da<strong>mit</strong> das raus kommen kann ohne zerstörerisch zu wirken.<br />

Jeder von uns kann ja beim anderen akzeptieren, dass der e<strong>in</strong>mal ärgerlich wird, wenn ke<strong>in</strong> Angriff<br />

stattf<strong>in</strong>det. Es ist gar nicht so schwer, dem anderen zu erlauben, e<strong>in</strong>mal sauer zu se<strong>in</strong>. Was so schwierig<br />

ist, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se verletzenden Worte, verletzende Handlungen, wenn Menschen oder D<strong>in</strong>ge angegriffen<br />

oder zerstört werden. Das macht es total schwierig.<br />

91


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Bei den weiseren Wegen <strong>mit</strong> Ärger umzugehen, geht es natürlich um <strong>die</strong> Kenntnis der Prozesse, <strong>die</strong><br />

sich da abspielen. Es geht um das Entwickeln von Liebe und Mitgefühl, es geht um Verständnis von<br />

karmischen Situationen. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch all das im Kapitel über Geduld im ‚Kostbaren<br />

Schmuck der Befreiung’ von Gampopa genauer anschauen. Da werden ungefähr 14 verschiedene Methoden<br />

aufgezählt <strong>mit</strong> Ärger zu arbeiten. Es gibt aber auch <strong>die</strong> Transkripte von den früheren Kursen<br />

hier über Emotionen, wo wir sie auch ziemlich detailliert durchgenommen haben. Das ist nicht <strong>die</strong><br />

Aufgabe <strong>die</strong>ses Kurses hier.<br />

Als Buddha <strong>die</strong> nicht heilsamen Faktoren benannte, g<strong>in</strong>g es ihm <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie darum, uns zu motivieren<br />

<strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen Faktoren aufzuräumen, uns nicht von ihnen h<strong>in</strong>reißen zu lassen. Diese Motivation gibt<br />

uns <strong>die</strong> Energie für <strong>die</strong> Suche nach heilsamerem Umgang <strong>mit</strong> schwierigen Situationen, und <strong>die</strong>se Suche<br />

wird uns <strong>die</strong> Arzneien, <strong>die</strong> Heil<strong>mit</strong>tel f<strong>in</strong>den lassen, <strong>die</strong> tatsächlich hilfreich s<strong>in</strong>d.<br />

25) Stolz<br />

ist arrogante Überheblichkeit, <strong>die</strong> sich auf <strong>die</strong> „Anschauung <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> vergängliche Ansammlung“<br />

stützt. – Das ist e<strong>in</strong>e Identifikation <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen <strong>Skandhas</strong>. – Er bewirkt, ke<strong>in</strong>e Rücksicht<br />

auf andere zu nehmen und unterstützt das Entstehen von Leid. Stolz wird <strong>in</strong> sieben Arten<br />

unterteilt.<br />

Der Begriff Stolz oder Arroganz ist hier e<strong>in</strong>fach als e<strong>in</strong>e Sammelbezeichnung für sieben Arten von<br />

Stolz zu verstehen, <strong>die</strong> ich nachher noch erklären werde.<br />

Stolz wird erst e<strong>in</strong>mal als angenehm oder neutral empfunden, weil uns zunächst <strong>die</strong> Antennen fehlen,<br />

um Stolz als etwas zu erleben was uns anspannt. Wir leben so stark im Stolz, <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Selbstbezogenheit,<br />

wo wir uns besser fühlen als andere oder zum<strong>in</strong>dest als wichtiger als andere, dass es wie unsere<br />

eigene Haut ist. Wir haben ke<strong>in</strong>e Distanz zu <strong>die</strong>ser Emotion Stolz. Sie begleitet uns überall h<strong>in</strong>, sie <strong>in</strong>filtriert<br />

alle Lebensbereiche und wird nicht so oft als e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Moment des Stolzes wahrgenommen<br />

sondern läuft mehr so <strong>in</strong> Wellen und spr<strong>in</strong>gt nicht so schnell an – es sei denn wir werden <strong>in</strong> unserem<br />

Stolz durch e<strong>in</strong>e Kritik getroffen. In dem Moment kann man ihn gut spüren. Aber ansonsten<br />

begleitet er uns <strong>in</strong> allem was wir tun, ohne dass wir wahrnehmen, stolz zu se<strong>in</strong>.<br />

Stolz beg<strong>in</strong>nt bereits auf der grundlegendsten Ebene wo wir sagen, „Ich b<strong>in</strong>!“, „Hier <strong>die</strong>ser Körper und<br />

Geist, das b<strong>in</strong> ich!“ Das ist der Anfang, auf <strong>die</strong>ser Ebene s<strong>in</strong>d Stolz und Unwissenheit fast identisch.<br />

Man kann sagen, dort wo es mangelndes Gewahrse<strong>in</strong> über <strong>die</strong> wahre Natur der <strong>Skandhas</strong>, über <strong>die</strong><br />

wahre Natur des Se<strong>in</strong>s gibt, da s<strong>in</strong>d Unwissenheit und Stolz ident. Aber Stolz geht weiter. Stolz sagt<br />

nicht nur „Hier b<strong>in</strong> ich!“, das wäre der erste Schritt, sondern auch „Ich b<strong>in</strong> das Zentrum der Welt!“<br />

Das ist der wichtige nächste Schritt. „Ich sehe!“, „Ich höre!“, „Ich rieche!“, „Ich schmecke!“, „Ich fühle!“<br />

und „Ich denke!“ Und das was ich rieche, fühle, schmecke und denke, das ist wichtiger als das<br />

was andere riechen, fühlen, schmecken und denken.<br />

Hier beg<strong>in</strong>nt der Stolz, sich von der allgeme<strong>in</strong>en Unwissenheit abzuheben und wird e<strong>in</strong>e Emotion <strong>in</strong><br />

dem S<strong>in</strong>ne, dass er <strong>mit</strong> starken affektiven Anteilen e<strong>in</strong>hergeht. Es ist <strong>die</strong>ses Gefühl im Mittelpunkt der<br />

Welt zu stehen. Wir schaffen e<strong>in</strong> Zentrum, um das sich alles dreht, und s<strong>in</strong>d dann ganz erstaunt, dass<br />

sich <strong>die</strong> anderen nicht um uns drehen. Dann sehen wir deren Stolz, <strong>die</strong> drehen sich ja um sich selbst.<br />

Im Grunde genommen ist das <strong>die</strong> Frage: „Warum drehen sich <strong>die</strong> denn nicht um mich? Warum kümmern<br />

sie sich nicht um mich sondern um sich selbst?“<br />

Wenn wir das Erleben von sich selbst als Mittelpunkt, als Zentrum der Welt <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Erstaunen,<br />

dass <strong>die</strong> anderen nicht wie <strong>die</strong> Planeten um mich als Sonne kreisen, merken wir, dass auch Geisteszustände,<br />

<strong>die</strong> wir normalerweise gar nicht als Stolz identifizieren würden, tatsächlich Stolz s<strong>in</strong>d: und<br />

zwar so etwas wie Depression, deprimierte Geisteszustände. In Depression leben wir nur noch <strong>in</strong> uns<br />

selber, wir drehen uns nur noch um uns selber und kriegen kaum noch was von anderen <strong>mit</strong>. Wir<br />

warten vielleicht darauf, dass andere vielleicht kommen und uns noch helfen oder aber wir haben auch<br />

das schon aufgegeben und konzentrieren uns nur noch auf uns selbst, auf unser Leid, darauf wie<br />

schlecht es uns geht, wie schwierig das Leben ist und eigentlich ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n macht. Wir s<strong>in</strong>d nur noch<br />

<strong>mit</strong> den eigenen Gedanken beschäftigt. Das ist Stolz. Normalerweise würde man das nicht denken,<br />

92


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

aber wenn man den Mechanismus kennt wie Stolz funktioniert, dann kann man den extrovertierten<br />

und den <strong>in</strong>trovertie<br />

rten Stolz und <strong>die</strong> vielen Schattierungen gut sehen. Es ist immer <strong>die</strong>ses Kreisen um sich selbst, um<br />

e<strong>in</strong>en verme<strong>in</strong>tlichen Mittelpunkt.<br />

Die Hypochondrie, das Drehen um <strong>die</strong> eigenen verme<strong>in</strong>tlichen Symptome und Krankheiten, <strong>die</strong> übersteigerte<br />

Wahrnehmung des eigenen Leides s<strong>in</strong>d ebenfalls e<strong>in</strong> Beispiel von <strong>die</strong>sem Geistesgift des<br />

Stolzes.<br />

Nehmen wir Personen <strong>mit</strong> schwachem Selbstbewusstse<strong>in</strong>, <strong>die</strong> ständig an sich selber zweifeln. Wenn es<br />

D<strong>in</strong>ge zu erledigen gibt, sagen sie: „Oh! Ich kann nicht! Dazu b<strong>in</strong> ich nicht <strong>in</strong> der Lage! Das trau ich<br />

mir nicht zu“. Wo andere <strong>in</strong> ihrem Stolz sagen: „Ich b<strong>in</strong> super, ich schaff das!“, da sagen sie: „Ich b<strong>in</strong><br />

nichts! Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Niemand, ich b<strong>in</strong> unfähig! Ich b<strong>in</strong> das Letzte überhaupt!“ Das ist e<strong>in</strong>e Abwertung<br />

von sich selbst, <strong>die</strong> aber wieder Ausdruck <strong>die</strong>ser enormen Ich-Bezogenheit ist, genau wie der Stolz.<br />

Auch das ist Stolz, nur ist es der umgekehrte Stolz. Es ist <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit <strong>in</strong> ihrer extremen Ausprägung<br />

als Herablassung sich selbst gegenüber, also als e<strong>in</strong>e abwertende Beziehung sich selbst gegenüber.<br />

Mit <strong>die</strong>sen paar Bemerkungen, <strong>mit</strong> dem Erklären des eigentlichen Mechanismus des Stolzes, nämlich<br />

sich um sich selbst zu drehen und alles andere aus dem Blick zu verlieren, habt ihr eigentlich das Wesentliche<br />

<strong>in</strong> der Hand, um auch andere Verhaltensweisen, andere Lebensweisen daraufh<strong>in</strong> zu untersuchen.<br />

Ich werde euch jetzt kurz <strong>die</strong> sieben Arten von Stolz erklären, aber als Vorbemerkung: das was man<br />

allgeme<strong>in</strong> Stolz nennt heißt im Tibetischen ngagyal – ‚ich König’. Gyalpo ist König, nga bedeutet ich.<br />

Hier kommt genau <strong>die</strong>se grundlegende Tendenz zum Ausdruck.<br />

Die sieben Arten von Stolz – sie stehen unter Fußnote 60 – s<strong>in</strong>d:<br />

1) In Arroganz oder Hochmut – ger<strong>in</strong>gere Form von Stolz – basiert der Stolz darauf, dass man sich<br />

anderen <strong>in</strong> bestimmten Fähigkeiten oder <strong>in</strong> Besitz, <strong>in</strong> bestimmten Attributen überlegen fühlt. Man<br />

bläht <strong>die</strong> tatsächlich bestehende Differenz <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Fähigkeiten auf, misst dem Ganzen große Bedeutung<br />

bei und verhält sich dann herablassend <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Mangel an Respekt anderen gegenüber. Hier<br />

geht es also um das Aufblähen tatsächlich existierender Unterschiede.<br />

2) Bei der Herablassung – großer Stolz – geht es um <strong>die</strong> Form des Stolzes, wo wir <strong>mit</strong> Menschen<br />

zusammen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> eigentlich <strong>die</strong>selben Fähigkeiten haben wie wir, wo es ke<strong>in</strong>en wesentlichen<br />

Unterschied gibt. Wir s<strong>in</strong>d unter Gleichwertigen, bilden uns aber e<strong>in</strong>, dass wir ihnen überlegen s<strong>in</strong>d.<br />

Wir bemerken <strong>die</strong>se Form von Stolz immer dann, wenn wir <strong>mit</strong> Menschen zusammenkommen, <strong>die</strong><br />

eigentlich unseresgleichen s<strong>in</strong>d. Denjenigen, <strong>die</strong> ohneh<strong>in</strong> weniger Fähigkeiten haben und schwächer<br />

s<strong>in</strong>d als wir, begegnen wir durchaus entspannt und denjenigen gegenüber, <strong>die</strong> uns überlegen s<strong>in</strong>d,<br />

haben wir durchaus Respekt – z.B. spirituelle Meister oder Leute, <strong>die</strong> <strong>in</strong> der Hierarchie, <strong>in</strong> den Fähigkeiten<br />

über uns s<strong>in</strong>d. Aber sobald wir <strong>mit</strong> denen zusammen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> eigentlich auf unserer Ebene der<br />

Kompetenz s<strong>in</strong>d, zeigt sich <strong>die</strong>ses Bedürfnis, sich selbst als überlegen heraus zu streichen.<br />

3) Bei der nächsten Form, Überheblichkeit – extremer Stolz – geht es um <strong>die</strong> Form des Stolzes, wo wir<br />

<strong>in</strong> Bezug auf andere, <strong>die</strong> uns tatsächlich überlegen s<strong>in</strong>d, me<strong>in</strong>en wir seien überlegen. Wir maßen uns<br />

an besser zu se<strong>in</strong>, fähiger zu se<strong>in</strong> als Leute <strong>mit</strong> offenkundig besseren Fähigkeiten, z.B. sich zu denken<br />

wir seien dem Buddha überlegen oder wir seien den spirituellen Meistern überlegen oder z.B. unserem<br />

Chef <strong>in</strong> der Firma, der 40 Jahre Erfahrung hat und wir s<strong>in</strong>d gerade dabei unsere Lehre zu machen. Das<br />

ist also krasser Stolz und wird als der extreme Stolz bezeichnet.<br />

Wir haben jetzt drei Arten von Stolz kennen gelernt: den ger<strong>in</strong>geren, den großen und den extremen<br />

Stolz. Beim ger<strong>in</strong>geren Stolz s<strong>in</strong>d wir tatsächlich überlegen, beim großen Stolz s<strong>in</strong>d wir gleichwertig<br />

und beim extremen Stolz s<strong>in</strong>d wir tatsächlich weniger fähig als <strong>die</strong>jenigen, denen wir uns überlegen<br />

vorkommen. Die Selbstüberschätzung wird also immer krasser.<br />

4) Die nächste Form von Stolz ist Anmaßung. Man bildet sich e<strong>in</strong>, nur ger<strong>in</strong>g weniger Fähigkeiten zu<br />

haben als jemand, der uns <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Fähigkeiten tatsächlich weit überlegen ist. Man begegnet z.B. ei-<br />

93


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

nem spirituellen Meister. Man denkt nicht, dass man ihm überlegen oder ihm gleich wäre, sondern<br />

sagt: „Ich b<strong>in</strong> nicht mehr weit davon entfernt, es fehlt nur noch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Bisschen! Ich b<strong>in</strong> schon<br />

fast so verwirklicht wie er, ich kann es fast so gut wie er!“, obwohl der Unterschied so groß ist wie<br />

zwischen e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Hügel und e<strong>in</strong>em riesigen Berg. Man kriegt das nicht <strong>mit</strong> und ordnet sich <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Anmaßung nur noch gerade knapp unter. Das ist auch e<strong>in</strong>e spezielle Spielform von Stolz.<br />

Man hat also e<strong>in</strong> Ideal, e<strong>in</strong> Idol, sieht <strong>die</strong> eigenen Fehler gar nicht und projiziert <strong>die</strong> eigene Größe so,<br />

dass eigentlich kaum noch was fehlt, um so toll zu se<strong>in</strong> wie das eigene Ideal oder Idol. Diese Form<br />

von Stolz kann sich auch als der umgekehrte Stolz manifestieren, den wir schon kennen gelernt haben.<br />

Wir machen uns selbst komplett runter und sagen z.B.: „Ich habe nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Bruchteil der<br />

Qualitäten me<strong>in</strong>es Meisters, nicht e<strong>in</strong>mal den Bruchteil der Qualitäten der anderen Person.“ Man<br />

macht sich völlig runter, hält sich für völlig unwichtig, ist aber <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Selbstbild, <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Selbstsicht völlig identifiziert.<br />

5) Die nächste Form des Stolzes ist e<strong>in</strong>e Art der E<strong>in</strong>bildung, <strong>in</strong> der wir ganz alle<strong>in</strong> <strong>mit</strong> uns selbst s<strong>in</strong>d<br />

und <strong>in</strong> unserem eigenen Denken <strong>die</strong> eigenen Qualitäten völlig überschätzen. Wir denken, dass wir viel<br />

mehr Fähigkeiten und Qualitäten haben als tatsächlich vorhanden s<strong>in</strong>d. Wir können z.B. denken, dass<br />

wir sehr stark s<strong>in</strong>d, wo wir tatsächlich nur ganz normale Kräfte haben. Man kann das bei K<strong>in</strong>dern<br />

manchmal sehen. Die können <strong>in</strong> ihrer Vorstellung auf e<strong>in</strong>en hohen Baum klettern und von oben runterspr<strong>in</strong>gen.<br />

Es ist e<strong>in</strong>e Fehle<strong>in</strong>schätzung der eigenen Kräfte ohne sich <strong>mit</strong> anderen zu vergleichen. Das<br />

f<strong>in</strong>den wir bei Erwachsenen auch, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihren Tagträumen, Fantasien sich ausmalen, was sie alles<br />

Wunderbares tun könnten, tun werden und ohne direkten Vergleich zu anderen völlig daneben liegen<br />

<strong>mit</strong> dem, was sie über sich selbst denken.<br />

Man kann sich vorstellen man sei extrem <strong>in</strong>telligent, obwohl man sehr begrenzte Intelligenz hat. Man<br />

kann denken man sei e<strong>in</strong> super guter Schwimmer, ohne jemals ausprobiert zu haben längere Strecken<br />

zu schwimmen. Man kann sich alles Mögliche e<strong>in</strong>reden. Man kann sich vorstellen man könnte hohe<br />

Berge erklimmen, ohne <strong>die</strong> ersten Grade des Bergsteigens kennen gelernt zu haben. Man kann alle<br />

möglichen Vorstellungen im Kopf haben darüber, was man nicht alles machen könnte. Und solange<br />

<strong>die</strong>se Fähigkeiten nicht getestet werden, den Test des Lebens nicht bestehen müssen, können wir<br />

weiter daran festhalten und denken wie toll das e<strong>in</strong>mal wird, wenn wir das tun werden oder so se<strong>in</strong><br />

werden. Man kann unendlich lang daran festhalten.<br />

6) Dann gibt es <strong>die</strong> Form des völlig <strong>in</strong> <strong>die</strong> Irre gehenden Stolzes. Das ist der Stolz zu glauben dort<br />

Qualitäten zu haben, wo wir <strong>in</strong> Wirklichkeit größte Schwierigkeiten oder Fehler haben, z.B. zu glauben<br />

wir seien freigebig, obwohl unser Leben tatsächlich von Geiz bestimmt ist. Wir können auch stolz<br />

auf etwas se<strong>in</strong>, was tatsächlich etwas völlig Schädliches oder nicht Heilsames ist, z.B. viele Menschen<br />

getötet zu haben oder e<strong>in</strong> besonders geschickter Lügner zu se<strong>in</strong>, Menschen täuschen zu können. Da<strong>mit</strong><br />

wird deutlich, dass sich der Stolz alles als Objekt heranziehen kann. Man kann stolz se<strong>in</strong> auf <strong>die</strong> übelsten<br />

Eigenschaften und <strong>die</strong> als etwas besonders Tolles hervorheben.<br />

Um es noch e<strong>in</strong>mal ganz klar zu machen: Man kann sogar auf <strong>die</strong> eigenen Fehler stolz se<strong>in</strong> und z.B.<br />

denken wie toll das ist: „Ich b<strong>in</strong> überhaupt der Faulste <strong>in</strong> der Welt!“ Man kann sogar stolz se<strong>in</strong>, wie<br />

toll man andere foltern kann. Man kann noch viel weiter gehen, man kann sogar stolz auf Fehler derer<br />

werden, <strong>mit</strong> denen wir uns identifizieren, z.B. stolz darauf se<strong>in</strong>, was für e<strong>in</strong> toller Lügner der eigene<br />

Sohn ist, oder was für e<strong>in</strong> toller Dieb. Ja, man kann denken, wie toll der eigene Sohn andere zusammen<br />

schlägt, sogar darauf kann man stolz se<strong>in</strong>. Stolz kann alles als Objekt für Selbstüberheblichkeit<br />

ergreifen – nicht nur <strong>die</strong> eigenen Fehler, sondern auch noch <strong>die</strong> Fehler derer, <strong>mit</strong> denen wir uns<br />

identifizieren.<br />

7) Zum Abschluss kommen wir zu e<strong>in</strong>er ganz anderen Form des Stolzes, der Selbstgefälligkeit, E<strong>in</strong>bildung.<br />

Man nennt <strong>die</strong>sen Stolz auch den gewöhnlichen Stolz. Er besteht dar<strong>in</strong>, dass wir uns <strong>mit</strong> den<br />

fünf <strong>Skandhas</strong> von Körper und Geist als e<strong>in</strong> Ich identifizieren. Es ist der Mechanismus, den wir vorher<br />

schon gesehen haben. Wir nehmen an, da gäbe es e<strong>in</strong> Ich <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en Gedanken, se<strong>in</strong>em Körper usw.,<br />

obwohl da <strong>in</strong> Wirklichkeit gar ke<strong>in</strong> Ich zu f<strong>in</strong>den ist. Das ist also <strong>die</strong> zugrunde liegende Unwissenheit,<br />

das Haften an e<strong>in</strong>em Ich, auf dem man dann se<strong>in</strong>e Ich-Identität aufbaut. Doch <strong>in</strong> Wirklichkeit ist<br />

<strong>die</strong>ses verme<strong>in</strong>tliche Ich e<strong>in</strong>fach das Funktionieren der <strong>Skandhas</strong> von Moment zu Moment.<br />

Auf der Basis <strong>die</strong>ser Identifikation <strong>mit</strong> den <strong>Skandhas</strong> können sich dann weitere Formen von Stolz aufbauen<br />

wie Eitelkeit – Eitelkeit als starke Identifikation <strong>mit</strong> dem eigenen Äußeren oder dem Äußeren<br />

94


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

große Bedeutung zu geben – oder auch verschiedene Formen von Arroganz oder Herablassung, <strong>die</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>die</strong>ser starken Identifikation <strong>mit</strong> dem eigenen Se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>hergehen.<br />

Stolz kennt ke<strong>in</strong>e Grenzen. Es ist e<strong>in</strong> Mittel um sich selbst für besonders zu halten, für das Zentrum<br />

der Welt. Sich für wichtig zu halten ist <strong>die</strong> Funktion des Stolzes. Stolz möchte etwas Besonderes se<strong>in</strong>.<br />

Und wenn wir nicht <strong>die</strong> Besten bzw. etwas Besonderes se<strong>in</strong> können, dann s<strong>in</strong>d wir wenigsten <strong>die</strong><br />

Schlimmsten, <strong>die</strong> Unwürdigsten, e<strong>in</strong> totales Nichts. Normal se<strong>in</strong> zu können, gewöhnlich, so wie<br />

andere, entspricht nicht dem Merkmal des Stolzes.<br />

Wir als Dharmapraktizierende tun gut daran, uns als gewöhnliche Dharmapraktizierende zu sehen, als<br />

nichts Außergewöhnliches. Wir können großen Nutzen daraus ziehen, was <strong>die</strong>se Unterweisungen, <strong>die</strong><br />

schon vor zweie<strong>in</strong>halbtausend Jahren entstanden s<strong>in</strong>d und sich bewährt haben, uns zu sagen haben. Es<br />

gibt aber Leute, <strong>die</strong> zum Lama kommen und sagen: „Ich brauche spezielle Unterweisungen! Du musst<br />

mir genau sagen, was es jetzt für mich braucht!“ Es ist, als wäre man e<strong>in</strong> besonderer Fall, der <strong>in</strong> der<br />

Dharmageschichte noch nicht vorgekommen ist und der von den Dharmaunterweisungen noch nicht<br />

abgedeckt wird. „Ich brauche etwas ganz Spezifisches, ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> besonderer Fall! Ich brauche auch<br />

e<strong>in</strong>e besondere Beziehung zum Lama, weil ich ganz besondere Schwierigkeiten habe!“ Das ist der Mechanismus<br />

des Stolzes.<br />

Was besonders hilft um <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Stolz aufzuräumen ist, sich immer wieder zu er<strong>in</strong>nern, dass es<br />

nicht das Ich ist, das <strong>die</strong> Qualitäten besitzt. Wir haben Qualitäten, wir haben viele Qualitäten, jeder<br />

von uns. Diese Qualitäten gehören aber nicht mir, dem Ich. Es s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Qualitäten der Natur des Geistes.<br />

Es s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Qualitäten, <strong>die</strong> sich zeigen wenn wir entspannen. Wenn das Ich nicht so präsent ist,<br />

dann kommt der Fluss <strong>in</strong> Gang, dann entsteht Freigebigkeit, dann zeigt sich Liebe, dann kommt Freude,<br />

dann kommen Klarheit des Geistes und Verständnis, dann kommen all <strong>die</strong> Qualitäten zum Vorsche<strong>in</strong>,<br />

weil das Ich nicht im Wege steht. Immer wenn das Ich stark ist, blockiert es, <strong>die</strong> Qualitäten<br />

s<strong>in</strong>d nicht im Fluss, sie werden e<strong>in</strong>geengt, sie werden durch den Stolz abgewürgt. Sie bekommen e<strong>in</strong>e<br />

Beimengung, wo sie ihre re<strong>in</strong>e Qualität verlieren. Qualitäten, <strong>die</strong> tatsächlich vorhanden s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d<br />

nicht me<strong>in</strong>e Qualitäten, s<strong>in</strong>d nicht <strong>die</strong> Qualitäten des Ichs. Es s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Qualitäten dessen, was der Geist<br />

ganz natürlich zum Vorsche<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt, der Geist von e<strong>in</strong>em jeden von uns.<br />

Das me<strong>in</strong>te Gendün R<strong>in</strong>poche da<strong>mit</strong>, wenn er sagte, dass alle Qualitäten <strong>die</strong>jenigen des Dharma s<strong>in</strong>d.<br />

Mit Qualitäten des Dharma me<strong>in</strong>te Gendün R<strong>in</strong>poche <strong>die</strong> Qualitäten der Natur der D<strong>in</strong>ge. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach<br />

da, sie manifestieren sich e<strong>in</strong>fach von selbst, ohne jeglichen Eigentümer, ohne Besitzer.<br />

Was wir von unserer Seite aus tun können ist, uns e<strong>in</strong>fach daran erfreuen, dass sich <strong>die</strong> Qualitäten manifestieren,<br />

dass e<strong>in</strong> Fluss entsteht, wo <strong>die</strong> Qualitäten des e<strong>in</strong>en und des anderen sich gegenseitig unterstützen,<br />

dass D<strong>in</strong>ge passieren. Und wir mischen uns da möglichst nicht e<strong>in</strong> <strong>mit</strong> unserer Ich-<br />

Bezogenheit, um den spontanen Prozess <strong>die</strong>ser Qualitäten nicht zu stören, ihn zuzulassen und uns <strong>in</strong>s<br />

Vertrauen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu entspannen, da<strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser spontane Prozess tatsächlich das Bestmögliche zum<br />

Vorsche<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt.<br />

* * *<br />

Da<strong>mit</strong> <strong>die</strong>se Unterweisungen fruchtbar werden und nicht verloren gehen, müssen wir jetzt <strong>mit</strong> jedem<br />

e<strong>in</strong>zelnen <strong>die</strong>ser Faktoren vom Hören zur Kontemplation wechseln.<br />

Es ist bee<strong>in</strong>druckend, wie genau der Buddha das Ichanhaften, den Stolz beschrieben hat. Aber es darf<br />

nicht e<strong>in</strong>fach nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>spirierende Unterweisung bleiben, sie muss dazu führen, dass wir <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen<br />

Tendenzen auch tatsächlich aufräumen. Dazu müssen wir uns bewusst werden, welche <strong>die</strong>ser Tendenzen<br />

<strong>in</strong> uns vorhanden s<strong>in</strong>d, welche stärker aktiv s<strong>in</strong>d und welche manchmal aktiv s<strong>in</strong>d. Ich selber habe<br />

durch <strong>die</strong> Beschäftigung <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen Unterweisungen immer wieder <strong>die</strong> verschiedenen Formen me<strong>in</strong>es<br />

Stolzes entdeckt und glaube <strong>mit</strong> allen sieben Formen, <strong>die</strong> da erklärt wurden, e<strong>in</strong>e klare Verb<strong>in</strong>dung zu<br />

haben, e<strong>in</strong>e direkte persönliche Erkenntnis dessen worum es sich da jeweils handelt. Ich könnte mir<br />

vorstellen, dass es hier fast jedem so geht, dass wir – wenn wir danach suchen – <strong>mit</strong> all <strong>die</strong>sen Formen<br />

aus der eigenen Erfahrung etwas anfangen können. Das zeigt uns, dass wir ganz normale Menschen<br />

s<strong>in</strong>d, dass wir durchaus <strong>in</strong> <strong>die</strong>ses gewöhnliche Maß samsarischer Existenz h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gehören.<br />

95


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Sich dessen bewusst zu werden ist der Beg<strong>in</strong>n des Heilungsprozesses. Weiters geht es natürlich darum,<br />

<strong>die</strong> heilsamen Geistesfaktoren zu stärken, also das was dann tatsächlich auch aus <strong>die</strong>sen Fixierungen<br />

herausführt.<br />

Was den Stolz angeht, ist <strong>die</strong> Praxis des sich Austauschens <strong>mit</strong> anderen, also den Platz des anderen<br />

e<strong>in</strong>zunehmen besonders wertvoll und hilfreich. Das ist <strong>die</strong> Praxis des Tonglen <strong>in</strong> der speziellen Anwendung<br />

des sich <strong>in</strong> den anderen H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzens, wo man das Leid und <strong>die</strong> Freuden des anderen als<br />

<strong>die</strong> eigenen praktiziert. Das ist e<strong>in</strong>e Unterform der Lodjong-Praxis, des Geistestra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs.<br />

Der Prozess sieht so aus, dass wir zunächst aussteigen aus unserer Sichtweise und uns h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Sichtweise des anderen oder der anderen. Wir lassen uns ganz darauf e<strong>in</strong> deren Freuden, deren<br />

Leiden zu erfahren. Schließlich gehen wir auch darüber h<strong>in</strong>aus und schauen, was denn für e<strong>in</strong> Verhalten<br />

<strong>mit</strong> Körper, Rede und Geist hilfreich wäre für alle – für uns selbst und andere, für <strong>die</strong> Gesamtsituation.<br />

Um das tun zu können, braucht es e<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>es Gespür dafür was im anderen vor sich geht. Der Versuch<br />

wird se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Welt <strong>mit</strong> den Augen des anderen zu sehen, <strong>mit</strong> dem Herzen des anderen zu erleben, so<br />

wie <strong>die</strong> Indianer sagen: <strong>in</strong> den Mokass<strong>in</strong>s des anderen zu gehen. Wir werden versuchen, <strong>die</strong> Schuhe<br />

des anderen zu tragen und <strong>die</strong> Welt wirklich aus dem Blickw<strong>in</strong>kel des anderen zu erfahren. Um <strong>die</strong>se<br />

Fähigkeit zu entwickeln, müssen wir anderen unglaublich gut zuhören, sie fragen wie sie denn <strong>die</strong><br />

Welt erleben, sehen, spüren, sodass wir nicht nur projizieren wie denn wohl der andere <strong>die</strong> Welt sieht,<br />

sondern dass wir das tatsächlich auf der Basis guter Auskünfte <strong>in</strong>tuitiv erspüren können. Dabei geht es<br />

auch darum, sich selbst <strong>mit</strong> den Augen des anderen zu sehen: Wie wirke ich auf den anderen, wie<br />

erlebt der andere mich? Wir nehmen also wirklich e<strong>in</strong>e andere Perspektive e<strong>in</strong> und <strong>die</strong>s machen wir<br />

dann <strong>mit</strong> verschiedenen Personen, um zu e<strong>in</strong>er anderen Sicht der Gesamtsituation zu kommen, <strong>die</strong><br />

nicht mehr ichbezogen ist. Wir haben dann verschiedene ichbezogene Versionen ausprobiert und<br />

versuchen zu erspüren, was für alle hilfreich se<strong>in</strong> könnte.<br />

Bei der Frage was für alle hilfreich se<strong>in</strong> könnte, müssen wir ja zunächst e<strong>in</strong>mal erspüren was sie denn<br />

überhaupt erfahren, da<strong>mit</strong> wir uns e<strong>in</strong> Bild davon machen können was ihnen hilfreich se<strong>in</strong> könnte. Die<br />

Ideen dafür kommen natürlich aus unserer Erfahrung, weil wir bestimmte Arten und Weisen zu denken,<br />

zu sprechen an uns ausgetestet haben, an uns erfahren haben, und dann schauen wir, ob das für<br />

andere tatsächlich hilfreich se<strong>in</strong> könnte.<br />

Um <strong>die</strong>se Hilfe anzubieten zu können, gehen wir nicht gleich <strong>in</strong>s direkte Handeln, sondern wir bleiben<br />

zunächst e<strong>in</strong>mal bei der Praxis des Tonglen. Wir geben unsere Unterstützung, <strong>die</strong> wir für s<strong>in</strong>nvoll<br />

halten und atmen <strong>die</strong> Blockaden e<strong>in</strong>. Mit dem E<strong>in</strong>atmen öffnen wir uns für <strong>die</strong> Schwierigkeiten und<br />

<strong>mit</strong> dem Ausatmen geben wir unsere Unterstützung, wir lassen das Bild <strong>in</strong> uns wirken, dass alle <strong>die</strong>se<br />

Unterstützung erhalten. Dieses Bild wie es se<strong>in</strong> könnte wird <strong>in</strong> uns wach gerufen und dabei ist wichtig,<br />

dass das zunächst e<strong>in</strong>mal auch uns völlig öffnet und entspannt.<br />

Dann arbeiten wir weiter <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Bild der Heilung, der Unterstützung, des Auflösens der<br />

Schwierigkeiten bis wir wirklich spüren, dass sich das Bodhicitta <strong>in</strong> unserem Herzen ausbreitet. Und<br />

<strong>mit</strong> dem Bodhicitta im Herzen atmen wir weiter, wir atmen e<strong>in</strong>, wir atmen aus…<br />

Bodhicitta beg<strong>in</strong>nt unser ganzes Wesen zu füllen, und aus <strong>die</strong>ser Erfahrung des Bodhicitta heraus<br />

beg<strong>in</strong>nen wir dann zu sprechen, machen körperliche Gesten und wir denken, wir br<strong>in</strong>gen unsere Gedanken<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Situation. Bodhicitta be<strong>in</strong>haltet alle erwachten Qualitäten. Wenn Bodhicitta <strong>in</strong> unserem<br />

Herzen aktiv ist, s<strong>in</strong>d alle heilsamen Faktoren aktiviert. Wenn wir dar<strong>in</strong> verweilen können, wird ganz<br />

automatisch unser Handeln, unser Se<strong>in</strong> positiv, von guter Auswirkung se<strong>in</strong>. Wir s<strong>in</strong>d dann nicht mehr<br />

<strong>in</strong> Ich-Bezogenheit sondern wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Öffnung, <strong>in</strong> Annahmebereitschaft und <strong>in</strong> der Bereitschaft zu<br />

teilen. Wir s<strong>in</strong>d völlig raus aus dem Geist des Manipulierens, aus dem emotionalen Druck unbed<strong>in</strong>gt<br />

etwas verändern zu müssen, wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er offenen Geisteshaltung.<br />

Wenn es uns möglich ist da anzukommen, ist unser Handeln spontan. Es ist Ausdruck unseres Verständnisses<br />

für uns selbst und des Verständnisses für andere. Wir erspüren <strong>die</strong> eigenen Schwierigkeiten,<br />

wir erspüren <strong>die</strong> Schwierigkeiten der anderen, wir erspüren was für uns und für andere hilfreich<br />

se<strong>in</strong> könnte ohne den impulsiven Zwang, das jetzt auch alles anwenden zu müssen und teilen zu müssen<br />

oder dass <strong>die</strong> anderen mir jetzt zuhören müssten und dass jetzt alles gut kommen muss. All <strong>die</strong>ses<br />

96


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Impulsive hat sich aufgelöst, weil e<strong>in</strong> echtes Hören stattgefunden hat und weil Bodhicitta tatsächlich<br />

E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> unser Herz gefunden hat.<br />

Ich hab also hier e<strong>in</strong> wenig zusammengefasst, was <strong>die</strong> Praxis des Lodjong, des Geistestra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs ist. Es<br />

ist e<strong>in</strong> Loslassen der eigenen Standpunkte, e<strong>in</strong> sich E<strong>in</strong>lassen auf das Erleben der anderen um von dort<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> <strong>die</strong> Bereitschaft, das zu se<strong>in</strong> – das zu tun, zu sagen, zu denken – was allen hilfreich<br />

ist. Es kommt zu e<strong>in</strong>er Ausweitung des Herzens, zu e<strong>in</strong>er panoramischen Vision auf der Basis von<br />

Mitgefühl und Weisheit. Das beendet nicht nur <strong>die</strong> verschiedenen Formen von Stolz sondern auch <strong>die</strong><br />

anderen emotionalen Belastungen.<br />

Für <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> ganz neu s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong>se Ausdrücke zum ersten Mal hören: Die Praxis des Lodjong,<br />

des Geistestra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs wird <strong>in</strong> eigenen Kursen erklärt und übertragen. Sie kann dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em persönlichen<br />

Prozess über Jahre h<strong>in</strong>weg <strong>in</strong> unser Leben <strong>in</strong>tegriert werden. Ich kann hier nur kurz andeuten<br />

worum es dabei geht.<br />

Fragen:<br />

Sich <strong>in</strong> jemanden h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen<br />

Hilft sich <strong>in</strong> jemand anderen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen – z.B. <strong>in</strong> jemanden, der sich über uns ärgert – <strong>die</strong>ser<br />

Person auf lange Sicht?<br />

Das ist nicht der Fall, auch wenn <strong>die</strong>ses momentane sich H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen durchaus angenehm und<br />

hilfreich ist. Dieses E<strong>in</strong>gehen aufe<strong>in</strong>ander wirkt zunächst e<strong>in</strong>mal sehr erleichternd, weil wir <strong>die</strong> Weltsicht<br />

oder <strong>die</strong> Sicht der Situation des anderen verstehen, erahnen können. Wir s<strong>in</strong>d bemüht sie zu erfühlen,<br />

wir lassen uns e<strong>in</strong> darauf sie beschrieben zu bekommen, und wir kommen zu dem Punkt, wo<br />

wir sagen können: „Ja, es ist möglich <strong>die</strong> Welt aus <strong>die</strong>ser Sicht heraus zu erleben.“ Auch wenn es nicht<br />

me<strong>in</strong>e Sicht ist. Das bedeutet nicht, dass ich <strong>die</strong> Sicht des anderen zu me<strong>in</strong>er Sicht mache. Wir kommen<br />

zu dem Schluss, dass es verschiedene Sichtweisen über <strong>die</strong> Situation gibt, und das ist schon e<strong>in</strong><br />

großer Schritt. Wir akzeptieren, dass man <strong>die</strong>selbe Situation auch anders erleben kann.<br />

Weil wir uns darauf e<strong>in</strong>gelassen haben und spüren, können wir dem anderen auch <strong>mit</strong>teilen, dass wir<br />

e<strong>in</strong>e solche andere Sicht der Situation als e<strong>in</strong>e mögliche akzeptieren, dass es da zwei verschiedene<br />

Sichtweisen gibt. Man versteht sich dar<strong>in</strong>, dass es eben zwei verschiedene Sichten gibt oder drei oder<br />

vier oder fünf oder sechs, so viele Sichtweisen wie es halt Menschen gibt. Wir akzeptieren das grundlegend.<br />

Die Tore des Nicht-Verstehens haben sich wieder geöffnet, es entsteht e<strong>in</strong> Verstehen darüber,<br />

dass man <strong>die</strong> Welt so sehen kann, dass man sie so erleben kann.<br />

Das hat zwar noch nichts geregelt, aber wir verfügen wieder über Brücken des Verständnisses. Wir<br />

können uns wieder <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander austauschen und daraus werden dann möglicherweise Lösungen gefunden,<br />

oder aber es werden ke<strong>in</strong>e Lösungen gefunden und wir akzeptieren, dass man <strong>mit</strong> verschiedenen<br />

Sichtweisen derselben Situation leben kann. Der Prozess geht e<strong>in</strong>fach so weit wie man sich tatsächlich<br />

dar<strong>in</strong> hilfreich se<strong>in</strong> kann und dann akzeptieren wir, dass der Weg von e<strong>in</strong>em jeden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

eigenen Geist zu gehen ist. Aber <strong>die</strong> Tore des Herzens s<strong>in</strong>d wieder offen und da<strong>mit</strong> ist <strong>die</strong> Blockade<br />

wieder aufgehoben, wir s<strong>in</strong>d wieder <strong>in</strong> Fluss.<br />

Wenn wir e<strong>in</strong>ander zuhören, braucht es <strong>die</strong> Bereitschaft zu akzeptieren, dass <strong>die</strong> verschiedenen Teilnehmer<br />

e<strong>in</strong>er Situation nicht <strong>die</strong>selbe Vision zu haben brauchen. Es geht beim Zuhören und beim sich<br />

Austauschen nicht darum, alle zur selben Vision zu br<strong>in</strong>gen. Das wäre <strong>die</strong> Diktatur der ‚e<strong>in</strong>en Sichtweise’.<br />

Darum geht es nicht. Es geht darum zu akzeptieren, dass es immer, <strong>in</strong> jeder Situation zu verschiedenen<br />

Sichtweisen kommt, <strong>die</strong> so zahlreich s<strong>in</strong>d wie <strong>die</strong> Erlebenden. Und es geht um <strong>die</strong> Akzeptanz,<br />

dass man <strong>in</strong> derselben Situation so krass verschieden erleben kann. Da braucht es dann e<strong>in</strong>e<br />

Fairness im Zuhören, e<strong>in</strong>e freundschaftliche Bereitschaft zuzuhören, wenn der andere ehrlich beschreibt<br />

was er erlebt hat. Wir akzeptieren, dass es tatsächlich so se<strong>in</strong> kann, auch wenn es uns total<br />

schwer fällt das nachzuvollziehen. Diese Bereitschaft, e<strong>in</strong> vollkommen anderes Erleben als das unsere<br />

zu akzeptieren, braucht es, da<strong>mit</strong> Austausch s<strong>in</strong>nvoll ist, dabei geht es nicht um das Vere<strong>in</strong>heitlichen.<br />

Es geht darum, jedem <strong>die</strong> Unterstützung zu geben, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Weltsicht Fortschritte zu machen,<br />

Unterstützung zu haben um zu e<strong>in</strong>er Öffnung zu f<strong>in</strong>den.<br />

97


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Aufgeregtheit<br />

Ich würde gerne ansprechen was ich jetzt gerade erlebe: Jedes Mal, wenn ich etwas sagen möchte,<br />

fängt me<strong>in</strong> Herz an schneller zu schlagen. Ich werde unsicher und falle <strong>in</strong> Muster h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> ich<br />

früher als sehr schüchternes K<strong>in</strong>d gut kannte, wo ich mir me<strong>in</strong>er selbst nicht sicher war. Ich spreche<br />

das e<strong>in</strong>fach an, weil es me<strong>in</strong>e Beiträge li<strong>mit</strong>iert, me<strong>in</strong>en Geist unklar macht, wenn ich spreche. Gibt es<br />

dazu e<strong>in</strong>en Rat?<br />

Aus me<strong>in</strong>er Erfahrung hilft <strong>in</strong> Situationen, wo das Herz zu rasen beg<strong>in</strong>nt und der Mund trocken wird,<br />

weil ich <strong>in</strong> der Öffentlichkeit etwas sagen oder e<strong>in</strong> schwieriges Thema behandeln möchte, me<strong>in</strong>en<br />

Geist bewusst auf <strong>die</strong> Gesamtsituation zu lenken und daran zu denken, was denn <strong>die</strong> Situation braucht.<br />

Ich habe gelernt, für <strong>die</strong> Zuhörer zu sprechen und gar nicht daran zu denken, dass ich es b<strong>in</strong>, der<br />

spricht, also mich wirklich e<strong>in</strong>zulassen darauf, was denn <strong>die</strong> anderen brauchen oder erleben, <strong>in</strong> sie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuhören.<br />

Dieses Weg-von-mir-selbst und H<strong>in</strong>-zu-den-anderen hat mir enorm geholfen, um solche<br />

Situationen zu meistern.<br />

Was tun bei Eskalationen?<br />

Du hast beschrieben wie sich im Zorn <strong>die</strong> Sicht immer mehr e<strong>in</strong>engt – Scheuklappensicht über Tunnelblick,<br />

bis man schließlich gar nichts mehr <strong>mit</strong>kriegt. Wie kann man jemanden da begleiten? Wie kann<br />

man sich verhalten, wenn es auch <strong>mit</strong> all den biochemischen Prozessen im Gehirn zu e<strong>in</strong>em vollkommenen<br />

Ausagieren von Wut kommt?<br />

Auf jeder Stufe des fortschreitenden Ärgers gilt es weise zu handeln, <strong>mit</strong> großer Weisheit, <strong>mit</strong> E<strong>in</strong>fühlungsvermögen<br />

und natürlich auch <strong>mit</strong>fühlend. Wenn jemand beg<strong>in</strong>nt ärgerlich zu werden, muss man<br />

wissen: Das ist nicht der Moment um zu diskutieren! Wenn ich da <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>er Sichtweise frontal re<strong>in</strong>gehe,<br />

wird das als Provokation erfahren, und es kommt zu e<strong>in</strong>er Ausuferung, zu e<strong>in</strong>er sehr starken<br />

Steigerung des Konfliktes. Raum geben, erst e<strong>in</strong>mal ruhig bleiben und zuhören ist auf jeden Fall<br />

e<strong>in</strong>mal wichtig.<br />

Was wirklich helfen könnte, wäre, wenn wir h<strong>in</strong>ter den Ärger schauen und <strong>die</strong> Angst identifizieren<br />

können, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Ärger verbunden ist. Wenn wir sehen können was für unerfüllte Bedürfnisse<br />

dah<strong>in</strong>ter stecken, <strong>die</strong> zu <strong>die</strong>ser Ballung von Energie führen. Wir nehmen Kontakt <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Angst auf<br />

und wirken beruhigend auf <strong>die</strong>se Angst. Wenn wir da h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den können, gel<strong>in</strong>gt es uns eigentlich<br />

fast immer, <strong>die</strong> Situation zu entschärfen.<br />

Es bedarf aber e<strong>in</strong>er großen <strong>in</strong>neren Freiheit um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation, wo wir z.B. direkt persönlich angegriffen<br />

werden, <strong>die</strong> Sicht haben zu können, dass es ke<strong>in</strong> persönlicher Angriff ist sondern e<strong>in</strong> verzweifeltes<br />

um sich Schlagen von jemandem, dem es nicht gut geht und dessen Ängste, dessen Identifikationen<br />

berührt s<strong>in</strong>d, und darauf dann geschickt e<strong>in</strong>zuwirken.<br />

Wenn wir schon so weit s<strong>in</strong>d, dass es zum Tunnelblick und zum Blackout kommt, dann geht es nur<br />

noch darum, Personen und Sachen auf <strong>die</strong> Seite zu br<strong>in</strong>gen, dass nichts kaputt geht und im Zweifelsfall<br />

auch – falls genug starke Leute im Raum s<strong>in</strong>d – so jemanden zu dritt, zu sechst e<strong>in</strong>fach ruhig zu<br />

stellen, sodass er sich selbst und anderen nicht schaden kann. Da muss man dann ganz praktisch vorgehen.<br />

Das s<strong>in</strong>d verschiedene Stufen an Eskalation im Ärger und man tut auf jeder Stufe was man<br />

kann, ohne <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge nach Möglichkeit persönlich zu nehmen.<br />

Du hast gesagt, wenn jemand <strong>in</strong> Wut ist, dann soll man sehen welche Angst dah<strong>in</strong>ter steckt und da<strong>mit</strong><br />

Kontakt aufnehmen. Aber das ist genau das Problem, das Jean Claude angesprochen hat. Wie mach<br />

ich das, ohne dass der andere noch wütender wird oder ich anfange zu diskutieren, was ja nicht<br />

s<strong>in</strong>nvoll ist. Wie kann ich das machen?<br />

Mach nicht zu viel. Es geht e<strong>in</strong>fach nur darum, dabei zu bleiben und den gesamten Menschen wahrzunehmen,<br />

nicht nur den wütenden Menschen. Das ist, wie dem eigenen Geist nicht zu erlauben sich<br />

e<strong>in</strong>zuzoomen was an Ärger da ist. Wir nehmen den gesamten Menschen wahr, wir können auch darüber<br />

h<strong>in</strong>ausgehen und den gesamten Menschen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Buddhanatur wahrnehmen, dann geht man<br />

noch e<strong>in</strong>en Schritt weiter, aber es reicht schon, wenn wir ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Bedürfnissen und Ängsten,<br />

Hoffnungen und Wünschen und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ärger wahrnehmen; als Ganzes. Es ist nichts wirklich zu<br />

tun, nur <strong>die</strong> Wahrnehmung von dem was ist auszuweiten. Wir können dabei auch ganz ruhig bleiben,<br />

98


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

wir brauchen auch nichts speziell zu sagen. Die Situation wird entscheiden, ob wir wirklich was tun<br />

müssen, aber unsere Wahrnehmung soll so panoramisch bleiben wie möglich. Das ist total hilfreich.<br />

Es ist mir auch schon passiert – und euch ist es vielleicht auch schon so ergangen – dass es total hilfreich<br />

war, <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>er Situation me<strong>in</strong>en eigenen Ärger zu zeigen, nicht zurückzuhalten da<strong>mit</strong>, aber den<br />

anderen nicht anzugreifen; zu sagen, dass es mir st<strong>in</strong>kt, dass es mir reicht, dass ich da<strong>mit</strong> nicht mehr<br />

zurechtkomme und dem deutlich Ausdruck geben. Da<strong>mit</strong> s<strong>in</strong>d wir zwei, <strong>die</strong> ärgerlich s<strong>in</strong>d und s<strong>in</strong>d<br />

wieder auf gleicher Ebene. Dann gibt es ke<strong>in</strong>en, der <strong>die</strong> Ruhe bewahrt und immer der Stärkere ist und<br />

der andere ist nicht schon wieder der Schwächere, weil er <strong>die</strong> Fassung verliert. Auch das kann hilfreich<br />

se<strong>in</strong>, es s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach alle Möglichkeiten offen, man muss authentisch se<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>e möglichst<br />

weite Sichtweise bewahren.<br />

Es hilft auch daran zu denken, dass <strong>die</strong>se Situation nicht <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Art ist, <strong>die</strong> wir noch leben<br />

werden. Es wird noch viele solche geben, auch da bewahren wir e<strong>in</strong>e weite Sicht und bekommen<br />

nicht <strong>die</strong>sen Tunnelblick als würde jetzt das ganze Leben entschieden werden, sondern wir denken<br />

daran, dass wir auch nach dem Streit <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong> müssen <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander zu gehen. Auch das sollten<br />

wir nicht vergessen. Wir passen auf, uns nicht zu Verhaltensweisen oder Worten h<strong>in</strong>reißen zu lassen,<br />

<strong>die</strong> wir nachher bereuen. Auch das gehört zum Weitblick dazu.<br />

Beschwichtigung<br />

Ich habe Situationen erlebt – wo ich selber ärgerlich war oder auch wo ich versucht habe anderen zu<br />

helfen – wo es ganz schwierig war, wenn jemand anders versucht hat den Doktor zu spielen. Wenn da<br />

jemand mildernd oder abschwächend wirken wollte, dann hat das bei mir garantiert bis <strong>in</strong>s<br />

Tunnelstadium geführt, denn <strong>die</strong> Klarheit des Geistes ist <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>em Zustand so groß, dass e<strong>in</strong>en <strong>die</strong>se<br />

unauthentischen Versuche zu helfen und zu beschwichtigen noch mehr <strong>in</strong> Rage br<strong>in</strong>gen.<br />

Es ist wichtig, dass wir total authentisch s<strong>in</strong>d. Dieses Beschwichtigen-Wollen geht klar schief, dar<strong>in</strong><br />

ist nämlich e<strong>in</strong> Ablehnen der anderen Person zu spüren. In Situationen <strong>mit</strong> Ärger wirklich hilfreich zu<br />

se<strong>in</strong> ist nur möglich, wenn ich mir e<strong>in</strong>gestehe, dass ich genauso se<strong>in</strong> kann wie der andere. Ich nehme<br />

den anderen als Menschen <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Situation grundlegend an und schaue dann <strong>mit</strong> ganzem Herzen,<br />

was denn da hilfreich se<strong>in</strong> könnte. Authentizität ist das was am meisten gefragt ist und das wird dann<br />

auch helfen. Die Wege, wie das genau aussieht, das muss jeder <strong>in</strong> der jeweiligen Situation neu<br />

herausf<strong>in</strong>den.<br />

Ich wollte zu Ärger und Stolz etwas <strong>mit</strong> allen teilen. Du sagtest wir sollten dah<strong>in</strong>ter schauen. Mir<br />

sche<strong>in</strong>t, dass h<strong>in</strong>tergründig, h<strong>in</strong>ter dem Erleben der beiden Faktoren irgende<strong>in</strong>e Art von Grenzverletzung<br />

ist und <strong>in</strong>folge dessen e<strong>in</strong>e Art von Verletzung der Autonomie der eigenen Person. Und wenn<br />

ich bezüglich Authentizität weiter denke, dass jemand <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Art und Weise e<strong>in</strong>e Grenzverletzung<br />

erlebt hat, wo se<strong>in</strong>e Autonomie <strong>in</strong> Frage gestellt worden ist, dann ist ja irgendwie se<strong>in</strong>e<br />

Existenz bedroht. Für mich ist ganz schwer hier zu se<strong>in</strong> und zu hören, dass es e<strong>in</strong>e Existenz – wie auch<br />

immer – von Faktoren nicht gibt.<br />

Ich erkläre warum: Ich kenne gut Situationen von Dissoziiertse<strong>in</strong> und es hat e<strong>in</strong>en langen Weg gekostet<br />

zu erkennen, dass <strong>die</strong>se Zustände, <strong>die</strong> da auftauchen, nicht ich b<strong>in</strong> sondern dass sie aus dem Umfeld<br />

gekommen s<strong>in</strong>d, auf das ich Bezug nehmen musste. Ich formuliere das ganz konkret: Ich war als<br />

Baby sehr oft verlassen, nicht gestillt, nicht gehalten und es ist sehr viel tiefer als irgende<strong>in</strong>e Art von<br />

Bewusstse<strong>in</strong>, weil es so früh ist. Ich habe also e<strong>in</strong>e existenzielle Bedrohung erlebt ohne irgende<strong>in</strong>e<br />

kognitive Möglichkeit, das verarbeiten zu können. Es kostet mir sehr viel Mühe da heraus zu steigen<br />

und das zu sehen, weil es jetzt sehr <strong>in</strong> mir ist. Diesen Zustand zu halten, wenn er auftaucht, ist nicht so<br />

e<strong>in</strong>fach und dann zu hören, dass es ke<strong>in</strong> Ich gibt – wo<strong>mit</strong> ich nicht wirklich e<strong>in</strong> Problem hab, weil ich<br />

etwas Dynamisches, Gestaltendes sehr mag – aber es so oft zu hören triggert den Punkt, der weit unter<br />

me<strong>in</strong>em Bewusstse<strong>in</strong> liegt, nicht zu existieren. Wenn ich sehe, dass e<strong>in</strong> Niederlassen <strong>in</strong> der eigenen<br />

Existenz stattf<strong>in</strong>den kann, fällt es leichter zu erkennen, dass <strong>die</strong> Faktoren, <strong>die</strong> wir heute besprochen<br />

haben, das Ergebnis der Nicht-Autonomie und der Grenzverletzung s<strong>in</strong>d und sich daraus heraus<br />

gestalten. Wenn ich das so betrachte, dann kann ich mich plötzlich auch schuldfrei annehmen und<br />

sagen, ich schau mir <strong>die</strong>se Faktoren an. Denn wenn <strong>die</strong> Faktoren so beschrieben werden wie sie<br />

beschrieben worden s<strong>in</strong>d, taucht <strong>in</strong> mir aufgrund me<strong>in</strong>er Geschichte schnell das Gefühl von Schuld<br />

99


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

auf. Für mich ist es also e<strong>in</strong> unglaublicher Akt, gerade <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Momenten auch hier zu se<strong>in</strong> und zu<br />

merken, wann es zu viel ist, weil ich <strong>die</strong>se Grenzen nicht kennen lernte oder gerade dabei s<strong>in</strong>d, sie zu<br />

re-etablieren und b<strong>in</strong> unglaublich dankbar darüber, dass es Menschen gibt, <strong>die</strong> das können, <strong>die</strong> das<br />

für mich tun. Und so ist schon wieder ke<strong>in</strong> eigenes Ich dah<strong>in</strong>ter. Und ich freu mich sehr darüber, dass<br />

das Sensorium noch da ist Menschen zu vertrauen, zu spüren, da werden Grenzen re-etabliert und<br />

me<strong>in</strong>e Autonomie wird hergestellt, um mich <strong>mit</strong> dem Thema <strong>die</strong>ses Fließens wirklich beschäftigen und<br />

mich darauf e<strong>in</strong>lassen zu können.<br />

Danke! De<strong>in</strong> Erleben wirft mehrere Fragen auf, <strong>die</strong> ich mir auch schon stelle und wo ich <strong>in</strong> den Unterweisungen<br />

noch nicht den Schritt gemacht habe, sie e<strong>in</strong>mal ganz anders darzustellen, nicht mehr so <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>ser klassischen Form. Die Menschen, zu denen <strong>die</strong> Lehrer <strong>in</strong> Asien sprachen, haben ihre existentiellen<br />

Bedürfnisse <strong>in</strong> ihrer Säugl<strong>in</strong>gszeit und frühen K<strong>in</strong>dheit recht gut erfüllt bekommen. Sie haben<br />

dadurch e<strong>in</strong> recht stabiles Selbstbewusstse<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Erwachsenenalter <strong>mit</strong>gebracht und waren alle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ganz normalen existentiellen Kontakt zur Natur und auch zu ihrem Körper. In der damaligen Zeit<br />

wirkten solche Unterweisungen offenbar nicht so stark verunsichernd, aber bereits aus den tibetischen<br />

Texten und wohl auch aus den Sanskrit-Texten ist bekannt, dass Beschreibungen des Nicht-Ich oder<br />

der Abwesenheit konkreter Existenz bei Zuhörern Panik auslösen können, ohne dass leider mehr darauf<br />

e<strong>in</strong>gegangen wird, warum das der Fall ist. Von daher wird auch immer wieder darauf h<strong>in</strong>gewiesen:<br />

„Seid vorsichtig, wenn ihr darüber sprecht!“<br />

Ich kann also gut nachvollziehen, was du beschreibst und frage mich manchmal auch, ob es nicht ausreichen<br />

würde e<strong>in</strong>fach darzustellen wie alles im Fluss geschieht, um zu <strong>die</strong>ser Wahrnehmung des Flusses<br />

und des immer wieder Frischen zu kommen, ohne das von e<strong>in</strong>igen von uns so mühsam erarbeiteten<br />

Selbstgefühl so stark zu dekonstruieren, was dann <strong>in</strong> Frage gestellt wird. Das Selbstgefühl ist gar nicht<br />

das Problem, das darf <strong>in</strong>takt bleiben. Man darf sich als gesundes, harmonisches, ganzes Wesen fühlen<br />

<strong>mit</strong> all den Möglichkeiten des Austausches, ohne das für e<strong>in</strong> stabiles, unwandelbares Ich zu halten.<br />

Diese Dekonstruktion, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> <strong>Skandhas</strong> ja ganz konkret vorgenommen wird, wird als e<strong>in</strong><br />

Angriff auf das Selbstbewusstse<strong>in</strong> erlebt, weil es e<strong>in</strong> Angriff auf Vorstellungen e<strong>in</strong>es Ich ist, das ist<br />

ganz klar. Aber es ist da<strong>mit</strong> nicht das gesunde Selbstbewusstse<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>t, was auf der Erfahrung e<strong>in</strong>er<br />

<strong>in</strong>tegrierten Persönlichkeit beruht, <strong>die</strong> Entscheidungen treffen kann, <strong>die</strong> lieben kann, <strong>die</strong> geliebt werden<br />

kann. Da f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Verwechslung statt, weil wir <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Bereich empf<strong>in</strong>dlich, verletzlich s<strong>in</strong>d.<br />

Es f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Verwechslung der Zielscheibe, oder dessen was wirklich beabsichtigt ist, statt und das<br />

führt dazu, dass man manchmal am liebsten aufspr<strong>in</strong>gen und raus rennen möchte oder vielleicht wütend<br />

wird und sich irgendwie schützen möchte gegen <strong>die</strong>se Art von Unterweisungen.<br />

Ich möchte daran auch weiter forschen, wie man das gut darstellen kann, sodass es wirklich mehr und<br />

mehr hilfreich wird und ke<strong>in</strong>e unnötigen Reaktionen auslöst <strong>in</strong> Bereichen, <strong>die</strong> nicht unbed<strong>in</strong>gt geme<strong>in</strong>t<br />

s<strong>in</strong>d. Ich glaube der Buddha war bis zu se<strong>in</strong>em Lebensende e<strong>in</strong> Musterbeispiel e<strong>in</strong>es gesunden Selbstbewusstse<strong>in</strong>s<br />

ohne an <strong>die</strong> Existenz e<strong>in</strong>es Ich zu glauben. In e<strong>in</strong>em Umfeld, wo ich ke<strong>in</strong>e Übertragung<br />

gebe, erlaube ich es mir auch so zu sprechen, aber wenn ich e<strong>in</strong>e Übertragung gebe, dann habe ich immer<br />

noch Mühe, solche D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>fach so frech zu sagen, weil das e<strong>in</strong>e Um-Interpretation der Lehre ist.<br />

Aber ich b<strong>in</strong> völlig überzeugt davon, dass der Buddha e<strong>in</strong> gesundes Selbstbewusstse<strong>in</strong> hatte. Das wagt<br />

nur ke<strong>in</strong>er zu sagen, weil das Wort ‚Selbst’ im Buddhismus so belegt ist, es wird so ause<strong>in</strong>ander genommen.<br />

Was wir heute <strong>mit</strong> Selbstbewusstse<strong>in</strong> me<strong>in</strong>en, ist etwas ganz Gesundes, und wenn wir <strong>die</strong><br />

Para<strong>mit</strong>as anschauen, so führen <strong>die</strong> zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrierten Persönlichkeit, zum Aufbau e<strong>in</strong>es gesunden<br />

Selbst, das nicht mehr auf falschen Annahmen und falschen Identifikationen beruht, e<strong>in</strong> ganz gesunder<br />

Prozess.<br />

Hier<strong>mit</strong> habe ich mir e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten Zeit genommen, um <strong>die</strong>se andere Darstellungsweise kurz anzusprechen,<br />

um klar zu machen, dass es um das Auflösen der Vorstellung e<strong>in</strong>er verme<strong>in</strong>tlichern Stabilität<br />

geht dort wo es ke<strong>in</strong>e hat, um <strong>die</strong> wahre Stabilität zu f<strong>in</strong>den. Die besteht <strong>in</strong> der Fähigkeit, im Prozess,<br />

im Austausch zu se<strong>in</strong> ohne se<strong>in</strong>e Richtung zu verlieren, ohne <strong>die</strong> Klarheit des Geistes zu verlieren, zu<br />

wissen wo <strong>die</strong>ser Prozess h<strong>in</strong>gelenkt werden möchte – all <strong>die</strong> Faktoren, <strong>die</strong> zu e<strong>in</strong>em dynamischen<br />

Selbst gehören.<br />

* * *<br />

100


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Der nächste Faktor sche<strong>in</strong>t zunächst e<strong>in</strong>mal nicht so emotional wie Begierde, Hass oder Stolz zu se<strong>in</strong>.<br />

26) Zweifel<br />

ist e<strong>in</strong>e mentale Zwiespältigkeit angesichts der Bedeutung der Wahrheiten. Er verh<strong>in</strong>dert <strong>die</strong><br />

Praxis des Heilsamen.<br />

Wo es Zweifel gibt, können konstruktive Handlungen nicht wirklich ausgeführt werden, Zweifel bewirkt,<br />

dass wir uns unsicher s<strong>in</strong>d. Solange wir unsicher s<strong>in</strong>d, können wir ke<strong>in</strong>e Entscheidung treffen<br />

und ke<strong>in</strong>e klare, stabile Handlung ausführen. Das ist <strong>die</strong> Natur des Zweifels.<br />

Zunächst e<strong>in</strong>mal sei unterschieden zwischen heilsamem, gesundem Zweifel und ungesundem Zweifel.<br />

Gesunder Zweifel bewirkt, dass wir uns dem zuwenden, worüber wir uns nicht klar s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong><br />

Klärung vorantreiben. Gesunder Zweifel ist e<strong>in</strong>e Art von Neugier, e<strong>in</strong>e Art von Interesse, es wirklich<br />

genau verstehen zu wollen, es genau wissen zu wollen und bewirkt Untersuchen, genaues H<strong>in</strong>schauen,<br />

Nachfragen, Erforschen dessen, worüber wir uns noch nicht klar s<strong>in</strong>d. Mit jedem Schritt des Erforschens<br />

und des Nachdenkens, Analysierens f<strong>in</strong>det weitere Klärung statt. Es mögen neue Fragen<br />

auftauchen, aber wir s<strong>in</strong>d im Prozess der Klärung bis Gewissheit, Klarheit über das Objekt unserer<br />

Untersuchung e<strong>in</strong>tritt.<br />

Bei nicht konstruktivem Zweifel handelt es sich um e<strong>in</strong>e ganz andere Geisteshaltung. Sie besteht dar<strong>in</strong>,<br />

dass wir bereits gemachte Erfahrungen und gewonnene Gewissheiten, Überzeugungen uns<strong>in</strong>nigerweise<br />

wieder <strong>in</strong> Frage stellen, ohne dass neue Elemente zum Vorsche<strong>in</strong> gekommen wären, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> In-<br />

Frage-Stellen bewirken könnten. Wir haben gesehen und verstanden, aber aufgrund e<strong>in</strong>er neurotischen<br />

Tendenz <strong>in</strong> uns stellen wir das Ganze Stunden, Tage, Wochen später wieder <strong>in</strong> Frage und müssen<br />

wieder von vorne anfangen. Wir müssen den ganzen Weg wieder von vorne aufrollen, als ob <strong>die</strong>se<br />

Verständnisse und <strong>die</strong>se Erfahrung nie gewesen wären.<br />

Bezogen auf <strong>die</strong> vier edlen Wahrheiten haben wir durchaus verstanden, dass es sich überall da, wo Anspannung<br />

ist, um leidvolle Dase<strong>in</strong>szustände handelt. Wir haben verstanden, gesehen und erlebt, dass<br />

immer da, wo <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit stark wird, <strong>die</strong>se Form des Leidens stärker wird, dass <strong>die</strong> Anspannungen<br />

zunehmen. Wir haben Zustände relativer Freiheit oder sogar vollständigen Freise<strong>in</strong>s von <strong>die</strong>ser<br />

Anspannung erlebt. Wir kennen also auch <strong>die</strong> Erfahrung des Freise<strong>in</strong>s von Leid und wir haben <strong>die</strong><br />

verschiedenen Elemente des Weges zur Befreiung gut verstanden: Respekt für alle Lebewesen,<br />

Respekt für uns selbst – <strong>die</strong> Basis des heilsamen Handelns –, darauf aufbauend <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

wirklich achtsam, voll bewusst zu se<strong>in</strong>, um zu Erkenntnissen über <strong>die</strong> Wirklichkeit zu gelangen.<br />

Wir haben das verstanden, wir haben es sogar erfahren, und wir haben erfahren, wie wohltuend das ist.<br />

Und doch gibt es <strong>die</strong>se neurotische Tendenz <strong>in</strong> uns, <strong>die</strong> sagt: „Ja! Aber…“, „Ja, das hab ich erfahren.<br />

Aber kann ich me<strong>in</strong>en Erfahrungen trauen?“, „Ja, das wird von allen gesagt. Aber haben <strong>die</strong> auch<br />

genug h<strong>in</strong>geschaut?“, „Ja, habe ich mir denn da nichts e<strong>in</strong>gebildet?“<br />

Das ist <strong>mit</strong> Zwiespältigkeit des Geistes geme<strong>in</strong>t, sich nicht auf <strong>die</strong> gesunde Basis der eigenen Erfahrung<br />

und des Analysieren stellen zu können; und das, obwohl <strong>in</strong> der Zwischenzeit ke<strong>in</strong>e neuen Elemente<br />

zum Vorsche<strong>in</strong> gekommen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> unsere Analyse noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Frage stellen würden. Das<br />

wäre ja gesund. Wenn neue Erfahrungen auftauchen, <strong>die</strong> das, was wir bereits erfahren haben, wirklich<br />

<strong>in</strong> Frage stellen, dann müssen wir neu nachschauen. Es ist <strong>die</strong> neurotische Tendenz, alles wieder <strong>in</strong><br />

Frage zu stellen, obwohl nichts Neues aufgetaucht ist. Das unterm<strong>in</strong>iert den spirituellen Weg. Wir<br />

werden zu spirituell Beh<strong>in</strong>derten. Wir können nichts machen, wir können nicht fortschreiten, weil wir<br />

uns selber immer wieder den Saft abziehen.<br />

Das ist <strong>die</strong>se Zwiespältigkeit des Geistes, <strong>die</strong>ses Oszillieren, <strong>die</strong>ses Nie-Zufrieden-Se<strong>in</strong> aus e<strong>in</strong>em<br />

<strong>in</strong>neren Bedürfnis heraus, immer wieder <strong>die</strong> sich aufbauende Klarheit, das sich aufbauende Vertrauen<br />

zerstören zu müssen und eigentlich e<strong>in</strong> ewiger Zweifler zu se<strong>in</strong>. Es besteht e<strong>in</strong>e emotionale Tendenz,<br />

ständig alles anzuzweifeln, e<strong>in</strong>e ungesunde Skepsis, <strong>die</strong> immer wieder alles <strong>in</strong> Frage stellt, als wäre<br />

man identifiziert <strong>mit</strong> der Skepsis selbst.<br />

Das ist neurotischer Zweifel. Da<strong>mit</strong> lässt sich der spirituelle Weg nicht gehen, er wird selbst <strong>die</strong><br />

kle<strong>in</strong>ste heilsame Handlung untergraben. Wir erfahren z.B. von e<strong>in</strong>em Projekt oder davon, dass es<br />

101


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Menschen gibt, <strong>die</strong> Unterstützung brauchen und haben eigentlich schon den Wunsch, freigiebig zu<br />

se<strong>in</strong>, aber dann denken wir: „Ach ne<strong>in</strong>! Wer weiß, ob das wirklich so s<strong>in</strong>nvoll ist.“ Alles wird wieder<br />

<strong>in</strong> Frage gestellt. Wir s<strong>in</strong>d wieder beh<strong>in</strong>dert, es kommt nicht zu e<strong>in</strong>er konstruktiven Handlung.<br />

Oder: Wir haben Zeit und s<strong>in</strong>d voll überzeugt, e<strong>in</strong> kurzes Retreat zu machen oder für e<strong>in</strong>e Woche auf<br />

e<strong>in</strong>en Kurs zu gehen. Wir haben Zeit, wir haben das Geld, wir s<strong>in</strong>d frei, ke<strong>in</strong>er h<strong>in</strong>dert uns, und kurz<br />

bevor der Kurs anfängt denken wir: „Ach ne<strong>in</strong>! Was br<strong>in</strong>gt das? Was soll das?“ Es kommt nicht dazu,<br />

dass man den Schritt macht. Es vergeht wieder e<strong>in</strong>e Gelegenheit, und da<strong>mit</strong> unterm<strong>in</strong>iert man den<br />

Weg des Erwachens, man schiebt den Weg auf.<br />

Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Auswirkungen von Zweifel, das kann man bei allem sehen. Diese Funktion untergräbt<br />

Freundschaften, Paarbeziehungen, das Engagement <strong>in</strong> heilsamen Projekten, <strong>in</strong> Vere<strong>in</strong>en, <strong>in</strong> Nachbarschaftshilfe,<br />

überall. Alles wird ständig nur <strong>in</strong> Zweifel gezogen. Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Menschen, <strong>die</strong> es sich<br />

selbst nie Recht machen können und denen es andere auch nie Recht machen können, alles wird<br />

immer <strong>in</strong> Zweifel gezogen, und da<strong>mit</strong> ist ke<strong>in</strong> Fortschritt möglich.<br />

Vielleicht ist das e<strong>in</strong>e etwas karikaturistische Beschreibung von Persönlichkeiten, <strong>die</strong> ständig zweifeln,<br />

<strong>mit</strong> denen man ke<strong>in</strong>e vernünftige Diskussion führen kann, weil sie sich nicht auf irgende<strong>in</strong>er<br />

Basis niederlassen können. Alles muss immer wieder <strong>in</strong> Frage gestellt werden, es ist e<strong>in</strong> neurotisches<br />

Kreisen, e<strong>in</strong> neurotischer Drang, e<strong>in</strong>em klaren Abschluss zu entkommen. Und <strong>die</strong>se Skeptiker werden<br />

auch genau so sterben. Sie werden nicht glücklich werden, sie werden nicht zu irgendwelchen klaren<br />

Anschauungen oder Verhaltensgrundlagen, Lebensgrundlagen kommen, sie werden sich immer <strong>in</strong><br />

ihrer eigenen Skepsis verfangen.<br />

Wir kennen solche Menschen. Es ist sehr traurig, ihnen zuzuschauen, zuzuhören, wir geben meistens<br />

auf, <strong>mit</strong> ihnen zu diskutieren. Es ist unmöglich, man kommt nicht zu e<strong>in</strong>em richtigen Austausch, sie<br />

können ihre eigene Lebenserfahrung nicht stabilisieren und nicht zu ihren Erfahrungen stehen und<br />

auch nicht zu ihren analytisch gewonnenen Überzeugungen. Alles wird immer <strong>in</strong> Frage gestellt.<br />

Nun ist es aber nicht so, dass wir hier über irgendwelche Karikaturen sprechen oder über Menschen,<br />

<strong>die</strong> sehr leiden und wir selber nicht davon betroffen wären. Auch wir funktionieren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gewissen<br />

Ausmaß so, auch bei uns kommt es zu e<strong>in</strong>er enormen Verlangsamung des Prozesses des Erwachens,<br />

weil wir unseren Erfahrungen, unserem Verständnis nicht trauen, und weil wir es dann auch nicht konsequent<br />

anwenden. Dass wir es nicht konsequent anwenden, ist eigentlich Ausdruck davon, dass <strong>die</strong>ser<br />

Zweifel aktiv ist. Wir glauben es noch nicht! Wir haben hundertmal verstanden, tausendmal gesehen,<br />

dass Anhaftung zu Leid führt, aber wir denken: „Na ja! Ist es denn wirklich so? Br<strong>in</strong>gt es nicht vielleicht<br />

doch Glück?“<br />

So geht es <strong>mit</strong> allem. Wir haben so und so viele Male verstanden, dass <strong>die</strong>ses und jenes nicht förderlich<br />

und dass etwas anderes sehr förderlich ist. Aber dass wir das dann nicht konkret <strong>in</strong> unserem Handeln<br />

umzusetzen, zeigt, dass dazwischen Zweifel aktiv ist, etwas, das dem Verständnis se<strong>in</strong>e Stärke<br />

nimmt, se<strong>in</strong>e transformierende Kraft. Das ist der Faktor des Zweifels. Er bewirkt, dass wir nicht konsequent<br />

das umsetzen, was wir <strong>mit</strong> völliger Klarheit erfahren und verstanden haben. Und <strong>die</strong>ser Faktor<br />

ist <strong>in</strong> uns allen aktiv. Da schließe ich mich voll <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>, das ist genau das, was unseren Weg des Erwachens<br />

verlangsamt.<br />

Den Faktor des Zweifels aufzulösen würde bedeuten, das umzusetzen, was wir verstanden haben.<br />

Wenn wir e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>mal daran denken, was wir alles schon verstanden haben, bevor wir überhaupt<br />

zur ersten Dharmaunterweisung kommen…wenn wir all das schon umgesetzt hätten, wären wir <strong>in</strong> der<br />

Welt bekannt als weise Menschen. Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Lage, anderen tollen Rat zu geben. Wir kennen uns<br />

fantastisch aus, speziell dann, wenn wir Jahre des Dharmas schon auf dem Buckel haben. Dann können<br />

wir unglaublich gut Rat geben. Aber wie sieht es aus <strong>mit</strong> unserem Handeln, <strong>mit</strong> unserem Denken?<br />

Dieser Unterschied zwischen dem, was wir schon verstanden haben und dem, was wir tun, das ist der<br />

Faktor des Zweifels. Der Zweifel bewirkt: „Ja, das hab ich ja alles schon ganz gut verstanden. Aber …<br />

vielleicht verliere ich ja … aber jetzt brauche ich das doch nicht, erst kommt e<strong>in</strong>mal was anderes …<br />

statt jetzt zu meditieren, tr<strong>in</strong>ke ich lieber me<strong>in</strong>en Kaffee, nehme me<strong>in</strong>e Dusche …“ Und dann ist <strong>die</strong><br />

Zeit um … und so geht das Leben vorbei. Unser Verhalten und unser Verständnis s<strong>in</strong>d nicht kongruent,<br />

<strong>die</strong> beiden klaffen ause<strong>in</strong>ander, und <strong>die</strong>ser Faktor wird Zweifel oder Zwiespältigkeit genannt.<br />

Wir s<strong>in</strong>d nicht voll und ganz dabei, selbst nicht da<strong>mit</strong> verbunden, was wir uns wirklich vom Herzen<br />

102


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

her wünschen, was unsere tiefsten Herzenswünsche s<strong>in</strong>d. Selbst das setzen wir leider nicht um. Es geht<br />

ja gar nicht um <strong>die</strong> vielen <strong>in</strong>tellektuellen Verständnisse. Es geht ja drum, unsere Herzenswünsche<br />

umzusetzen, und leider setzen wir selbst <strong>die</strong> nicht um. Und das ist <strong>die</strong>se neurotische Funktion des<br />

Zweifels.<br />

Der Zweifel schwächt das Umsetzen der heilsamen Wünsche und der heilsamen Erkenntnis. Er verursacht<br />

wirklich riesiges Leid. Es führt zu <strong>in</strong>nere Zerrissenheit, wenn wir nicht unsere tiefsten Herzenswünsche<br />

umsetzen. Wenn wir <strong>die</strong> nicht leben, ihnen nicht folgen, machen wir uns selber unglücklich.<br />

Zweifel oder Zwiespältigkeit ist e<strong>in</strong>e unglaubliche Quelle von Leid.<br />

Fragen:<br />

Zweifel – Mangel an Achtsamkeit<br />

Die mangelnde Konsequenz kenne ich natürlich auch gut, aber das verstehe ich mehr <strong>in</strong> konkreten<br />

Entscheidungen und nicht <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Lücke zwischen dem, was ich verstanden hab und dem, was ich<br />

umsetze, weil da kommt e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> Gewohnheit ganz stark re<strong>in</strong>. Es ist ja ke<strong>in</strong> aktiver Zweifel <strong>in</strong> dem<br />

Moment, sondern ich sitze z.B. wieder vorm Internet und gucke noch das und das an und weiß aber,<br />

dass ich eigentlich was wirklich Wichtiges zu tun hätte. In dem Fall ist es für mich e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> Mangel<br />

an Achtsamkeit und ke<strong>in</strong> Zweifel, denn Zweifel ist für mich aktiver.<br />

Das hängt da<strong>mit</strong> zusammen, dass wir uns der kle<strong>in</strong>en Gedanken nicht bewusst s<strong>in</strong>d. Es f<strong>in</strong>den ständig<br />

kle<strong>in</strong>e Gedanken statt, wie „Das ist wichtig – das ist nicht wichtig. Das <strong>in</strong>teressiert mich – das <strong>in</strong>teressiert<br />

mich nicht.“ Und <strong>die</strong>ser Mangel an Achtsamkeit erklärt sich auch aus dem Zweifel, dass wir nicht<br />

mehr voll überzeugt von dem s<strong>in</strong>d, wovon wir eigentlich schon voll überzeugt waren. Wir stellen das<br />

wieder <strong>in</strong> Frage, lassen uns doch verleiten und gleiten wieder ab <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Nicht-Achtsamkeit, <strong>in</strong> Gewohnheiten.<br />

Es f<strong>in</strong>den kle<strong>in</strong>e Umbewertungen statt. Was uns als das Wichtigste erschien, wird wieder e<strong>in</strong> bisschen<br />

abgewertet: „Na, das kann ja auch warten, ist ja vielleicht doch nicht so wichtig.“ Genau das ist der<br />

Zweifel: „Ist ja vielleicht doch nicht so wichtig.“<br />

Es s<strong>in</strong>d viele kle<strong>in</strong>e Gedanken. Es muss nicht immer so e<strong>in</strong> großer Hammer von Zweifel kommen, wo<br />

wirklich ganz bewusst, konkret wieder etwas <strong>in</strong> Frage gestellt wird, wo man vorher schon Gewissheit<br />

oder Vertrauen aufgebaut hatte. Es s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> vielen kle<strong>in</strong>en Gedanken, derer man sich dann schon auch<br />

bewusst se<strong>in</strong> muss. Z.B. das morgendliche Umdrehen im Bett. Wenn man sich das genau anschaut,<br />

s<strong>in</strong>d da auch <strong>die</strong>se kle<strong>in</strong>en Zweifelgedanken <strong>mit</strong> im Spiel, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wichtigkeit von dem, was wir im<br />

klaren Bewusstse<strong>in</strong> für höchst wichtig halten, schon wieder <strong>in</strong> Frage stellen.<br />

Zweifel bezüglich Retreat<br />

You gave us an example about go<strong>in</strong>g or not go<strong>in</strong>g <strong>in</strong>to retreat, if one can. But there are as well quite a<br />

lot of possibilities to go to different k<strong>in</strong>ds of a retreat for example. What about the choice we should<br />

make? Sometimes it can be quite a lot of doubts about where to go.<br />

These are just normal doubts, maybe even constructive doubts. You have to f<strong>in</strong>d out which form is<br />

most beneficial for you <strong>in</strong> accordance with your real priorities <strong>in</strong> life. I mean, if you go to one or the<br />

other, you will still follow your deeper heart wishes and your deeper understand<strong>in</strong>gs. So, this is the<br />

k<strong>in</strong>d of hopefully constructive doubt. But if the doubt of not know<strong>in</strong>g which retreat you go to means<br />

that you don't go to anyone at all, then perhaps it turns to this neurotic form. The rest is just tak<strong>in</strong>g<br />

decisions <strong>in</strong> normal life between two th<strong>in</strong>gs which are pretty much of a similar quality.<br />

Ich habe e<strong>in</strong>en engen Freund, der viele Formen von unterschiedlichen Problemen hat, aber jedes Mal,<br />

wenn man ihm etwas vorschlägt, was ihm helfen könnte, zieht er alles <strong>in</strong> Zweifel. Gibt es e<strong>in</strong>e Form<br />

von Elektroschock dagegen? Gibt es e<strong>in</strong>e Form irgendwie da <strong>die</strong>ses Funktionieren aufzulösen?<br />

103


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ich denke, dass du und de<strong>in</strong>e Freunde schon alles versucht haben, um <strong>die</strong>ser Person zu helfen und dass<br />

<strong>die</strong> normalen Versuche wohl kaum etwas Neues bewirken werden. Vielleicht hilft es ja, über <strong>die</strong>se<br />

Mechanismen, über gesunden und ungesunden Zweifel zu sprechen, so dass <strong>die</strong> Person sich dar<strong>in</strong> erkennen<br />

und <strong>mit</strong> der Zeit aus <strong>die</strong>ser Art des Funktionieren aussteigen kann, durch <strong>die</strong> sie sich selber<br />

immer wieder im Unglück, im Nicht-Wohl-Se<strong>in</strong> festschreibt.<br />

Zweifel und Selbstzerstörung<br />

Ich hab das Gefühl, dass unter <strong>die</strong>sem Zweifel, so wie er jetzt hier im Raum steht, e<strong>in</strong>e starke Tendenz<br />

zur Selbstzerstörung liegt. Und <strong>die</strong>se Selbstzerstörung, <strong>die</strong> also untendrunter eigentlich schw<strong>in</strong>gt,<br />

erlaubt es nicht, genügend Vertrauen zu haben, weil irgendwo <strong>die</strong> Erlaubnis fehlt, existieren zu<br />

dürfen.<br />

Was <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition des Zweifels angeht, b<strong>in</strong> ich mir sicher, dass hier von e<strong>in</strong>em Faktor gesprochen<br />

wird, der uns zu e<strong>in</strong>er Handlungsunfähigkeit im Positiven br<strong>in</strong>gt. Er unterm<strong>in</strong>iert den positiven Elan,<br />

den Elan zum Heilsamen, immer wieder. Dass es von da weitergehen kann <strong>in</strong> selbst zerstörerische<br />

Tendenzen, das ist auch klar, weil sich der Zweifel noch <strong>mit</strong> bestimmten Formen von Aggressivität<br />

verb<strong>in</strong>det, <strong>mit</strong> Unwissenheit, also <strong>mit</strong> Ängsten. Diese Faktoren wirken dann <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation und<br />

führen zu selbst zerstörerischem Verhalten. Aber um den Faktor selber hier klar def<strong>in</strong>iert zu behalten,<br />

es ist e<strong>in</strong>fach nur geme<strong>in</strong>t, dass Zweifel uns zur Untätigkeit führt, nicht zu e<strong>in</strong>em direkten, aktiven<br />

Zerstören unserer Lebensgrundlage.<br />

Ist es so, dass Zweifel auch zum Vergessen führt – wenn kle<strong>in</strong>e Gedanken da s<strong>in</strong>d…<br />

Ja, der Zweifel führt auch zum Vergessen.<br />

Zum Verhalten im Internet: Man möchte sich doch auch gerne e<strong>in</strong>mal so e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> paar Sachen<br />

re<strong>in</strong>ziehen, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Fußballspiel oder e<strong>in</strong>e Reportage über Brasilien, e<strong>in</strong>en Krimi, und sich e<strong>in</strong>fach<br />

e<strong>in</strong> bisschen Kompott <strong>in</strong> den Geist holen, e<strong>in</strong>e Mischung, <strong>die</strong> irgendwie dazu beitragen soll, dass man<br />

entspannt wird. Ist das Zweifel? Ist das schlimm, Doktor?<br />

Ja, me<strong>in</strong> Lieber, das ist schlimm! … Ich hab es im Französischen noch e<strong>in</strong>mal deutlich gesagt, denn<br />

wir haben im Deutschen den Begriff der Zwiespältigkeit schon <strong>in</strong> der Def<strong>in</strong>ition dr<strong>in</strong>. Es ist wirklich<br />

wichtig, <strong>die</strong>sen Mechanismus des Zweifels zu verstehen, dass der Geist geteilt ist. Der Geist kann<br />

nicht zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren E<strong>in</strong>heit f<strong>in</strong>den. Er ist immer gespalten und das ist wohl das, was wirklich <strong>die</strong>sen<br />

Faktor ausmacht. Man kommt <strong>in</strong>nerlich nie zu e<strong>in</strong>er klaren E<strong>in</strong>sgerichtetheit.<br />

* * *<br />

Wir s<strong>in</strong>d immer noch <strong>in</strong> der Beschreibung der sechs emotionalen Belastungen, den so genannten<br />

Hauptemotionen.<br />

Wir haben uns von den sechs primären emotionalen Belastungen bereits <strong>mit</strong> Unwissenheit, Begierde,<br />

Ärger, Stolz und Zweifel befasst. Eigentlich müsste man denken, dass das reichen würde. Aber was<br />

fehlt denn da noch? – Nun, eigentlich fehlt da nichts, aber es kommt aufgrund der grundlegenden<br />

Unwissenheit zu e<strong>in</strong>er Reaktion auf Zweifel. Wir spüren unsere Zweifel, d.h. wir spüren unsere Unsicherheit.<br />

Wir spüren, dass wir uns nicht sicher s<strong>in</strong>d, was wahr ist, was richtig ist und wir versuchen<br />

das zu beseitigen, und zwar <strong>in</strong>dem wir uns Me<strong>in</strong>ungen, Sichtweisen zu Eigen machen. Wir etablieren<br />

etwas, auf das wir uns verlassen können und was uns e<strong>in</strong> Gefühl der Gewissheit gibt. Das passiert<br />

aufgrund von Unwissenheit, dem Wunsch nach Existenz, dem Haften an e<strong>in</strong>er verme<strong>in</strong>tlichen Existenz<br />

des Ichs. Das Bedürfnis nach Sicherheit, <strong>die</strong> ganze Angst, nicht zu wissen, bricht durch und schafft <strong>die</strong><br />

Grundlage dafür, dass wir uns e<strong>in</strong> System von Anschauungen, von Glaubensgrundsätzen aufbauen.<br />

104


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

27) Anschauungen<br />

s<strong>in</strong>d alle emotional belasteten Sichtweisen. Sie s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Grundlage aller schädlichen Anschauungen.<br />

Was s<strong>in</strong>d denn Anschauungen? Anschauung ist e<strong>in</strong> Versuch, sich e<strong>in</strong>e Identität aufzubauen. Dah<strong>in</strong>ter<br />

können wir das Funktionieren der Kleshas, <strong>die</strong>ser emotionalen Belastungen sehen. Sie motivieren uns,<br />

e<strong>in</strong> Glaubensgerüst aufzubauen, von dem wir sagen: „Das glaube ich, das ist me<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung, das ist<br />

me<strong>in</strong>e Anschauung!“ Und dann verteidigen wir <strong>die</strong>ses Gerüst; wir verteidigen <strong>die</strong>se Anschauung, weil<br />

wir uns da<strong>mit</strong> identifiziert haben. Wir nähren sie, wir schützen sie, wir feilen sie aus, da<strong>mit</strong> sie noch<br />

sicherer wird, da<strong>mit</strong> es noch besser wird, und eigentlich immer nur <strong>in</strong> dem Bedürfnis, unsere etwas<br />

wacklige Existenz zu schützen.<br />

Wenn wir Me<strong>in</strong>ungen, Anschauungen, Glaubenssätze angreifen, müssen wir wissen, dass wir da<strong>mit</strong><br />

direkt <strong>die</strong> Person <strong>mit</strong> ihren Ängsten konfrontieren, <strong>die</strong> dazu beigetragen haben, <strong>die</strong>ses Glaubensgerüst<br />

aufzubauen. Wir rütteln an den Grundfesten e<strong>in</strong>er Existenz, <strong>in</strong> der <strong>die</strong>se Glaubenssätze, <strong>die</strong>se Überzeugungen<br />

<strong>die</strong> Unsicherheit verdecken sollen, <strong>die</strong> Ängste ‚nicht genau zu wissen’, weil man nicht genau<br />

genug h<strong>in</strong>geschaut hat.<br />

Dieser sechste Faktor ist für mich wie e<strong>in</strong>e Zusammenfassung der anderen fünf – Unwissenheit,<br />

Begierde, Ärger, Stolz und Zweifel. Wenn der Buddha von Sichtweisen als sechstem belasteten Faktor<br />

spricht, dann drückt das se<strong>in</strong>e tiefe Überzeugung aus, dass wir auf unserem Weg der Befreiung alle<br />

Sichtweisen, alle Me<strong>in</strong>ungen h<strong>in</strong>ter uns lassen müssen. Da kommt <strong>die</strong> ganze Größe <strong>die</strong>ses Weges und<br />

der Unterweisungen Buddhas zum Vorsche<strong>in</strong>, dass es nicht darum geht, e<strong>in</strong>en neuen Glauben, e<strong>in</strong>e<br />

neue korrekte Sichtweise zu entwickeln, <strong>mit</strong> der wir uns dann wieder identifizieren.<br />

Wenn wir den buddhistischen Weg darauf untersuchen, worum es wirklich geht, so wird offenkundig,<br />

dass es um das Auflösen aller Anschauungen geht. Die Übersetzer haben <strong>die</strong>sem Faktor oft das kle<strong>in</strong>e<br />

Wörtchen ‚irrig’ beigefügt, aber irrige Anschauungen ist e<strong>in</strong>er der fünf Unterpunkte der Anschauungen,<br />

es ist nicht der Hauptpunkt. Es geht um das Auflösen aller Anschauungen, denn <strong>die</strong> direkte<br />

Sicht der Wirklichkeit ist frei von allen Anschauungen. Es ist e<strong>in</strong> un<strong>mit</strong>telbares Verstehen <strong>die</strong>ser nondualen<br />

Dimension, <strong>die</strong> sich den Worten und Beschreibungen der dualistischen Sprache entzieht.<br />

Man kann von e<strong>in</strong>er rechten Sichtweise <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne sprechen, dass es Sichtweisen gibt, <strong>die</strong> das Tor<br />

des Verständnisses öffnen, aber auch sie beschreiben nicht wirklich, was <strong>die</strong> eigentliche befreiende<br />

Erfahrung ist, wie <strong>die</strong> Wirklichkeit tatsächlich ist. Worte können das nie beschreiben, und deswegen<br />

geht es darum, alle Identifikationen <strong>mit</strong> Konzepten aufzulösen, d.h. auch <strong>die</strong> letzte Spur von Dogmatismus<br />

h<strong>in</strong>ter sich zu lassen.<br />

Die verschiedenen buddhistischen Schulen haben e<strong>in</strong>e Aufe<strong>in</strong>anderfolge von Sichtweisen entwickelt,<br />

<strong>die</strong> Heil<strong>mit</strong>tel s<strong>in</strong>d für irrige Anschauungen, für Me<strong>in</strong>ungen, <strong>die</strong> den Weg des Erwachens verstellen.<br />

Und <strong>die</strong>se Sichtweisen s<strong>in</strong>d als Mediz<strong>in</strong> zu verstehen, als Arzneien, <strong>die</strong> blockierende Sichtweisen<br />

auflösen sollen. Wenn <strong>die</strong> Blockade aufgelöst ist, dann dürfen wir aus dem Heil<strong>mit</strong>tel nicht e<strong>in</strong> neues<br />

Dogma machen und uns da<strong>mit</strong> wieder blockieren. Auch das s<strong>in</strong>d nur Konzepte. Das Heil<strong>mit</strong>tel muss<br />

<strong>mit</strong> der Krankheit, <strong>die</strong> dann aufgelöst ist, gleichzeitig losgelassen werden. So wie bei e<strong>in</strong>er normalen<br />

Krankheit, wo wir e<strong>in</strong>e Mediz<strong>in</strong> nur solange e<strong>in</strong>nehmen, wie wir sie brauchen, um <strong>die</strong> Krankheit aufzulösen.<br />

Dann lässt man auch <strong>die</strong> E<strong>in</strong>nahme der Arznei se<strong>in</strong>.<br />

Genau so ist es auch zu verstehen, wenn der Buddha sagte, dass der Dharma – was <strong>die</strong> Worte angeht –<br />

nicht <strong>die</strong> eigentliche Zuflucht ist. Es ist wie e<strong>in</strong> Floß, <strong>mit</strong> dem man den Strom des Leidens überquert.<br />

Wenn wir am anderen Ufer ankommen, dann werden wir doch nicht das Floß auf unserem Rücken<br />

weiter tragen. Wir lassen es da, wo es ist. Es hat geholfen, den Strom des Leidens zu überqueren, dann<br />

spricht <strong>die</strong> Realisation aus uns selbst. Dann kommen <strong>die</strong> Worte der Wahrheit aus der direkten Erfahrung<br />

selbst und passen sich immer wieder an <strong>die</strong> Situation an, an das Verständnis der Zuhörer. Wir<br />

brauchen dann nicht an den Worten zu haften.<br />

Da<strong>mit</strong> wollte der Buddha sagen, dass das das Ende der Sichtweisen, der Anschauungen ist, so gut sie<br />

auch se<strong>in</strong> mögen.<br />

Der Faktor Anschauungen wird nun basierend auf den Erklärungen des großen Mahayana-Meisters<br />

Asanga aus dem 4. Jh. n. Chr. unterteilt.<br />

105


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Anschauungen können <strong>in</strong> fünf Arten e<strong>in</strong>geteilt werden:<br />

- Die „Anschauung <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> vergängliche Ansammlung“ be<strong>in</strong>haltet, <strong>in</strong> den völlig<br />

angenommenen fünf Aggregaten e<strong>in</strong> „Ich“ zu sehen oder sie als „me<strong>in</strong>s“ zu betrachten.<br />

Sie stützt <strong>die</strong> anderen Anschauungen.<br />

Das bedeutet, sich völlig <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen fünf Aggregaten, Körper und Geist, zu identifizieren. Das ist an<br />

sich nichts Neues, das haben wir bereits unter dem Faktor Unwissenheit gehört.<br />

- Die „Anschauung, an Extremen festzuhalten“ be<strong>in</strong>haltet, das „Ich“ oder <strong>die</strong> fünf Aggregate<br />

entweder für dauerhaft oder für nicht-existent zu halten. – Lama Tenz<strong>in</strong> hat noch als<br />

zusätzliche Ausführung angefügt, sie <strong>mit</strong> dem Auftreten des Todes für nicht mehr existent zu<br />

halten. Sie bewirkt Blockaden für wahre Befreiung durch den Mittleren Weg.<br />

Mittlerer Weg ist der Ausdruck für <strong>die</strong> Unterweisungen des Dharma jenseits aller Extreme. Da<strong>mit</strong> s<strong>in</strong>d<br />

<strong>die</strong> vier extremen Standpunkte geme<strong>in</strong>t. Man glaubt, e<strong>in</strong>er <strong>die</strong>ser Standpunkte würde <strong>die</strong> Wirklichkeit<br />

exakt beschreiben, man identifiziert sich da<strong>mit</strong>: (1) Existenz bzw. Dauerhaftigkeit, (2) Nichtexistenz,<br />

manchmal auch Nihilismus genannt, (3) <strong>die</strong> Anschauung des ‚sowohl als auch’ – sowohl existent wie<br />

nicht-existent – und (4) <strong>die</strong> Anschauung ‚ke<strong>in</strong>es von beiden’. Diese Extreme halten e<strong>in</strong>er Analyse<br />

nicht stand und auch nicht der direkten Erfahrung. Das s<strong>in</strong>d Extreme <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, dass sie <strong>die</strong> Sichtweise<br />

des Mittleren Weges blockieren.<br />

- „Verkehrte Anschauung“ be<strong>in</strong>haltet, <strong>die</strong> Ursache- und Wirkungsbeziehung von Handlungen<br />

oder anderes Wirkliches als nicht existierend anzusehen. Sie bewirkt, von den<br />

Wurzeln des Heilsamen abgeschnitten zu se<strong>in</strong> – also ke<strong>in</strong>e heilsame Handlung ausführen zu<br />

können.<br />

Die erste der verkehrten Anschauungen, auf <strong>die</strong> hier Bezug genommen wird, ist, zu denken, dass Ursachen<br />

– Handlungen; was un<strong>mit</strong>telbar sichtbar ist – ke<strong>in</strong>e weiteren Auswirkungen haben.<br />

Die zweite wichtige verkehrte Anschauung, <strong>die</strong> hier angesprochen wird, ist, was es tatsächlich gibt –<br />

<strong>die</strong> letztendliche Wirklichkeit – für nicht-existent zu halten, zu glauben, dass es ke<strong>in</strong>e Befreiung gibt,<br />

ke<strong>in</strong> Erwachen, dass es <strong>die</strong> none-duale Dimension nicht gibt.<br />

Man leugnet nicht nur <strong>die</strong> Wahrheiten, <strong>die</strong> sich durch Verwirklichung zeigen, sondern man wird<br />

sicherlich auch verkehrte Anschauungen über <strong>die</strong> letztendliche Dimension der Wirklichkeit aufbauen.<br />

Man pflegt verkehrte Anschauungen darüber, was Erwachen ist und blockiert dadurch ebenfalls se<strong>in</strong>en<br />

spirituellen Weg oder kommt auf e<strong>in</strong>en verkehrten Weg.<br />

Durch <strong>die</strong>se Formen verkehrter Anschauung wird der Antrieb für den spirituellen Weg untergraben.<br />

Wenn wir nicht sehen, dass Handlungen Auswirkungen über das h<strong>in</strong>aus haben, was wir un<strong>mit</strong>telbar<br />

sehen, dann werden wir ke<strong>in</strong>erlei Veranlassung spüren, <strong>mit</strong> unserem Geist zu arbeiten und Handlungen,<br />

<strong>die</strong> tatsächlich langfristig heilsam s<strong>in</strong>d, zu kultivieren. Wenn wir verkehrte Anschauungen über<br />

das Erwachen haben oder gar denken, dass es Erwachen gar nicht gibt, dann führt auch das zum Erlahmen<br />

aller Antriebskräfte, den spirituellen Weg zu gehen, der tatsächlich zum Auflösen aller Blockaden<br />

führt.<br />

- „E<strong>in</strong>e Anschauung für das Höchste zu halten“ – eigentlich, sich <strong>mit</strong> Me<strong>in</strong>ungen zu identifizieren<br />

– (be<strong>in</strong>haltet, <strong>die</strong> zuvor genannten drei schädlichen Anschauungen sowie ihre<br />

Grundlage – <strong>die</strong> völlig angenommenen fünf Aggregate – als das Höchste und etwas Heiliges<br />

zu betrachten. Dies bewirkt völliges Anhaften an schädlichen Anschauungen.<br />

Die Auswirkung ist also, dass <strong>die</strong> Grundlage geschaffen wird, an jede Form von Anschauung anzuhaften<br />

und sich da<strong>mit</strong> den Weg des Erwachens zu verbauen.<br />

Wir sprechen hier von Dogmatismus, und zwar von der kle<strong>in</strong>en Version – Ich <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>en persönlichen<br />

Überzeugungen und Me<strong>in</strong>ungen, <strong>die</strong> ich für das Höchste, Beste, Tollste halte – oder aber von der<br />

Gruppenme<strong>in</strong>ung – kle<strong>in</strong>e Gruppen, größere Gruppen, Traditionen, Religionen, Sekten, wie auch<br />

immer wir sie nennen. Es ist <strong>die</strong> Anschauung, dass wir <strong>die</strong> Wahrheit gepachtet haben „Wir haben es!<br />

Wir haben <strong>die</strong> richtige Sichtweise!“, und <strong>die</strong> Identifikation <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Sichtweise als das Höchste<br />

macht uns undurchlässig, unflexibel für neue Erkenntnisse. Das Erkennen von Aspekten der Wirklichkeit,<br />

<strong>die</strong> uns noch nicht bekannt waren, wird durch <strong>die</strong>ses Anhaften unglaublich schwer gemacht.<br />

106


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Die bekannte Toleranz des Buddhismus hört sich ja erst e<strong>in</strong>mal ganz nett an. Die Toleranz anderer Anschauungen<br />

ist nicht e<strong>in</strong>fach etwa – wie wir hier sehen – e<strong>in</strong>e nette Geste der Freundlichkeit den anderen<br />

Traditionen gegenüber, sodass man gut zusammenleben kann. Sie ist e<strong>in</strong>e Notwendigkeit für den<br />

eigenen spirituellen Weg. Dass das für andere nett und tolerant ist, ist sekundär. Das ist e<strong>in</strong>fach das zusätzliche<br />

Resultat <strong>die</strong>ser E<strong>in</strong>stellung, wo klar wird, dass man, um selber zu erwachen, nicht <strong>die</strong> Konzepte<br />

<strong>mit</strong> der Wirklichkeit verwechseln darf.<br />

Darstellungen oder Sichtweisen über <strong>die</strong> Wirklichkeit s<strong>in</strong>d immer nur F<strong>in</strong>gerzeige. Es ist nie das,<br />

worauf gezeigt wird. Das muss uns klar se<strong>in</strong>. Die Unterweisung Buddhas, ke<strong>in</strong>e Dogmen aufzubauen,<br />

nicht an Anschauungen als me<strong>in</strong> festzuhalten, bewahrt <strong>die</strong> Praktizierenden selbst davor, <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Falle<br />

zu tappen, <strong>die</strong> wir als Dogmatismus oder Dogmatik bezeichnen. Dass das dann auch zu e<strong>in</strong>er sehr viel<br />

offeneren Haltung gegenüber anderen Traditionen führt, ist <strong>die</strong> Auswirkung davon, aber es geht wirklich<br />

darum, den Weg des Erwachens offen zu halten. Er wird unmöglich, wenn man an Anschauungen<br />

festhält. Denn wenn man e<strong>in</strong>e feste Anschauung hat über das, was es zu verwirklichen gilt, dann wird<br />

man versuchen, <strong>die</strong>se Konzepte, <strong>die</strong>se Begriffe, <strong>die</strong>se Anschauung zu verwirklichen und ist nicht <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em wirklichen Erforschen dessen, was ist. Es ist ganz wichtig, das zu verstehen.<br />

Hier ist <strong>die</strong> eigentliche Grundlage dafür, dass der Buddha immer wieder betont: „Glaubt nicht e<strong>in</strong>fach<br />

me<strong>in</strong>en Worten, sondern schaut selber.“ Dieses Zitat stammt aus der Rede an <strong>die</strong> E<strong>in</strong>wohner der Stadt<br />

Kalama, <strong>die</strong> den Buddha fragten, wie das <strong>mit</strong> all den verschiedenen Sichtweisen ist, <strong>die</strong> <strong>die</strong> verschiedenen<br />

Gurus, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Stadt kommen, vertreten. Der Buddha hat <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem berühmten Kalama Sutra<br />

ganz deutlich gesagt, dass man selbst se<strong>in</strong>en eigenen Worten nur <strong>in</strong>sofern Vertrauen schenken soll, als<br />

man ihnen nachspürt und selber h<strong>in</strong>schaut.<br />

- „Diszipl<strong>in</strong> oder Askese für das Höchste zu halten“ ist <strong>die</strong> Anschauung, dass e<strong>in</strong>e nicht<br />

re<strong>in</strong>igende und nicht zur Befreiung führende Diszipl<strong>in</strong> oder asketische Praxis – oder<br />

Ritual – sowie ihre Grundlage – <strong>die</strong> fünf Aggregate – <strong>mit</strong> Gewissheit zur Befreiung und<br />

Erlösung führen. Diese Anschauung bewirkt, dass Anstrengungen fruchtlos bleiben.<br />

Das würde ich gerne e<strong>in</strong> bisschen auszuführen: Immer wieder werden äußere Handlungen, e<strong>in</strong>e bestimmte<br />

Art sich zu verhalten, <strong>mit</strong> dem Weg der Befreiung verwechselt. Der Buddha hat großen Wert<br />

darauf gelegt, dass man das nicht tut.<br />

Nehmen wir zuerst Beispiele aus unserer Sangha: Man könnte glauben, dass das Verbeugen oder<br />

Niederwerfungen zu machen, zum Erwachen führt. Tut es aber nicht, nicht e<strong>in</strong>fach so. Die körperliche<br />

Handlung alle<strong>in</strong> führt nicht zum Erwachen. Was zum Erwachen führt, ist das dabei freigesetzte oder<br />

geübte Vertrauen, der Respekt, das Sich-Ausrichten auf wirklich Heilsames, S<strong>in</strong>nvolles. Das trägt zur<br />

Befreiung bei. Der Rest ist e<strong>in</strong>fach körperliche Handlung.<br />

Um es noch klarer zu machen: Es ist schon zwei, dreimal vorgekommen, dass ich von Mithelfern <strong>in</strong><br />

Le Bost angesprochen wurde, weil jemand <strong>in</strong> der falschen Richtung um den Stupa herum gelaufen ist.<br />

Sie wollten wissen, was derjenige sich denn da<strong>mit</strong> für e<strong>in</strong> Karma e<strong>in</strong>handeln würde. – Gar ke<strong>in</strong>s, nicht<br />

durch <strong>die</strong> äußere Handlung. Innerlich war <strong>die</strong>se Person vielleicht genauso wie andere dabei, Gebete zu<br />

machen, Vertrauen zu entwickeln, und das ist es, was zählt. Ob man l<strong>in</strong>ksrum oder rechtsrum um den<br />

Stupa geht, spielt überhaupt ke<strong>in</strong>e Rolle für das Erwachen. Das s<strong>in</strong>d nur Übere<strong>in</strong>künfte.<br />

Beispiele aus der Zeit des Buddha: Kühe werden <strong>in</strong> In<strong>die</strong>n nicht geschlachtet aber Hunde, Fische usw.<br />

werden geschlachtet und gegessen. – Es ist nicht zu verstehen, warum das e<strong>in</strong>e für <strong>die</strong> Befreiung<br />

schädlich se<strong>in</strong> soll und das andere nicht.<br />

Über <strong>die</strong> Sitte, im Ganges e<strong>in</strong> Bad zu nehmen, um sich spirituell, emotional zu re<strong>in</strong>igen, sagt der<br />

Buddha <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em berühmten Sutra: „Alle Fische im Ganges müssten schon das Erwachen erlangt haben,<br />

wenn das Wasser des Ganges <strong>die</strong>se Auswirkung haben soll.“ Was tatsächlich heilsam ist für den<br />

Geist, ist, <strong>mit</strong> H<strong>in</strong>gabe, <strong>mit</strong> Vertrauen <strong>in</strong> etwas zutiefst Heilsames e<strong>in</strong>e Handlung auszuführen, <strong>die</strong> sich<br />

dann auch äußerlich ausdrückt. Es ist z.B. schon e<strong>in</strong>e ziemlich starke Handlung des Vertrauens, wenn<br />

heutzutage Inder <strong>in</strong> den st<strong>in</strong>kenden Ganges steigen. Das ist e<strong>in</strong>e starke Handlung und da möchte ich<br />

glauben, dass das auch Auswirkungen auf ihren <strong>in</strong>neren Weg hat, dass das etwas S<strong>in</strong>nvolles se<strong>in</strong> kann.<br />

Oder – wie ich gesehen hab – dass Inder <strong>in</strong> das eiskalte Wasser der Quellen des Ganges unterm<br />

Gletscher steigen, um sich zu baden. Das ist e<strong>in</strong>e starke <strong>in</strong>nere Handlung. Es ist nicht das Wasser, das<br />

re<strong>in</strong>igt. Es s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Geistesfaktoren, <strong>die</strong> dabei aktiviert werden, <strong>die</strong> ihre Auswirkungen haben.<br />

107


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Kommen wir jetzt noch e<strong>in</strong>mal auf uns selber zu sprechen: Jeden Abend Tschenresig-Praxis auszuführen,<br />

führt das zum Erwachen oder nicht? Die Silben OM MANI PEME HUNG zu murmeln, führt<br />

das zum Erwachen oder nicht?<br />

Es kommt drauf an.<br />

Wenn unser Geist ausgerichtet ist auf etwas, was zutiefst heilsam ist und tatsächlich zum Erwachen<br />

beiträgt, dann wird das <strong>die</strong> Folge se<strong>in</strong>. Wenn unser Geist aber auf Me<strong>in</strong>ungen, Anschauung, Fixierung<br />

ausgerichtet ist, und daran festhält, dann wird das nicht zum Erwachen beitragen.<br />

Diese beiden letzten Sichtweisen, <strong>die</strong> etwas für das Höchste halten, stehen für alle schädlichen<br />

Anschauungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Wirklichkeit verkehrt sehen, wie auch für das Haften an schädlichen<br />

Wegen, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e Methoden der Befreiung s<strong>in</strong>d.<br />

Diese fünf Anschauungen s<strong>in</strong>d allesamt von emotionaler Belastung behaftete Weisheit, also<br />

Weisheit, <strong>die</strong> gestört wird, <strong>die</strong> aufgewühlt wird von emotionaler Belastung.<br />

Unter <strong>die</strong>sen zehn primären emotionalen Belastungen – fünf Anschauungen und fünf, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e<br />

Anschauungen s<strong>in</strong>d – s<strong>in</strong>d vier von völlig begrifflicher Natur: <strong>die</strong> beiden Anschauungen, etwas<br />

für das Höchste zu halten, verkehrte Anschauung und Zweifel. Die übrigen sechs können von<br />

völlig begrifflicher Natur oder zugleich entstehend se<strong>in</strong>.<br />

Zugleich entstehend heißt hier e<strong>in</strong>fach natürlicherweise gleichzeitig vorhanden. Sie können also durch<br />

Schulung <strong>in</strong> philosophischen Gedanken durch Annahme von anderen, <strong>mit</strong> denen wir über solche<br />

D<strong>in</strong>ge sprechen, erlangt werden oder sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>newohnend von Geburt aus vorhanden. Das heißt, wir<br />

br<strong>in</strong>gen sie <strong>mit</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>ses Leben.<br />

Unter der Anschauung, an Extremen festzuhalten, steht e<strong>in</strong> Denkmodell, das ich eigentlich als das genaue<br />

Gegenteil von dualistischem Denken kennen gelernt habe. Es stammt aus der <strong>in</strong>dischen Rechtssprechung,<br />

wo nicht wie <strong>in</strong> der aristotelischen Logik A nicht gleich B se<strong>in</strong> kann, sondern unter<br />

bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen A auch B se<strong>in</strong> kann oder beides nicht, was als Tetralemma bezeichnet wird.<br />

Existenz, Nichtexistenz, sowohl – als auch sowie weder – noch. Ich habe es eigentlich kennen gelernt<br />

als e<strong>in</strong>e ausgesprochen hilfreiche Denkkonstruktion gegen das extreme Hängenbleiben im dualistischen<br />

Dilemma da. Warum ersche<strong>in</strong>t das hier als extreme Geschichte? Mussten <strong>die</strong> sich da gegen <strong>die</strong><br />

Inder absetzen, oder was war da los?<br />

Da liegt genau der große Beitrag des buddhistischen Weges. Eigentlich f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e fortschreitende<br />

Analyse statt:<br />

1) Zunächst glauben wir, <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge existieren.<br />

2) Dann werden wir uns der illusorischen Natur bewusst, des nicht Greifbaren, und wir denken, <strong>die</strong><br />

D<strong>in</strong>ge existieren nicht. Wir werden uns dann aber bewusst, dass e<strong>in</strong>e Nicht-Existenz weder unser Erfahren<br />

erklären kann, noch S<strong>in</strong>n macht im Bezug auf etwas, was noch nie existiert hat. Von e<strong>in</strong>er<br />

Nicht-Existenz kann man nur sprechen, wenn etwas vorher existiert hat und dann nicht mehr existiert.<br />

3) Und dann denkt man, unsere Lebenserfahrungen <strong>mit</strong> all den Ersche<strong>in</strong>ungen des Lebens s<strong>in</strong>d sowohl<br />

existent, als auch nichtexistent. Man kommt zu dem Schluss, dass es wohl <strong>die</strong> Komb<strong>in</strong>ation der beiden<br />

ist. Da aber weder Existenz noch Nicht-Existenz nachgewiesen werden können, verwirft man auch den<br />

Schluss, dass es <strong>die</strong> Komb<strong>in</strong>ation <strong>die</strong>ser beiden Unmöglichkeiten ist.<br />

4) Man kommt zu dem Schluss, dass <strong>die</strong> Lösung wohl se<strong>in</strong> müsste: weder existent noch nichtexistent.<br />

Da<strong>mit</strong> bezieht man e<strong>in</strong>e Position, wo man im Grunde nichts zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt. Es ist e<strong>in</strong>e Nullposition.<br />

Es ist weder das noch das, und es gibt dem, was man beschreiben will, nicht <strong>die</strong> Spur von Beschreibung.<br />

Und auch <strong>die</strong>se Position, <strong>die</strong> man für <strong>in</strong>telligent halten könnte, ist wieder nur e<strong>in</strong> Standpunkt<br />

– im Grunde genommen der, nichts verstanden zu haben. Es ist weder das e<strong>in</strong>e, was man nicht<br />

beweisen kann, noch das andere, was man nicht beweisen kann. Man hat dadurch nichts bewiesen.<br />

Man muss auch <strong>die</strong>sen Standpunkt aufgeben und sehen, dass <strong>die</strong> Wirklichkeit jenseits <strong>die</strong>ser vier Extreme<br />

ist.<br />

Das war e<strong>in</strong>e sehr gedrängte Darstellung, aber das ist der Grund, warum man jenseits <strong>die</strong>ser vier Extreme<br />

gehen muss, alle vier s<strong>in</strong>d nicht haltbare Standpunkte.<br />

108


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wenn man <strong>die</strong>sen vierten Standpunkt h<strong>in</strong>ter sich lässt, der eigentlich ziemlich <strong>in</strong>telligent ist, aber e<strong>in</strong>e<br />

Nicht-Aussage – weder <strong>die</strong>s noch jenes –, dann hat man noch nichts darüber ausgesagt, was es denn<br />

wirklich ist. Man hat nur was darüber gesagt, was es nicht ist und muss das offenbar sagen, um wieder<br />

e<strong>in</strong>en Standpunkt zu haben. Unbed<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en Standpunkt haben zu wollen, ist genau das wieder H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>fallen<br />

<strong>in</strong> den Glauben an „Es gibt da was!“ Und auch <strong>die</strong>sen Glauben „Es gibt da mich <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>em<br />

Standpunkt, und <strong>die</strong>ser Standpunkt bezieht sich auf e<strong>in</strong>e konkrete Realität.“, muss man h<strong>in</strong>ter sich<br />

lassen. Da<strong>mit</strong> wird man frei von den vier Extremen und akzeptiert, dass sich <strong>die</strong> Wirklichkeit nicht <strong>mit</strong><br />

Worten e<strong>in</strong>fangen lässt.<br />

Dankeschön, jetzt habe ich endlich verstanden, was <strong>die</strong> geme<strong>in</strong>t haben, dass es darum geht, <strong>die</strong> Spielregeln<br />

<strong>die</strong>ses logischen Systems fallen zu lassen, zu überw<strong>in</strong>den oder eben nicht mehr zu respektieren<br />

und zu e<strong>in</strong>er fünften Möglichkeit zu kommen.<br />

Es geht darum, <strong>die</strong> Grenzen <strong>die</strong>ser Spielregeln aufzuzeigen und zu sehen, dass das alles immer noch<br />

begriffliche Konstrukte s<strong>in</strong>d, <strong>mit</strong> denen <strong>die</strong> Wirklichkeit nicht erfasst wird und dann h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuf<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Verwirklichung, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e solche Konstrukte mehr braucht.<br />

* * *<br />

In den vergangenen zehn Tagen haben wir uns <strong>die</strong> verschiedenen Ausformungen der Ich-Bezogenheit<br />

angeschaut. Wir haben <strong>die</strong> verschiedenen Faktoren besprochen, <strong>mit</strong> denen wir uns normalerweise als<br />

Ich identifizieren: me<strong>in</strong> Körper, me<strong>in</strong>e Form, me<strong>in</strong>e Objekte der Wahrnehmung, me<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dungen,<br />

me<strong>in</strong>e Unterscheidungen, me<strong>in</strong>e Gefühle, me<strong>in</strong>e Gedanken, Ich <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>en Anschauungen. Aber wo<br />

wir auch h<strong>in</strong>geschaut haben, haben wir doch wieder nur das vorübergehende Auftauchen e<strong>in</strong>es Geistesfaktors<br />

gesehen, e<strong>in</strong> Erfahren, das <strong>in</strong> sich auch nicht konstant ist, Erleben im ständigen Wandel.<br />

Da<strong>mit</strong> hat unsere Ich-Bezogenheit e<strong>in</strong>en Schlag nach dem anderen bekommen. Wir schaffen es nicht<br />

mehr, <strong>die</strong> alten Vorstellungen von e<strong>in</strong>em Ich aufrechtzuerhalten – soweit sie überhaupt vorhanden<br />

waren.<br />

Wir können <strong>die</strong>sen Prozess des steten Wandels natürlich ‚Ich’ nennen, bloß gibt es dar<strong>in</strong> nichts, was<br />

sich wirklich als solches def<strong>in</strong>ieren ließe, etwas, von dem man sagen könnte: „Das nun wenigstens ist<br />

das Ich!“ Es gibt nur <strong>die</strong>sen Prozess ständig wechselnder Faktoren bzw. Geistesmomente verschiedener<br />

Qualitäten und Aspekte des Geistes, <strong>die</strong> sich manifestieren, und <strong>die</strong>ses nicht greifbare immer wieder<br />

frische, immer wieder neue Erleben, könnte man Ich nennen. Aber das ist nicht e<strong>in</strong> Ich, <strong>mit</strong> dem<br />

man sich identifizieren kann als etwas Solides, als etwas Festes. Es hat <strong>die</strong> Natur steten Wandels und<br />

es ist angemessener, auf der relativen Ebene zu sagen, dass es sich um e<strong>in</strong>en Geistesstrom handelt.<br />

Strom des Gewahrse<strong>in</strong>s, Strom von Bewusstse<strong>in</strong>smomenten kommt dem schon sehr viel näher, als e<strong>in</strong><br />

Ausdruck, der e<strong>in</strong>e gewisse Festigkeit, e<strong>in</strong>e gewisse Stabilität vermuten lässt.<br />

Geistesstrom oder Bewusstse<strong>in</strong>sstrom ist e<strong>in</strong> Ausdruck, der auf der relativen Ebene recht gut passt. Er<br />

beschreibt uns wie e<strong>in</strong>en Fluss, e<strong>in</strong>en Strom, <strong>in</strong> dem das Wasser strömt. Wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong>sstrom,<br />

e<strong>in</strong> Strom verschiedener Erfahrungen, e<strong>in</strong> Strom des Erlebens, und genau wie e<strong>in</strong> Fluss s<strong>in</strong>d wir<br />

nicht für e<strong>in</strong>en Augenblick <strong>die</strong>selben. Das, was wir e<strong>in</strong> Individuum nennen, gibt es eigentlich nicht.<br />

Individuum bedeutet etwas Unteilbares, was sich nicht mehr divi<strong>die</strong>ren, nicht mehr teilen lässt. Es ist<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit der Person. Mit <strong>die</strong>sem Konzept der unteilbaren E<strong>in</strong>heit haben wir ziemlich aufgeräumt,<br />

nicht dass es <strong>in</strong> Teile zerfallen würde, aber das, was wir bisher das Individuum genannt haben, stellt<br />

sich als e<strong>in</strong> Strom heraus, der so wie e<strong>in</strong> Fluss aus unzähligen verschiedenen Wassertröpfchen, Bewusstse<strong>in</strong>smomenten<br />

besteht, und da ist der Ausdruck Individuum nicht mehr angemessen.<br />

Wenn wir davon sprechen, dass sich <strong>die</strong>ser Geiststrom aus Geistesmomenten zusammensetzt so wie<br />

e<strong>in</strong> Fluss aus Wassertröpfchen, so ist das leicht daher gesagt. Wenn wir genau untersuchen, dann f<strong>in</strong>den<br />

wir auch im Fluss ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelnen Wassertropfen, <strong>die</strong> sich zusammenfügen, um dann e<strong>in</strong>en Strom<br />

zu ergeben und ebenso f<strong>in</strong>den wir auch im Geistesstrom ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelnen Geistesmomente, <strong>die</strong> unterscheidbar<br />

wären als klar def<strong>in</strong>ierbare E<strong>in</strong>heiten, <strong>die</strong> sich dann zu e<strong>in</strong>em Ganzen zusammenfügen. Wir<br />

können gar nicht festlegen, wo e<strong>in</strong> Tropfen anfängt und wo er aufhört. Wir könnten das unendlich<br />

weiter unterteilen <strong>in</strong> immer kle<strong>in</strong>ere E<strong>in</strong>heiten von Wasser, und genauso können wir auch nicht fest-<br />

109


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

legen, was e<strong>in</strong> Moment der Wahrnehmung ist, denn wir können <strong>die</strong> Dauer <strong>die</strong>ses Momentes nicht<br />

def<strong>in</strong>ieren.<br />

Es widerspricht dem Pr<strong>in</strong>zip der Bewegung, <strong>die</strong> Bewegung <strong>in</strong> Teile zu zerlegen. Das ist völlig künstlich.<br />

Z.B. den W<strong>in</strong>d, der übers Land bläst, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne E<strong>in</strong>heiten von Luftbewegung zu unterteilen, ist<br />

absurd, es erfasst nicht das Phänomen der Bewegung. So s<strong>in</strong>d wir als Geistesströme eben auch <strong>in</strong> ständiger<br />

Bewegung, und <strong>die</strong>se Untersuchung der Geistesfaktoren, <strong>in</strong> der wir jetzt s<strong>in</strong>d, soll uns auf <strong>die</strong>ses<br />

ständige Spiel der verschiedenen Elemente <strong>in</strong> unserem Bewusstse<strong>in</strong> aufmerksam machen, ohne dass<br />

irgende<strong>in</strong>er <strong>die</strong>ser Geistesfaktoren als unabhängig von den anderen betrachtet werden würde, als e<strong>in</strong>e<br />

existierende E<strong>in</strong>heit, <strong>die</strong> sich dann <strong>mit</strong> den anderen zusammenfügen würde.<br />

Wenn wir uns anschauen, was <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen Faktoren geme<strong>in</strong>t ist, dann wird uns klar, dass z.B. für e<strong>in</strong>en<br />

Moment des Stolzes viele unheilsame Gestaltungskräfte zusammen kommen. Da gibt es den Stolz, der<br />

Grundlage der Unwissenheit, vermischt <strong>mit</strong> Formen des Anhaftens, der Begierde, und immer s<strong>in</strong>d<br />

gleichzeitig <strong>die</strong> fünf allgegenwärtigen Geistesfaktoren dabei, <strong>die</strong> ohneh<strong>in</strong> bei jedem Bewusstse<strong>in</strong>sakt<br />

aktiv s<strong>in</strong>d. Was e<strong>in</strong> Faktor genannt wird, ist also das Zusammenwirken e<strong>in</strong>er Reihe von Aspekten des<br />

Geistes, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Erfahrung gestalten.<br />

Das Gestalten ist das Wichtige, es formt e<strong>in</strong> Erleben. Die Faktoren s<strong>in</strong>d Gestaltungskräfte. Wir sollten<br />

uns vielleicht angewöhnen, von Gestaltungskräften zu sprechen. Das ist eigentlich da<strong>mit</strong> geme<strong>in</strong>t:<br />

Das, was Erleben und da<strong>mit</strong> auch Karma gestaltet; das, was handelnd wirkt <strong>mit</strong> Gedanken, Worten<br />

und auf körperlicher Ebene und das, was dann auch <strong>die</strong> Zukunft, den nächsten Moment gestaltet und<br />

formt, wo dann andere Aspekte des Geistes wieder aktiv werden.<br />

Es gibt nicht etwa Faktoren im S<strong>in</strong>n von E<strong>in</strong>heiten, <strong>die</strong> irgendwo im H<strong>in</strong>tergrund unseres Geistes verstaut<br />

wären oder latent warten würden, um dann irgendwann e<strong>in</strong>mal zu sagen: „Kuckuck, hier b<strong>in</strong> ich!<br />

Jetzt b<strong>in</strong> ich an der Reihe, und nur ich!“ Es ist immer e<strong>in</strong> Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte<br />

des Geistes, um das Erleben im S<strong>in</strong>ne <strong>die</strong>ser Kräfte zu gestalten.<br />

Wir sprechen hier also von Gestaltungskräften, samskara. Kara ist das Wort wie Karma – das was<br />

handelt, und sam bedeutet das, was alles bewirkt, was <strong>in</strong>sgesamt Erfahren bewirkt, also Gestaltungen.<br />

Wir werden uns auf dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>die</strong>ser Erklärung jetzt den zwanzig sekundären emotionalen<br />

Belastungen zuwenden.<br />

Die zwanzig sekundären emotionalen Belastungen<br />

stellen <strong>in</strong> sich ke<strong>in</strong>erlei geschlossene Liste dar. Sie s<strong>in</strong>d Verb<strong>in</strong>dungen der bereits erwähnten emotionalen<br />

Belastungen und s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach jene belastenden Emotionen, zu denen der Buddha gefragt wurde.<br />

Die s<strong>in</strong>d hier zusammengestellt, und <strong>die</strong> Liste könnte ewig lang se<strong>in</strong>, wir könnten jede Form von<br />

Klesha noch h<strong>in</strong>zufügen. Da gibt es viele, viele mehr und <strong>die</strong> hier enthaltenen sollen uns e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>en<br />

E<strong>in</strong>druck davon geben, wie <strong>die</strong>se Gestaltungskräfte zusammenwirken, um dann <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Blüten<br />

unserer Anhaftung hervorzubr<strong>in</strong>gen, da<strong>mit</strong> wir auch motiviert s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong>se Blüten dann verwelken zu<br />

lassen, ihnen ke<strong>in</strong>e Nahrung mehr zu geben.<br />

Die ersten fünf Faktoren gehören zur Kategorie des Ärgers: Wut, Groll, Verachtung, Böswilligkeit und<br />

Eifersucht.<br />

28) Wut<br />

ist gesteigerter Ärger und bewirkt, dass Vorbereitungen getroffen werden, um zu schlagen oder<br />

anderes Leid zuzufügen.<br />

Das ist nicht schwer zu verstehen. Wut oder Zorn ist Ärger, der sich steigert bis zu dem Punkt, wo<br />

man bereit ist, zuzuschlagen.<br />

110


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

29) Groll<br />

gehört zur Kategorie des Ärgers und bewirkt, unablässig <strong>die</strong> Absicht schaden zu wollen aufrechtzuerhalten<br />

und nicht verzeihen zu können.<br />

Groll ist Ärger, der <strong>in</strong> uns stecken bleibt und wo wir nachtragend s<strong>in</strong>d. Wir wollen uns rächen und es<br />

dem anderen heimzahlen. Mit <strong>die</strong>ser Form des Ärgers ist also geme<strong>in</strong>t, dass es nicht zu e<strong>in</strong>em Loslassen<br />

kommt, nachdem <strong>die</strong> eigentliche Situation schon vorbei ist.<br />

Auf <strong>die</strong>ser Grundlage können wir nicht verzeihen, wir warten <strong>in</strong>nerlich auf den Moment, wo wir zuschlagen<br />

können. Wir haben das Ziel, dem anderen wieder e<strong>in</strong>e Verletzung zuzufügen.<br />

30) Verachtung<br />

bewirkt, aus Wut und Groll heraus nicht verzeihen zu können und verletzend zu sprechen.<br />

Verachtung ist e<strong>in</strong> totaler Mangel an Respekt, wo man dem anderen bewusst <strong>mit</strong> Worten Verletzungen<br />

zufügen möchte und dann auch ganz harte, verletzende, beschimpfende Worte ausspricht.<br />

31) Böswilligkeit<br />

gehört zur Kategorie des Ärgers. Sie verh<strong>in</strong>dert Mitgefühl und Liebe und bewirkt Streitsucht.<br />

Diese vier Faktoren gehören zur Kategorie des Ärgers und beschreiben e<strong>in</strong>fach verschiedene Formen<br />

von Wut komb<strong>in</strong>iert <strong>mit</strong> Anhaften. E<strong>in</strong>mal ist es das Anhaften, das bewirkt, dass man sich im Ärger<br />

vergisst und bereit ist, zuzuschlagen und alles andere außer Acht lässt. Dann ist es der Ärger, der nach<br />

<strong>in</strong>nen geht, der <strong>in</strong>nen als Groll festgehalten wird und darauf wartet, es zurückzahlen zu können.<br />

Weiters Ärger, der bewirkt, dass man jeden Respekt vor anderen verliert und nie verzeihen kann,<br />

sondern nur noch respektlos handelt. Schließlich <strong>die</strong> tatsächliche Böswilligkeit, <strong>die</strong> sich bis zu Gräueltaten<br />

und wirklich grausamen Handlungen steigern kann und Kampf und Streit <strong>mit</strong> sich br<strong>in</strong>gt.<br />

32) Eifersucht<br />

gehört zur Kategorie des Ärgers und be<strong>in</strong>haltet, aufgrund von Haften an Gew<strong>in</strong>n, Ehre usw. das<br />

Wohlergehen anderer nicht ertragen zu können und geistig zutiefst aufgewühlt zu se<strong>in</strong>. Sie<br />

unterstützt Unglücklichse<strong>in</strong> und den Fehler, den Geist nicht natürlich ruhen lassen zu können.<br />

Eifersucht ist e<strong>in</strong> wütendes Denken, man ist <strong>in</strong>nerlich aufgebracht, weil man sich etwas wünscht, was<br />

man jetzt gerade nicht hat, was aber andere haben. Eifersucht kann sich zum Hass steigern, kann sich<br />

<strong>in</strong> all <strong>die</strong> eben beschriebenen Faktoren h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>steigern und ist gekennzeichnet durch <strong>die</strong> Unfähigkeit,<br />

das Wohlergehen anderer zu ertragen. Es ist also <strong>die</strong> völlige Abwesenheit von Freude am Wohlergehen<br />

anderer.<br />

Wir haben jetzt e<strong>in</strong>e Gruppe abgeschlossen, und man muss sagen, dass <strong>die</strong>se Gestaltungskräfte vielleicht<br />

für sich auftauchen können, aber <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander so viele Wechselbeziehungen haben, dass man sie<br />

schwer vone<strong>in</strong>ander abgrenzen kann. Bei genauerem H<strong>in</strong>schauen fällt auch auf, dass sie <strong>die</strong> Faktoren<br />

Stolz, Begierde, Unwissenheit <strong>in</strong> sich tragen, dass sie auch <strong>mit</strong> den Gestaltungen des Haftens an Anschauung<br />

e<strong>in</strong>hergehen, dass <strong>die</strong> fünf allgegenwärtigen Gestaltungen aktiv s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong> fünf Objektvergewissernden<br />

Faktoren ebenfalls <strong>in</strong> unterschiedlicher Ausprägung <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Cocktail aktiv s<strong>in</strong>d.<br />

Diese Faktoren, <strong>die</strong> hier beschrieben werden, s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelfaktoren, es ist e<strong>in</strong> Cocktail, e<strong>in</strong>e<br />

Mischung aus verschiedenen Ingre<strong>die</strong>nzien, <strong>die</strong> zu <strong>die</strong>sem Erleben führen.<br />

111


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Fragen:<br />

Begierde als Grundlage der Eifersucht<br />

Nach me<strong>in</strong>er Erfahrung baut Eifersucht <strong>in</strong> neunzig Prozent der Fälle auf Begierde auf, auf e<strong>in</strong>em<br />

Wollen.<br />

Um noch e<strong>in</strong>mal klarzustellen, was hier beschrieben wird: Auf der Basis des Wollens, der Begierde<br />

tritt e<strong>in</strong>e Unzufriedenheit auf, weil man selber was nicht hat, was aber andere haben. Innerlich wird<br />

vorwiegend Unzufriedenheit und Ärger erlebt, gar nicht so sehr <strong>die</strong> Begierde. Der Ärger dom<strong>in</strong>iert,<br />

und deswegen wird <strong>die</strong>ses Erlebnis eher der Ärgerfamilie zugeordnet, obwohl <strong>die</strong> Anteile von Begierde<br />

enorm stark s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Erleben.<br />

Diese Def<strong>in</strong>ition von Eifersucht irritiert mich sehr, denn ich habe bisher Eifersucht so verstanden –<br />

auch das franz. Wort ‚jalousie’ macht es deutlich – dass man etwas neidet, was zwischen Menschen<br />

stattf<strong>in</strong>det, dass man also auf e<strong>in</strong>e Interaktion neidisch ist. Das Wort Neid taucht bisher überhaupt<br />

nicht auf. So wie es hier def<strong>in</strong>iert ist, verstehe ich Eifersucht als Neid auf Gew<strong>in</strong>n, Ehre, Wohlergehen<br />

von anderen.<br />

Ja, da sollte man das Wort Neid dazuschreiben. Es ist tatsächlich so, dass wir ständig zwischen <strong>die</strong>sen<br />

beiden Worten schwanken, Neid und Eifersucht sollten hier als Synonym verstanden werden. Da gehört<br />

auch noch Rivalität dazu, <strong>die</strong>se Wettkampfhaltung. Es geht um e<strong>in</strong> Sich-Vergleichen <strong>mit</strong> anderen.<br />

Die enge Bedeutung von Eifersucht, wo es speziell um Männer-Frauengeschichten geht aber dann<br />

auch um e<strong>in</strong> Vergleichen <strong>mit</strong> Beziehungen, hat im asiatischen Denken gar nicht <strong>die</strong> Rolle gespielt. Es<br />

geht um den Mechanismus des Sich-Vergleichens.<br />

Wir ergänzen den Faktor Eifersucht also <strong>mit</strong> Neid, Rivalität, Wettstreben, Konkurrenzdenken.<br />

Das hat ja <strong>mit</strong> mangelndem Selbstvertrauen zu tun.<br />

Das ist genau auch der Grund, dass Menschen, <strong>die</strong> sehr stolz s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> richtig dick im Stolz s<strong>in</strong>d,<br />

immer sagen, sie kennen gar ke<strong>in</strong>e Eifersucht.<br />

Das liegt ganz e<strong>in</strong>fach daran, dass das Leben ihnen noch nicht so zugesetzt hat, dass sie <strong>mit</strong> ihrem<br />

Stolz nicht mehr durchkommen würden. Wenn sie e<strong>in</strong>e schwere Niederlage erleiden und es sich nicht<br />

mehr selbst weismachen können noch <strong>die</strong> Besten zu se<strong>in</strong>, noch oben drauf zu se<strong>in</strong>, dann werden sie<br />

unglaublich eifersüchtig. Dann ist <strong>die</strong>se Kränkung des Selbstwertes so enorm, dass sie sofort ihre Eifersucht<br />

erleben, <strong>die</strong> bis dah<strong>in</strong> verdeckt war durch <strong>die</strong> Brille des Stolzes. Die Brille des Stolzes <strong>in</strong>terpretiert<br />

<strong>die</strong> Welt so um, dass man derjenige ist, der alles kann, der anderen was zeigt usw., man hat <strong>die</strong><br />

Haltung des Überlegenen.<br />

Ich halte mich zurück, nicht noch mehr über <strong>die</strong>se Faktoren zu sprechen, es wäre e<strong>in</strong> sehr ausführliches<br />

Gebiet. Ihr könnt <strong>in</strong> den Abschriften der beiden Kurse über Emotionen, <strong>die</strong> wir hier gemacht<br />

haben – 1999/2000 – noch viel über Eifersucht und Stolz nachlesen.<br />

All <strong>die</strong>se Emotionen beruhen ja eigentlich auf dem Streben nach Glück. Nur der Fehler der dabei gemacht<br />

wird, ist zu me<strong>in</strong>en, man könnte das Glück auf dem Rücken der anderen erlangen. Warum<br />

machen wir <strong>die</strong>sen Fehler?<br />

Der Grund liegt <strong>in</strong> unserem Mangel an Weisheit, Mangel an Verstehen der eigentlichen Ursachen der<br />

Bed<strong>in</strong>gungen, <strong>die</strong> glücklich machen. Also geht es darum, h<strong>in</strong>zuschauen und tiefer zu verstehen, was<br />

denn eigentlich zu Glück beiträgt und das dann umzusetzen. Dieser Mangel an Weisheit muss behoben<br />

werden.<br />

Sollte man denken, man könnte sich <strong>mit</strong> Ellenbogen den Weg zum Glück verschaffen können, so hat<br />

man auf dem Weg bis zur Spitze der Pyramide des Erfolges und des so genannten Glücks all se<strong>in</strong>e<br />

Freunde verloren und ist e<strong>in</strong> erfolgreicher Egoist, vollkommen alle<strong>in</strong> und unglücklich. Das ist mangelnde<br />

Weisheit. Weisheit, wirkliches Verständnis von Ursache und Wirkung weiß darum, dass man<br />

glücklich wird, <strong>in</strong>dem man <strong>mit</strong> anderen teilt, freigebig ist, das Herz öffnet, Liebe, Mitgefühl praktiziert<br />

– all <strong>die</strong> Faktoren, von denen wir auch schon gesprochen haben.<br />

All das, was wir hier beschreiben, s<strong>in</strong>d Strukturen, Verhaltensweisen, Denkweisen, <strong>die</strong> auftauchen,<br />

wenn nicht ausreichend Weisheit vorhanden ist, wenn es an Gewahrse<strong>in</strong> mangelt.<br />

112


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Da hast du völlig Recht.<br />

Gehört üble Nachrede auch zur Eifersucht?<br />

Ja natürlich, sie gehört zur Eifersucht, sie gehört aber auch zur Verachtung, sie gehört zum Stolz, sie<br />

ist Ausdruck verschiedener <strong>die</strong>ser Gestaltungen.<br />

Ich erlebe ganz häufig e<strong>in</strong>en Segensstrom und erfahre so etwas wie Gnade und fließe dann <strong>in</strong>nerlich<br />

über von wirklicher Zuneigung und Liebe anderen gegenüber. Dann gibt es doch Momente, wo ich so<br />

<strong>in</strong>tolerant werde und <strong>in</strong>nerlich so starke Herablassung empf<strong>in</strong>de, dass ich fast so weit gehen könnte,<br />

über andere wirklich schlecht reden und verletzende Worte sagen zu können. Ich frage mich, wie es<br />

dazu kommt. Wie kann ich <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Offenheit zurückf<strong>in</strong>den, <strong>die</strong> durchaus authentisch, natürlich ist, und<br />

<strong>in</strong> der ich eigentlich <strong>die</strong> meiste Zeit me<strong>in</strong>es Lebens verbr<strong>in</strong>ge.<br />

Um es kurz zu machen, würde ich sagen, dass es hilft, sich im anderen zu erkennen: Der andere b<strong>in</strong><br />

ich. Das, was ich im anderen nicht akzeptieren kann, kann ich <strong>in</strong> mir nicht akzeptieren. Dort, wo ich<br />

dem anderen ke<strong>in</strong>e Liebe entgegenbr<strong>in</strong>gen kann, kann ich mir selbst ke<strong>in</strong>e Liebe entgegenbr<strong>in</strong>gen.<br />

Wenn ich es lerne, den anderen dort zu akzeptieren und ihm dort Liebe entgegenzubr<strong>in</strong>gen, wo ich<br />

selber <strong>mit</strong> mir Schwierigkeiten habe, tut mir das zugleich gut, genauso wie es mich selbst verletzt,<br />

wenn ich den anderen verletze.<br />

Wir fallen da e<strong>in</strong>fach h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, weil wir noch Verletzungen aus der Vergangenheit <strong>mit</strong> uns tragen, wo es<br />

noch mangelndes Selbstvertrauen gibt, Bereiche <strong>in</strong> denen wir uns noch nicht angenommen haben.<br />

Wenn sich <strong>die</strong> auftun, dann ist es vorbei <strong>mit</strong> der Welt der Liebe, <strong>in</strong> der wir uns normalerweise aufhalten.<br />

Wir s<strong>in</strong>d dann <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Verletzungen, und genau dort haben wir dann auch große Mühe, andere<br />

zu akzeptieren.<br />

Das praktiziere ich schon seit Jahren so. Gibt es nicht doch noch e<strong>in</strong> weiteres Rezept, das mir helfen<br />

könnte?<br />

Okay, zweites Rezept: Nicht versuchen perfekt zu se<strong>in</strong>; es aufgeben, e<strong>in</strong>em Idealbild entsprechen zu<br />

wollen; es aufgeben immer gleich bleibend liebevoll se<strong>in</strong> zu wollen; sich <strong>mit</strong> den eigenen Fluktuationen<br />

zu akzeptieren; entspannt zu bleiben, auch wenn <strong>die</strong> Geisteszustände auftreten, <strong>die</strong> wir nicht so<br />

gerne sehen. – und noch e<strong>in</strong>ige Jahre weiterpraktizieren.<br />

Falls jemand solche Momente <strong>mit</strong> mir erlebt hat, wo ich etwas ablehnend, verschlossen und kritisch<br />

war, dann möchte ich mich dafür entschuldigen und wünsche mir, dass ihr mir dafür vergeben könnt.<br />

Das sollten wir eigentlich alle machen.<br />

Warum fallen wir immer wieder <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Schwierigkeiten?<br />

Ich sage noch e<strong>in</strong>mal: Es gibt da noch Bereiche <strong>in</strong> uns, <strong>die</strong> wir noch nicht <strong>in</strong>tegriert, noch nicht geregelt<br />

haben. Wenn <strong>die</strong>se Bereiche stimuliert werden, ist es so, als würde sich e<strong>in</strong>e riesige Jauchengrube<br />

vor uns auftun – es ist unsere eigene – und wir fallen da h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.<br />

Ich leide sehr unter <strong>die</strong>sem Vergleichen und kenne das Sich-Vergleichen <strong>mit</strong> allen und <strong>mit</strong> jedem, <strong>mit</strong><br />

dem Bäcker, <strong>mit</strong> dem Arzt, <strong>mit</strong> demjenigen der unterrichtet, <strong>mit</strong> anderen, <strong>die</strong> im Raum s<strong>in</strong>d und es ist<br />

ohne Ende.<br />

Ich glaube, was du beschreibst, kennen wir alle. Mir hilft dabei der Blick <strong>in</strong> <strong>die</strong> Natur. Ich stelle mir<br />

vor, wie das wäre, wenn der Grashalm oder das Gänseblümchen versuchen wollten, e<strong>in</strong>e Eiche zu se<strong>in</strong><br />

oder was auch immer, e<strong>in</strong> anderer Busch, e<strong>in</strong> anderes Blümchen. Es geht nicht! Vermutlich haben sie<br />

<strong>die</strong>se Gedanken auch nicht. Ich stimme mich immer wieder e<strong>in</strong> auf den Frieden, e<strong>in</strong>fach so zu se<strong>in</strong> wie<br />

ich halt b<strong>in</strong>, ohne jemand anders se<strong>in</strong> zu wollen und er<strong>in</strong>nere mich daran, es so e<strong>in</strong>fach zu leben, wie<br />

es <strong>in</strong> der Natur draußen ist.<br />

Das hilft mir, aus dem Vergleichen raus zu kommen und es e<strong>in</strong>fach ruhen zu lassen; der zu se<strong>in</strong>, der<br />

ich b<strong>in</strong>. Manchmal fühle ich mich wie e<strong>in</strong> Sandkorn, manchmal fühle ich mich wie e<strong>in</strong>e Eiche. E<strong>in</strong>fach<br />

das se<strong>in</strong> was ich b<strong>in</strong>, auch wenn es ganz unterschiedlich zu verschiedenen Zeiten ist, e<strong>in</strong>fach so se<strong>in</strong>,<br />

ohne jemand anders se<strong>in</strong> zu wollen, wirkt sehr beruhigend auf me<strong>in</strong>en Geistesstrom.<br />

* * *<br />

113


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Die folgenden Faktoren s<strong>in</strong>d auch ke<strong>in</strong> schönerer Spiegel als der von vorh<strong>in</strong>.<br />

33) Unaufrichtigkeit<br />

ist e<strong>in</strong>e betrügerische Geisteshaltung, <strong>die</strong> aus Anhaftung an D<strong>in</strong>ge wie Gew<strong>in</strong>n und Ehre <strong>die</strong> eigene<br />

Negativität verheimlicht und sie so ununterbrochen aufrechterhält. Sie gehört zu den Kategorien<br />

von Anhaftung, Abneigung und Verblendung und verh<strong>in</strong>dert, authentische Unterweisungen<br />

erhalten zu können.<br />

Das ist also e<strong>in</strong>e Tendenz des Betrügens, des Vortäuschens, wo wir tatsächlich bestehende Negativität<br />

oder schädliche Handlungen verheimlichen. Aufgrund des Verheimlichens kommt es dazu, dass man<br />

<strong>die</strong>se Fehler, <strong>die</strong>se schädlichen Handlungen aufrechterhält und wir verh<strong>in</strong>dern, dass <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Bereich<br />

Hilfe e<strong>in</strong>fließen kann. Die Motivation h<strong>in</strong>ter <strong>die</strong>ser Tendenz ist das Haften an dem Bild, das andere<br />

von uns haben. Wir haften an Anerkennung und Respekt, am guten Bild, das andere von uns haben.<br />

Zu dem Bild, was andere von uns haben, gehört dann auch der Wunsch, weiterh<strong>in</strong> Vorteile daraus zu<br />

ziehen. Das wird hier Gew<strong>in</strong>n und Ehre genannt. Eigentlich ist der E<strong>in</strong>druck geme<strong>in</strong>t, den wir bei<br />

anderen erwecken und der für uns von Vorteil ist.<br />

Wenn wir <strong>die</strong>sen Faktor und <strong>die</strong> dah<strong>in</strong>ter stehenden Motivationen näher betrachten, sehen wir, dass<br />

von den sechs grundlegenden emotionalen Belastungen, <strong>die</strong> wir schon gesehen haben, Anhaftung,<br />

Verblendung, aber auch Abneigung <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Cocktail <strong>mit</strong>spielen. – Mit Abneigung ist unsere Abneigung<br />

gegen das Bild geme<strong>in</strong>t, das andere von uns haben würden oder wir von uns selber haben müssten,<br />

wenn wir wahrhaftig wären.<br />

Der nächste Faktor hängt auch <strong>mit</strong> dem Faktor Unaufrichtigkeit zusammen, aber hier täuscht man<br />

Qualitäten vor.<br />

34) Sche<strong>in</strong>heiligkeit<br />

be<strong>in</strong>haltet, für Gew<strong>in</strong>n und Ehre eigene Qualitäten vorzutäuschen, <strong>die</strong> man nicht hat, und dadurch<br />

andere <strong>mit</strong> Unwahrheit zu betrügen. Sie gehört zu den Kategorien von Dummheit und<br />

Anhaftung. Sie verstärkt <strong>die</strong> primären und sekundären emotionalen Belastungen und unterstützt<br />

e<strong>in</strong>e falsche Lebensführung.<br />

Diese beiden Faktoren unterscheiden sich dadurch, dass bei der Unaufrichtigkeit verheimlicht wird,<br />

was an schädlichen Handlungen und an negativen Tendenzen da ist, und bei der Sche<strong>in</strong>heiligkeit<br />

Qualitäten vorgetäuscht werden. Das e<strong>in</strong>e ist im Bezug auf Schädliches und das andere ist im Bezug<br />

auf Qualitäten. In beiden Fällen wird getäuscht, beides ist unaufrichtig, beides ist sche<strong>in</strong>heilig.<br />

Auf der Basis <strong>die</strong>ser beiden Faktoren können alle weiteren emotionalen Belastungen aufblühen, und<br />

sie f<strong>in</strong>den kräftige Unterstützung. Es ist e<strong>in</strong> reiches Feld, weil es im Grunde <strong>mit</strong> sich br<strong>in</strong>gt, dass man<br />

nie <strong>in</strong> den Spiegel schaut. Man hält sich selbst den Spiegel nicht vor und zeigt auch den anderen nicht<br />

ehrlich, wie man ist.<br />

Die nächsten beiden Faktoren s<strong>in</strong>d der Mangel an den beiden heilsamen Faktoren von Selbstrespekt<br />

und Rücksichtnahme, <strong>die</strong> wir bereits besprochen haben.<br />

35) Mangelnder Selbstrespekt<br />

ist, schädliches Handeln nicht aus sich selbst heraus zu unterlassen. Er gehört zu den Kategorien<br />

der drei Geistesgifte und stärkt <strong>die</strong> primären und sekundären emotionalen Belastungen.<br />

Dazu brauche ich eigentlich nicht viel zu sagen, wir haben das im Zusammenhang <strong>mit</strong> den heilsamen<br />

Faktoren bereits besprochen. Mangelnder Selbstrespekt ist, schädliches Handeln nicht zu unterlassen,<br />

wenn wir <strong>mit</strong> uns selbst <strong>in</strong>s <strong>in</strong>nere Zwiegespräch gehen. – Wir s<strong>in</strong>d alle<strong>in</strong>, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation, wo es darauf<br />

ankommt, se<strong>in</strong>er selbst willen schädliches Handeln zu unterlassen und stattdessen etwas Heilsa-<br />

114


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

mes zu tun. Wir haben nicht <strong>die</strong>sen <strong>in</strong>neren Respekt vor uns selbst, so zu handeln wie wir uns das<br />

vorgenommen haben und führen schädliches Handeln aus.<br />

Man könnte <strong>die</strong>ses Thema ausweiten und davon sprechen, dass es auch mangelnder Selbstrespekt ist,<br />

wenn man sich von allen möglichen D<strong>in</strong>gen ablenken lässt oder wenn man sich Handlungen h<strong>in</strong>gibt,<br />

<strong>die</strong> man eher als neutral e<strong>in</strong>stuft, <strong>die</strong> aber Zeitverschwendung s<strong>in</strong>d. Das alles ist aber <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Faktor<br />

hier so nicht geme<strong>in</strong>t. Es ist schädliches Handeln geme<strong>in</strong>t – zu töten, zu stehlen, zu lügen, Gewalt<br />

anzuwenden –, wenn man nicht beobachtet wird, was man nur sich selbst gegenüber zu verantworten<br />

hat und wo e<strong>in</strong>em <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere ethische Richtschnur, der <strong>in</strong>nere ethische Kompass sagen würde: „Ne<strong>in</strong>,<br />

das möchte ich mir selbst gegenüber auch nicht verantworten, das widerspricht me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Pr<strong>in</strong>zipien.“<br />

Mangelnder Selbstrespekt würde bedeuten, nicht auf <strong>die</strong>se Stimme zu hören oder sie gar nicht<br />

mehr <strong>mit</strong>zubekommen, dass <strong>die</strong>se <strong>in</strong>nere Stimme gar nicht mehr aktiv ist.<br />

36) Rücksichtslosigkeit<br />

ist, sich ohne Rücksicht auf andere hemmungslos nichtheilsam zu verhalten. Sie gehört zu den<br />

Kategorien der drei Geistesgifte und stärkt alle Formen emotionaler Belastung.<br />

Diese Form der Rücksichtslosigkeit ist im Bezug auf andere; sei es, dass wir <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Menschen zusammen<br />

s<strong>in</strong>d oder <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe. Wir s<strong>in</strong>d Versprechen e<strong>in</strong>gegangen, haben Gelübde genommen,<br />

uns zu ethischem Verhalten verpflichtet, auch der Gesellschaft gegenüber und verstoßen gegen <strong>die</strong>se<br />

Verpflichtungen. Das be<strong>in</strong>haltet auch, gegen das Gesetz zu verstoßen, obwohl wir eigentlich angenommen<br />

hatten, dass wir auf <strong>die</strong>ser Grundlage stehen. Rücksichtslosigkeit bezieht sich auf all <strong>die</strong> schädlichen<br />

Handlungen, durch <strong>die</strong> andere zu Schaden kommen, übervorteilt werden und dergleichen. Es<br />

s<strong>in</strong>d Handlungen, <strong>die</strong> wir normalerweise nicht tun würden, wenn wir den Respekt für andere wach<br />

halten würden.<br />

Diese beiden Faktoren gehören also zusammen, nur dass das Band, das dabei nicht berücksichtigt und<br />

zerstört wird, zum e<strong>in</strong>en <strong>mit</strong> uns selber ist – <strong>die</strong> Verpflichtung uns selbst gegenüber – und im zweiten<br />

Fall das Band oder <strong>die</strong> Verpflichtung <strong>mit</strong> anderen.<br />

37) Verstellung<br />

gehört zu den Kategorien von Verblendung und Anhaftung und be<strong>in</strong>haltet, nicht das zu tun, was<br />

e<strong>in</strong>deutig angewiesen wurde, und dabei <strong>die</strong> eigene Negativität verbergen zu wollen. Sie unterstützt<br />

es, nicht bedauern zu können und nicht glücklich zu se<strong>in</strong>.<br />

Auf Französisch wurde <strong>die</strong>ser Faktor anders übersetzt, viel näher dran an den beiden anderen Faktoren<br />

der Sche<strong>in</strong>heiligkeit, <strong>die</strong> wir schon gesehen haben. Dort heißt es, dass man se<strong>in</strong>e eigenen Fehler versteckt,<br />

wenn man zu Recht beschuldigt wird.<br />

Zu Recht beschuldigt oder angesprochen werden ist hier im Deutschen übersetzt als e<strong>in</strong>deutig angewiesen<br />

werden. Es ist geme<strong>in</strong>t, dass man bei e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>deutigen Anweisung nicht das tut, was zu tun ist,<br />

es nachher versteckt und da<strong>mit</strong> <strong>die</strong> eigene Negativität verbergen möchte. Verstellung gehört auch zur<br />

Kategorie von Anhaftung und Verblendung.<br />

Wenn man immer etwas verstecken muss, dann kommt es auch nicht zu e<strong>in</strong>em Bedauern. Da<strong>mit</strong> man<br />

bedauern kann, muss man es offen legen, müssen <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge offen angesprochen werden. Sonst ist es<br />

wie e<strong>in</strong>e Eitertasche, <strong>die</strong> man nie aufmacht, und <strong>die</strong> deshalb nie heilen kann. Man muss den Abszess<br />

aufstechen und nach außen br<strong>in</strong>gen. Genauso ist es auch im eigenen Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

38) Habgier<br />

ist, aufgrund von Begierde an Gebrauchsgegenständen und anderen D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> man besitzt,<br />

energisch festzuhalten. Sie bewirkt, Besitz nicht abgeben zu können. – Nicht e<strong>in</strong>fach leben zu<br />

können.<br />

115


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Habgier ist e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Fortsetzung, Verstärkung von Begierde und be<strong>in</strong>haltet, dass man stark an<br />

Besitz festhält. Man möchte weit mehr noch, als was man überhaupt braucht, was man eigentlich<br />

selber zum Leben braucht, und es ist <strong>die</strong> Unfähigkeit teilen zu können.<br />

39) Selbstüberheblichkeit<br />

ist, aus Vergnügen und Anhaftung selbstzufrieden <strong>mit</strong> Gesundheit, Jugendlichkeit und allem anderen<br />

Vortrefflichen zu prahlen, <strong>die</strong> der eigene, von Triebflüssen geprägte Geistesstrom besitzt.<br />

Sie unterstützt <strong>die</strong> primären und sekundären emotionalen Belastungen.<br />

Bei <strong>die</strong>ser Selbstüberheblichkeit handelt es sich um e<strong>in</strong>e Form von Eitelkeit, wo wir z.B. <strong>mit</strong> unserer<br />

Gesundheit prahlen: „Ich b<strong>in</strong> so gesund!“, „Ich kann raus <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kälte!“, „Ich schwimme im kalten<br />

Meer!“, „Ich klettere auf <strong>die</strong> Berge.“, „Ich kann alles verdauen, kann alles essen.“ Wenn man da zuhört,<br />

denkt man sich: „Na! Hoffen wir, dass es noch e<strong>in</strong>e Weile hält!“ Das ist e<strong>in</strong>e Identifikation <strong>mit</strong><br />

den Aggregaten aus dem Zustand heraus, <strong>in</strong> dem sich der Körper gerade bef<strong>in</strong>det – das kann sich natürlich<br />

auch auf den Geist beziehen – und man erkennt <strong>die</strong>sen Zustand nicht als etwas sich ständig<br />

Wandelndes, als vergänglich. Es ist e<strong>in</strong>e Übertreibung.<br />

Was <strong>die</strong> Jugend angeht, ist das <strong>die</strong> Eitelkeit oder Selbstüberheblichkeit mancher Jugendlicher, <strong>die</strong> <strong>mit</strong><br />

Herabschätzung gegenüber alten Personen e<strong>in</strong>hergeht. Wieder ist es <strong>die</strong> Identifikation <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Zustand,<br />

der nur zeitweilig dauert und nicht zu halten ist. Die letzten Aufwallungen <strong>die</strong>ser Eitelkeit <strong>in</strong><br />

Bezug auf Jugendlichkeit kommen dann im Alter von ungefähr Fünfzig, wo man noch e<strong>in</strong>mal versucht,<br />

sich zu zeigen wie fit man ist, dass man immer noch auf alle Berge klettern kann, dass man<br />

immer noch verführen kann, hübsch aussieht. Aber irgendwann fällt <strong>die</strong>ser Kampf gegen <strong>die</strong> Realität<br />

dann auch <strong>in</strong> sich zusammen, weil man bemerkt, dass man tatsächlich ganz schön auf dem absteigenden<br />

Ast ist, dass <strong>die</strong> Frische der Jugend so nicht mehr zu f<strong>in</strong>den ist.<br />

Vielleicht noch schlimmer als das Anhaften an <strong>die</strong>sen äußeren Merkmalen wie Gesundheit und Jugend<br />

ist das eitle Hervorheben-Wollen der eigenen geistigen Qualitäten. Ob es denn nun so etwas E<strong>in</strong>faches<br />

ist, wie e<strong>in</strong> guter Schachspieler se<strong>in</strong> zu wollen oder Talente <strong>in</strong> Sprachen zu haben, alles wird aufgebläht.<br />

Diese Selbstüberheblichkeit wird am schlimmsten, wenn sie zu e<strong>in</strong>er Haltung führt, wo man zu<br />

wissen me<strong>in</strong>t, was andere denken, warum sie so handeln, warum das schief geht bei dem und warum<br />

das dort gut geht, dass man also derjenige ist, der sich bei allem e<strong>in</strong> Urteil anmaßt, alles zu wissen,<br />

<strong>mit</strong>zukriegen me<strong>in</strong>t. Da besteht zu Anfang vielleicht e<strong>in</strong>e gewisse Fähigkeit, D<strong>in</strong>ge genau unterscheiden,<br />

gut sehen zu können, <strong>die</strong> sich dann aber zu großer Selbstüberheblichkeit und Eitelkeit auswächst.<br />

Als Anteil <strong>die</strong>ser Selbstüberheblichkeit spielt das Abwerten der anderen e<strong>in</strong>e Rolle, herablassend auf<br />

<strong>die</strong> zu schauen, <strong>die</strong> krank s<strong>in</strong>d, wenn wir selber gesund s<strong>in</strong>d: „Wie kannst du nur krank se<strong>in</strong>? Schau,<br />

wie ich das mache! Ich b<strong>in</strong> bei bester Gesundheit, du musst es genauso machen wie ich, dann geht<br />

alles bestens!“ Oder <strong>die</strong> Abwertung der Jugendlichen gegenüber den Alten: „Wie können <strong>die</strong> nur so<br />

schwach se<strong>in</strong>, so dumm, so gebrechlich? Die kriegen nichts mehr auf <strong>die</strong> Reihe!“ Das ist <strong>die</strong> Eitelkeit<br />

der Jugend. So geht es <strong>mit</strong> allen Qualitäten. Wir werten andere ab. Das ist Ausdruck des Stolzes, der<br />

da e<strong>in</strong>e Rolle spielt.<br />

Nun kommen wir zu mangelndem Vertrauen, der Abwesenheit von Vertrauen, dem ersten Faktor <strong>in</strong><br />

der Liste der heilsamen Faktoren.<br />

40) Mangelndes Vertrauen<br />

gehört zur Kategorie der Verblendung und be<strong>in</strong>haltet, das wahrhaft Gute und den heilsamen<br />

Dharma nicht zu schätzen. Es unterstützt Faulheit.<br />

Mangelndes Vertrauen be<strong>in</strong>haltet, dass man ke<strong>in</strong>e Gewissheit, ke<strong>in</strong>e Sicherheit darüber hat, was heilsam<br />

ist und was das zutiefst Heilsame ist, das Erwachen. Aufgrund der Abwesenheit <strong>die</strong>ser Gewissheit<br />

116


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

kommt es zu e<strong>in</strong>er Unfähigkeit, <strong>die</strong> eigene Energie auszurichten. Man weiß nicht, auf welches Ziel<br />

man se<strong>in</strong>e Energie richten muss oder will und ist blockiert, was zu e<strong>in</strong>er Inaktivität führt, zu Faulheit.<br />

– Faulheit <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, sich nicht auf das Heilsame ausrichten zu können.<br />

Hier s<strong>in</strong>d also Vertrauen und e<strong>in</strong>e gewisse <strong>in</strong>nere Sicherheit <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander gekoppelt. Um sich ausrichten<br />

zu können, braucht man <strong>die</strong>ses Vertrauen, dass <strong>die</strong> Richtung stimmt. Wenn <strong>die</strong>ses Vertrauen nicht<br />

vorhanden ist, können wir <strong>in</strong> unserem Leben ke<strong>in</strong>e rechte Richtung bekommen. Mangelndes Vertrauen<br />

ist e<strong>in</strong> Faktor der Verblendung, der Unwissenheit, weil wir nicht klar genug darüber s<strong>in</strong>d, worauf es<br />

wirklich ankommt. Wir verstehen nicht richtig, deswegen wird <strong>die</strong>ser Faktor der Verblendung<br />

zugerechnet.<br />

Fragen:<br />

Sche<strong>in</strong>heiligkeit als Mittel der Konfliktvermeidung?<br />

Ich hatte große Mühe <strong>mit</strong> der Sche<strong>in</strong>heiligkeit, der man ja im Leben oft begegnet, und ich habe jetzt<br />

gelernt, dass es manchmal ja vielleicht s<strong>in</strong>nvoll ist, nicht aufrichtig zu se<strong>in</strong>, weil man da<strong>mit</strong> Konflikte<br />

vermeidet. Manchmal ist es ja vielleicht s<strong>in</strong>nvoll, Konflikte zu vermeiden, nicht nur aus Interesse für<br />

sich selbst, sondern vielleicht auch aus Interesse für andere.<br />

Diese Aussage ist fürs Erste e<strong>in</strong> wenig schockierend, aber e<strong>in</strong> Teil davon ist auch verständlich. Es ist<br />

genau <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition von Sche<strong>in</strong>heiligkeit, dass man da<strong>mit</strong> Spannungen, Ärger vermeiden möchte,<br />

weil andere enttäuscht wären, wenn sie gewisse D<strong>in</strong>ge von uns erfahren würden. Das ist Selbst<strong>in</strong>teresse.<br />

Aber was du me<strong>in</strong>st, ist, im Interesse des Vermeidens e<strong>in</strong>es größeren Konfliktes, wo andere<br />

beteiligt s<strong>in</strong>d, was sie aufwühlen würde, <strong>die</strong> Wahrheit nicht zuzugeben, <strong>die</strong> Thematik nicht offen zu<br />

legen. Wir können nicht wissen, wie heilsam das auf lange Sicht ist.<br />

Es geht darum, das Interesse am eigenen Vorteil aufzugeben, dass uns das eigene Interesse nicht<br />

motiviert, etwas zu verheimlichen, etwas zu verstecken oder für etwas anderes auszugeben. Bei all <strong>die</strong>sen<br />

diplomatischen Spielen, bei der Taktik, geht es um Macht, um E<strong>in</strong>fluss, um Vorteile und nicht um<br />

das größte Wohl aller Beteiligten. Aus <strong>die</strong>sen ichbezogenen Motivationen sollten wir uns wirklich<br />

raushalten. Das ist es ja, was <strong>die</strong>sen Faktor nährt, für sich selber e<strong>in</strong>en Vorteil haben zu wollen.<br />

Man kann sich vorstellen, dass dabei vielleicht Bodhicitta oder wirkliche Liebe, wirkliches Mitgefühl<br />

e<strong>in</strong>e Rolle spielen könnten, wie Thartse R<strong>in</strong>poche das gestern erklärt hat, wo kle<strong>in</strong>e Lügen manchmal<br />

notwendig s<strong>in</strong>d, um jemanden vor großem Schaden zu schützen oder davor, umgebracht zu werden.<br />

Aber so etwas kommt äußerst selten vor, das ist sehr selten der Fall.<br />

Was s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>eren sekundären Belastungen?<br />

Das wäre e<strong>in</strong>e verkehrte Übersetzung. Diese zwanzig, <strong>die</strong> wir gerade besprochen haben, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> sekundären<br />

Belastungen und <strong>die</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise leichter oder weniger schlimm, weniger belastend<br />

als <strong>die</strong> ersten sechs. Sie werden bloß sekundär genannt, weil sie sich immer wieder aus den anderen <strong>in</strong><br />

verschiedenen Mischungen zusammensetzen. Die Haupt<strong>in</strong>gre<strong>die</strong>nzien s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> ersten sechs Belastungen<br />

und daraus werden dann <strong>die</strong> neuen Cocktails gebraut. Cocktails, <strong>die</strong> bl<strong>in</strong>d und verrückt machen,<br />

das ist <strong>die</strong> Übersetzung des Tibetischen nyönmong.<br />

Man spricht von Belastungen oder von Verunre<strong>in</strong>igungen <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass sie uns krank machen,<br />

uns belasten und bl<strong>in</strong>d machen. Beh<strong>in</strong>derung wäre auch e<strong>in</strong>e Möglichkeit, das Wort Klesha zu übersetzen.<br />

Koketterie, Eifersucht<br />

Gehört Koketterie auch zu den Kleshas?<br />

Koketterie, wenn sich e<strong>in</strong>e Frau hübsch macht usw., ist e<strong>in</strong>e Unterform von Eitelkeit. Es ist ja nicht<br />

nur e<strong>in</strong> Schönmachen für das Spiel, sondern da<strong>mit</strong> geht e<strong>in</strong>e Identifikation e<strong>in</strong>her. Deswegen zählt<br />

man das auch zu den Kleshas, zur Liste der belastenden Emotionen.<br />

117


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wie ist es denn <strong>mit</strong> den Auslösern für Eifersucht? Jemand ist eifersüchtig und jemand bewirkt <strong>die</strong>se<br />

Eifersucht. Was für Faktoren s<strong>in</strong>d denn da auf der anderen Seite anzusiedeln?<br />

Da kommen natürlich alle Faktoren <strong>in</strong> Frage. Es kann se<strong>in</strong>, dass auf der anderen Seite Stolz vorhanden<br />

ist, der provoziert wird. Es kann aber auch se<strong>in</strong>, dass Qualitäten vorhanden s<strong>in</strong>d, dass <strong>die</strong> ganz normal<br />

vorhandenen Qualitäten Eifersucht auslösen oder das e<strong>in</strong>fache Dase<strong>in</strong>. Es sitzt z.B. jemand neben der<br />

Frau, <strong>mit</strong> der ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Paarbeziehung b<strong>in</strong>, und ich b<strong>in</strong> sofort eifersüchtig, obwohl derjenige gar<br />

nichts im S<strong>in</strong>n hat. Eifersucht kann sich alles als Auslöser nehmen. Wenn sie stark ist, dann kann sie<br />

jederzeit ausgelöst werden, sie braucht ke<strong>in</strong>en bestimmten Auslöser.<br />

Ich hatte e<strong>in</strong> sehr schweres Leben und bemerke, dass ich <strong>in</strong> jeder Situation <strong>mit</strong> Eifersucht und Neid<br />

reagiere. Was kann ich tun?<br />

Übe dich dar<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Ursachen der Freude zu suchen. Erfreue dich an allem, was du siehst und Grund<br />

für Freude und Glück se<strong>in</strong> könnte. Mach das zu e<strong>in</strong>er Praxis, <strong>die</strong> dich dann auch tatsächlich glücklich<br />

macht.<br />

Zuordnung von Emotionen<br />

Kann man <strong>die</strong> Emotionen farblich e<strong>in</strong>ordnen? Gibt es vielleicht emotionale Belastungen, <strong>die</strong> mehr<br />

nach <strong>in</strong>nen gehen, <strong>in</strong>nen bleiben, wie z.B. <strong>die</strong> Habgier, oder gibt es Emotionen, <strong>die</strong> mehr nach außen<br />

gehen wie <strong>die</strong> Eifersucht? Kann man das e<strong>in</strong> bisschen unterteilen?<br />

Ich f<strong>in</strong>de das eher schwierig. Eifersucht z.B. kann sowohl <strong>in</strong>nen dr<strong>in</strong>nen sitzen bleiben, kann sich aber<br />

auch sehr stark nach außen h<strong>in</strong> entladen, außen zeigen. Ich kann sie also nicht so e<strong>in</strong>deutig zuordnen.<br />

Bei Habgier oder bei Geiz ist es klar, dass es mehr <strong>die</strong>ses Festhalten nach <strong>in</strong>nen ist, aber auch da kann<br />

es sich nach außen h<strong>in</strong> ausdrücken. Ich wünsch dir viel Glück, dass du es für dich selber h<strong>in</strong>kriegst,<br />

<strong>die</strong>se vielen emotionalen Belastungen auf Farbe h<strong>in</strong> zu unterscheiden.<br />

Praxis <strong>mit</strong> den gestaltenden Faktoren<br />

Würdest du empfehlen, sich von Zeit zu Zeit <strong>die</strong>se Faktoren anzuschauen um zu sehen, wo man gerade<br />

steht oder nicht?<br />

Ja, doch! Das empfehle ich auf jeden Fall, zum<strong>in</strong>dest solange, bis ihr <strong>die</strong> Faktoren auswendig könnt <strong>in</strong><br />

dem S<strong>in</strong>n, dass ihr wirklich jeden Faktor <strong>in</strong> euch selbst gefunden habt. Wenn ich über <strong>die</strong> Faktoren<br />

sprechen kann, dann deshalb, weil ich sie wirklich auch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Geist gefunden habe und mir beschämend<br />

klar darüber b<strong>in</strong>, wie sie funktionieren. Ich muss dann auch immer wieder nachschauen, was<br />

jetzt gerade los ist. Wenn man dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong> bisschen geübt ist, kriegt man sehr schnell <strong>mit</strong>, welche Faktoren<br />

gerade aktiv s<strong>in</strong>d. Und trotzdem tut es gut, <strong>die</strong> Liste ab und zu wieder durchzugehen.<br />

Angenommen, man sieht, dass man schon das meiste aufgelöst hat, besteht da nicht auch e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Gefahr, darüber <strong>in</strong> Stolz zu verfallen?<br />

Na, dann hättest du ja direkt den nächsten Faktor, an dem du arbeiten könntest! Dann ist noch nicht so<br />

viel aufgelöst. Wenn sich Freude e<strong>in</strong>stellt, ist das ganz anders, als wenn sich Stolz e<strong>in</strong>stellt, und <strong>die</strong>sen<br />

Unterschied kriegt man sehr deutlich <strong>mit</strong>.<br />

Arbeit <strong>mit</strong> Energie - Quantenphysik<br />

S<strong>in</strong>d nicht all <strong>die</strong>se emotionalen Belastungen, <strong>die</strong> auftauchen, genau wie <strong>die</strong> anderen Geisteszustände<br />

Energien, <strong>die</strong> wir dann ausrichten? Z.B. bei Christian und Michelle arbeitet man viel <strong>mit</strong> <strong>in</strong>neren<br />

Energien. Ist nicht alles das Energie? Wenn ich e<strong>in</strong>er Emotion <strong>in</strong> mir begegne und dann me<strong>in</strong>en Geist<br />

z.B. auf Tschenresi ausrichte und ihn visualisiere, b<strong>in</strong> ich dann nicht dabei, e<strong>in</strong>er Energie e<strong>in</strong>e andere<br />

Richtung zu geben? Gibt es da nicht e<strong>in</strong>e universelle Energie, <strong>die</strong> sich so oder so ausdrückt?<br />

Daran gibt es vieles, was wahr ist, aber es gibt auch e<strong>in</strong>e Falle, vor der ich euch gerne bewahren würde.<br />

Es ist wahr, dass alles Energie ist. Was auch immer wir erfahren, erleben, anfassen, <strong>die</strong> materiellen<br />

D<strong>in</strong>ge, alles ist Energie. Der Körper ist Energie. Gefühle, Gedanken s<strong>in</strong>d Energie, jede Geistesbewe-<br />

118


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

gung ist e<strong>in</strong>e Kraft, ist e<strong>in</strong>e Bewegung und hat E<strong>in</strong>fluss auf andere Kräfte oder ist simultan <strong>mit</strong> anderen<br />

Kräften, hat e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf das Energiefeld, auf den Energiefluss im Körper usw., auf <strong>die</strong><br />

Zellen im Körper. Also Energie, Kräfte s<strong>in</strong>d überall, nichts ist davon ausgeschlossen, nichts ist nicht<br />

Teil <strong>die</strong>ses energetischen Prozesses, <strong>die</strong>ses ständigen energetischen Geschehens.<br />

Die Falle besteht nun dar<strong>in</strong>, <strong>die</strong>ser Energie e<strong>in</strong>e eigene Existenz zuzuschreiben, und z.B. von e<strong>in</strong>er universellen<br />

Energie zu sprechen, <strong>die</strong> sich ungeschickt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Emotion ausdrückt und <strong>die</strong> man besser<br />

lenken könnte, da<strong>mit</strong> sie sich dann als zeitloses Gewahrse<strong>in</strong> manifestiert oder als Mitgefühl, als ob<br />

<strong>die</strong>se Energie nach Ausdruck verlangen würde, und man ihr den besten Ausdruck verleihen würde.<br />

Das impliziert auch, dass es jemanden gibt, der getrennt von <strong>die</strong>ser Energie ist und <strong>die</strong>se lenkt.<br />

Worum es eigentlich geht, ist, jeden Gedanken, jede Bewegung im Geist <strong>in</strong> ihrer wahren Natur zu erkennen.<br />

Es ist also <strong>die</strong>selbe Energie, <strong>die</strong>selbe Bewegung, <strong>die</strong> sich als Ärger ausdrückt und <strong>in</strong> ihrer Natur<br />

erkannt wird – sie braucht nicht verändert zu werden. Und das ist <strong>die</strong> Natur des Geistes. Es ist nicht<br />

so, dass das Phänomen sich ändern müsste, da<strong>mit</strong> es zur Erkenntnis der Natur des Geistes kommt, und<br />

es gibt auch niemanden, der getrennt ist von <strong>die</strong>sem Phänomen. Wir s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>ser energetische Prozess<br />

selbst, wir s<strong>in</strong>d nicht jemand, der noch getrennt ist davon.<br />

Es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen.<br />

Die H<strong>in</strong>weise zur Behauptung, dass alles Energie sei und wie das <strong>mit</strong> dem Geist zusammenhängt, s<strong>in</strong>d<br />

nicht <strong>in</strong> den normalen Dharma-Unterweisungen zu f<strong>in</strong>den sondern <strong>in</strong> den sehr tiefgründigen Unterweisungen<br />

des Vajrayana, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> den sechs Dharmas von Naropa. Da geht es um <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit von<br />

<strong>in</strong>nen und außen, wo <strong>die</strong> Praxis <strong>mit</strong> dem Bewusstse<strong>in</strong>, dem eigenen Geist, den <strong>in</strong>neren Energien sich<br />

dann im Außen manifestieren kann und man nennt das ‚<strong>die</strong> Kontrolle über <strong>die</strong> Elemente gew<strong>in</strong>nen’,<br />

also über <strong>die</strong> energetische Manifestation im Universum. Um wirklich zu zeigen, was da<strong>mit</strong> geme<strong>in</strong>t<br />

ist, um <strong>die</strong>se <strong>in</strong>nige E<strong>in</strong>heit von Bewusstse<strong>in</strong> und Welt aufzeigen zu können, müsste man eigentlich <strong>in</strong><br />

der Lage se<strong>in</strong>, so wie Milarepa e<strong>in</strong>e Wand e<strong>in</strong>e Wand se<strong>in</strong> zu lassen und durch sie h<strong>in</strong>durch zu gehen,<br />

oder Feuer <strong>in</strong> Wasser zu verwandeln und dergleichen.<br />

Gibt es da nicht Parallelen <strong>in</strong> der Quantenphysik?<br />

Ja, darüber wird viel diskutiert, aber ich kenne <strong>die</strong> Quantenphysik nicht ausreichend, um mich da <strong>in</strong><br />

Diskussionen e<strong>in</strong>lassen zu können. Es sprechen so viele Menschen darüber, <strong>die</strong> sich eigentlich nicht<br />

richtig da<strong>mit</strong> auskennen, und ich möchte nicht Teil von <strong>die</strong>ser Suppe se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> da gebraut wird.<br />

Es gibt e<strong>in</strong>en Film, der heißt ‚What the bleep do we know’. In <strong>die</strong>sem Film kommen viele Wissenschaftler<strong>in</strong>nen<br />

und Wissenschaftler, auch Philosophen zu Wort, <strong>die</strong> sich zum Thema Quantenphysik<br />

äußern.<br />

Aber sche<strong>in</strong>bar – das ist auch <strong>mit</strong> Vorsicht zu genießen – s<strong>in</strong>d alle, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Film zu Wort<br />

kommen, Mitglieder der gleichen Sekte. E<strong>in</strong> Freund von mir hat das im Internet recherchiert, ich hab<br />

se<strong>in</strong>e Aussagen nicht überprüft. –<br />

Ich b<strong>in</strong> voll e<strong>in</strong>verstanden <strong>mit</strong> den Parallelen, <strong>die</strong> gezogen werden. Ich habe das Gefühl, dass <strong>die</strong><br />

Quantenphysik an dem Punkt ankommt, wo auch Nagarjuna und se<strong>in</strong>e Schüler, <strong>die</strong> großen Meister der<br />

damaligen Zeit, <strong>mit</strong> ihrer Analyse h<strong>in</strong>geführt haben <strong>in</strong> der Beschreibung dessen, was unser Erleben<br />

und was <strong>die</strong> Welt ist. Das war auch Teil me<strong>in</strong>es Studiums, aber ich könnte nur <strong>die</strong> Berichte anderer<br />

wiederholen und dabei würde ich wahrsche<strong>in</strong>lich auch Fehler machen. Deswegen möchte ich darüber<br />

nicht weiter sprechen und nicht, um es abzublocken. Es kann sich jeder selber darüber <strong>in</strong>formieren.<br />

Informiert euch e<strong>in</strong>fach darüber, egal welche Filme, welche Bücher es s<strong>in</strong>d. Es gibt so viele Bücher<br />

dazu, auch z.B. Buddhismus und Quantenphysik. Das hat <strong>in</strong> den Siebzigerjahren <strong>mit</strong> Fritjof Capra<br />

angefangen und <strong>die</strong> Serie der Ersche<strong>in</strong>ungen zu <strong>die</strong>sem Thema ist seither nicht mehr abgerissen.<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong> - Stolz<br />

Ist e<strong>in</strong>e gesunde Selbste<strong>in</strong>schätzung, Selbstbewusstse<strong>in</strong> Stolz?<br />

Könnte <strong>die</strong>ses Selbstbewusstse<strong>in</strong> Quelle von Leid se<strong>in</strong>?<br />

119


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ja, wenn ich z.B. e<strong>in</strong> gutes Selbstbewusstse<strong>in</strong> habe im S<strong>in</strong>n, dass ich gut gehandelt habe und im<br />

E<strong>in</strong>klang <strong>mit</strong> mir selbst und me<strong>in</strong>en Werten b<strong>in</strong>, dann ist es eigentlich ke<strong>in</strong>e Quelle von Leid.<br />

Wenn man genauer h<strong>in</strong>schaut, wird man sehen, dass auch dort Identifikation zu f<strong>in</strong>den ist und dass<br />

sich das später als Quelle von Leid herausstellen kann. Was wir im Deutschen <strong>mit</strong> göttlichem Stolz<br />

oder Stolz der Gottheit übersetzen – das ist e<strong>in</strong> Dharma-Ausdruck – bedeutet e<strong>in</strong> Selbstbewusstse<strong>in</strong>, <strong>in</strong><br />

dem wir der Buddhanatur, der wahren Natur unseres Geistes gewahr s<strong>in</strong>d. Dieses Gewahr-Se<strong>in</strong> dessen,<br />

was wir wirklich s<strong>in</strong>d, ist ke<strong>in</strong>e Quelle von Leid. Das geht nicht <strong>mit</strong> Identifikation e<strong>in</strong>her. Es ist da<br />

nicht e<strong>in</strong> Jemand, der sagt: „Ich b<strong>in</strong> der Yidam!“, sondern es ist e<strong>in</strong> Gewahr-Se<strong>in</strong> um <strong>die</strong>se ich-lose<br />

Dimension, <strong>die</strong> alle Qualitäten be<strong>in</strong>haltet.<br />

Tonglen<br />

Mir setzt es etwas zu, wenn ich beim Tonglen <strong>mit</strong> jedem E<strong>in</strong>- und Ausatmen <strong>die</strong> Visualisation ändern<br />

soll und es ist auch schwierig, <strong>mit</strong> der eigenen Eifersucht umzugehen. Ich setze mir dann e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong><br />

Gottheit, also Tschenresi, <strong>in</strong>s Herz und lasse von da aus das Tonglen geschehen. Das entspannt mich.<br />

Ja, das kann ich völlig verstehen. Es ist wirklich ziemlich anstrengend, wenn man bei jedem E<strong>in</strong>- und<br />

Ausatem <strong>die</strong> Visualisation von schwarz und weiß und dergleichen ändern muss. Um <strong>die</strong> Praxis zu<br />

lernen, bleiben wir e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Atemzyklen bei e<strong>in</strong>em Gedanken, z.B. beim Geben und<br />

wenn sich das e<strong>in</strong> bisschen abgerundet anfühlt machen wir e<strong>in</strong>e Reihe von Atemzyklen <strong>mit</strong> dem<br />

nächsten Abschnitt der Praxis, dem Annehmen, wenn wir vorher beim Geben waren. Natürlich ist es<br />

völlig <strong>in</strong> Ordnung, wenn dich das entspannt, <strong>die</strong> Praxis von der Gottheit im Herzen ausgehen zu<br />

lassen.<br />

Yidam<br />

Wir haben <strong>in</strong> der Gruppe vorh<strong>in</strong> über Yidams gesprochen. Gerd hat geme<strong>in</strong>t, dass Karmapa bei<br />

manchen Leuten sagen kann, welcher Yidam zu ihm passt. Kann man auch sagen, dass <strong>die</strong> Yidams <strong>mit</strong><br />

<strong>die</strong>sen Faktoren zusammenhängen, dass bestimmte Yidams für bestimmte Störgefühle besonders<br />

geeignet seien oder hat das <strong>mit</strong> den Yidams noch e<strong>in</strong>e andere Bewandtnis?<br />

Manchmal wird so was gesagt, wobei jeder Yidam <strong>die</strong> Kraft hat, alle Störgefühle aufzulösen. In jedem<br />

Yidam s<strong>in</strong>d alle Buddhafamilien vere<strong>in</strong>t. Aber <strong>die</strong> Farbe des Yidams bzw. <strong>die</strong> Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Buddhafamilie lässt e<strong>in</strong> bisschen erahnen, an welchen Emotionen zunächst e<strong>in</strong>mal gearbeitet<br />

wird. Es gibt tatsächlich solche Beziehungen, aber letztlich kannst du <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Yidam alle<br />

emotionalen Belastungen auflösen und alle Qualitäten verwirklichen. Sie wirken immer auf alle unsere<br />

Emotionen, weil sie immer direkt an <strong>die</strong> Wurzel unseres Ich-Anhaftens gehen. Yidam-Praxis bedeutet,<br />

<strong>mit</strong> der Ich-Bezogenheit zu arbeiten, und da es um <strong>die</strong> Wurzel geht, werden auch all <strong>die</strong> Blüten, <strong>die</strong><br />

unser Ich-Anhaften treibt, zusammen <strong>mit</strong> dem Durchtrennen der Wurzel aufgelöst.<br />

Mit der Zeit ist es dann so, dass <strong>die</strong> Yidams alle beg<strong>in</strong>nen, denselben Geschmack zu haben, dass man<br />

nicht mehr so wahrnimmt, dass e<strong>in</strong> Yidam mehr e<strong>in</strong>e Emotion stimuliert als e<strong>in</strong> anderer. Das bedeutet,<br />

dass man <strong>mit</strong> den Yidams tatsächlich schon e<strong>in</strong>en Weg gegangen ist, wo man <strong>die</strong>sen e<strong>in</strong>en Geschmack<br />

sehr deutlich verspürt. Dann braucht man eigentlich nicht mehr so sehr darauf zu achten, <strong>mit</strong> welchem<br />

Yidam man arbeitet – das braucht man auch zu Anfang nicht. Man achtet dann nicht mehr so darauf,<br />

<strong>mit</strong> welchem Yidam man praktiziert.<br />

Wenn also nicht nur <strong>die</strong>se Faktoren das Kriterium für <strong>die</strong> Vergabe der Yidams s<strong>in</strong>d, welche Kriterien<br />

legt Karmapa da an?<br />

Es geht offenbar um e<strong>in</strong>e karmische Verb<strong>in</strong>dung, ob schon e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung <strong>mit</strong> dem Yidam entstanden<br />

ist, <strong>die</strong> es ermöglicht, für lange Zeit voller Vertrauen zu praktizieren. Das ist wohl das Wichtigste.<br />

* * *<br />

120


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Lasst uns also <strong>die</strong> weiteren Faktoren noch anschauen, <strong>die</strong> wir <strong>die</strong> sekundären Belastungen nennen und<br />

<strong>die</strong> aus den verschiedenen Komb<strong>in</strong>ationen der primären emotionalen Belastungen entstehen.<br />

41) Faulheit<br />

ist das Verlangen nach Schlafen, H<strong>in</strong>legen, Anlehnen und anderen bequemen schädlichen Handlungen,<br />

wodurch es im E<strong>in</strong>satz für das Heilsame an Begeisterung mangelt und Schlaffheit aufkommt.<br />

Sie bewirkt das Gegenteil von freudiger Ausdauer.<br />

Ihr er<strong>in</strong>nert euch, der Faktor vorher war mangelndes Vertrauen. Dieses fehlende Vertrauen, <strong>die</strong> fehlende<br />

Gewissheit, worum es im Leben wirklich geht, bewirkt, dass wir unsere Energie nicht ausrichten<br />

können und dann leicht <strong>in</strong> Faulheit, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Nichtstun verfallen.<br />

Faulheit ist uns ja gut bekannt, aber <strong>die</strong> Faulheit, von der hier gesprochen wird, ist nicht <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n<br />

zu verstehen, dass wir z.B. nicht das tun, was unser Chef uns bei der Arbeit sagt. Hier geht es um <strong>die</strong><br />

Faulheit, nicht das zu tun, was zum Erwachen führt, was heilsam ist.<br />

Wenn wir im Krieg s<strong>in</strong>d, ist es besser, faul zu se<strong>in</strong>, denn da geht es um nicht-heilsame, um schädliche<br />

Handlungen. Da ist es Ausdruck von Weisheit, wenn man nicht das tut, was angeordnet wird. Wenn<br />

man im Krieg übereifrig ist, schafft man noch mehr unheilsame Handlungen. Es geht also nicht um <strong>die</strong><br />

E<strong>in</strong>schätzung der Gesellschaft, ob wir faul s<strong>in</strong>d oder nicht. Es ist <strong>die</strong> E<strong>in</strong>schätzung von uns selbst,<br />

wenn wir nicht das tun, was wir schon als heilsam erkannt haben oder wenn wir es tatsächlich gar<br />

nicht erkennen. Das Schlimmste ist aber, wenn wir genau wissen, wo wir lang wollen, das aber nicht<br />

umsetzen.<br />

Es gibt z.B. den Traum-Yoga oder Yoga der erhellenden Klarheit im Tiefschlaf, wo jemand äußerlich<br />

so aussieht, als würde er schlafen, aber <strong>in</strong>nerlich e<strong>in</strong>e aktive Bewusstse<strong>in</strong>s-Praxis ausführt. Er würde<br />

eigentlich äußerlich <strong>die</strong> Kriterien von Anhaften an Schlaf und Traum sche<strong>in</strong>bar erfüllen. Innerlich ist<br />

er aber nicht <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Anhaften, sondern er praktiziert <strong>die</strong> tiefen Geisteszustände des Loslassens, der<br />

völligen Offenheit. Das zeigt, dass er aktiv auf das Erwachen zugeht, aber äußerlich von anderen als<br />

faul e<strong>in</strong>geschätzt wird.<br />

Wir müssen uns also bewusst se<strong>in</strong>, dass Faulheit nicht unbed<strong>in</strong>gt von außen erkennbar ist. Als Beispiel<br />

zwei Menschen hier <strong>in</strong> Croizet, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Person sitzt auf der Bank und schaut <strong>in</strong> <strong>die</strong> Weite und <strong>die</strong><br />

andere Person zupft das Unkraut und schneidet <strong>die</strong> Büsche um den Stupa herum. Welche der Personen<br />

ist wohl faul?<br />

Es kommt darauf an. – Ke<strong>in</strong>e von beiden kann man als faul e<strong>in</strong>stufen. –<br />

Mit Sicherheit <strong>die</strong>, <strong>die</strong> sich auf den Stiel der Hacke stützt. –<br />

Ihr habt es richtig erkannt. Wir können von außen nicht beurteilen, wer tatsächlich faul ist und wer im<br />

guten S<strong>in</strong>ne aktiv ist. Es kann se<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong> Person, <strong>die</strong> eifrig um den Stupa herum säubert, tatsächlich<br />

dabei ist, <strong>in</strong>nerlich spirituelle Aktivität zu praktizieren, auf ihren Geist zu achten, <strong>in</strong> sich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu<br />

schauen, Freigebigkeit zu üben und dergleichen, oder aber es ist vielleicht e<strong>in</strong>e Praxis der aktiven<br />

Faulheit. Es gibt e<strong>in</strong>e Art der Faulheit, wo man geschäftig ist. Man ist ständig beschäftigt, hat immer<br />

etwas zu tun. Das ist e<strong>in</strong>e Geschäftigkeit, <strong>die</strong> aber das Eigentliche vermeidet und nicht zum Erwachen<br />

führt. Man tut alles Mögliche, nur um sich nicht <strong>mit</strong> dem Wesentlichen beschäftigen zu müssen. So<br />

wie es uns vielleicht im Leben geht, dass wir zu Hause alles Mögliche tun, nur nicht unsere Überweisungen<br />

begleichen, nur nicht das tun, was uns unlieb ist. Wir drehen schöne Kreise drum herum,<br />

aber wir gehen nicht aufs Eigentliche zu. Das nennt man geschäftige Faulheit.<br />

Und so kann man von außen nicht am Grad der Aktivität sehen, ob jemand faul ist oder nicht. Was <strong>die</strong><br />

Person auf der Bank angeht, können wir nicht sagen, dass sie unbed<strong>in</strong>gt faul ist, obwohl es äußerlich<br />

so aussieht, dass sie nichts tut während andere was tun. Es kann se<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong> Person sehr aktiv <strong>mit</strong><br />

ihrem Geist arbeitet und z.B. all <strong>die</strong> Tendenzen der Geschäftigkeit auflöst und da<strong>mit</strong> aus Gewohnheitsmustern<br />

aussteigt.<br />

121


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Nachdem wir <strong>die</strong>se verschiedenen Beschreibungen betrachtet haben, ist aber wichtig zu verstehen,<br />

dass Faulheit normalerweise tatsächlich das Anhaften an Liegen, Sich-Ausruhen und am leichten Zeitvertreib<br />

ist, ohne dass dabei e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Aktivität <strong>mit</strong> Körper, Rede und Geist ausgeführt wird.<br />

Worum es für uns geht, um Faulheit aufzulösen oder um uns nicht davon überwältigen zu lassen, ist,<br />

den Geist immer auf das gerichtet zu lassen, was tatsächlich wichtig und s<strong>in</strong>nvoll ist und das umzusetzen.<br />

Im Detail betrachtet, geht es um <strong>die</strong> Situationen beim Aufwachen, wo wir uns noch nach rechts<br />

drehen und wieder nach l<strong>in</strong>ks, noch e<strong>in</strong>mal auf den Rücken, dann auf den Bauch, obwohl wir schon<br />

wach s<strong>in</strong>d, und noch e<strong>in</strong>e halbe Stunde oder mehr verstreichen lassen, <strong>in</strong> der wir uns eigentlich gar<br />

nicht weiter erholen sondern nur aufschieben, den Tag zu beg<strong>in</strong>nen. Das ist verlorene Zeit, das s<strong>in</strong>d<br />

Momente von Faulheit, <strong>mit</strong> denen wir aufräumen sollten.<br />

Um <strong>mit</strong> der geschäftigen Faulheit aufzuräumen, ist wichtig, sich Pausen des bewussten Nichtstuns zu<br />

gönnen, <strong>in</strong> denen wir <strong>mit</strong> dem Geist beschäftigt s<strong>in</strong>d, d.h. <strong>mit</strong>bekommen, was <strong>mit</strong> uns los ist. Z.B. wie<br />

weit wir schon erschöpft s<strong>in</strong>d oder was uns emotional <strong>in</strong>nerlich beschäftigt, da<strong>mit</strong> wir das auch loslassen<br />

können, da<strong>mit</strong> wir vom Unwesentlichen zum Wesentlichen kommen können. Solche Pausen des<br />

Nichtstuns bewirken, dass wir e<strong>in</strong>e Geschäftigkeit, <strong>die</strong> wir aufgebaut haben, unterbrechen und nach<br />

der Pause wieder viel näher am Wesentlichen s<strong>in</strong>d. Das Heil<strong>mit</strong>tel für geschäftige Faulheit ist genau<br />

das bewusste Nichtstun.<br />

42) Nachlässigkeit<br />

ist, aufgrund der drei Geistesgifte und der sie begleitenden Faulheit unaufmerksam im Ausführen<br />

von heilsamen und Unterlassen von schädlichen Handlungen zu werden. Als Gegenteil von<br />

Gewissenhaftigkeit stärkt sie das Nichtheilsame und schwächt das Heilsame.<br />

Nachlässigkeit ist das Gegenstück zum Faktor zwölf, Gewissenhaftigkeit, dem zweiten <strong>in</strong> der Liste der<br />

heilsamen Faktoren. Nachlässigkeit aufgrund mangelnder Sorgfalt bezieht sich also auf das Ausführen<br />

von Handlungen. Hier geht es nicht mehr um das faule Nichtstun, es ist e<strong>in</strong>e Nachlässigkeit, e<strong>in</strong>e<br />

Faulheit im Tun. Wo wir schädliche Handlungen unterlassen sollten, führen wir sie aus, wir s<strong>in</strong>d unachtsam,<br />

und wir führen heilsame Handlungen <strong>mit</strong> Nachlässigkeit aus, so dass sie auch fehlerhaft werden<br />

und nicht mehr <strong>die</strong> ganze Kraft des Heilsamen aufweisen. Da<strong>mit</strong> wird natürlich <strong>die</strong> Gewissenhaftigkeit<br />

geschwächt, <strong>die</strong> heilsamen Handlungen werden geschwächt und <strong>die</strong> schädlichen Tendenzen<br />

und <strong>die</strong> negativen Handlungen nehmen zu und werden stärker.<br />

Der Unterschied <strong>die</strong>ser beiden Faktoren: Bei der Faulheit geht es um das Nicht-Handeln, wir vermeiden<br />

Handeln und bei der Nachlässigkeit handeln wir zwar, aber es mangelt an Sorgfalt, an Gewissenhaftigkeit.<br />

43) Verwirrtes Gedächtnis<br />

ist, unklar <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht auf e<strong>in</strong>e heilsame Absicht zu se<strong>in</strong> und <strong>die</strong>se zu vergessen. Es ist e<strong>in</strong>e verwirrte,<br />

<strong>mit</strong> emotionaler Belastung e<strong>in</strong>hergehende Achtsamkeit, <strong>die</strong> der Achtsamkeit zuwiderläuft.<br />

Sie unterstützt Abgelenktse<strong>in</strong> im Geist.<br />

Wir kennen <strong>die</strong>se Situation eigentlich ganz gut. Es kann uns passieren, dass wir irgendwo e<strong>in</strong>e Tätigkeit<br />

beg<strong>in</strong>nen, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Projekt und <strong>mit</strong>ten dr<strong>in</strong> gar nicht mehr wissen, warum wir das eigentlich tun<br />

und den Faden verlieren. Oder es kann passieren, dass wir im Gespräch <strong>mit</strong> anderen den Faden unseres<br />

Gesprächs verlieren. Wir wollten was zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen, hatten e<strong>in</strong> Anliegen und dann passiert<br />

etwas – wenn man genau h<strong>in</strong>schaut, sieht man, dass es emotionale Schleier s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> sich manifestieren<br />

– das e<strong>in</strong>en vergessen lässt, was eigentlich der Punkt war, den man klären wollte, was man <strong>mit</strong> dem<br />

Gespräch bewirken wollte. Das heißt, man verliert <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Richtung. Dieser Faktor des verwirrten<br />

Gedächtnisses ist das Gegenteil der Achtsamkeit, <strong>die</strong> uns hilft, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geschlagene Richtung tatsächlich<br />

unabgelenkt aufrecht zu erhalten.<br />

Natürlich geht es hier und bei all <strong>die</strong>sen Faktoren nicht e<strong>in</strong>fach nur um e<strong>in</strong>e Beschreibung der Landkarte<br />

unseres Geistes. Es geht darum, wie man zum Erwachen kommt und wie nicht. Dieser Faktor des<br />

122


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

verwirrten Gedächtnisses beschreibt das, was uns passiert, wenn wir zunächst ganz klar auf das<br />

Erwachen ausgerichtet waren <strong>mit</strong> all den Qualitäten, <strong>die</strong> es dabei zu entwickeln gilt. Wir s<strong>in</strong>d richtig<br />

engagiert auf dem Weg, und auf dem Weg entstehen Situationen, <strong>die</strong> unsere Emotionalität stimulieren<br />

und wir verlieren aus dem Blick, was eigentlich unser Anliegen war. Wir vergessen ganz, dass es uns<br />

eigentlich darum g<strong>in</strong>g, uns für das Erwachen e<strong>in</strong>zusetzen, an uns selbst zu arbeiten, <strong>in</strong> Projekten <strong>mit</strong><br />

<strong>die</strong>sem Anliegen <strong>mit</strong>zuarbeiten und verwickeln uns. Das kann so weit gehen, dass <strong>die</strong> Emotionen so<br />

stark werden, dass wir <strong>die</strong> ursprüngliche Absicht des Heilsamen völlig <strong>in</strong> Frage stellen: „Wie kam ich<br />

nur dazu, mich auf das Erwachen auszurichten?“ oder auf ähnliche heilsame Handlungen.<br />

Es ist also das Abgelenktse<strong>in</strong>, das sich auf unserem Weg e<strong>in</strong>stellt, weil wir den roten Faden unserer<br />

Handlungen verlieren.<br />

Als Fortsetzung der eben beschriebenen Faktoren kommt es zu mangelnder Bewusstheit.<br />

44) Mangelnde Bewusstheit<br />

ist e<strong>in</strong> abgelenktes, <strong>mit</strong> emotionaler Belastung – <strong>die</strong> emotionalen Schleier s<strong>in</strong>d aktiv – e<strong>in</strong>hergehendes<br />

Verstehen, das sich <strong>in</strong> übereilten, ohne Bewusstheit ausgeführten Aktivitäten der drei<br />

Tore zeigt. Sie unterstützt das Entstehen von Gelübdebrüchen.<br />

Unsere Unterscheidungsfähigkeit ist bee<strong>in</strong>trächtigt. Wir lassen uns aufgrund der aktiven emotionalen<br />

Schleier zu Handlungen h<strong>in</strong>reißen, zu Entscheidungen verleiten, <strong>die</strong> nicht ausreichend bedacht s<strong>in</strong>d,<br />

wo wir nicht ausreichend genau h<strong>in</strong>geschaut haben.<br />

Und natürlich kommt es aufgrund der Verwirrtheit, der mangelnden Bewusstheit <strong>in</strong> unserem Geist zu<br />

aufgewühltem Denken, zu Gedanken, <strong>die</strong> Ausdruck <strong>die</strong>ser Emotionen s<strong>in</strong>d, was sich dann <strong>in</strong> entsprechenden<br />

Handlungen <strong>mit</strong> der Rede und dem Körper ausdrückt, unachtsame Handlungen. Natürlich<br />

s<strong>in</strong>d das Handlungen, <strong>die</strong> wir bedauern werden, wenn wir wieder zu e<strong>in</strong>er klaren Achtsamkeit oder Bewusstheit<br />

zurückkehren.<br />

S<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Faktoren – speziell <strong>die</strong> mangelnde Bewusstheit – <strong>in</strong> der Meditation zu beobachten, dass e<strong>in</strong><br />

Moment mangelnder Bewusstheit zu Ablenkung führt und wir, sobald wir das bemerken, wieder<br />

zurückkommen?<br />

Ja, da hast du vollkommen Recht. Jeder <strong>die</strong>ser Faktoren kann augenblicklich auftauchen, d.h. <strong>in</strong> Momenten<br />

des Gewahrse<strong>in</strong>s, und braucht nicht lange anzuhalten. Der nächste Moment kann schon wieder<br />

e<strong>in</strong> Moment se<strong>in</strong>, wo <strong>die</strong>ser Faktor aufgelöst ist und e<strong>in</strong> heilsamer Faktor aktiv ist. Es ist nicht so, dass<br />

das immer über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum geht so wie bei den Beispielen, <strong>die</strong> ich genommen habe, um<br />

es zu veranschaulichen. Die lassen vielleicht den Irrtum entstehen, dass es sich immer um längere<br />

Zeitspannen handelt, was aber nicht der Fall ist. Es handelt sich tatsächlich auch um <strong>die</strong> Möglichkeit,<br />

von e<strong>in</strong>em Moment zum nächsten zu beobachten, wie <strong>die</strong>se Faktoren entstehen und sich wieder<br />

auflösen.<br />

Danke für <strong>die</strong>sen E<strong>in</strong>wurf. Das hilft mir, noch e<strong>in</strong>mal klarzustellen, dass <strong>die</strong>se Gestaltungen e<strong>in</strong>erseits<br />

e<strong>in</strong>zeln auftauchen können, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Momenten, dann aber auch über längere Zeit dom<strong>in</strong>ieren können<br />

oder sogar zu richtigen Persönlichkeitsmerkmalen gehören, dass also e<strong>in</strong> Charakter stark von <strong>die</strong>sen<br />

Faktoren bee<strong>in</strong>flusst ist, sodass man von e<strong>in</strong>er fast ständigen Anwesenheit, Bee<strong>in</strong>flussung <strong>die</strong>ser<br />

Faktoren sprechen kann.<br />

45) Dumpfheit<br />

gehört zur Kategorie der Verblendung und ist e<strong>in</strong> schwerfälliger Zustand von Körper und Geist<br />

der zu Introvertiertheit und mangelnder geistiger Flexibilität führt, verbunden <strong>mit</strong> der Unfähigkeit<br />

sich zu konzentrieren. Sie unterstützt emotionale Belastungen.<br />

Diese Dumpfheit ist e<strong>in</strong>e Schwerfälligkeit, e<strong>in</strong>e Trägheit und kann vorwiegend im Geist se<strong>in</strong>, kann<br />

aber auch stark im Körper gefühlt werden und sich von dort auf den Geist auswirken. Es ist e<strong>in</strong> Zustand,<br />

<strong>in</strong> dem es unglaublich schwer fällt, den Geist auf etwas auszurichten und tatsächlich etwas<br />

123


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

umzusetzen. Man ist wie <strong>in</strong>nerlich gefangen und kriegt Körper und Geist nicht <strong>in</strong> Bewegung <strong>in</strong> Richtung<br />

auf das Heilsame. Es ist, als wäre der Geist festgefahren.<br />

46) Wildheit<br />

gehört zur Kategorie der Begierde, <strong>die</strong> verlockenden Eigenschaften nachstellt – wir hängen<br />

immer wieder Angenehmem, das auftaucht, nach –; sie bewirkt mangelnde geistige Flexibilität und<br />

Unruhe, da der Geist zu den Objekten abschweift. Sie verh<strong>in</strong>dert ruhiges Verweilen.<br />

Es ist <strong>in</strong>teressant, sich klar zu machen, dass sowohl Dumpfheit als auch Wildheit des Geistes mangelnde<br />

geistige Flexibilität s<strong>in</strong>d. In beiden Fällen handelt es sich um e<strong>in</strong>en starren, rigiden, unbeweglichen<br />

Geist. Bei Dumpfheit, bei Schwere s<strong>in</strong>d wir gleichsam festgefahren <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem unbeweglichen Geist,<br />

der sich nicht ausrichten lässt. Wir können ke<strong>in</strong>en klaren Gedanken fassen, Körper und Geist s<strong>in</strong>d<br />

nicht <strong>in</strong> der Lage, ihre Aufgaben auszuführen. Das ist aber auch nicht der Fall, wenn der Geist wild ist.<br />

Wenn der Geist aufgewühlt ist, können wir unsere Aufgaben auch nicht ausführen. Wir s<strong>in</strong>d ebenso<br />

festgefahren, allerd<strong>in</strong>gs bei großer Aktivität. Wir s<strong>in</strong>d festgefahren <strong>in</strong> den Schienen unserer emotionalen<br />

Reaktionen.<br />

Es heißt hier, dass Wildheit Ausdruck von Begierde ist, Ausdruck des Anhaftens an angenehmen Objekten.<br />

Die Objekte der Begierde s<strong>in</strong>d Gedanken, Geistes<strong>in</strong>halte, denen wir große Bedeutung beimessen.<br />

Sie müssen nicht angenehm se<strong>in</strong>, es können auch Probleme se<strong>in</strong>. Der aufgewühlte Geist dreht sich<br />

z.B. um familiäre, berufliche, persönliche D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> gar nicht angenehm s<strong>in</strong>d, aber <strong>die</strong> Objekte der<br />

Anhaftung darstellen, weil wir <strong>die</strong>sem Themenkreis große Bedeutung beimessen. Es ersche<strong>in</strong>t uns so<br />

wichtig, so essentiell zu se<strong>in</strong>, darüber nachzudenken. Wir können es nicht se<strong>in</strong> lassen, wir s<strong>in</strong>d gefangen<br />

im Kreisen um das verme<strong>in</strong>tlich Wichtige. Das nennt man Anhaften an etwas uns wichtig Ersche<strong>in</strong>endes,<br />

es gehört zu Begierde. Wir kleben an <strong>die</strong>sen Gedanken, wir kleben <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Mustern, und das<br />

beschreibt unsere geistige Unbeweglichkeit.<br />

Nachdem <strong>die</strong>se Faktoren erklärt worden s<strong>in</strong>d, fragt man sich, warum dann auch noch Abgelenktheit<br />

erklärt wird. Die Beschreibung ist etwas fe<strong>in</strong>er:<br />

47) Abgelenktse<strong>in</strong><br />

gehört zu den Kategorien der drei Geistesgifte und ist geistiges Wandern und H<strong>in</strong>- und Herbewegen<br />

<strong>in</strong> Bezug auf Objekte, wodurch e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>sgerichtetes Verweilen im Heilsamen unmöglich<br />

wird.<br />

Dieses Abgelenktse<strong>in</strong> be<strong>in</strong>haltet also nicht nur Begierde sondern auch Abneigung und Unwissenheit.<br />

Es wird hier als unregelmäßiges H<strong>in</strong>- und Herwandern beschrieben, immer wieder verschiedene<br />

Objekte aufzugreifen, loszulassen, immer wieder woanders zu se<strong>in</strong>, als dort, wo man eigentlich se<strong>in</strong><br />

möchte. Man kriegt also se<strong>in</strong>en Geist nicht zusammen, da<strong>mit</strong> kann man auch se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>neren Handlungen<br />

nicht auf das ausrichten, was heilsam ist.<br />

Abgelenktse<strong>in</strong> wird weiter unterschieden, je nachdem ob es sich auf Äußeres, Inneres oder auf<br />

Merkmale richtet.<br />

Lama Tenz<strong>in</strong> führt das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fußnote noch genauer aus:<br />

Äußere Ablenkung ist Ablenkung <strong>in</strong> den fünf äußeren S<strong>in</strong>nen, also angezogen zu se<strong>in</strong> von den S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücken<br />

der fünf äußeren S<strong>in</strong>ne, außer dem mentalen S<strong>in</strong>n.<br />

Inneres Abgelenktse<strong>in</strong> ist <strong>die</strong> Dumpfheit und Wildheit und <strong>die</strong> Erfahrungen dessen, der das Heilsame<br />

praktizieren möchte, aber <strong>in</strong>nerlich, also <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Geist, abgelenkt ist.<br />

Die Ablenkung aufgrund von Merkmalen ist Abgelenktse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Richtung auf das Ziel. Laut Lama<br />

Tenz<strong>in</strong> bedeutet das, dass wir <strong>in</strong> unserem Verfolgen des Heilsamen abgelenkt s<strong>in</strong>d dadurch, dass sich<br />

andere Motivationen re<strong>in</strong>mischen, z.B. von anderen gepriesen zu werden.<br />

Dann gibt es noch drei weitere Formen von Abgelenktse<strong>in</strong>:<br />

124


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Aufwühlendes Abgelenktse<strong>in</strong> wird erklärt als das grundlegende Abgelenktse<strong>in</strong> durch Vorstellungen<br />

von ‚Ich’ und ‚me<strong>in</strong>’, als Selbst zu existieren. Das ist <strong>die</strong> grundlegende Abgelenktheit, <strong>mit</strong> der wir es<br />

zu tun haben.<br />

Abgelenktse<strong>in</strong> durch Nachdenken kommt von Zweifeln über das, was zu tun und zu lassen ist. Das<br />

hängt <strong>mit</strong> Unklarheiten <strong>in</strong> der spirituellen Ausrichtung zusammen.<br />

Dann wird auch noch von natürlicher Ablenkung gesprochen aufgrund der Aktivität der fünf äußeren<br />

S<strong>in</strong>nesfelder.<br />

Diese Formen der Ablenkung, <strong>die</strong> jetzt erklärt wurden, verh<strong>in</strong>dern zusammen <strong>mit</strong> den vorhergehenden<br />

Faktoren, dass der Geist sich konzentrieren kann, dass er sich sammeln kann und dass er im Heilsamen<br />

aufgehen kann. Sie verh<strong>in</strong>dern also den Weg des Erwachens, speziell verh<strong>in</strong>dern sie das E<strong>in</strong>treten <strong>in</strong><br />

meditative Ausgeglichenheit, <strong>in</strong> Meditation. Allgeme<strong>in</strong> verh<strong>in</strong>dern <strong>die</strong>se Faktoren, dass man heilsame<br />

Handlungen ausführen kann.<br />

Mipham R<strong>in</strong>poche fährt <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em kurzen erklärenden Satz fort:<br />

Diese zwanzig s<strong>in</strong>d sekundäre emotionale Belastungen, weil sie Unterformen der primären Emotionen<br />

s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong>sen nahe stehen.<br />

Fragen:<br />

Verwirrung im Alter<br />

Bei Altersdemenz können wir ja beobachten, dass der Faktor des verwirrten Gedächtnisses ganz dom<strong>in</strong>ant<br />

ist und <strong>die</strong>se Personen ke<strong>in</strong>e Handlungen durchführen können. Sie vergessen immer wieder,<br />

was sie angehen wollten. Bedeutet das, dass sie ihre ganze Praxis verlieren, dass <strong>die</strong> Praxis da<strong>mit</strong><br />

untergeht?<br />

Man kann sagen, dass <strong>die</strong> Praxis e<strong>in</strong> bisschen untertaucht – U-Bootstadium. Was schon gere<strong>in</strong>igt<br />

wurde, bleibt gere<strong>in</strong>igt. Was an heilsamen Tendenzen aufgebaut wurde, wird sich zeigen, wird auch<br />

aktiv. Was an schädlichen, negativen Tendenzen nicht bere<strong>in</strong>igt wurde, wird sich zeigen, weil <strong>die</strong><br />

Kontrolle nachlässt. Wenn sich Körper und Geist dann im Tod trennen, ist der Geist wieder völlig frei,<br />

er ist befreit aus <strong>die</strong>sem e<strong>in</strong>engenden Gefängnis des Körpers. Es s<strong>in</strong>d nach dem Tod ke<strong>in</strong>erlei Spuren<br />

von Demenz mehr zu f<strong>in</strong>den. Dann tauchen wieder alle Zeichen, alle Früchte der Praxis auf.<br />

Wo ist das geistige Abgelenktse<strong>in</strong> zu f<strong>in</strong>den?<br />

Das f<strong>in</strong>det sich unter der <strong>in</strong>neren Ablenkung, das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Schwerfälligkeit, Wildheit und das Erleben<br />

des Geistes. Auch <strong>die</strong> anderen Aspekte, <strong>die</strong> erklärt wurden, s<strong>in</strong>d natürlich geistige Ablenkung. Man<br />

kann <strong>die</strong>se Faktoren nicht vone<strong>in</strong>ander trennen.<br />

Gegen<strong>mit</strong>tel zu Faulheit<br />

Was würde Dir denn als geschicktes Gegen<strong>mit</strong>tel gegen Faulheit, Nachlässigkeit, verwirrtes Gedächtnis<br />

e<strong>in</strong>fallen?<br />

Abgesehen von e<strong>in</strong>em Tritt <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tern…<br />

Von mir aus ruhig auch <strong>in</strong>klusive.<br />

E<strong>in</strong>s nach dem anderen. Ich geh das noch e<strong>in</strong>mal durch und versuche <strong>die</strong> Hilfs<strong>mit</strong>tel, <strong>die</strong> wohl am<br />

wichtigsten ersche<strong>in</strong>en, anzusprechen.<br />

Um Faulheit allmählich aufzulösen, braucht es e<strong>in</strong> immer wieder Nachdenken über <strong>die</strong> Nachteile von<br />

Faulheit und <strong>die</strong> Vorteile davon, se<strong>in</strong>e Zeit für das Heilsame zu nutzen. Man muss über <strong>die</strong> Vor- und<br />

125


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Nachteile nachdenken. Das ist e<strong>in</strong>e Frage der Kontemplation, und das Meditieren über Vergänglichkeit<br />

und Tod ist ganz wichtig, um sich zu motivieren, ke<strong>in</strong>e Zeit zu verlieren.<br />

Weiters ist hilfreich, sich e<strong>in</strong>e äußere Diszipl<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e klare Struktur aufzubauen, was dann den nächsten<br />

Faktor der Nachlässigkeit auch e<strong>in</strong>schränken wird. Man gibt sich e<strong>in</strong>en klaren Rahmen, an den<br />

man sich hält, bis man merkt, dass das Ausführen der Praxis oder des Heilsamen immer mehr Spaß<br />

macht. Wir müssen durch das Halten an e<strong>in</strong>en äußeren Rahmen, an <strong>die</strong> äußere Diszipl<strong>in</strong> so weit kommen,<br />

dass <strong>die</strong> Praxis selbst zum Hauptmotor wird.<br />

Dieser äußere Rahmen be<strong>in</strong>haltet auch, sich e<strong>in</strong>en ethischen Rahmen zu setzen. Wir setzen uns also<br />

e<strong>in</strong>en ethischen und e<strong>in</strong>en Zeitrahmen, woran wir uns halten bis es natürlich, spontan wird, bis es e<strong>in</strong><br />

Bedürfnis wird, so zu leben, so zu handeln, zu praktizieren.<br />

Für <strong>die</strong> nächsten Faktoren – verwirrtes Gedächtnis und mangelnde Bewusstheit – geht es drum, immer<br />

wieder <strong>in</strong>ne zu halten und sich zu bes<strong>in</strong>nen, viele kle<strong>in</strong>e Pausen e<strong>in</strong>zulegen, um <strong>die</strong> Spur zu halten.<br />

Noch bevor wir weit abgedriftet s<strong>in</strong>d, ermöglichen wir uns während des Tages immer wieder, uns auf<br />

das auszurichten, an das zu er<strong>in</strong>nern, was am allerwichtigsten ist.<br />

Praktizierende machen sich oft kle<strong>in</strong>e Schildchen <strong>mit</strong> den Themen, <strong>die</strong> sie wirklich im Geist behalten<br />

wollen, aber nach drei Tagen schaut man kaum noch auf <strong>die</strong>se Schildchen, man muss sie immer wieder<br />

erneuern. Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Momente des Innehaltens, wo man sich sagt: „Da möchte ich eigentlich<br />

lang! Worum geht es hier?“ Das braucht es immer wieder.<br />

‚Mikropausen’ hat Dorje Drölma das <strong>in</strong> Laussedat genannt. Viele Mikropausen e<strong>in</strong>legen ist Heil<strong>mit</strong>tel<br />

für <strong>die</strong>se Faktoren. Z.B. Hände weg von der PC-Tastatur, e<strong>in</strong> Mal durchatmen und man ist schon nicht<br />

mehr derselbe wie vorher, drei Mal tief durchatmen und schon haben wir uns wieder daran er<strong>in</strong>nert,<br />

worum es uns eigentlich geht.<br />

Wenn wir viele solcher Mikropausen – ich würde sie M<strong>in</strong>ipausen nennen – e<strong>in</strong>legen, dann werden wir<br />

sehen, dass unser Handeln sehr viel effektiver wird.<br />

Diese kle<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weise, <strong>die</strong> wir e<strong>in</strong>bauen, um uns im Alltag an etwas zu er<strong>in</strong>nern – Schildchen usw. –<br />

funktionieren so lange, wie sie wirklich unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Man muss Wege f<strong>in</strong>den,<br />

sich selber zu überraschen, da<strong>mit</strong> das Wesentliche wieder <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> kommt.<br />

M<strong>in</strong>i-Pausen<br />

Me<strong>in</strong>e Frage bezieht sich auf <strong>die</strong>se Mikropausen. Wie lange können <strong>die</strong> se<strong>in</strong>? Mir sche<strong>in</strong>t, wenn man<br />

wirklich zum ersten Mal erfährt, dass man <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen grundlegenden Faktoren wie Ärger, Stolz und all<br />

<strong>die</strong>sen D<strong>in</strong>gen graduell unterwegs ist, dass man das alles zutiefst gewesen ist und <strong>die</strong>ser Zustand von<br />

e<strong>in</strong>er hohen <strong>in</strong>neren Erregung und das Abdriften <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e tiefe Dumpfheit irgendwie beg<strong>in</strong>nt<br />

aufzuhören, dann ist me<strong>in</strong>e Erfahrung, dass Pausen sehr lange dauern können.<br />

Das ist doch okay, oder?<br />

Aber ich merke immer mehr, wie wichtig es ist, dass man auf sich hört und lernt, sich selbst zu<br />

erlauben zu sagen: „Ist das jetzt <strong>die</strong> Pause, <strong>die</strong> ich brauche, um aus <strong>die</strong>sem <strong>in</strong>neren Cocktail von<br />

Spannungen und von Metabolischem, was immer da zusammenkommt, herauskomme?“<br />

Ja, du hast dir <strong>die</strong> Antwort selbst gegeben. Die Pausen sollten eigentlich so lange se<strong>in</strong>, dass sie uns ermöglichen,<br />

aus dem Cocktail auszusteigen. Das ist <strong>die</strong> Antwort. Am besten wäre, unser ganzes Leben<br />

wird zu e<strong>in</strong>er Pause. Wenn wir z.B. wie e<strong>in</strong>ige hier im Raum Krankenpfleger s<strong>in</strong>d, dann haben wir<br />

ke<strong>in</strong>e wirklichen Pausen. Wir rennen, müssen uns kümmern, dann haben wir maximal Mikropausen.<br />

Aber natürlich, wenn wir <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em offeneren Geisteszustand ankommen, dann können wir<br />

aktiv se<strong>in</strong>, obwohl der Geist selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er emotionalen Pause, <strong>in</strong> emotionalen Ferien ist.<br />

Praxis-Stress<br />

Wenn man sich e<strong>in</strong>e Struktur gibt, um zu praktizieren, dann sehe ich dar<strong>in</strong> <strong>die</strong> Schwierigkeit, dass das<br />

zu e<strong>in</strong>em Aufgewühltse<strong>in</strong> führen kann.<br />

126


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ja, das stimmt. Wenn <strong>die</strong> Struktur nicht unseren Möglichkeiten angepasst ist, dann wird sie zu e<strong>in</strong>em<br />

Korsett und beg<strong>in</strong>nt, uns aufzuwühlen statt zu beruhigen und zu entspannen, weil es dann noch mehr<br />

Punkte gibt, <strong>die</strong> im Alltag abzuhaken s<strong>in</strong>d. – „Ich muss das noch machen, dann noch e<strong>in</strong> paar Niederwerfungen,<br />

dann noch <strong>die</strong>se Praxis. E<strong>in</strong> bisschen stu<strong>die</strong>ren….“ Da kommt man <strong>in</strong> Praktizierer-Stress.<br />

Das ist <strong>die</strong> gleiche Tendenz, <strong>die</strong> man auch im Alltag hat. Es geht natürlich darum, e<strong>in</strong>e weise Struktur<br />

zu schaffen.<br />

In Gesprächen g<strong>in</strong>g es auch darum, wie sich e<strong>in</strong> ‚guter Bürger’ zu se<strong>in</strong> und e<strong>in</strong> ‚guter Praktizierender’<br />

zu se<strong>in</strong> <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>ander verhalten.<br />

Für mich ist das e<strong>in</strong> und <strong>die</strong>selbe Person, <strong>die</strong> praktiziert, Familienvater ist, e<strong>in</strong>en Beruf hat. Diese Person<br />

praktiziert den ganzen Tag. Die Praxis ist <strong>die</strong> Arbeit <strong>mit</strong> dem Geist <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen vielen verschiedenen<br />

Situationen: wie wir <strong>mit</strong> dem Geist umgehen, wie wir fließen, wie wir <strong>die</strong> Situationen nutzen, um <strong>in</strong><br />

uns den Dharma zu vertiefen.<br />

Vergessen der Praxis<br />

Es gibt Menschen, <strong>die</strong> vergessen, dass sie vergessen haben, <strong>die</strong> auch über lange Zeit nicht bemerken,<br />

dass sie völlig von ihrem e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>geschlagenen Weg abgekommen s<strong>in</strong>d. Welche Faktoren bewirken<br />

e<strong>in</strong> so völliges Vergessen, s<strong>in</strong>d das Ängste oder mangelndes Vertrauen?<br />

Auf jeden Fall Ängste, Begierden, Abneigungen. Die Aktivität der Geistesgifte führt auf jeden Fall zu<br />

solchem Vergessen, Vertrauen eher nicht, es sei denn es wäre deplatziertes Vertrauen, das nicht<br />

heilsam ist. Aber normalerweise ist unser Vertrauen hier so def<strong>in</strong>iert, dass es so ausgerichtet ist, unserem<br />

Leben e<strong>in</strong>e sichere Richtung zu geben, was wir Zuflucht nennen. Das ist ausgerichtet auf <strong>die</strong><br />

Qualitäten des Erwachens und ist als solches ke<strong>in</strong>e Quelle des Vergessens sondern das Heil<strong>mit</strong>tel des<br />

Vergessens.<br />

Es wäre doch sehr hilfreich, wenn man <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>em Fall <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Begleiter auf dem spirituellen Weg<br />

Kontakt hat, der e<strong>in</strong>en dann er<strong>in</strong>nern kann.<br />

Ja, das ist richtig und geht auch, aber das Er<strong>in</strong>nern ist e<strong>in</strong> recht delikater Prozess. Weil <strong>die</strong>se H<strong>in</strong>tergrund-Faktoren<br />

von Angst, Begierde und Abneigung im Spiel s<strong>in</strong>d, ist das Er<strong>in</strong>nern an das, was z.B.<br />

jemand vor fünf Jahren als Weg e<strong>in</strong>geschlagen hat und jetzt nicht mehr weiter geht, e<strong>in</strong>e Konfrontation<br />

<strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen emotionalen Schleiern, <strong>die</strong> zugleich aktiv s<strong>in</strong>d. Daher kann das zu starker Ablehnung<br />

führen und auch zum Konflikt, weil es sehr unangenehm ist, so <strong>in</strong> den Spiegel zu schauen. Aber<br />

wichtig wäre es schon, wenn das dann angenommen wird.<br />

* * *<br />

Wir s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> letzten zwanzig Faktoren schneller durchgegangen, weil sie e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation aus den<br />

grundlegenden emotionalen Belastungen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> wir so wie auch <strong>die</strong> heilsamen Faktoren sehr ausführlich<br />

besprochen haben. Deswegen nehme ich mir für <strong>die</strong> letzten Faktoren nicht so viel Zeit.<br />

Die nächste Gruppe besteht aus vier Faktoren, von denen wir nicht a priori sagen können, ob sie<br />

heilsam s<strong>in</strong>d oder nicht-heilsam, das hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Wir werden dann bei<br />

den e<strong>in</strong>zelnen sehen, worauf es jeweils ankommt.<br />

127


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Die vier veränderlichen Geistesaktivitäten<br />

48) Schlaf<br />

be<strong>in</strong>haltet, dass sich das Bewusstse<strong>in</strong> der fünf S<strong>in</strong>nestore im Schlaf nach <strong>in</strong>nen wendet und nicht<br />

mehr unterscheidet, ob etwas zum Beispiel heilsam oder nicht heilsam, zutreffend oder nicht<br />

zutreffend, rechtzeitig oder nicht rechtzeitig ist. Schlaf gehört zur Kategorie von Verblendung<br />

und unterstützt das Abgleiten – <strong>in</strong> unbewusstes Handeln, <strong>in</strong> schädliches Handeln <strong>in</strong>klusive Gelübde-<br />

Übertretungen.<br />

Wenn man den Schlaf beschreiben möchte, so kann man sagen, dass das Bewusstse<strong>in</strong> sich nach <strong>in</strong>nen<br />

zieht. Der Geist wendet sich nach <strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> fünf S<strong>in</strong>nestore s<strong>in</strong>d nicht aktiviert. Wir nehmen nicht<br />

bewusst wahr, <strong>in</strong> welcher Haltung unser Körper ist, wir nehmen <strong>die</strong> Berührung <strong>mit</strong> der Decke nicht<br />

mehr wahr. Man kann uns sogar anfassen, und wir kriegen es nicht <strong>mit</strong>. Wir hören nicht, wir riechen<br />

nicht, wir schmecken nicht, wir sehen nicht, all das jedoch nur bis zu e<strong>in</strong>er gewissen Schwelle. Wenn<br />

der Reiz <strong>die</strong>se Schwelle überschreitet, also <strong>die</strong> Berührung oder e<strong>in</strong> Geräusch usw., zu stark wird, dann<br />

wendet sich das Bewusstse<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>nestor zu, wir nehmen bewusst wahr und wachen auf. Das ist<br />

das Ende des Schlafes.<br />

Im Schlaf unterscheiden wir nicht, ob etwas heilsam oder nicht heilsam ist. Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geisteszustand,<br />

<strong>in</strong> dem das unterscheidende Erkennen und Benennen und das Wissen darum, <strong>in</strong> welche Richtung<br />

wir handeln wollen, was wir tun und nicht tun wollen, außer Kraft gesetzt ist. Auch un<strong>mit</strong>telbar<br />

nach dem Schlaf s<strong>in</strong>d wir noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er herabgesetzten Klarheit und unterscheiden nicht so recht, was<br />

s<strong>in</strong>nvoll und was nicht s<strong>in</strong>nvoll ist, wir können <strong>in</strong> Handlungen abgleiten, <strong>die</strong> wir bei voller Bewusstheit<br />

nicht machen würden. Deswegen wird Schlaf zur Kategorie der Verblendung oder Unwissenheit<br />

gezählt.<br />

Wenn man das hört, fragt man sich, warum <strong>die</strong>se Gestaltung, <strong>die</strong>se Erfahrung, nicht unter <strong>die</strong> nichtheilsamen<br />

Faktoren fällt. Das hängt da<strong>mit</strong> zusammen, dass der Schlaf nur dann nicht heilsam ist, wenn<br />

<strong>die</strong>se Verblendung aktiv ist. Schlaf hat natürlich auch <strong>die</strong> Qualität, dass wir uns ausruhen, dass der angespannte<br />

Geist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Pause <strong>in</strong> Dumpfheit verweilen darf. Der Geist wird sich wieder etwas<br />

frischer anfühlen, wenn wir wieder zum Bewusstse<strong>in</strong> zurückkehren.<br />

Der Schlaf wird aber nicht aufgrund <strong>die</strong>ser Entspannung als veränderliche oder nicht bestimmte Geistesaktivität<br />

benannt, sondern aufgrund der Möglichkeit, im Schlaf im Gewahrse<strong>in</strong> zu verweilen.<br />

In der erhellenden Klarheit des Geistes, <strong>die</strong> wir früher als klares Licht übersetzt haben, kann der Yogi<br />

praktizieren und <strong>in</strong> der Natur des Geistes verweilen. Es ist sogar e<strong>in</strong>e Situation, <strong>in</strong> der sich <strong>die</strong> Verwirklichung<br />

unseres Geistes vertiefen kann, sich ausweiten kann. Der Schlaf verh<strong>in</strong>dert nicht das Erwachen,<br />

sondern ist sogar für <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> ihn nutzen lernen, e<strong>in</strong>e ideale Praxissituation. Von daher<br />

wird er nicht von vorne here<strong>in</strong> den nicht-heilsamen Geistesaktivitäten zugeordnet. Das heißt, für e<strong>in</strong>en<br />

Yogi hört <strong>die</strong> Erfahrung ‚Schlaf’ nicht auf. Es ist Schlaf, aber bei klarer Bewusstheit, ganz im Unterschied<br />

zum normalen, unbewussten Schlaf.<br />

Bei jedem der anderen Faktoren könnte man ja auch sagen, dass er <strong>die</strong> Erkenntnis der Natur des Geistes<br />

ermöglicht. Aber <strong>in</strong> dem Moment, wo <strong>die</strong> Natur des Geistes erkannt wird, ist <strong>die</strong>ser Faktor nicht<br />

mehr vorhanden, der ist dann vorbei. Deswegen kann man ihn nicht veränderlich nennen, er wird<br />

aufgelöst durch <strong>die</strong> Erkenntnis, während der Schlaf weiter geht, er bleibt weiterh<strong>in</strong> bestehen.<br />

128


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

49) Bedauern<br />

ist mentale Niedergeschlagenheit aufgrund von Unglücklichse<strong>in</strong> über frühere Handlungen. Es<br />

verh<strong>in</strong>dert ruhigen Geist.<br />

Wenn es zu Bedauern kommt, dann ist das <strong>in</strong> Bezug auf Körper, Rede und Geist, also Bedauern von<br />

Gedanken, Worten und Handlungen. Wir s<strong>in</strong>d etwas niedergeschlagen, wenn wir bedauern, s<strong>in</strong>d wir<br />

nicht freudig. Wir s<strong>in</strong>d unglücklich über frühere Handlungen <strong>mit</strong> Körper, Rede und Geist und s<strong>in</strong>d<br />

deshalb aufgewühlt. Solange der Faktor des aktiven Bedauerns da ist, ist der Geist beschäftigt, es ist<br />

e<strong>in</strong>e Emotion, kann man sagen, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Bewegung des Bedauerns.<br />

Dieser Moment des Bedauerns ist nichts Angenehmes. Nehmen wir e<strong>in</strong> ganz kle<strong>in</strong>es Beispiel: Wir<br />

gehen durch den Hof, sehen im letzten Moment aus dem Augenw<strong>in</strong>kel e<strong>in</strong>en Käfer, doch wir können<br />

es nicht mehr verh<strong>in</strong>dern, dass wir drauf steigen und der Käfer ist zerquetscht. In dem Moment ist<br />

sofort e<strong>in</strong> Bedauern im Herzen, es ist wie e<strong>in</strong> Stich im Herzen. Es ist ke<strong>in</strong> angenehmes Gefühl, es ist<br />

nicht e<strong>in</strong> Geistesfaktor, der das Herz öffnet. Es tut uns weh, wir s<strong>in</strong>d niedergeschlagen, wir bedauern.<br />

Das kann natürlich noch viel komplexere Handlungen betreffen. Deswegen würden wir das Bedauern<br />

nicht direkt <strong>in</strong> <strong>die</strong> heilsamen Faktoren e<strong>in</strong>reihen.<br />

Wenn sich das Bedauern tatsächlich auf nicht-heilsame Handlungen bezieht, ist es aber tatsächlich<br />

etwas Positives. Wir bedauern, jemandem geschadet zu haben, etwas Schädliches getan zu haben und<br />

öffnen da<strong>mit</strong> das Tor für heilsames Handeln <strong>in</strong> der Zukunft. Es hat also langfristig heilsame Folgen.<br />

Nun ist Bedauern allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>esfalls für schädliche Handlungen reserviert. Es gibt leider auch<br />

Situationen, wo wir etwas durchaus Heilsames und S<strong>in</strong>nvolles bedauern. Wir haben z.B. jemandem<br />

geholfen. Diese e<strong>in</strong>e Handlung wurde ganz im Strom der Handlungen des Erwachens ausgeführt, es<br />

war e<strong>in</strong>e gute Motivation <strong>in</strong> Richtung auf etwas Heilsames, und nachher bedauern wir, der- oder demjenigen<br />

geholfen zu haben. Die Gründe für das Bedauern s<strong>in</strong>d dann emotionaler Natur. Es kommen<br />

Stolz, Eifersucht, Begierde, Abneigung und andere Faktoren <strong>mit</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> zu <strong>die</strong>sem Bedauern führen.<br />

Dieses Bedauern entsteht aus Ich-Bezogenheit und nicht aufgrund von Weisheit. Es ist nicht das<br />

Erkennen von etwas, das zu e<strong>in</strong>er heilsamen Umkehr führt, sondern durch <strong>die</strong>ses Bedauern fallen wir<br />

zurück <strong>in</strong> Ich-Bezogenheit.<br />

Deswegen können wir Bedauern nicht e<strong>in</strong>fach als heilsamen oder nicht-heilsamen Faktor e<strong>in</strong>stufen. Es<br />

kommt darauf an, auf was es sich bezieht und ob es aus Weisheit und Mitgefühl entsteht oder aufgrund<br />

von Ich-Bezogenheit, und dementsprechend ist es dann heilsam oder nicht-heilsam. Es hängt also auch<br />

von den Ursachen und den Auswirkungen <strong>die</strong>ses Bedauerns ab.<br />

Die beiden nächsten Faktoren – Nachdenken und genaues Untersuchen – s<strong>in</strong>d eigentlich e<strong>in</strong> etwas<br />

oberflächliches Nachdenken und dann e<strong>in</strong> genaueres Untersuchen. Sie bauen aufe<strong>in</strong>ander auf.<br />

50) Nachdenken<br />

ist, beobachteten D<strong>in</strong>gen aufgrund von Interesse und Verstehen mental nachzugehen. Dabei<br />

handelt es sich nur um e<strong>in</strong> vages, allgeme<strong>in</strong>es Erfassen von S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halten <strong>in</strong> ihren groben Umrissen,<br />

so wie beim Wahrnehmen e<strong>in</strong>er weit entfernten Form, wo nicht zu unterscheiden ist, ob<br />

es sich um e<strong>in</strong>e Tonschale oder Vase handelt.<br />

Mit <strong>die</strong>sem ersten H<strong>in</strong>schauen und darüber Nachdenken, um was es sich handeln könnte, ist e<strong>in</strong> oberflächliches<br />

oder allgeme<strong>in</strong>es Erfassen von S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halten geme<strong>in</strong>t. Man schaut z.B. zum Altar, sieht<br />

Lichter, man sieht Kerzen brennen, man kann noch nicht genau erkennen, wie <strong>die</strong>ser Kerzenhalter<br />

genau aufgebaut ist, um wie viele Kerzen es sich handelt. Man kann nicht genau sehen, ob es e<strong>in</strong><br />

blaues Glas ist oder ob es e<strong>in</strong>e Tasse ist, <strong>die</strong> da benutzt wird. Wir sehen es nicht genau, aber <strong>die</strong> Faktoren<br />

des Interesses, des H<strong>in</strong>schauens, des Dabeibleibens und des Überlegens kommen zusammen und<br />

es kommt zu e<strong>in</strong>em ersten Erfassen des Objekts. Mit dem Beschreiben des nächsten Faktors wird dann<br />

noch deutlich, was da<strong>mit</strong> genau geme<strong>in</strong>t ist.<br />

129


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

51) Genaues Untersuchen<br />

ist das <strong>in</strong>s E<strong>in</strong>zelne gehende mentale Betrachten <strong>die</strong>ser S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halte, gestützt auf Interesse und<br />

Verstehen, wodurch fe<strong>in</strong>e Besonderheiten entsprechend erfasst werden, so wie beim Erkennen,<br />

dass es sich um e<strong>in</strong>e neue, unbeschädigte Vase handelt.<br />

Es handelt sich also e<strong>in</strong>fach um e<strong>in</strong>e Fortsetzung der Beschäftigung <strong>mit</strong> dem Objekt bis man es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Besonderheiten erfasst hat und es def<strong>in</strong>ieren kann.<br />

Diese beiden Formen des Analysierens – Nachdenken und genaues Untersuchen – s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> allen sechs<br />

S<strong>in</strong>nesbereichen aktiv. – Hier s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Bespiele aus dem Visuellen genommen worden, es spielt sich<br />

aber <strong>in</strong> allen sechs S<strong>in</strong>nen, auch im mentalen, ab. Es hängt davon ab, worüber man nachdenkt, wo<strong>mit</strong><br />

man sich beschäftigt, ob es sich um e<strong>in</strong>e heilsame, e<strong>in</strong>e neutrale oder gar um e<strong>in</strong>e schädliche Gestaltung<br />

handelt.<br />

Wenn es um das Erfassen von Objekten der fünf äußeren S<strong>in</strong>ne geht, so ist das eigentlich e<strong>in</strong> neutraler<br />

Akt. Wenn wir versuchen, genauer zu klären, um was für e<strong>in</strong>e visuelle Empf<strong>in</strong>dung, um was für e<strong>in</strong>en<br />

Geruch usw. es sich handelt, so ist das weder heilsam noch schädlich. Die Ausnahme ist – und <strong>die</strong><br />

wird auch <strong>in</strong> den Texten angeführt –, wenn wir uns <strong>mit</strong> Objekten befassen, <strong>die</strong> bereits <strong>mit</strong> Begierde<br />

verbunden s<strong>in</strong>d. Wir verweilen im Nachdenken oder im genaueren Untersuchen von Objekten, <strong>die</strong><br />

bereits <strong>mit</strong> Begierde, Abneigung oder anderen Emotionen verbunden s<strong>in</strong>d. Dann ist das natürlich ke<strong>in</strong><br />

neutrales Beschäftigen mehr, sondern hat un<strong>mit</strong>telbar Auswirkung auf <strong>die</strong> Emotionalität <strong>in</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e<br />

oder andere Richtung.<br />

Wenn wir <strong>die</strong>se Fähigkeiten des Nachdenkens und Untersuchens auf Nicht-Heilsames ausrichten, z.B.<br />

darauf, wie man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Bank e<strong>in</strong>bricht oder wie man jemanden umbr<strong>in</strong>gt, dann ist man klar dabei,<br />

nicht-heilsame Tendenzen zu verstärken, es ist e<strong>in</strong> nicht-heilsames Nachdenken. Wenn wir aber untersuchen,<br />

was <strong>mit</strong> Vergänglichkeit, Wandel ist, und dadurch zu e<strong>in</strong>em Verständnis kommen, ist das<br />

etwas Heilsames. So ist es <strong>mit</strong> allen Dharma-Inhalten, <strong>mit</strong> allem Nachdenken und Untersuchen, was<br />

zu tieferem Verständnis, zu Offenheit und zum Erwachen führt. Das ist heilsam.<br />

Wenn der Geist jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Nachdenken und Untersuchen verweilt, das durch <strong>die</strong> Geistesgifte geprägt<br />

ist, dann ist es nicht heilsam. Diese Form von Nachdenken über Emotionales und im emotionalen<br />

Verfe<strong>in</strong>ern und Analysieren, ohne dass da Weisheit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>kommt, ist e<strong>in</strong> Verstricken im Nicht-<br />

Heilsamen. Deswegen kann man <strong>die</strong>se beiden Faktoren weder so noch so klassifizieren, sie werden<br />

veränderlich bzw. unbestimmt genannt.<br />

Dies sagt auch Mipham R<strong>in</strong>poche im folgenden Absatz für alle vier Faktoren.<br />

Sie werden <strong>die</strong> vier „veränderlichen“ Geistesaktivitäten genannt, weil sie aufgrund von spezifischen<br />

Motivationen und Absichten entweder heilsam, schädlich oder unbestimmt se<strong>in</strong> können.<br />

Unbestimmt ist das, was wir zunächst e<strong>in</strong>mal als neutral wahrnehmen.<br />

Die Schüler Buddhas, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en Unterweisungen befasst und über sie nachgedacht haben,<br />

haben gesehen, dass Buddha Shakyamuni <strong>die</strong>se vier Faktoren ke<strong>in</strong>er bestimmten Kategorie zugeordnet<br />

hat, sondern dass er beschrieben hat, wie sie mal heilsam, dann wieder nicht heilsam se<strong>in</strong> können oder<br />

e<strong>in</strong>fach nicht weiter bestimmt, neutral. Dadurch ist dann <strong>die</strong>se letzte Kategorie der Geistesfaktoren<br />

entstanden.<br />

Der folgende Absatz bezieht sich auf alle 51 Geistesaktivitäten:<br />

Diese Geistesaktivitäten beschreiben allgeme<strong>in</strong> viele der grundlegenden Geisteszustände sowie<br />

<strong>die</strong> Hauptmerkmale von heilsamen und schädlichen Geistesaktivitäten. Wir sollten aber wissen,<br />

dass es aufgrund von besonderen Formen des Erfassens, wie verschiedene Interessen und Unterscheidungen,<br />

viele zusätzliche Ausformungen gibt, wie Trauer und Frohs<strong>in</strong>n, Schwermut und<br />

Leichtigkeit, Geduld und Ungeduld und dergleichen. Sie alle gehören zu den „<strong>mit</strong> geistigen Vorgängen<br />

e<strong>in</strong>hergehenden Gestaltungen“.<br />

130


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Zusammenfassung<br />

Wir waren ausgegangen von der Frage, <strong>die</strong> Buddha Shakyamuni gestellt wurde: „Gibt es e<strong>in</strong> Selbst?<br />

Gibt es e<strong>in</strong> Ich, etwas, was wir als e<strong>in</strong>e Ich-Identität beschreiben könnten?“<br />

Man könnte <strong>die</strong> Frage auch so stellen: „Gibt es so etwas wie e<strong>in</strong>e Seele, wie e<strong>in</strong> Individuum, e<strong>in</strong>e nicht<br />

teilbare <strong>in</strong>dividuelle E<strong>in</strong>heit, <strong>die</strong> bleibend ist, <strong>die</strong> nicht dem Wandel ausgesetzt ist?“ Das ist <strong>die</strong> grundlegende<br />

Frage. Auf Sanskrit würde <strong>die</strong> Frage so ausgedrückt se<strong>in</strong>: „Gibt es e<strong>in</strong> Atman? Gibt es e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle<br />

Seele, e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles, bleibendes Pr<strong>in</strong>zip?“ Die Antwort des Buddha ist: „Ne<strong>in</strong>! Es gibt<br />

ke<strong>in</strong> solches <strong>in</strong>dividuelles, bleibendes Pr<strong>in</strong>zip.“<br />

Der Buddha beg<strong>in</strong>nt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ausführlicheren Erklärung <strong>mit</strong> dem leichter zu Verstehenden und schreitet<br />

fort zum schwerer Verständlichen. Zuerst erklärt er <strong>die</strong> Formen. Als Formen wird all das beschrieben,<br />

was <strong>mit</strong> den sechs S<strong>in</strong>nen wahrgenommen wird, <strong>die</strong> Bilder, <strong>die</strong> Formen, <strong>die</strong> durch visuelle Wahrnehmung<br />

bis h<strong>in</strong> zum Mentalen entstehen. Da werden Formen wahrgenommen. Und <strong>die</strong> erste Frage<br />

ist: „Gibt es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Formen e<strong>in</strong> Ich? Gibt es e<strong>in</strong> Ich, gibt es e<strong>in</strong> Atman <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Formen?“<br />

Wir sehen, dass es sich bei den Formen um ständig wechselnde S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halte handelt. Gibt es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Wandel der S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halte e<strong>in</strong> Ich? Um es noch e<strong>in</strong>facher zu machen: Gibt es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Körper,<br />

den wir anfassen, fühlen, riechen können usw. e<strong>in</strong> Ich?<br />

Ihr traut euch nicht mehr zu sagen: „Ja!“<br />

Wenn mich jemand schlägt oder körperlich angreift, dann sage ich: „Er schlägt mich!“ Ich verteidige<br />

mich. Das ist ganz offenkundig e<strong>in</strong>e Ich-Identifikation, noch verbunden <strong>mit</strong> den Formen der S<strong>in</strong>neswahrnehmung,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Fall taktil, visuell usw. s<strong>in</strong>d. Wir sche<strong>in</strong>en trotz besseren Wissens, trotz<br />

anderer Gedanken, <strong>die</strong> wir haben, wenn der Lama uns <strong>die</strong>se Frage stellt, <strong>in</strong> der konkreten emotionalen<br />

Situation doch noch anzuhaften, doch noch zu denken, dass es da e<strong>in</strong> Ich gibt.<br />

Wenn wir so z.B. angegriffen werden, haben wir <strong>die</strong>ses Ich-Gefühl. Dieses Dilemma zwischen dem<br />

<strong>in</strong>tellektuellen Verstehen und dem emotionalen Erleben – wir identifizieren uns emotional und <strong>in</strong>tellektuell<br />

verstehen wir schon, dass es da ke<strong>in</strong> Ich gibt – zieht sich durch alle <strong>Skandhas</strong> durch. Es ist genauso<br />

<strong>mit</strong> den Empf<strong>in</strong>dungen: me<strong>in</strong>e angenehmen und unangenehmen Empf<strong>in</strong>dungen, me<strong>in</strong>e Unterscheidungen,<br />

d.h. <strong>die</strong> Begriffe, <strong>mit</strong> denen ich mich <strong>in</strong> der Welt zurechtf<strong>in</strong>de, me<strong>in</strong>e Geisteszustände,<br />

das, was ich an Offenheit und Emotionen erlebe, wenn ich traurig b<strong>in</strong>, wenn ich ärgerlich b<strong>in</strong>, wenn<br />

ich mich freue. Immer ist da das Gefühl von e<strong>in</strong>em Ich.<br />

Der Vorschlag des Buddha wäre, e<strong>in</strong>fach nur wahrzunehmen „Da ist Freude“, „Da ist Trauer“ und uns<br />

nicht zu identifizieren. Wie kriegen wir <strong>die</strong> beiden zusammen, das <strong>in</strong>nere Erleben und das <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Verstehen?<br />

Ich werde jetzt doch nicht euch fragen, sondern <strong>die</strong> Antwort selber geben:<br />

Um <strong>die</strong>se Brücke vom <strong>in</strong>tellektuellen Verstehen <strong>in</strong>s Erleben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu schaffen, braucht es Achtsamkeit,<br />

volles Gewahrse<strong>in</strong> von Moment zu Moment. Im Erleben ist es dann tatsächlich möglich zu sehen,<br />

dass nicht das Erleben e<strong>in</strong>es Ichs auftaucht, sondern dass das Erleben <strong>die</strong>ser verschiedenen Geisteszustände<br />

auftaucht, z.B. wie Objekte wahrgenommen werden, wie sich <strong>die</strong>se Wahrnehmung wieder auflöst,<br />

wie es dafür ke<strong>in</strong> Ich braucht, wie Stimmungen entstehen und vergehen, wie Gefühle auftauchen<br />

und schon wieder vorbei s<strong>in</strong>d. Es braucht ganz fe<strong>in</strong>e Wahrnehmungen, um tatsächlich <strong>in</strong>nerlich nachvollziehen<br />

zu können, was wir jetzt schon <strong>in</strong>tellektuell zu verstehen beg<strong>in</strong>nen.<br />

Mit <strong>die</strong>sem Prozess des H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>-Schauens fahren wir so lange fort, bis unsere eigene Erfahrung – durch<br />

<strong>die</strong> Last der Beweisstücke, kann man sagen – so überzeugend und klar dar<strong>in</strong> ist, dass es ke<strong>in</strong> Selbst,<br />

ke<strong>in</strong>e Seele gibt, dass sich unser Glauben, dass es e<strong>in</strong>e Seele gibt, auflöst. Das ist zunächst e<strong>in</strong>mal am<br />

Bröckeln, der Glaube ist immer wieder e<strong>in</strong>mal da und dann wieder schwächer, und im völlig klaren<br />

131


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

direkten Sehen der Natur der D<strong>in</strong>ge löst er sich so auf, dass man ihn gar nicht mehr erzeugen kann.<br />

Man ist nicht mehr <strong>in</strong> der Lage, den Glauben an e<strong>in</strong> Selbst so zu erzeugen, wie er früher <strong>die</strong> ganze Zeit<br />

da war. Der Glaube an e<strong>in</strong> Selbst ist <strong>in</strong> sich zusammengebrochen durch den Beweis des Gegenteils aus<br />

der direkten Beobachtung. Das ist der Moment, wo <strong>die</strong> tatsächliche Befreiung beg<strong>in</strong>nt, da ist tatsächliche<br />

Freiheit, und von da an weitet sich <strong>die</strong>se Erkenntnis <strong>in</strong> alle Erfahrungsbereiche h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> aus, <strong>in</strong> alle<br />

Lebensbereiche.<br />

Und darum geht es: <strong>mit</strong> der jetzt gewonnenen <strong>in</strong>tellektuellen Klarheit zu untersuchen und immer bewusst<br />

zu bleiben, immer im direkten Erleben zu bleiben und dann und wann zu schauen, wo denn da<br />

im Erleben e<strong>in</strong> Ich se<strong>in</strong> könnte. Das ist <strong>die</strong> Gründlichkeit des H<strong>in</strong>schauens, <strong>die</strong> kann uns niemand<br />

abnehmen. Diese Gründlichkeit braucht es, und genau darum geht es: das nicht zu vergessen. Das ist<br />

der essentielle Punkt der Praxis.<br />

Wenn wir den vergessen, wenn wir nicht mehr h<strong>in</strong>schauen, ob es e<strong>in</strong> Selbst gibt oder nicht, dann kann<br />

unser Glaube an das Selbst, unsere Ich-Bezogenheit ungeh<strong>in</strong>dert weiter gehen. Sie löst sich nur auf<br />

durch das immer wieder H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>-Schauen. Genau da dürfen wir nicht vergesslich, nachlässig werden.<br />

Wir müssen uns immer wieder daran er<strong>in</strong>nern, dass wir <strong>die</strong>sen wesentlichen Punkt der Praxis nicht<br />

vergessen, nicht unterlassen.<br />

Wir müssen <strong>in</strong> uns den Blick der Weisheit freisetzen, der das Dunkel der Unwissenheit auflöst. Nur<br />

das wird uns Befreiung <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Leben ermöglichen. Dharmapraxis, <strong>die</strong> das nicht tut, wird auch<br />

heilsam se<strong>in</strong>, aber sie wird nicht <strong>die</strong>se entscheidende Erkenntnis bewirken. Das muss dann auf später<br />

warten.<br />

Wer se<strong>in</strong> kostbares menschliches Leben wirklich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em höchsten S<strong>in</strong>ne nutzen möchte, wird sich<br />

auf das Verständnis <strong>die</strong>ser befreienden Weisheit ausrichten. Das ist, was wir Prajnapara<strong>mit</strong>a nennen,<br />

<strong>die</strong> transzendente, befreiende Weisheit. Dar<strong>in</strong> f<strong>in</strong>det das menschliche Leben se<strong>in</strong>en vollkommenen<br />

S<strong>in</strong>n.<br />

Ich habe <strong>die</strong>se Unterweisung über das Nicht-Selbst schon viele Male gehört und möchte gerne wissen,<br />

wie ich <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>er Praxis dazu fortfahren soll. Ich habe z.B. gelernt, den Geist nicht so stark vom<br />

Körper bee<strong>in</strong>flussen zu lassen und herausgefunden, dass Geist und Körper durchaus e<strong>in</strong>e gewisse<br />

Unabhängigkeit haben können, d.h. wenn der Körper schwer ist und da<strong>mit</strong> nichts anzufangen ist, dann<br />

heißt das nicht, dass auch <strong>mit</strong> dem Geist nichts anzufangen ist. Wie kann ich <strong>die</strong> weiteren Schritte<br />

setzen?<br />

Herauszuf<strong>in</strong>den „Ich b<strong>in</strong> nicht me<strong>in</strong> Körper!“ ist bereits e<strong>in</strong> erster, wichtiger Schritt. Dann geht <strong>die</strong><br />

Reise weiter, da bist du, da seid ihr bereits dabei: „Ich b<strong>in</strong> auch nicht unbed<strong>in</strong>gt me<strong>in</strong>e Lebenserfahrung.“<br />

Das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> vielen Millionen Erfahrungen <strong>die</strong>ses Lebens, da ist aber nichts Stabiles dr<strong>in</strong> und<br />

nichts Bleibendes. Die gemachten Erfahrungen s<strong>in</strong>d vorbei – „Das b<strong>in</strong> nicht ich!“ – das ist e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong>ses<br />

Spiel der Erfahrungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geistesstrom. Da stellt sich <strong>die</strong> Frage: „Wenn ich all das nicht b<strong>in</strong>,<br />

wer b<strong>in</strong> ich denn dann?“<br />

Und das ist <strong>die</strong> Frage, <strong>die</strong> jetzt zu stellen ist: Was ist eigentlich me<strong>in</strong>e Ego-Festung? Was ist <strong>die</strong> Festung<br />

me<strong>in</strong>es Ich-Anhaftens? An was glaube ich denn noch als wirklich me<strong>in</strong>? Was b<strong>in</strong> ich denn <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er eigenen Sichtweise? Mit was identifiziere ich mich?<br />

Diese Frage muss sich jeder stellen! Woran hängen wir denn noch als das Ich? Was haben wir bereits<br />

losgelassen als Nicht-Ich? Was ist uns bereits klar geworden: „Das kann es nicht se<strong>in</strong>!“ und wo s<strong>in</strong>d<br />

wir e<strong>in</strong>fach noch nicht klar, ob es das ist oder nicht ist?<br />

Wir können den ganzen Weg, den wir bis jetzt <strong>in</strong> den Aussagen von Selbst und Nicht-Selbst beschrieben<br />

haben, aber auch anders herum beschreiben als das Entdecken des Bodhicitta. Die ganze<br />

Unterweisung könnte so gegeben werden, dass wir im Entdecken des relativen Bodhicitta <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit<br />

allmählich schwächen und im Entdecken des letztendlichen Bodhicitta den Freiraum entdecken,<br />

der ohne jegliche Ich-Bezogenheit ist. Das ist dasselbe <strong>mit</strong> ganz anderen Worten ausgedrückt.<br />

Was vorher als das Auflösen von blockierenden Vorstellungen dargestellt wird, wird dann als das Ent-<br />

132


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

decken von befreienden Geistesräumen dargestellt. Es ist e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> Kehrseite der Medaille – mal als<br />

das Auflösen des Beh<strong>in</strong>dernden und dann als das Entdecken des Befreienden.<br />

Natürlich haben wir alle viel mehr Lust, das Befreiende zu entdecken als uns <strong>mit</strong> dem H<strong>in</strong>dernden zu<br />

befassen, aber es ersche<strong>in</strong>t weise zu se<strong>in</strong>, beides zu tun, mal <strong>mit</strong> dem e<strong>in</strong>en zu arbeiten und mal <strong>mit</strong><br />

dem anderen, und nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em naiven Anhaften an Bodhicitta <strong>die</strong> wesentliche Arbeit am Auflösen<br />

der Ich-Bezogenheit vielleicht doch nicht zu tun, weil wir auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em falschen Verständnis von<br />

Bodhicitta s<strong>in</strong>d.<br />

Die Schwierigkeit für uns ist, dass wir sehr gerne <strong>die</strong> Unterweisungen über Bodhicitta hören, es aber<br />

oft als etwas ermüdend erleben, uns <strong>mit</strong> dem ganzen Ich-Anhaften herumzuschlagen, es zu analysieren<br />

und h<strong>in</strong>zuschauen. Was dann aber passiert, ist, dass wir uns <strong>mit</strong> dem Bodhicitta identifizieren, dass wir<br />

uns <strong>mit</strong> den Mahayana-Lehren identifizieren und sagen: „Ich b<strong>in</strong> jemand, der Bodhicitta praktiziert.<br />

Ich helfe und unterstütze.“ Da<strong>mit</strong> s<strong>in</strong>d wir dabei, <strong>die</strong> ich-bezogenen Tendenzen <strong>in</strong> das Heilsame e<strong>in</strong>zubauen<br />

und nennen es dann Bodhicitta, es ist aber heilsames Handeln <strong>mit</strong> Ich-Bezogenheit.<br />

Es braucht <strong>die</strong>sen Blick der Weisheit, der das heilsame Handeln von der Ich-Bezogenheit befreit. Nur<br />

dann führt es raus aus Samsara, ansonsten verbessert es e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> nächste Wiedergeburt und lässt<br />

uns weiter <strong>in</strong> Ich-Bezogenheit kreisen. Es braucht also beides. Es braucht das Auflösen des Beh<strong>in</strong>dernden<br />

zusammen <strong>mit</strong> dem Hervorbr<strong>in</strong>gen des Befreienden. Die beiden arbeiten zusammen.<br />

Die Fallstricke e<strong>in</strong>er Praxis, <strong>die</strong> nur auf gutem Herzen beruht und sich dann Bodhicitta-Praxis nennt,<br />

s<strong>in</strong>d, dass wir <strong>mit</strong> all den gewohnheitsmäßigen Tendenzen des Ich-Anhaftens <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Bodhicitta-<br />

Praxis h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gehen und dann z.B. glauben, es gäbe das Bodhicitta, es gäbe Bodhicitta tatsächlich. Hat<br />

denn Bodhicitta e<strong>in</strong>e wirkliche Existenz? Existiert es mehr als Ärger? Ne<strong>in</strong>! Ärger und Bodhicitta<br />

haben gleich wenig Existenz.<br />

Es gibt <strong>in</strong> Wirklichkeit gar ke<strong>in</strong> Bodhicitta. Das ist Weisheit. Wenn wir das verstehen, dann wissen<br />

wir, was <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Dynamik geme<strong>in</strong>t ist, <strong>die</strong> zum Erwachen führt und wir werden nicht wieder neu<br />

vergegenständlichen und uns identifizieren auf dem Weg des Erwachens. Es braucht <strong>die</strong>ses scharfe,<br />

klare Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g <strong>in</strong> Weisheit. Wer sich das erspart, wird ganz naiv se<strong>in</strong>en Bodhisattva-Weg gehen und<br />

leider dann auch nur auf recht naive Weise Heilsames tun, ohne wirklich den Dase<strong>in</strong>skreislauf zu<br />

durchschauen.<br />

Jemand ohne Weisheit wird <strong>in</strong> alle Sackgassen laufen, <strong>in</strong> alle Fallgruben fallen, <strong>die</strong> es auf dem Weg<br />

des Heilsamen hat, z.B. zu denken, Erleuchtung würde es wirklich geben; jemanden, der erwacht, würde<br />

es wirklich geben; Lebewesen, <strong>die</strong> es zu befreien gilt, würde es wirklich geben; jemanden, der den<br />

Weg geht, … All <strong>die</strong> hilfreichen Konzepte auf dem Weg der Befreiung werden vergegenständlicht und<br />

s<strong>in</strong>d wieder Basis für neue Ich-Bezogenheit, für neue Identifikation. Das ist e<strong>in</strong> Weg ohne Weisheit, es<br />

braucht deswegen beides zusammen. Es braucht Mitgefühl und Weisheit.<br />

Wir können den Weg nicht <strong>mit</strong> dem e<strong>in</strong>en ohne das andere gehen.<br />

133


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Das Aggregat des Bewusstse<strong>in</strong>s<br />

Vijnana Skandha<br />

Das Aggregat des Bewusstse<strong>in</strong>s ist das, was <strong>die</strong> jeweilige eigentliche Natur der Dharmas erkennt.<br />

Es wird <strong>in</strong> <strong>die</strong> sechs Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen e<strong>in</strong>geteilt, vom Sehbewusstse<strong>in</strong> bis zum mentalen Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Dharmas s<strong>in</strong>d hier alle Phänomene <strong>in</strong>klusive Gesetzmäßigkeiten, z.B. Vergänglichkeit.<br />

Die sechs Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen<br />

Zur Er<strong>in</strong>nerung und Wiederholung vom Anfang des Kurses, noch e<strong>in</strong>mal was <strong>die</strong> äußeren Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen<br />

– <strong>die</strong> fünf Arten S<strong>in</strong>nesbewusstse<strong>in</strong> – und das mentale Bewusstse<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d:<br />

Wenn wir etwas sehen, so geschieht das Sehen durch das Zusammenkommen von Auge, Sehbewusstse<strong>in</strong><br />

und visuellem Objekt. Wenn <strong>die</strong>se drei zusammenkommen, gibt es visuellen Kontakt und es entsteht<br />

e<strong>in</strong>e Seh-Wahrnehmung. Diese Seh-Wahrnehmung ist e<strong>in</strong>e Erfahrung im visuellen Bewusstse<strong>in</strong>,<br />

bleibt aber nicht e<strong>in</strong>fach re<strong>in</strong> visuell, sondern wird sofort auch e<strong>in</strong>e mentale Erfahrung, weil sie weitergemeldet<br />

und im mentalen Bewusstse<strong>in</strong> verarbeitet wird.<br />

Z.B. e<strong>in</strong>e kurz auftauchende visuelle Wahrnehmung, wie <strong>die</strong> Hand vor me<strong>in</strong>em Gesicht, wird sofort<br />

<strong>in</strong>nerlich als E<strong>in</strong>druck gespeichert, und <strong>die</strong>se Speicherung des E<strong>in</strong>drucks ist schon mental. Das Vergleichen<br />

<strong>die</strong>ses E<strong>in</strong>druckes <strong>mit</strong> anderen E<strong>in</strong>drücken ist bereits e<strong>in</strong> recht elaborierter Prozess im mentalen<br />

Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Wenn <strong>die</strong>se Hand <strong>mit</strong> den F<strong>in</strong>gern schnippt, dann s<strong>in</strong>d zwei Arten Bewusstse<strong>in</strong> aktiv: sehen und hören.<br />

Beides wird <strong>in</strong>s mentale Bewusstse<strong>in</strong> gemeldet und dort entsteht der S<strong>in</strong>n. Der S<strong>in</strong>n kann nicht gegeben<br />

werden, wenn e<strong>in</strong>e Erfahrung nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>nesbereich bleibt. Es muss <strong>in</strong>s Mentale h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>kommen,<br />

da<strong>mit</strong> beschrieben werden kann, da<strong>mit</strong> man <strong>mit</strong> S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücken von früher vergleichen<br />

kann, da<strong>mit</strong> man Klänge vergleichen kann usw. Das Ganze wird auch noch zusammengefügt, man<br />

erkennt, dass da etwas ist, das wir e<strong>in</strong>e Hand nennen im Unterschied zu anderen D<strong>in</strong>gen, und dass <strong>die</strong>ses<br />

Schnipp-Geräusch genau <strong>mit</strong> der Bewegung, <strong>die</strong> wir sehen, e<strong>in</strong>hergeht; das Geräusch entsteht <strong>in</strong><br />

dem Moment, wo <strong>die</strong> F<strong>in</strong>ger aufe<strong>in</strong>ander klatschen. Dieses Koord<strong>in</strong>ieren verschiedener S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke,<br />

um dann daraus e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Folgerung zu erhalten, das alles geschieht im Mentalen.<br />

Wenn ich selber <strong>mit</strong> den F<strong>in</strong>gern schnippe, dann habe ich zusätzlich ja auch noch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere taktile<br />

Empf<strong>in</strong>dung, und wenn ich auch noch e<strong>in</strong>en starken Geruch auf der Hand hätte, dann würde ich auch<br />

noch den Geruch vor me<strong>in</strong>er Nase wahrnehmen. Alle S<strong>in</strong>ne können <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erfahrung <strong>in</strong>tegriert werden<br />

und zu e<strong>in</strong>em s<strong>in</strong>nvollen Gesamtbild verarbeitet werden. Dieses Bild ist natürlich e<strong>in</strong> komplexes<br />

mentales Bild.<br />

Dies be<strong>in</strong>haltet den folgernden Geist, der ersche<strong>in</strong>t, wenn aufgrund der S<strong>in</strong>nesfähigkeit der Augen<br />

als Hauptbed<strong>in</strong>gung Formen wahrgenommen werden, [sowie <strong>die</strong> anderen vier Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen]<br />

bis h<strong>in</strong> zu dem folgernden Geist, der ersche<strong>in</strong>t, wenn aufgrund der mentalen<br />

S<strong>in</strong>nesfähigkeit als Hauptbed<strong>in</strong>gung deren eigene, spezielle Objekte, das Dharma-Element<br />

(mentale Objekte) und auch alle anderen Objekte wahrgenommen werden.<br />

Dieser komplizierte Satz beschreibt genau, was ich vorh<strong>in</strong> erklärt habe. Es müssen Bed<strong>in</strong>gungen zusammenkommen,<br />

da<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>e Wahrnehmung entsteht, und <strong>die</strong>se Wahrnehmung wird im folgernden<br />

Geist, was wir auch Intellekt nennen, dem mentalen Bewusstse<strong>in</strong> verarbeitet. Und das mentale Be-<br />

134


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

wusstse<strong>in</strong> hat zusätzlich noch se<strong>in</strong>e eigenen Objekte, <strong>die</strong> nicht <strong>in</strong> den fünf S<strong>in</strong>nesgruppen auftauchen.<br />

Das heißt, wir können über ganz abstrakte D<strong>in</strong>ge wie Glück und Traurigse<strong>in</strong>, über Demokratie und<br />

dergleichen nachdenken, oder z.B. <strong>die</strong>ser Vortrag hier ist für euch ja nur Hören und dann Verarbeitung<br />

im mentalen Bewusstse<strong>in</strong>. Ihr könnt ganz alle<strong>in</strong> für euch weiter darüber nachdenken. Das alles nennt<br />

man das Dharma-Element, das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> re<strong>in</strong> mentalen Objekte.<br />

Die Komb<strong>in</strong>ation all <strong>die</strong>ser E<strong>in</strong>drücke, <strong>die</strong>ser Objekte, ergibt dann den Strom der verschiedenen Bewusstse<strong>in</strong>smomente<br />

im folgernden Geist.<br />

Über <strong>die</strong> sechs Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen brauchen wir gar nichts weiter zu sagen, es s<strong>in</strong>d ganz e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong><br />

Bilder <strong>die</strong>ser fünf äußeren S<strong>in</strong>ne, <strong>die</strong> im mentalen S<strong>in</strong>n auftauchen und das Mentale selbst, was <strong>die</strong><br />

wechselnden E<strong>in</strong>drücke der sechs Bewusstse<strong>in</strong>sbereiche ergibt, <strong>die</strong> wir dann unser Leben nennen. Es<br />

ist also e<strong>in</strong> ständiger Strom unterschiedlichster Bewusstse<strong>in</strong>smomente.<br />

Etwa im 4. Jh. n. Chr. beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>in</strong> In<strong>die</strong>n, <strong>die</strong> sich Nur-Geist-Schule nennt, <strong>die</strong> Basis für<br />

<strong>die</strong>se Schule s<strong>in</strong>d recht späte Mahayana-Sutren. Der erste große Vertreter <strong>die</strong>ser Schule ist Asanga und<br />

sie erlangt etwa im 8. Jh. ihre volle Blüte. Diese Mahayana-Schule bemüht sich, <strong>die</strong> Prozesse im mentalen<br />

Bewusstse<strong>in</strong> noch genauer zu beschreiben. Es ersche<strong>in</strong>t ihnen wohl zu Recht, dass zu vieles im<br />

mentalen Bewusstse<strong>in</strong> untergebracht wird, und dass es s<strong>in</strong>nvoller wäre, das Ganze genauer zu betrachten.<br />

Bewusstse<strong>in</strong> aus der Sicht der Nur-Geist-Schule<br />

Die Sutras und Shastras der Nur-Geist-Schule gehen von acht Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen aus:<br />

Das emotional verblendete Mentale [<strong>die</strong> siebte Bewusstse<strong>in</strong>sgruppe] ist e<strong>in</strong> Aspekt des mentalen<br />

Bewusstse<strong>in</strong>s. Es ist e<strong>in</strong> Geisteszustand ständiger E<strong>in</strong>bildung, – man sagt ständig: „Ich“, „Ich b<strong>in</strong>“,<br />

man nimmt auf <strong>die</strong> Idee e<strong>in</strong>es Selbst Bezug – der <strong>in</strong>nerlich auf das All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> – das 8.<br />

Bewusstse<strong>in</strong> – Bezug nimmt und <strong>mit</strong> vier Arten emotionaler Verblendung e<strong>in</strong>hergeht:<br />

1) <strong>die</strong> Sichtweise, es gäbe e<strong>in</strong> Selbst, 2) der Stolz, „Ich“ zu denken, 3) das Anhaften an e<strong>in</strong>em<br />

Selbst und 4) mangelndes Gewahrse<strong>in</strong> (Unwissenheit).<br />

Abgesehen von der Verwirklichung des Pfades der Edlen, der meditativen Ausgeglichenheit des<br />

Aufhörens und dem Zustand des Nicht-Mehr-Lernens, begleitet <strong>die</strong>ser Aspekt alle Geistesvorgänge,<br />

seien sie heilsam, nichtheilsam oder unbestimmt.<br />

Dieses emotional verblendete oder belastete Mentale beschreibt den Filter, der ständig aktiv ist, wenn<br />

wir <strong>in</strong> unserem Bewusstse<strong>in</strong> etwas wahrnehmen oder über etwas nachdenken. Wenn das mentale Bewusstse<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> objektives Bewusstse<strong>in</strong> wäre, dann würden wir bei der entsprechenden Wahrnehmung<br />

vermerken: „Da s<strong>in</strong>d Schmerzen im Knie.“ Das emotional belastete Bewusstse<strong>in</strong> aber sagt: „Mir tut es<br />

weh!“ – <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Knie. Das heißt, <strong>die</strong> un<strong>mit</strong>telbare Reaktion ist bereits gefärbt durch <strong>die</strong> Annahme<br />

e<strong>in</strong>es Ich und baut bereits auf der Überzeugung auf, es gäbe da e<strong>in</strong> Ich. Plötzlich haben wir da also e<strong>in</strong><br />

Ich, das e<strong>in</strong>en Schmerz hat, der obendre<strong>in</strong> auch noch direkt als unangenehm e<strong>in</strong>gestuft ist.<br />

Dieser Filter ist ständig aktiv, egal worüber wir nachdenken, egal was wir erleben, <strong>die</strong>ser Filter ist<br />

kont<strong>in</strong>uierlich aktiv außer <strong>in</strong> den Bewusstse<strong>in</strong>szuständen, <strong>die</strong> im 2. Vers angesprochen werden, <strong>die</strong> zu<br />

den Erfahrungen von Verwirklichung gehören. Abgesehen von den Momenten, wo wir <strong>in</strong> der Verwirklichung<br />

s<strong>in</strong>d, ist <strong>die</strong>ser Filter stets aktiv und beschreibt so<strong>mit</strong> eigentlich genau das, was <strong>in</strong> Samsara<br />

passiert.<br />

Es ist also gut, den eigentlichen Prozess der mentalen Wahrnehmung zu unterscheiden vom Filter, der<br />

<strong>die</strong>se Wahrnehmung umbenennt, ihn anders e<strong>in</strong>schätzt und zu e<strong>in</strong>em emotionalen Geschehen werden<br />

lässt. Diese beiden Aspekte sollten wir <strong>in</strong> der Betrachtung ause<strong>in</strong>ander halten.<br />

Die Nur-Geist-Schule hat sich dann der Frage zugewendet, wie denn <strong>die</strong> anderen Filter der Wahrnehmung<br />

entstehen, <strong>die</strong> bewirken, dass wir Situationen z.B. un<strong>mit</strong>telbar als angenehm oder unangenehm<br />

wahrnehmen, obwohl es zunächst e<strong>in</strong>mal gar ke<strong>in</strong>en Anhaltspunkt dafür gibt.<br />

Aus eigener Erfahrung wissen wir: Wenn wir Menschen wieder begegnen, denen wir schon e<strong>in</strong>mal<br />

begegnet s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong> sehr angenehm für uns waren, erleben wir Vertrauen. Wenn uns <strong>die</strong>se Menschen<br />

unangenehm waren, ist jedoch Ablehnung, Reserviertheit zu spüren. Die Nuancen <strong>die</strong>ser Filter s<strong>in</strong>d<br />

135


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

sehr, sehr vielgestaltig und sehr präzise. Das geht h<strong>in</strong> bis zu E<strong>in</strong>drücken aus früheren Leben, <strong>die</strong><br />

offenbar im Geist aktiviert werden können als ganz klare, genaue Er<strong>in</strong>nerungen aus früheren Leben.<br />

Als z.B. der 16. Karmapa auf der Flucht aus Tibet durch Nord<strong>in</strong><strong>die</strong>n kam, er<strong>in</strong>nerte sich ganz plötzlich<br />

an e<strong>in</strong> Vorleben und konnte sagen: „Da h<strong>in</strong>ten, wo der nächste Berg auftaucht, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Tal werden<br />

wir das und das f<strong>in</strong>den. Dort gibt es das, usw.“, ganz präzise. Das stellt gar ke<strong>in</strong>e Ausnahme dar. Es<br />

gibt recht viele Menschen, <strong>die</strong> solche E<strong>in</strong>drücke erfahren, <strong>die</strong> sehr präzise und <strong>die</strong> zum Teil auch überprüfbar<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Was ist es, das es ermöglicht, dass Spuren früheren Erlebens jetzt im Geist aktiv werden und z.B. zu<br />

klaren Erfahrungen oder zu Filtern <strong>in</strong> der Wahrnehmung führen? Wie kann man <strong>die</strong>ses Phänomen<br />

beschreiben? Hier spricht man von <strong>die</strong>ser achten Bewusstse<strong>in</strong>sgruppe, dem All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Die achte Bewusstse<strong>in</strong>sgruppe enthält all <strong>die</strong> Samen, <strong>die</strong> von den Aggregaten, Elementen und<br />

S<strong>in</strong>nesfeldern geprägt wurden. Sie ist <strong>die</strong> Basis geistiger Vorgänge und ist e<strong>in</strong>fach nur klar und<br />

gewahr, ohne e<strong>in</strong>e spezielle Neigung.<br />

Mit <strong>die</strong>sem All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> wird das Phänomen beschrieben, dass alle Erfahrungen, <strong>die</strong> wir<br />

<strong>mit</strong> unseren S<strong>in</strong>nesfeldern <strong>in</strong> der Vergangenheit gemacht haben, Spuren h<strong>in</strong>terlassen, und zwar <strong>in</strong> dem<br />

Maße wie Anhaften da war. Wenn ke<strong>in</strong> Anhaften da war, werden solche Spuren nicht h<strong>in</strong>terlassen,<br />

aber dort wo Identifikation, wo Haften war, werden Spuren im All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> h<strong>in</strong>terlassen.<br />

Diese Spuren s<strong>in</strong>d ganz fe<strong>in</strong>, aber dennoch präzise, es ist wie e<strong>in</strong> komprimiertes Gedächtnis, e<strong>in</strong>e komprimierte<br />

Information, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> exakter Spiegel dessen ist, was unser Erleben <strong>in</strong> dem Moment war.<br />

Dieses Erleben h<strong>in</strong>terlässt Spuren, <strong>die</strong> dynamisch s<strong>in</strong>d, sie s<strong>in</strong>d nicht von statischer Natur. Es ist e<strong>in</strong><br />

dynamisches, ganz fe<strong>in</strong>es Untergrund-Bewusstse<strong>in</strong>, das aktiviert werden kann, wenn das Bewusstse<strong>in</strong><br />

zu <strong>die</strong>sen Spuren Kontakt aufnimmt. Dann kommt es dazu, dass <strong>die</strong>se aktiven Samen das ganze Bild<br />

dessen, was e<strong>in</strong>mal war, entfalten können. – So wie e<strong>in</strong> Same sich zu e<strong>in</strong>er ganzen Pflanze entfalten<br />

kann. Die Information, was <strong>die</strong> Pflanze ausmacht, ist bereits im Samen enthalten, obwohl <strong>die</strong> Pflanze<br />

noch gar nicht sichtbar ist. – Wenn <strong>die</strong>se Spuren kontaktiert werden, dann kommt es zu e<strong>in</strong>em Entfalten<br />

ihrer Dynamik im mentalen Bewusstse<strong>in</strong>. Dieses Aktiv-Werden der früheren E<strong>in</strong>drücke geschieht<br />

nicht etwa neutral sondern geht wieder wie alles andere auch durch den Filter des bereits belasteten<br />

Mentalen. D.h. obwohl <strong>die</strong> Empf<strong>in</strong>dung selber neutral ist, wird sie erfahren <strong>in</strong> unserem jetzigen Bewusstse<strong>in</strong>,<br />

das wie immer von unseren Kleshas, unseren emotionalen Belastungen bee<strong>in</strong>flusst ist und<br />

<strong>die</strong>se Erfahrung färbt.<br />

So haben wir also <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser achten Bewusstse<strong>in</strong>sgruppe e<strong>in</strong>en Beschreibungsversuch dessen, was <strong>die</strong><br />

Übertragung, das Fortdauern der karmischen Tendenzen möglich macht, also <strong>die</strong> Summe der E<strong>in</strong>drücke<br />

und ihrer Verarbeitung aus früheren Leben und früheren Informationen, all das, was dazu beiträgt,<br />

wie sich unser Leben jetzt gestaltet.<br />

Aus der Sicht der Nur-Geist-Schule ist <strong>die</strong>ses All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> ständig dabei, se<strong>in</strong>e Informationen<br />

abzugeben, es ist <strong>in</strong> jeder Situation sowohl aktiv, <strong>in</strong>dem es auf <strong>die</strong> Wahrnehmung unserer jetzigen<br />

Situation e<strong>in</strong>wirkt, als auch aufnehmend, weil es zu jedem Zeitpunkt <strong>die</strong> Spuren unseres jetzigen Erlebens<br />

wieder aufnimmt und weiter wirken lässt. Unser jetziges Erleben ist also e<strong>in</strong> ständiger Prozess<br />

zwischen dem, was bewusst erlebt wird und dem, was unbewusst abgespeichert wurde und uns bee<strong>in</strong>flusst;<br />

was jetzt abgespeichert wird und uns <strong>in</strong> der Zukunft bee<strong>in</strong>flussen wird.<br />

Diese Dynamik zwischen Bewusstem und Unbewusstem wird hier <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen beiden zusätzlichen<br />

Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen beschrieben.<br />

„All-Grund“ oder auch „Aufnehmendes Bewusstse<strong>in</strong>“ wird es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aspekt genannt, wo e<strong>in</strong>fach<br />

Samen vorhanden s<strong>in</strong>d, welche <strong>die</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen e<strong>in</strong>er [äußeren] Umwelt, von S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halten<br />

und von Körpern [von Lebewesen] hervorbr<strong>in</strong>gen können. Die Ersche<strong>in</strong>ungen von Umwelt,<br />

S<strong>in</strong>nes<strong>in</strong>halten und Körper s<strong>in</strong>d zudem wie Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Traum. In se<strong>in</strong>em<br />

Aspekt, wo sich e<strong>in</strong>fach das erschöpft, was <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> ersche<strong>in</strong>t, wird es<br />

„All-Grund völliger Reifung“ oder „All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> völliger Reifung“ genannt.<br />

Dieser All-Grund völliger Reifung beschreibt also <strong>die</strong> Reifung karmischer E<strong>in</strong>drücke. Wir können das<br />

gut nachvollziehen: Wir begeben uns aufs Kissen und meditieren, haben e<strong>in</strong>e völlig stabile Umgebung,<br />

äußerlich ist gar nichts los, aber <strong>in</strong>nerlich kann sich e<strong>in</strong> Riesenzirkus abspielen. Es ist so viel,<br />

136


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

was da aufsteigt und auch so viel Überraschendes, dass wir es uns nur so erklären können, dass das<br />

E<strong>in</strong>drücke aus der Vergangenheit s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> aufsteigen und sich dar<strong>in</strong> befreien.<br />

So wird der Prozess karmischer Re<strong>in</strong>igung beschrieben: E<strong>in</strong>drücke steigen im Bewusstse<strong>in</strong> auf, werden<br />

bewusst und wir reagieren darauf nicht <strong>mit</strong> Anhaften oder Ablehnen. Wenn wir reagieren und uns<br />

verstricken, schaffen wir wieder neue E<strong>in</strong>drücke im All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong>. Wenn wir all das, was<br />

aufsteigt, verpuffen lassen oder sogar zum Heilsamen nutzen, dann f<strong>in</strong>det <strong>die</strong>ser Prozess karmischer<br />

Re<strong>in</strong>igung statt.<br />

Ihr versteht jetzt e<strong>in</strong> bisschen, was der Beitrag der Nur-Geist-Schule war: e<strong>in</strong>e recht hilfreiche Beschreibung<br />

<strong>die</strong>ser geistigen Vorgänge, <strong>die</strong> uns auch ermöglicht, genauer zu verstehen, wie Karma weiter<br />

getragen wird, wie es erlebt und wie es aufgelöst wird. Aber wir sollten nicht denken, dass <strong>die</strong>se<br />

drei Aspekte des mentalen Bewusstse<strong>in</strong>s drei verschiedene Aspekte s<strong>in</strong>d. Es handelt sich wiederum<br />

nicht um e<strong>in</strong>e Beschreibung von getrennten Schubladen sondern um e<strong>in</strong> dynamisches Geschehen, das<br />

verschiedene Aspekte hat.<br />

Die Schulen des südlichen Buddhismus haben <strong>die</strong>ses spät aufgetauchte Beschreibungsmodell nicht akzeptiert.<br />

Sie arbeiten weiterh<strong>in</strong> <strong>mit</strong> den beschriebenen sechs Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen, wo dann das mentale<br />

Bewusstse<strong>in</strong> all <strong>die</strong>se Phänomene <strong>mit</strong> enthält.<br />

Du hast erklärt, dass im All-Bewusstse<strong>in</strong> Samen abgelegt werden aufgrund von Ich-Bezogenheit.<br />

Gleichzeitig heißt es, dass <strong>die</strong>ses Bewusstse<strong>in</strong> neutral ist. Wie geht <strong>die</strong>se Ich-Bezogenheit e<strong>in</strong>her <strong>mit</strong><br />

etwas, das neutral ist? Das ist für mich unlogisch.<br />

Ich verstehe de<strong>in</strong>e Frage, das ist mir auch schon aufgefallen.<br />

Die Informationen, <strong>die</strong> da abgespeichert werden, s<strong>in</strong>d getreue Abbilder des eigentlichen Geschehens,<br />

z.B. e<strong>in</strong> emotionaler Schock h<strong>in</strong>terlässt Spuren, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Schock abbilden, sie entstehen <strong>in</strong> dem<br />

Moment selbst. Auf <strong>die</strong>ser Ebene des Bewusstse<strong>in</strong>s ist es nicht so, dass emotionales Arbeiten, Aufblähen<br />

oder Verm<strong>in</strong>dern weiter stattf<strong>in</strong>den würde. Das f<strong>in</strong>det erst wieder statt, wenn <strong>die</strong>se Spuren <strong>in</strong>s<br />

jetzige Bewusstse<strong>in</strong> aufsteigen, das dann <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en emotionalen Filtern darauf reagiert. Es ist also e<strong>in</strong><br />

getreues, neutrales Abbild von dem Geschehen, das damals war <strong>mit</strong> all se<strong>in</strong>em Anhaften, aber es ist <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne auch total durchdrungen von den Emotionen, denn das s<strong>in</strong>d alles emotionale Abbilder,<br />

aber <strong>die</strong> s<strong>in</strong>d neutral gemacht.<br />

Der dritte Karmapa sagt es ganz deutlich: Das gesamte All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> ist von A bis Z von<br />

Ich-Bezogenheit durchdrungen. Es ist nicht e<strong>in</strong> erleuchtetes Bewusstse<strong>in</strong>, es ist nicht neutral im S<strong>in</strong>n<br />

von un-emotional, weil das Bilder unseres Anhaftens s<strong>in</strong>d. Zugleich s<strong>in</strong>d aber <strong>die</strong>se Abbilder <strong>in</strong> sich<br />

konstant, sie s<strong>in</strong>d nicht dabei, sich weiter zu deformieren durch zusätzliche emotionale Gestaltungen.<br />

Dieses Gestalten f<strong>in</strong>det nur statt, wenn <strong>die</strong>se E<strong>in</strong>drücke <strong>in</strong>s emotionale Bewusstse<strong>in</strong> aufsteigen, dann<br />

f<strong>in</strong>det <strong>die</strong> Weiterverarbeitung statt.<br />

In <strong>die</strong>sem Zusammenhang <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem All-Grund wird ja auch erklärt, dass z.B. Vertrauen, H<strong>in</strong>gabe,<br />

all <strong>die</strong>se positiven Faktoren, <strong>die</strong> es braucht, dass überhaupt e<strong>in</strong> Weg vonstatten geht, eben genauso<br />

daraus hervorkommt. Man würde <strong>die</strong> dann auch unter <strong>die</strong>ser Ich-Bezogenheit zusammenfassen.<br />

Ja, genau! Denn das s<strong>in</strong>d auch <strong>die</strong> Momente von Vertrauen und H<strong>in</strong>gabe, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> Ich-Bezogenheit<br />

erlebt wurden. Deshalb gilt das auch für <strong>die</strong> heilsamen Geistese<strong>in</strong>drücke, weil <strong>die</strong> auch <strong>mit</strong> Ich-<br />

Bezogenheit erlebt werden. Von daher ist alles von Ich-Bezogenheit durchdrungen.<br />

137


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> – Zeitloses Gewahrse<strong>in</strong><br />

Jetzt würde ich noch gerne darüber sprechen, wie das Erwachen beschrieben wird.<br />

Im Prozess des Erwachens wird <strong>die</strong>ses belastete, von Ich-Bezogenheit durchdrungene All-Grund-<br />

Bewusstse<strong>in</strong> zu dem zeitlosen Gewahrse<strong>in</strong>. Wie geht das? Wie vollzieht sich das?<br />

Das All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> zusammen <strong>mit</strong> allen anderen Formen des Bewusstse<strong>in</strong>s befreit sich im<br />

Erwachen aus dem Haften an e<strong>in</strong> Ich. Wenn sich <strong>die</strong> Ich-Bezogenheit durch e<strong>in</strong>en Moment des völligen<br />

Erkennens aufgelöst hat, dann kommt es nicht mehr zu e<strong>in</strong>em Ergreifen der Bewusstse<strong>in</strong>s-Inhalte<br />

als Ich und me<strong>in</strong>. Alles was aufsteigt – alle Spuren des All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong>s, <strong>die</strong> im Bewusstse<strong>in</strong><br />

aktiviert werden – wird nicht mehr als Ich und me<strong>in</strong> erfasst. Es erschöpft sich im non-dualen Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Es ist auch nicht so, dass im Prozess des Erwachens, der über <strong>die</strong> verschiedenen Bodhisattva-Stufen<br />

geht, alles noch e<strong>in</strong>mal auftauchen müsste. Der Prozess des Auftauchens ist stark <strong>mit</strong> dem Haften an<br />

e<strong>in</strong> Selbst verbunden, und wo der Boden des Haftens gar nicht mehr da ist, erschöpfen sich <strong>die</strong> Spuren<br />

des Anhaftens von selbst. Da braucht man nicht extra noch e<strong>in</strong> Großre<strong>in</strong>emachen und alle Spuren noch<br />

e<strong>in</strong>mal aktivieren, um sicher zu se<strong>in</strong>, dass wirklich alle Spuren sich erschöpfen.<br />

Das war e<strong>in</strong>e sehr e<strong>in</strong>fache Beschreibung des Prozesses des Erwachens.<br />

Wenn euch <strong>die</strong> Details <strong>in</strong>teressieren, dann könnt ihr entweder <strong>in</strong> dem sehr guten englischen Buch<br />

Lum<strong>in</strong>ous Heart von Karl Brunnhölzl nachlesen oder ihr könnt <strong>die</strong> Unterweisungen von Khenpo<br />

Tschödrag lesen, <strong>die</strong> <strong>in</strong>s Deutsche übersetzt wurden. Khenpo Ngedön hat es hier unterrichtet. Es gibt<br />

also Möglichkeiten, sich weiter zu <strong>in</strong>formieren.<br />

Mipham R<strong>in</strong>poche fügt noch e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Begriffsklärung an:<br />

Es gibt <strong>die</strong> Ansicht, der zufolge „geistige Vorgänge“, „mentale Vorgänge“ und „Bewusstse<strong>in</strong>“<br />

e<strong>in</strong>fach Synonyme s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>er anderen Ansicht zufolge ist <strong>mit</strong> „geistigen Vorgängen“ das All-<br />

Grund Bewusstse<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>t, <strong>mit</strong> „mentalen Vorgängen“ das emotional verblendete Mentale und<br />

<strong>mit</strong> „Bewusstse<strong>in</strong>“ <strong>die</strong> sechs Bewusstse<strong>in</strong>sgruppen.<br />

Das ist auch genau <strong>die</strong> Sichtweise von Mipham R<strong>in</strong>poche, der <strong>mit</strong> <strong>die</strong>sen acht Formen des Bewusstse<strong>in</strong>s<br />

gearbeitet hat.<br />

Zusammenfassung<br />

So be<strong>in</strong>halten <strong>die</strong> fünf Aggregate alle abhängig entstandenen Dharmas und bilden so <strong>die</strong> Basis,<br />

auf der viele Aufzählungen und E<strong>in</strong>teilungen, wie zum Beispiel <strong>die</strong> „Zeiten“, beruhen. Die<br />

Aggregate werden von daher <strong>die</strong> „Basis für <strong>die</strong> Zeiten und das Sprechen“, „<strong>die</strong> Basis versehen<br />

<strong>mit</strong> Entsagung“ und „<strong>die</strong> Basis versehen <strong>mit</strong> Ursachen“ genannt, und sie werden auch <strong>die</strong><br />

„Welt“, <strong>die</strong> „Grundlage der Sichtweisen“ und „Existenz“ genannt.<br />

Durch Streben und Begierde kommt es zu völliger Identifikation und so<strong>mit</strong> zu den „völlig angenommenen<br />

getrübten Aggregaten“, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> Kampf und Leid e<strong>in</strong>hergehen und auch <strong>die</strong> „Ursache<br />

allen Leidens“ genannt werden.<br />

Dies war das Kapitel der ausführlichen Darlegung der Aggregate.<br />

Dieser vorletzte Satz ist der entscheidende, der alles zusammenfasst. Aufgrund von Verlangen, Streben<br />

und Begierde kommt es zu völliger Identifikation, zu e<strong>in</strong>er Ich-Bezogenheit, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> den<br />

Aggregaten völlig identifiziert, sie emotional trübt. Sie s<strong>in</strong>d nicht mehr e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Aktivität <strong>die</strong>ser<br />

Aggregate, sie werden durch <strong>die</strong> Identifikation belastet, führen zu Spannung, führen zu Streit, zu<br />

Kampf – zum Kampf <strong>mit</strong> dem Leben gegen <strong>die</strong> Wirklichkeit im Grunde genommen – und werden<br />

138


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

so<strong>mit</strong> Ursache allen Leidens genannt. Die Ursache allen Leidens ist <strong>die</strong> Identifikation <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Ich<br />

dort, wo es eigentlich nur das dynamische Spiel <strong>die</strong>ser Aggregate gibt.<br />

* * *<br />

Das war also das Kapitel der Aggregate, erstes Kapitel <strong>in</strong> dem Werk von Yu Mipham R<strong>in</strong>poche, e<strong>in</strong>em<br />

Ny<strong>in</strong>gma-Meister aus dem 19. Jh., der als Referenz für alle vier Schulen gilt und auf dessen Werk der<br />

17. Karmapa auch den Unterricht <strong>in</strong> den Dreijahres-Retreats aufbaut. Ihr habt also jetzt <strong>die</strong>selbe Übertragung<br />

zu den Aggregaten erhalten wie <strong>die</strong> Praktizierenden im Dreijahres-Retreat, nur bekommen <strong>die</strong><br />

auch <strong>die</strong> anderen neun Kapitel des Werkes erklärt.<br />

Die Retreatler würden gerne hier Mäuschen spielen, um uns zuzuhören, denn sie hatten natürlich nicht<br />

<strong>die</strong> Zeit, das alles so ausführlich erklärt zu bekommen. Wir s<strong>in</strong>d da etwas schneller durch gegangen.<br />

* * *<br />

Normalerweise sollte man solche Dharmatexte nicht <strong>in</strong> losen Blättersammlungen haben sondern<br />

schützen und vielleicht <strong>in</strong> Ordnern oder R<strong>in</strong>gb<strong>in</strong>dungen unterbr<strong>in</strong>gen und wirklich sorgfältig behandeln.<br />

Vielleicht macht ihr das nach dem Kurs auch noch.<br />

Fragen:<br />

Umgang <strong>mit</strong> mentalen Objekten aus dem All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Meditation<br />

Habe ich recht verstanden, dass der Prozess der Befreiung <strong>in</strong> der Meditation dar<strong>in</strong> besteht, nicht<br />

anzuhaften an den mentalen Objekten, <strong>die</strong> aus dem All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> auftauchen? Kannst Du<br />

bitte erklären, wie man das denn anstellt? Handelt es sich dabei um e<strong>in</strong> Vorbeiziehen-Lassen oder<br />

muss man sich weiter um <strong>die</strong>se Gedanken kümmern, und wenn ja, wie?<br />

Zunächst e<strong>in</strong>mal zu <strong>die</strong>sem e<strong>in</strong>fach Vorbeigehen-Lassen: Das alle<strong>in</strong>e wird im Normalfall gar nicht<br />

möglich se<strong>in</strong>, denn Gedanken ziehen nicht e<strong>in</strong>fach vorbei. Das kann nur auf der Basis e<strong>in</strong>er Geisteshaltung<br />

geschehen, <strong>die</strong> den Gedanken ke<strong>in</strong>e Wichtigkeit beimisst, weder dem Subjekt noch dem Objekt.<br />

In <strong>die</strong>ser grundlegenden Geisteshaltung können Gedanken aufsteigen und vergehen, sie haben<br />

ke<strong>in</strong>erlei Dauer, weil es ke<strong>in</strong> Anhaften gibt. Die Dauer von Gedanken entspricht der Dauer des Anhaftens.<br />

Je länger wir anhaften, desto länger dauern <strong>die</strong> Gedankenketten um das entsprechende Thema.<br />

Was sehr helfen wird, dass Gedanken sich auflösen und gere<strong>in</strong>igt werden, ist e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>schauen <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Gedanken selbst, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Natur des Gedanken bzw. des Denkers. Das ist e<strong>in</strong>e zusätzliche geistige Handlung<br />

des bewussten Sich-Umorientierens – nicht auf den Inhalt des Gedankens, sondern auf <strong>die</strong> Natur<br />

des Gedankens – um zu entdecken, wie vergänglich, wie illusorisch der Gedanke eigentlich wirklich<br />

ist, völlig transparent, ohne jegliche Substanz. Das wird helfen, dass <strong>die</strong> Gedankenkette im Nu unterbrochen<br />

ist.<br />

Darüber möchte ich mich nicht weiter ausbreiten, es gäbe noch enorm viel zu <strong>die</strong>sem Thema zu sagen,<br />

und das waren schon zwei Antworten.<br />

Ist das, worüber wir gerade gesprochen haben, das Alaya-Bewusstse<strong>in</strong>?<br />

Ja, das stimmt, <strong>in</strong> Sanskrit alaya vijnana und im Tibetischen kün shi namshe. Das ist <strong>die</strong>ses All-<br />

Grund-Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

139


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Wenn man nur e<strong>in</strong>fach alaya sagt, dann kann man <strong>die</strong>sen Begriff leicht verwechseln <strong>mit</strong> dem Allgrund<br />

des Erwachens, dem erwachten Bewusstse<strong>in</strong>. Deswegen ist wichtig, immer h<strong>in</strong>zuzufügen das unterscheidende<br />

Bewusstse<strong>in</strong> des All-Grundes, alaya vijnana, kün shi namshe. Namshe, das dualistische<br />

Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Wo bef<strong>in</strong>det sich <strong>die</strong>ses Grund-Bewusstse<strong>in</strong>? Es kann ja nicht Bestandteil unseres Systems se<strong>in</strong>, denn<br />

es muss ja <strong>die</strong> Generationen überdauern.<br />

Wo bef<strong>in</strong>det sich denn das System?<br />

Das, wovon ich glaube, <strong>die</strong>ses Gewaber um mich herum, das ist halt irgendwo räumlich begrenzt.<br />

Okay, das ist das Gewaber drum herum, aber de<strong>in</strong> Geist, wo ist denn der? Wenn du den f<strong>in</strong>dest, hast<br />

du auch das Alaya gefunden.<br />

Ja, der ist nämlich genau da!<br />

Ja, da ist er auch…Gelächter…<br />

Okay! Ich weiß Bescheid. … Gelächter…<br />

Das Alaya-Bewusstse<strong>in</strong> ist genauso wenig oder nicht existent wie der Geist. Das Alaya ist nicht wahrer<br />

oder weniger wahr als der Geist, das Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Hat also auch ke<strong>in</strong>e Ausdehnung.<br />

Weiß ich ja nicht! Du müsstest e<strong>in</strong>mal h<strong>in</strong>schauen! Wie weit geht denn de<strong>in</strong> Geist?<br />

Von so weit wie <strong>die</strong> Spitze e<strong>in</strong>er Stecknadel bis so nah wie <strong>die</strong> unendlichen Weiten.<br />

Da<strong>mit</strong> haben wir e<strong>in</strong>en Koan!<br />

Das siebte Bewusstse<strong>in</strong><br />

Das siebte Bewusstse<strong>in</strong> ist ja emotional verblendet. Es gibt aber <strong>die</strong> Möglichkeit, dass es nicht<br />

emotional verblendet ist, dass es objektiv wahrnimmt...<br />

Ne<strong>in</strong>, das gibt es nicht.<br />

Anders gefragt: Wenn das Haften wegfällt, besteht <strong>die</strong> Möglichkeit des Erwachens. Du hast gesagt,<br />

dass im Prozess des Erwachens nicht alles aus dem achten Bewusstse<strong>in</strong> aktiviert werden muss. Da<br />

frage ich mich, ob sozusagen <strong>die</strong> Momente des Nicht-Haftens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Verhältnis stehen<br />

müssen zum Inhalt des achten Bewusstse<strong>in</strong>s, dass da irgendwie so e<strong>in</strong> Gleichgewicht oder Verhältnis<br />

hergestellt werden muss zwischen den belasteten Inhalten des achten Bewusstse<strong>in</strong>s und dem Bewusstse<strong>in</strong><br />

frei von Haften, da<strong>mit</strong> sozusagen alles gelöscht ist im achten Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Das ist e<strong>in</strong>e verd<strong>in</strong>glichende Anschauung des Geistes. Das Bewusstse<strong>in</strong> ist dynamisch, <strong>die</strong> Dynamik<br />

wird durch das Ichanhaften <strong>in</strong> Gang gehalten. Wenn das Ichanhaften als Motor wegfällt, hört <strong>die</strong><br />

Dynamik auf. Es braucht also nicht e<strong>in</strong> Auslöschen entsprechender Inhalte stattf<strong>in</strong>den, weil es <strong>die</strong><br />

Inhalte eigentlich gar nicht gibt. Es ist e<strong>in</strong>e Dynamik, <strong>die</strong> zum Erliegen kommt, wenn das Haften zum<br />

Erliegen kommt.<br />

Passiert das dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Augenblick?<br />

Im Grunde genommen wäre es möglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Augenblick.<br />

Du hattest das All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> def<strong>in</strong>iert als Bewusstse<strong>in</strong>, wo <strong>die</strong> Spuren aller Erfahrungen der<br />

S<strong>in</strong>nesfelder gespeichert s<strong>in</strong>d aber auch der re<strong>in</strong> mentalen Objekte. Dann ist im Text formuliert:<br />

S<strong>in</strong>nesfähigkeit der Augen als Hauptbed<strong>in</strong>gung, um Form wahrnehmen zu können. Also <strong>die</strong> Hauptbed<strong>in</strong>gung<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Augen. Kann es se<strong>in</strong>, dass überhaupt visuelle Wahrnehmung anderes Gewicht hat<br />

<strong>in</strong> Bezug auf das achte Bewusstse<strong>in</strong> als <strong>die</strong> anderen S<strong>in</strong>neserfahrungen?<br />

Ne<strong>in</strong>, es ist nur das erste <strong>in</strong> der Liste. Traditionell wird bei den Erklärungen zu den S<strong>in</strong>nesfeldern <strong>mit</strong><br />

dem Visuellen angefangen und dann überträgt man alles, was darüber gesagt wird, auf <strong>die</strong> anderen.<br />

140


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Bewusstse<strong>in</strong> im Traum<br />

Ich dachte jetzt auch an Träume, <strong>die</strong> ja überwiegend visueller Natur s<strong>in</strong>d und vielleicht aufgrund<br />

dessen <strong>die</strong> Augen e<strong>in</strong>e besondere Bedeutung hätten.<br />

Die Träume f<strong>in</strong>den re<strong>in</strong> im mentalen Bewusstse<strong>in</strong> statt, da haben <strong>die</strong> Augen und das Sehbewusstse<strong>in</strong><br />

überhaupt nichts zu spielen. Die visuellen E<strong>in</strong>drücke im Traum s<strong>in</strong>d re<strong>in</strong> mental.<br />

Trotzdem s<strong>in</strong>d es ja meistens Bilder und ganz selten z.B. Gerüche bei mir.<br />

Ja, aber bei anderen Menschen s<strong>in</strong>d ganz viele Klänge dabei, taktile Erfahrungen. Für <strong>die</strong> meisten s<strong>in</strong>d<br />

es wohl Bilder, aber all <strong>die</strong>se Erfahrungen s<strong>in</strong>d mentale Erfahrungen – Nasen, Ohren, Augen usw. s<strong>in</strong>d<br />

nicht beteiligt <strong>in</strong> der Traum-Erfahrung.<br />

Inwieweit können sich <strong>die</strong>se Samen aus dem Alaya-Bewusstse<strong>in</strong> im Traum re<strong>in</strong>igen oder zum<br />

Bewusstse<strong>in</strong> kommen. Ich habe das Gefühl, es geht im Traum recht tief <strong>in</strong>s Unterbewusstse<strong>in</strong>, das s<strong>in</strong>d<br />

oft heftige Erfahrungen, und man nimmt das dann beim Aufwachen <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> re<strong>in</strong> und praktiziert<br />

da<strong>mit</strong>.<br />

Alles was im Traum aufsteigt, steigt aus dem All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> auf und könnte dort auf der Stelle<br />

gere<strong>in</strong>igt werden, bloß würde dann der Traum zum Erliegen kommen. – Traumgeschehen lebt davon,<br />

dass angehaftet wird, sonst kommt es nicht zum Entstehen von e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise e<strong>in</strong><br />

bisschen kohärenten Film.<br />

Wenn der Praktizierende im Traumbewusstse<strong>in</strong> frei von Anhaften ist, dann kommt es auch zum Entstehen<br />

von Bildern, wo es aber ke<strong>in</strong>erlei Neigung mehr gibt, <strong>die</strong>se Bilder zu e<strong>in</strong>em Film zusammenzustricken.<br />

Das wäre <strong>die</strong> direkte Möglichkeit.<br />

Im normalen Erfahren ist es so, wie du beschreibst, wir wachen auf und aufgrund des Anhaftens, das<br />

bereits im Traum stattgefunden hat, wo bereits Er<strong>in</strong>nerungsspuren entstanden s<strong>in</strong>d, haften wir immer<br />

noch an dem Traum an und brauchen dann Praktiken wie Dorje Sempa und andere, um endlich davon<br />

loslassen zu können. Es gibt sonst nichts anderes zu tun, als endlich davon loszulassen. Da helfen <strong>die</strong><br />

Mantren oder <strong>die</strong> Visualisationen, um wieder <strong>die</strong> völlige Freiheit <strong>in</strong> uns zu stimulieren.<br />

Wenn man nicht anhaftet, hört der Traum auf. Ist das gleichzusetzen da<strong>mit</strong>, dass man im Traum weiß,<br />

dass man träumt?<br />

Ja und ne<strong>in</strong>. Es gibt verschiedene Arten zu wissen, dass es sich um e<strong>in</strong>en Traum handelt. Wenn das <strong>die</strong><br />

ersten Male passiert, dann werden wir uns bewusst, „Das ist e<strong>in</strong> Traum“, s<strong>in</strong>d aber immer noch im<br />

Vergegenständlichen. Dann taucht beim Praktizierenden e<strong>in</strong>e weitere Phase auf, das Erkennen, dass es<br />

sich um e<strong>in</strong>en Traum handelt, wird ganz sanft. Nicht so: „Ja! Das ist e<strong>in</strong>e Traum!“ und da<strong>mit</strong> ist alles<br />

unterbrochen. Es wird ganz sanft, <strong>die</strong> Träume können sich weiter entwickeln, wir können auch da<strong>mit</strong><br />

beg<strong>in</strong>nen, <strong>mit</strong> ihnen zu spielen, aber das Ausmaß des Haftens ist sehr ger<strong>in</strong>g geworden, es wird ihnen<br />

ke<strong>in</strong> Glauben mehr geschenkt. Es ist eigentlich kreative Spielwiese. Wenn sich alles Haften aufgelöst<br />

hat, dann kommt es auch gar nicht mehr zu Träumen, dann ist <strong>die</strong> Dynamik im Alaya-Bewusstse<strong>in</strong>, <strong>die</strong><br />

zu solchen Träumen führt, nicht mehr vorhanden. Da ist nicht mehr ausreichend Anhaften da, um<br />

solche E<strong>in</strong>drücke im Geist hervorzurufen.<br />

Bei den großen Bodhisattvas gibt es ke<strong>in</strong>e Träume mehr. Die träumen nicht mehr, weil <strong>die</strong> Dynamik<br />

des Anhaftens im All-Grund-Bewusstse<strong>in</strong> zum Erliegen gekommen ist.<br />

Zur Wahrnehmung der Erwachten<br />

Kann man das Leben der Erwachten vielleicht so beschreiben, dass sie <strong>die</strong> geistigen Vorgänge als <strong>die</strong><br />

Dynamik, <strong>die</strong> Kreativität des Geistes wahrnehmen?<br />

Ja, das ist e<strong>in</strong>e gute Art der Darstellung, bloß hat es da <strong>in</strong> der Formulierung e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Problem: Es<br />

gibt da niemanden mehr, der da getrennt von den geistigen Vorgängen <strong>die</strong>se Vorgänge dann als Kreativität<br />

wahrnehmen würde. Wenn <strong>die</strong> Erwachten uns ver<strong>mit</strong>teln möchten, wie sie <strong>die</strong> Welt erleben,<br />

dann sprechen sie über <strong>die</strong> Kreativität und Dynamik des Geistes, aber nicht zusätzlich noch von<br />

jemandem, der <strong>die</strong>se als etwas anderes wahrnimmt. Das s<strong>in</strong>d Probleme <strong>mit</strong> der Formulierung.<br />

141


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Ich würde gerne noch mehr über den Beobachter wissen. Me<strong>in</strong> Verständnis ist folgendes: Wir fühlen<br />

uns als Mensch und zunächst als e<strong>in</strong>e solide E<strong>in</strong>heit. Dann nehmen wir Zuflucht, beg<strong>in</strong>nen zu meditieren<br />

und <strong>mit</strong> der sich entwickelnden Achtsamkeit entsteht e<strong>in</strong> Beobachter, der <strong>die</strong> geistigen Prozesse<br />

wahrnimmt. Wenn ich richtig verstanden habe, ist es offenbar so, dass <strong>die</strong> Erwachten dann ohne<br />

<strong>die</strong>sen Beobachter auskommen, dass der dann überflüssig wird.<br />

Das ist an sich schon e<strong>in</strong> gutes Verständnis. Ich werde das noch etwas umformulieren:<br />

Zunächst erleben wir uns als e<strong>in</strong> Ganzes, s<strong>in</strong>d aber aufgrund von mangelnder Bewusstheit nicht gewahr,<br />

dass ständig <strong>die</strong>se beobachtende, bewertende Funktion aktiv ist, <strong>die</strong> benennt, <strong>in</strong> angenehm und<br />

unangenehm unterscheidet, <strong>die</strong> mag, <strong>die</strong> nicht mag, <strong>die</strong> klassifiziert. Wenn wir beg<strong>in</strong>nen zu meditieren<br />

– <strong>mit</strong> oder ohne Zuflucht, das ist eigentlich unerheblich, aber <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er klaren Ausrichtung zu erwachen<br />

– dann wird <strong>die</strong>se beobachtende Funktion immer deutlicher. Weil <strong>die</strong> Achtsamkeit zunimmt,<br />

sehen wir, dass Erleben und Interpretation des Erlebens aufe<strong>in</strong>ander folgende Momente, unterschiedliche<br />

Momente im Geist s<strong>in</strong>d. Dabei nehmen wir <strong>die</strong> Extra-Gedanken, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Ich <strong>in</strong> Beziehung<br />

setzen, e<strong>in</strong>schätzen und bewerten, deutlicher wahr.<br />

Diese beobachtende Funktion wird weiser, sie bewertet weniger stark, haftet weniger stark an, wehrt<br />

weniger stark ab, wird allmählich entspannter und hilft, auf dem Weg fortzuschreiten. Bei noch mehr<br />

Achtsamkeit, bei noch mehr Präsenz nehmen wir immer deutlicher wahr, dass <strong>die</strong>se beobachtende<br />

Funktion eigentlich überflüssig ist, dass das Leben sehr viel fließender ist, wenn <strong>die</strong>se Extraschleifen<br />

im Geist nicht mehr stattf<strong>in</strong>den. Aber von dem Moment an, wo wir erkennen, dass der Beobachter<br />

überflüssig ist, bis dah<strong>in</strong>, dass sich das Leben tatsächlich ohne Beobachter vollzieht wie bei e<strong>in</strong>em Erwachten,<br />

ist es noch e<strong>in</strong> weiter Weg.<br />

Im Erwachen ist es dann tatsächlich so, dass Weisheit, Mitgefühl und all <strong>die</strong> verschiedenen Qualitäten<br />

des Geistes frei, spontan wirken, ohne dass es da noch Bezug auf jemanden gibt, der das zu beobachten,<br />

kontrollieren und zu steuern hätte. Diese Ich-Instanz ist völlig weg gefallen.<br />

Ich habe auch gehört, dass man viel weniger Zeit im Schlaf verbr<strong>in</strong>gt, je weiter man entwickelt ist.<br />

Stimmt das?<br />

Je<strong>in</strong>! Bei jenen Bodhisattvas, <strong>die</strong> wirklich sehr weit fortgeschritten im Prozess des Loslassens s<strong>in</strong>d,<br />

kommt es nicht mehr zu Schlaf im herkömmlichen S<strong>in</strong>n. Manche verbr<strong>in</strong>gen tatsächlich auch <strong>die</strong><br />

Nächte <strong>in</strong> sitzender Meditation, andere legen sich vielleicht zwei, drei, vier Stunden h<strong>in</strong>, verbr<strong>in</strong>gen<br />

<strong>die</strong> Zeit aber <strong>in</strong> ganz klaren Geisteszuständen, was wir klares Licht – erhellende Klarheit – nennen und<br />

s<strong>in</strong>d völlig frisch dabei.<br />

Dann gibt es aber auch weit fortgeschrittene Meister, <strong>die</strong> weiterh<strong>in</strong> ihren Körper und Geist für fast<br />

genauso lange wie wir sechs bis acht Stunden ausruhen, sich <strong>in</strong>s Bett legen und man von außen das<br />

Gefühl hat, sie würden ganz normale Nächte verbr<strong>in</strong>gen so wie wir.<br />

Was ich da<strong>mit</strong> sagen möchte, ist, dass man Meister nicht daran erkennen kann, wie viel sie schlafen,<br />

obwohl es tatsächlich so ist, dass ihr Schlaf sich verändert und sie auch weniger Zeit brauchen, um<br />

sich auszuruhen. Aber das ist nicht bei allen gleich.<br />

Gendün R<strong>in</strong>poche hat uns erklärt, dass <strong>die</strong> Lehrer, <strong>die</strong> den Tag über viel <strong>mit</strong> Begriffen zu tun haben,<br />

<strong>die</strong> viel erklären, <strong>in</strong> der Nacht dann sehr viel mehr Zeit zum Ausruhen brauchen.<br />

Wenn man das berücksichtigt und dann daran denkt, was für e<strong>in</strong> Leben der 16. Karmapa geführt hat,<br />

wie viele Menschen er betreut, wie viel er gesprochen, um wie viele Projekte er sich gekümmert und<br />

dann trotzdem ke<strong>in</strong>en oder sehr wenig Schlaf gebraucht hat, dann kann man vielleicht ermessen, <strong>in</strong><br />

was für offenen Geisteszuständen er war trotz all <strong>die</strong>ser Aktivitäten.<br />

Möglichkeiten des Rückzuges<br />

Würdest Du bitte <strong>die</strong> verschiedenen Möglichkeiten, <strong>die</strong> Praxis zu <strong>in</strong>tensivieren, Retreat zu machen,<br />

beschreiben?<br />

Die Erfahrung von Retreat, von Zurückziehung, beg<strong>in</strong>nt schon zu Hause, wenn wir uns jeden Tag für<br />

e<strong>in</strong>e Viertelstunde, e<strong>in</strong>e halbe Stunde oder e<strong>in</strong>e Stunde nehmen, um uns von der Geschäftigkeit zu-<br />

142


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

rückzuziehen und uns Dharma-Zeit gönnen, Zeit <strong>in</strong> der wir meditieren oder kontemplieren, stu<strong>die</strong>ren.<br />

Da wird dann natürlich das Bedürfnis wach, das für e<strong>in</strong> bisschen länger zu tun, sodass wir uns vielleicht<br />

an Wochenenden oder arbeitsfreien Tagen mehr Zeit dafür nehmen. Wenn uns <strong>die</strong>se Erfahrung<br />

befriedigt, dann entsteht oft der Wunsch, noch mehr davon zu haben und nimmt sich mehrere Tage.<br />

Man sucht dann vielleicht auch nach e<strong>in</strong>em Ort, an dem man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geschützten Atmosphäre unter<br />

Betreuung praktizieren kann.<br />

Der nächste Schritt wäre dann e<strong>in</strong> Halb-Retreat oder e<strong>in</strong> kurzes Ganztags-Retreat für e<strong>in</strong> paar Tage bis<br />

zu e<strong>in</strong>er Woche. Halb-Retreat würde bedeuten, dass man vier, fünf Stunden praktiziert, stu<strong>die</strong>rt, kontempliert<br />

und den Rest der Zeit spazieren geht, und andere D<strong>in</strong>ge macht. Sehr schön ist <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung,<br />

wenn man dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dharma-Zentrum <strong>mit</strong>hilft, wie z.B. hier <strong>in</strong> Croizet oder an anderen<br />

geeigneten Orten. Bei e<strong>in</strong>em vollen Retreat beg<strong>in</strong>nt man <strong>mit</strong> vier <strong>in</strong>dividuellen Sitzungen von e<strong>in</strong>er bis<br />

e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Stunden pro Tag, oft gekoppelt <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Gruppenpraxis am Abend und vermutlich auch<br />

noch <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Praxis vor dem Frühstück. Da kommt man dann schon auf sechs kle<strong>in</strong>e Sitzungen pro<br />

Tag.<br />

Wichtig ist dafür, dass man Betreuung hat, dass man bei e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>wöchigen Retreat am Anfang, <strong>in</strong><br />

der Mitte und am Ende den Betreuer trifft. Das wäre natürlich ideal, manchmal kommt es nur zu zwei<br />

solchen Gesprächen, manchmal kommt es sogar zu täglichen Gesprächen, was natürlich ganz gut ist,<br />

da hat man <strong>in</strong>tensive Betreuung.<br />

Diejenigen, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> ihrem eigenen Geist auskennen und solche Erfahrungen schon gesammelt haben,<br />

können sich gut auch e<strong>in</strong>mal für e<strong>in</strong>e Woche alle<strong>in</strong>e zu Hause zurückziehen, oder bei Freunden<br />

oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dharma-Zentrum, ohne dass der Betreuer oder <strong>die</strong> Betreuer<strong>in</strong> unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> der Nähe<br />

se<strong>in</strong> muss.<br />

Wenn <strong>die</strong> Retreats länger werden, dann entsteht wieder Bedarf nach Betreuung, weil mehr zu besprechen<br />

ist, aber <strong>die</strong> Abstände, <strong>in</strong> denen man sich sieht, werden länger. Man sieht sich dann nur e<strong>in</strong>mal<br />

<strong>in</strong> der Woche oder jede zweite oder dritte Woche. Das kommt darauf an, wie lang <strong>die</strong> Retreats<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Muss man dann <strong>in</strong> so e<strong>in</strong>em Retreat den ganzen Tag <strong>mit</strong> der gleichen Praxis verbr<strong>in</strong>gen? Das würde<br />

ja bedeuten, vielleicht neun Stunden pro Tag nur <strong>mit</strong> Tschenresig-Praxis zu verbr<strong>in</strong>gen.<br />

Ja, das ist dann schon e<strong>in</strong> Voll-Retreat, da bleibt dann wenig Zeit für anderes, das ist auch S<strong>in</strong>n der<br />

Sache. Das ist aber etwas, das man nicht gleich zu Anfang macht. Man lässt sich Zeit, das Programm<br />

wird abgestimmt. Man kann z.B. Tschenresi als Haupt-Praxis haben, e<strong>in</strong> Mal vor<strong>mit</strong>tags, e<strong>in</strong> Mal<br />

nach<strong>mit</strong>tags und e<strong>in</strong> Mal dann als Gruppenpraxis abends. Die zweite Vor<strong>mit</strong>tags- und Nach<strong>mit</strong>tags-<br />

Sitzung kann man dann stu<strong>die</strong>ren, kontemplieren oder man schiebt Sitzungen <strong>mit</strong> ganz stiller<br />

Meditation e<strong>in</strong>. Das s<strong>in</strong>d nur Beispiele. Das ist genau <strong>die</strong> Aufgabe der Betreuer, dass sie das<br />

Programm abstimmen auf <strong>die</strong> Fähigkeiten und Bedürfnisse der Person.<br />

Wir hören hier <strong>mit</strong> Fragen und Antworten auf und machen e<strong>in</strong>e große Widmung, e<strong>in</strong>e mega-große<br />

Widmung.<br />

* * *<br />

143


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

Widmung<br />

Wir denken an das Heilsame <strong>die</strong>ses Kurses. Die Weisheit, das Verständnis, das entstanden ist; an <strong>die</strong><br />

Liebe und das Mitgefühl, was wir empfunden haben. –<br />

Wir denken an alles, was gut getan hat, das heilsam war <strong>in</strong> der Zeit, <strong>die</strong> wir hier verbracht haben,<br />

<strong>in</strong>begriffen auch das Verständnis, das dank schwieriger Situationen entstanden ist. –<br />

Wir br<strong>in</strong>gen <strong>die</strong>se ganze heilsame Kraft, alles Positive allen Lebewesen dar, all <strong>die</strong>sen Lebewesen, <strong>die</strong><br />

genauso wie wir Glück suchen, Befreiung, <strong>die</strong> Frieden erleben möchten und e<strong>in</strong>en ruhigen, offenen<br />

Geist.<br />

Möge sich all das Heilsame, das wir erfahren haben, das wir bewirkt haben zu dem Heilsamen gesellen,<br />

das jetzt gerade, überall im gesamten, weiten Universum, auf allen Planeten von Erwachten und<br />

nicht Erwachten bewirkt wird, und möge all das dem Erwachen aller Lebewesen gewidmet werden. –<br />

Und möge <strong>die</strong>se große Kraft des Heilsamen sich zu <strong>die</strong>ser Kraft des Heilsamen gesellen, <strong>die</strong> aus den<br />

heilsamen Handlungen aller Lebewesen entstanden ist <strong>in</strong> der Vergangenheit <strong>in</strong> allen Universen. Möge<br />

<strong>die</strong> Gesamtheit des Heilsamen aus Vergangenheit und Gegenwart dem Erwachen aller Lebewesen<br />

gewidmet se<strong>in</strong>. –<br />

Und möge alles Heilsame, was wir noch <strong>in</strong> Zukunft erleben werden, all <strong>die</strong> heilsamen Kräfte, all das<br />

Positive das von sämtlichen Lebewesen <strong>in</strong> Zukunft noch erfahren und bewirkt wird, möge es ebenfalls<br />

jetzt schon dem Erwachen aller Lebewesen gewidmet se<strong>in</strong>. –<br />

Und möge sämtliches Heilsame von uns und allen Lebewesen durch <strong>die</strong> Kraft <strong>die</strong>ser Widmung und<br />

den Segen der Erwachten befreit, gere<strong>in</strong>igt se<strong>in</strong> von aller Ich-Bezogenheit. Mögen wir alle im natürlichen<br />

Geist verweilen. –<br />

Vielen Dank euch allen, vielen Dank für eure Präsenz und vielen Dank im Voraus für das Teilen euren<br />

Verständnisses <strong>mit</strong> anderen. –<br />

Das Dankes-Billet an Lama Lhündrup enthält zwei Zen-Geschichten:<br />

E<strong>in</strong> Mönch schlug e<strong>in</strong>en anderen, der während der Zazen-Praxis e<strong>in</strong>geschlafen war, worauf<br />

der Meister zu ihm sagte: „Warum schlägst du den, der so süß schläft? Ist <strong>die</strong>ser Mönch e<strong>in</strong><br />

anderer, wenn er schläft? Weder kritisiere noch preise ich jenen, der schläft, aber ich preise<br />

oder kritisiere auch nicht jenen, der nicht schläft. Wenn man schläft, ist man <strong>mit</strong> dem Buddhageist<br />

so wie wenn man wach ist. Wenn man erwacht ist, ist man <strong>mit</strong> dem Buddhageist so, wie<br />

wenn man schläft. Wenn man denkt, man habe den Buddhageist nur dann, wenn man wach ist<br />

und man denkt, dass man anders wäre, wenn man e<strong>in</strong>geschlafen ist, dann ist <strong>die</strong>s nicht <strong>die</strong><br />

letztendliche Wahrheit sondern unaufhörlicher Dase<strong>in</strong>skreislauf.“<br />

Weder W<strong>in</strong>d noch Fahne, e<strong>in</strong>e Passage ohne Tür<br />

Der W<strong>in</strong>d br<strong>in</strong>gt <strong>die</strong> Tempelfahne zum flattern. Zwei Mönche diskutieren. Der e<strong>in</strong>e sagt: „Die<br />

Fahne flattert.“ Der andere sagt: „Es ist der W<strong>in</strong>d, der sich bewegt.“ Sie können sich darüber<br />

nicht e<strong>in</strong>igen. Der sechste Patriarch sagt zu ihnen: „Es ist weder <strong>die</strong> Fahne noch der W<strong>in</strong>d, <strong>die</strong><br />

sich bewegen, es ist euer Geist.“<br />

Da werden <strong>die</strong> beiden Mönche von Furcht erfasst.<br />

E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Nachtrag von Umen, e<strong>in</strong>em Zenmeister: „Was sich bewegt, ist weder der W<strong>in</strong>d<br />

noch <strong>die</strong> Fahne noch der Geist. Was hat da der Patriarch gemacht? Wenn ihr <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge klar<br />

144


Die fünf <strong>Skandhas</strong> Croizet, August 2010<br />

seht, dann wisst ihr, dass <strong>die</strong> beiden Mönche Gold erhalten haben, wo sie me<strong>in</strong>ten, Eisen zu<br />

kaufen und dann wisst ihr auch, dass der Patriarch e<strong>in</strong>en Fehler gemacht hat, weil er nicht<br />

unbeteiligt geblieben ist. W<strong>in</strong>d, Fahne oder Geist, man muss alle drei loslassen. Wenn ihr<br />

sprecht, dann seid ihr nicht bewusst, dass ihr Dummheiten sagt.“<br />

E<strong>in</strong>e Bemerkung von Nagarjuna:<br />

Wenn das Selbst <strong>die</strong> Aggregate wäre, dann wäre es etwas, das entsteht und vergeht.<br />

Wenn es etwas anderes als <strong>die</strong> Aggregate wäre, dann hätte es nicht ihre Merkmale.<br />

Und e<strong>in</strong> Ausspruch von Thrungpa R<strong>in</strong>poche:<br />

Die Kunst des Kriegers ist e<strong>in</strong>e ständige Reise. Krieger zu se<strong>in</strong> bedeutet, authentisch zu se<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

jedem Moment se<strong>in</strong>es Lebens.<br />

Lama Lhündrup zum Bild auf dem Billet:<br />

Das ist e<strong>in</strong> schönes Bild, ich danke euch allen. Es ist sehr ausdrucksvoll für unseren Kurs und es hat<br />

sogar Bäume, Baumhaufen im H<strong>in</strong>tergrund…<br />

Wir werden schauen, wie <strong>die</strong> Reise weiter geht. Wir werden versuchen, authentisch zu se<strong>in</strong>…<br />

Wenn es möglich ist, werde ich Karmapa fragen, was wir denn im nächsten Kurs machen sollen. Ich<br />

hätte ja nicht gewagt, <strong>mit</strong> euch das Thema der fünf <strong>Skandhas</strong> durchzugehen, wenn es nicht se<strong>in</strong> Vorschlag<br />

gewesen wäre. Es sche<strong>in</strong>t irgendwie doch geklappt zu haben, ihr seid immer noch da, sche<strong>in</strong>t<br />

offenbar auch <strong>in</strong>spiriert zu se<strong>in</strong>. Ich hätte es auch nicht gewagt, euch so viel Studium vorzusetzen, weil<br />

<strong>die</strong> meisten e<strong>in</strong>en Meditationskurs erwartet hatten. Und es s<strong>in</strong>d auch e<strong>in</strong>ige nicht gekommen, weil sie<br />

lieber <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Zeit meditiert hätten. Aber ich glaube, dass sich e<strong>in</strong> gutes Verständnis e<strong>in</strong>stellt, was<br />

dann e<strong>in</strong>e sehr, sehr gute Grundlage für <strong>die</strong> Meditationspraxis ist. Lassen wir es also offen, was nächstes<br />

Jahr se<strong>in</strong> wird.<br />

* * *<br />

E<strong>in</strong>en von Herzen kommenden Dank für <strong>die</strong>ses Transkript<br />

an Marianne Krobath,<br />

assistiert von Anette aus M<strong>in</strong>den, Deutschland, sowie von Hans,<br />

Markus und Isolde aus Graz, Österreich!<br />

145

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!