Tod, Bardo und Wiedergeburt, Unterrichtsmaterial_TL_de
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<strong>Tod</strong>, <strong>Bardo</strong> <strong>und</strong> <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong><br />
zusammengestellt von Sönam Lhündrup, Juli 2005<br />
Liebe Fre<strong>und</strong>e,<br />
ich habe hier mein <strong>Unterrichtsmaterial</strong> zum Thema etwas ausgedünnt, damit es leichter verständlich<br />
ist. Diese Version kann im Unterschied zu <strong>de</strong>r, die nur für Dharmalehrer ist, frei<br />
weitergegeben wer<strong>de</strong>n. Ich habe mich bemüht, das Thema übersichtlich darzustellen <strong>und</strong><br />
überflüssige Informationen wegzulassen. Wenn wir in die vielen buddhistischen Bücher zu<br />
diesem Thema schauen, ent<strong>de</strong>cken wir wi<strong>de</strong>rsprüchliche Aussagen zum exakten Ablauf <strong>de</strong>s<br />
Überganges von einem Leben zum an<strong>de</strong>ren. Der Gr<strong>und</strong> dafür scheint zu sein, dass Geisteshaltung,<br />
Praxiserfahrung, Wunschgebete, geistige Gewohnheiten <strong>und</strong> karmische Ten<strong>de</strong>nzen (Anhaftungen,<br />
Abneigungen...) <strong>de</strong>s Sterben<strong>de</strong>n einen enormen Einfluss auf das haben, was nach<br />
<strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> passiert. Auch religiöse Überzeugungen <strong>und</strong> kulturelle Prägungen haben einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Einfluss. Es lässt sich <strong>de</strong>shalb für nieman<strong>de</strong>n im Voraus genau sagen, wie lange<br />
die einzelnen Phasen dauern wer<strong>de</strong>n. Ich habe mich bemüht, diese große Variationsbreite <strong>de</strong>r<br />
Erfahrungen darzustellen. Dabei soll <strong>de</strong>r Eindruck vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, dass nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> die<br />
Dinge einfach schablonenhaft, quasi automatisch ablaufen, obwohl dies sicherlich für die große<br />
Mehrheit <strong>de</strong>r Wesen <strong>und</strong> auch Menschen <strong>de</strong>r Fall ist.<br />
Ich möchte euch noch auf ein lesenswertes Buch hinweisen: Jean-Pierre Schnetzler „De la<br />
mort à la vie“ Editions Dervy. Darin sind neue Forschungen zu <strong>Bardo</strong> <strong>und</strong> <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> dargestellt,<br />
sehr erhellend! Ich habe sie hier nicht eingearbeitet, da ich nur Material aus<br />
Dharmaquellen berücksichtigen wollte.<br />
Herzlich, Euer Lhündrup<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Tod</strong> als Chance ....................................................................................................................... 2<br />
Wie können wir uns auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> vorbereiten? ...................................................................... 3<br />
Kontemplationen über <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> .......................................................................................... 6<br />
Gleichgültige Faulheit aufgeben ...................................................................................... 12<br />
Die Anwendung <strong>de</strong>r Lodjong Unterweisungen in diesem Leben .................................... 12<br />
Was können wir selbst im Sterben tun? ............................................................................... 14<br />
Die Anwendung <strong>de</strong>r Lodjong Unterweisungen im Sterben ............................................. 15<br />
Was können an<strong>de</strong>re für <strong>de</strong>n Sterben<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Verstorbenen tun? ........................................ 17<br />
Aktive Sterbehilfe? ........................................................................................................... 17<br />
Welche <strong>Bardo</strong>s gibt es? ........................................................................................................ 17<br />
Die Verwirklichungen von außergewöhnlichen Praktizieren<strong>de</strong>n ......................................... 18<br />
Der unsterbliche Geist ...................................................................................................... 19<br />
Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Sterbens ........................................................................................................ 19<br />
Die drei Phasen <strong>de</strong>r Auflösung ......................................................................................... 19<br />
Das Aufgehen im Klaren Licht ........................................................................................ 20<br />
Die Phase <strong>de</strong>r Bewusstlosigkeit ....................................................................................... 21<br />
Wann ist jemand „tot“? .................................................................................................... 22<br />
Phowa Praxis .................................................................................................................... 22<br />
Den Körper für medizinische Forschung freigeben? ....................................................... 22<br />
Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge (Dharmata) ......................................................................... 23<br />
Thugdam ........................................................................................................................... 23<br />
Visionen von Gottheiten ................................................................................................... 24<br />
1
Die Dauer <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong>s <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge ...................................................................... 24<br />
Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns ........................................................................................................ 25<br />
Bewusste <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> .................................................................................................... 26<br />
Wie lange dauert <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns? ...................................................................... 27<br />
Die Nälung-Praxis für Verstorbene .................................................................................. 28<br />
Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Geborenwer<strong>de</strong>ns <strong>und</strong> Verweilens ................................................................ 28<br />
Abtreibung? ...................................................................................................................... 29<br />
Anhang: Die Vorbereitung auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> (Gendün Rinpotsche) ........................................... 29<br />
Dewatschen, das Land wahrer Freu<strong>de</strong> .............................................................................. 33<br />
Quellen ................................................................................................................................. 39<br />
<strong>Tod</strong> als Chance<br />
Wir können <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> nicht entgehen. Aber warum auch? Der <strong>Tod</strong> ist eine Chance, einen großen<br />
Schritt in <strong>de</strong>r spirituellen Entwicklung zu machen. Diese Chance können wir aber nur<br />
nutzen, wenn wir gut auf ihn vorbereitet sind. Eigentlich hat <strong>de</strong>r gesamte Prozess <strong>de</strong>s Sterbens<br />
<strong>und</strong> Übergangs nichts Wirkliches. Wichtig zu verstehen ist, dass es eine enorme Vielzahl von<br />
Variationen in <strong>de</strong>n Erfahrungen <strong>de</strong>s Sterbe- <strong>und</strong> <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>-Prozesses gibt. Da ist die gesamte<br />
Bandbreite von gewöhnlichen Wesen, die völlig in ihren Projektionen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n wie automatisch<br />
ablaufen<strong>de</strong>n Prozessen gefangen sind, bis hin zur völligen Meisterschaft <strong>und</strong> Transzen<strong>de</strong>nz<br />
dieser Prozesse durch Meister wie z.B. Guru Rinpotsche, Naropa, Karmapa, die z.T.<br />
direkt in die reinen Län<strong>de</strong>r übergeben, ohne einen Körper zurückzulassen, o<strong>de</strong>r bereits zu<br />
Lebzeiten genau angeben können, wo sie sich wie<strong>de</strong>r manifestieren. Wie wir <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> <strong>Bardo</strong><br />
erleben, hängt also entschei<strong>de</strong>nd vom Geisteszustand ab.<br />
Auch für uns Normalsterbliche birgt <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> viele Möglichkeiten. Wir können z.B. freudig<br />
mit <strong>de</strong>m Geist <strong>de</strong>s Lamas o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Erleuchtung verschmelzen <strong>und</strong> dadurch nimmt alles eine<br />
an<strong>de</strong>re Richtung. Die großen Möglichkeiten im <strong>Tod</strong> ergeben sich aus <strong>de</strong>r Tatsache, dass <strong>de</strong>r<br />
Geist nicht mehr an <strong>de</strong>n Körper geb<strong>und</strong>en ist, wodurch Erkenntnis <strong>und</strong> Gebete aber auch alle<br />
karmischen Kräfte enorm starke, unmittelbare Auswirkungen haben.<br />
– Der <strong>Tod</strong> birgt zunächst die Gelegenheit, im Dharmakaya aufzugehen, was völlige Befreiung<br />
<strong>und</strong> eventuell sogar Erleuchtung be<strong>de</strong>utet.<br />
– Direkt danach besteht die Möglichkeit, in einem Sambhogakaya Körper Befreiung zu erlangen.<br />
– Und schließlich kann eine freie, bewusste Geburt als Nirmanakaya angenommen wer<strong>de</strong>n,<br />
in<strong>de</strong>m die Tore zu einer zwangsmäßigen Geburt in <strong>de</strong>n sechs Daseinsbereichen verschlossen<br />
wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> wir als Jidam Geburt annehmen.<br />
– Der <strong>Tod</strong> ist das gesamte Leben über unser bester Ansporn zur Praxis.<br />
Gendün Rinpotsche in Herzensunterweisungen: „Wir alle wer<strong>de</strong>n früher o<strong>de</strong>r später mit <strong>de</strong>m<br />
<strong>Tod</strong> konfrontiert, das ist unausweichlich. Wer jedoch während seines Lebens die Unterweisungen<br />
Buddhas praktiziert, wird <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> ohne Angst <strong>und</strong> voller Zuversicht entgegensehen<br />
können. Er wird Gewissheit erlangt haben, was zu tun <strong>und</strong> was zu lassen ist <strong>und</strong> mit welcher<br />
Geisteshaltung er sterben sollte, damit <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> als beson<strong>de</strong>re Gelegenheit genutzt wer<strong>de</strong>n<br />
kann, um sich aus <strong>de</strong>m Zyklus <strong>de</strong>r <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>en zu befreien. Der wahre Sinn unserer täglichen<br />
Praxis liegt in dieser Vorbereitung auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong>.“<br />
2
Wie können wir uns auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> vorbereiten?<br />
Die größten Hin<strong>de</strong>rnisse für einen harmonischen <strong>Tod</strong>, in <strong>de</strong>m wir spirituelle Fortschritte machen<br />
können sind Anhaften <strong>und</strong> Ablehnung – <strong>und</strong> natürlich Angst beruhend auf Unwissenheit.<br />
Eigentlich sind alle Formen von Dharmapraxis eine Vorbereitung auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong>, obwohl die<br />
beste Vorbereitung sicher die Praxis <strong>de</strong>r Sechs Yogas ist. Es lassen sich für Normalpraktizieren<strong>de</strong><br />
einige wichtige Ratschläge hervorheben:<br />
‣ stets <strong>und</strong> intensiv die Vergänglichkeit <strong>und</strong> die illusorische Natur aller Dinge <strong>und</strong> von uns<br />
selbst be<strong>de</strong>nken<br />
‣ immer an <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>rzeit möglichen <strong>Tod</strong> <strong>de</strong>nken, um uns zu Heilsamem anzuspornen<br />
‣ die Nachteile von <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in Bereichen ohne Dharmapraxis kontemplieren<br />
‣ keine schädlichen Handlungen ausführen, son<strong>de</strong>rn möglichst positives Karma mit unseren<br />
Handlungen bewirken<br />
‣ freigebig sein mit materiellen Gütern, beson<strong>de</strong>rs auch kurz vor <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong><br />
‣ regelmäßig praktizieren<br />
‣ große Verdienste ansammeln (die Paramitas praktizieren)<br />
‣ uns vom Haften an Angehörige lösen<br />
‣ bestehen<strong>de</strong>n Groll, Feindseligkeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen bereinigen<br />
‣ Testament aufsetzen<br />
‣ Gelüb<strong>de</strong> bereinigen<br />
‣ immer wie<strong>de</strong>r klare Wünsche machen, wo <strong>und</strong> als was wir wie<strong>de</strong>rgeboren wer<strong>de</strong>n wollen<br />
(Dewatschen Gebete, Amitabha usw.)<br />
‣ ein starkes Band <strong>de</strong>s Vertrauens mit einem großen Bodhisattva aufbauen, <strong>de</strong>r uns im <strong>Tod</strong><br />
helfen kann<br />
‣ Bodhicitta praktizieren (Tonglen...)<br />
‣ <strong>de</strong>n Prozess von <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> studieren, bis wir gut damit vertraut sind<br />
‣ mit <strong>de</strong>m Geist vertraut wer<strong>de</strong>n: Traum-Yoga, Yoga <strong>de</strong>s klaren Lichtes, Praxis <strong>de</strong>s Illusorischen<br />
Körpers, Erkenntnis <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Geistes...<br />
‣ je<strong>de</strong>n Abend, als letzte Handlung vor <strong>de</strong>m Einschlafen, innig Zuflucht nehmen <strong>und</strong><br />
Wunschgebete, Vajrasattva Mantras <strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen machen – dies bereitet uns auf <strong>de</strong>n<br />
letzten Moment vor <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> vor<br />
‣ je<strong>de</strong>n Morgen, als erste Handlung beim Aufwachen, ebenfalls innig Zuflucht nehmen, an<br />
<strong>de</strong>n Lama <strong>de</strong>nken <strong>und</strong> Wunschgebete machen – dies bereitet uns auf <strong>de</strong>n ersten Moment<br />
im <strong>Bardo</strong> vor<br />
Gendün Rinpotsche in Herzensunterweisungen: „Die alten Meister <strong>de</strong>r Kadampa-Linie 1 meditierten<br />
je<strong>de</strong>n Tag über die Vergänglichkeit. Wenn sie ihren Tee tranken, sagten sie sich: “Es<br />
ist ein großes Glück, dass ich heute meine Schale Tee trinken kann, wer weiß, ob es mir morgen<br />
noch genauso vergönnt sein wird.” Und je<strong>de</strong>n Abend vor <strong>de</strong>m Einschlafen stellten sie als<br />
Zeichen ihres möglichen, nächtlichen <strong>Tod</strong>es die Teeschale umgekehrt neben sich hin. Wenn<br />
sie am nächsten Morgen aufwachten, stellten sie ihre Schale wie<strong>de</strong>r auf <strong>und</strong> sagten sich:<br />
“Welch ein Glück, dass ich wie<strong>de</strong>r einen neuen Tag erleben darf! An<strong>de</strong>re sind in dieser Nacht<br />
1 Die Kadampa-Linie, aus <strong>de</strong>r auch Gampopa ursprünglich stammte, war beson<strong>de</strong>rs berühmt für ihre sorgfältige Praxis <strong>de</strong>r<br />
gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong>n Kontemplationen wie zum Beispiel über Vergänglichkeit <strong>und</strong> Karma, für ihr intensives Geistestraining in<br />
Mitgefühl <strong>und</strong> die Praxis <strong>de</strong>r gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong>n Qualitäten <strong>de</strong>s Bodhisattva-Weges. Alle heute noch existieren<strong>de</strong>n Schulen <strong>de</strong>s<br />
tibetischen Buddhismus sind stark von <strong>de</strong>n Kadampa-Lehren, die von <strong>de</strong>m indischen Meister Atisha nach Tibet gebracht<br />
wur<strong>de</strong>n, beeinflusst wor<strong>de</strong>n.<br />
3
gestorben. Ich muss die Gelegenheit nutzen <strong>und</strong> heute ausschließlich positiv han<strong>de</strong>ln.” So<br />
übten sie sich im Gewahrsein <strong>de</strong>r Vergänglichkeit.“<br />
<strong>und</strong> weiter in <strong>de</strong>n Herzensunterweisungen:<br />
„Im Unterschied zum Buddha haben wir gewöhnlichen Wesen noch nicht die Unzulänglichkeit<br />
<strong>de</strong>s Daseinskreislaufes erkannt <strong>und</strong> streben immer noch nach weltlichem Glück, nach<br />
etwas mehr Freu<strong>de</strong> <strong>und</strong> Wohlergehen im gewöhnlichen Leben. Natürlich strebt je<strong>de</strong>r nach<br />
Glück <strong>und</strong> daran ist auch nichts auszusetzen. Aber wir sollten erkennen, dass weltliches Glück<br />
oberflächlich <strong>und</strong> vergänglich ist <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> unserer Ichbezogenheit mit <strong>de</strong>n Mustern von<br />
Hoffnung <strong>und</strong> Furcht die Keime <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns bereits in sich trägt. Der Daseinskreislauf ist von<br />
Gr<strong>und</strong> auf von Wan<strong>de</strong>l <strong>und</strong> Leid geprägt – wo immer Anhaften an Vergänglichem <strong>und</strong> Ichbezogenheit<br />
sind, ist auch Leid. Dies zu erkennen <strong>und</strong> sich auf eine verlässliche Zuflucht auszurichten<br />
ist <strong>de</strong>r erste Schritt auf <strong>de</strong>m Weg zur Befreiung von bedingter Existenz, <strong>de</strong>m Auflösen<br />
unserer Anhaftungen.<br />
Laufen wir weiterhin vergänglichen Freu<strong>de</strong>n hinterher <strong>und</strong> lassen uns von ihnen über die<br />
leidvolle Natur <strong>de</strong>s Daseins hinwegtäuschen, wer<strong>de</strong>n wir endlos in Samsara kreisen.<br />
Wir sind im Allgemeinen recht hartnäckig im Leugnen dieser von Buddha beschriebenen<br />
Wahrheit, doch so unbequem sie ist – sie ist wahr: Solange <strong>de</strong>r Geist an weltlichen Interessen<br />
haftet, ist es nicht möglich, die Natur <strong>de</strong>s Geistes zu verwirklichen <strong>und</strong> Freiheit zu fin<strong>de</strong>n. Wir<br />
möchten dieser Einsicht in die trügerische Natur unserer weltlichen Beschäftigungen ausweichen:<br />
Wir drücken uns vor <strong>de</strong>r Konfrontation mit Vergänglichkeit <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>, entziehen uns<br />
<strong>de</strong>m gegenwärtigen Augenblick <strong>und</strong> leben in <strong>de</strong>r Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Während<strong>de</strong>ssen<br />
verrinnt aber mit je<strong>de</strong>m Tag unsere Zeit. Mit je<strong>de</strong>m Atemzug rücken wir <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong><br />
näher. Intellektuell wissen wir das zwar, aber unser Haften an weltlichen Anliegen zeigt, dass<br />
wir <strong>de</strong>r unaufhaltsamen Vergänglichkeit nicht wirklich gewahr sind. Wir verdrängen, dass uns<br />
<strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> je<strong>de</strong>rzeit überraschen kann, <strong>und</strong> glauben lieber, wir hätten noch genug Zeit für dieses<br />
o<strong>de</strong>r jenes. Wir projizieren unsere Hoffnungen ständig auf morgen <strong>und</strong> übermorgen <strong>und</strong> träumen<br />
von einem besseren Leben. Wir glauben an eine Aufwärtsentwicklung. Doch wir täuschen<br />
uns, <strong>de</strong>nn wenn wir nichts Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s unternehmen, wird die Zukunft keineswegs<br />
besser wer<strong>de</strong>n.<br />
Im <strong>Tod</strong> müssen wir alles zurücklassen – unseren Besitz, unser Ansehen, kurz: alles, was uns<br />
wichtig war <strong>und</strong> wofür wir uns angestrengt haben. Nur die edle Lehre wird uns dann eine Hilfe<br />
sein. Wir wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Schutz einer authentischen Zuflucht nötig haben <strong>und</strong> viel positive<br />
spirituelle Kraft brauchen, um <strong>de</strong>n Sterbeprozess auf erträgliche Art <strong>und</strong> Weise zu durchlaufen.<br />
Deshalb ist die Praxis <strong>de</strong>s Dharma das einzig wirklich Sinnvolle in diesem Leben. Im<br />
Moment <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es wird die Nutzlosigkeit weltlicher Aktivitäten klar. Das Einzige, das uns<br />
dann helfen wird, ist die Kraft unserer heilsamen Handlungen <strong>und</strong> inwieweit wir wirklich<br />
Vertrauen entwickelt <strong>und</strong> gelernt haben, aus <strong>de</strong>r Tiefe unseres Herzens Zuflucht zu nehmen.<br />
Denn dann wird keine Zeit mehr sein, sich darin zu üben.<br />
Solange wir uns <strong>de</strong>r Vergänglichkeit nicht bewusst sind, ist unser Geist unaufhörlich von Gedanken<br />
aufgewühlt, die um weltliche Anliegen kreisen – glücklich zu wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Leid zu<br />
vermei<strong>de</strong>n – <strong>und</strong> die allesamt unserem Haften an <strong>de</strong>r vermeintlichen Beständigkeit dieses<br />
Lebens entspringen. Darum sollten wir aufmerksam hinschauen <strong>und</strong> erkennen, wie sinnlos<br />
unser Haften an <strong>de</strong>r Welt ist. Wir sollten unsere Prioritäten gründlich untersuchen: “Warum<br />
ist mir dies o<strong>de</strong>r jenes so wichtig? Woher kommen diese Wünsche? Welchen Nutzen bringt es<br />
mir tatsächlich, sie zu verwirklichen? Wohin wer<strong>de</strong>n sie mich führen?” Analysieren wir sorgfältig<br />
in dieser Weise, wer<strong>de</strong>n wir sehen, dass das Verfolgen weltlicher Anliegen am En<strong>de</strong><br />
nichts als Leid bringt.<br />
4
Wenn wir durch die Kontemplation über Karma, Vergänglichkeit <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> unsere wirkliche<br />
Lage verstehen, entsteht ein Gefühl <strong>de</strong>r Dringlichkeit.<br />
Unsere Furcht, unvorbereitet <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> ausgeliefert zu sein <strong>und</strong> möglicherweise in leidvollen<br />
Daseinsbereichen wie<strong>de</strong>rgeboren zu wer<strong>de</strong>n, wird – zusammen mit <strong>de</strong>m Mitgefühl für alle<br />
Wesen – zu einem starken Antrieb, unser Leben zu än<strong>de</strong>rn <strong>und</strong> nur noch positive Handlungen<br />
auszuführen. Wir fragen uns, was wir tun können, um in <strong>de</strong>r Zukunft erneut auf so günstige<br />
Bedingungen für die Dharmapraxis zu treffen wie jetzt, <strong>und</strong> wie wir unser Karma reinigen<br />
können, so dass es möglich wird, zu tiefer Erkenntnis vorzudringen. Da wir dann nur noch<br />
<strong>de</strong>n Dharma im Sinn haben, wird unser Geist ruhig <strong>und</strong> klar. Er ist nicht mehr von weltlichen<br />
Anliegen aufgewühlt <strong>und</strong> das Meditieren wird leicht. Setzen wir so die Unterweisungen Buddhas<br />
in die Praxis um, fin<strong>de</strong>n wir Schritt für Schritt aus <strong>de</strong>m Kreislauf <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns heraus.<br />
Wir begehen keine schädlichen Handlungen mehr, die zur Ursache weiteren Lei<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n<br />
könnten, <strong>und</strong> erlernen heilsames Han<strong>de</strong>ln, das zu günstigen Umstän<strong>de</strong>n heranreifen wird. Im<br />
Dharma dürfen wir uns nicht auf ein intellektuelles Verständnis beschränken. Ernsthafte Praxis<br />
ist unerlässlich. Um Fortschritte zu machen, müssen wir beginnen, wirklich zu praktizieren.<br />
Die großen Praktizieren<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Vergangenheit haben rasch Erleuchtung verwirklicht, weil sie<br />
sich vollständig von weltlichen Anliegen abwen<strong>de</strong>ten. Dharmapraxis war das einzig Wichtige<br />
in ihrem Leben <strong>und</strong> sie waren von <strong>de</strong>r völligen Nutzlosigkeit weltlicher Anliegen überzeugt.<br />
Deshalb verwirklichten einige von ihnen die Buddhaschaft sogar innerhalb eines einzigen<br />
Lebens. Sie praktizierten nie mit <strong>de</strong>m Ziel, lediglich ruhige, friedvolle Geisteszustän<strong>de</strong> zu<br />
erlangen <strong>und</strong> sich in diesem Leben besser zu fühlen – es ging ihnen um etwas viel Gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong>res:<br />
Sie suchten die endgültige Befreiung vom Daseinskreislauf. Nach eingehen<strong>de</strong>m<br />
Nach<strong>de</strong>nken über <strong>de</strong>n wahren Charakter aller Erfahrungen in dieser bedingten Welt waren sie<br />
zutiefst überzeugt, dass bedingte Existenz stets von Leid geprägt ist, <strong>und</strong> lösten sich ein für<br />
allemal von <strong>de</strong>m Streben nach weltlichem Glück. Das, was jenseits dieses Lebens liegt, wur<strong>de</strong><br />
ihnen wichtiger als die Belange <strong>de</strong>s gegenwärtigen Lebens. Die Bedingtheit <strong>und</strong> Vergänglichkeit<br />
weltlichen Glücks erkennend fassten sie <strong>de</strong>n unwi<strong>de</strong>rruflichen Entschluss, sich auf das zu<br />
konzentrieren, was jenseits allen Wan<strong>de</strong>ls liegt: die unvergängliche Natur <strong>de</strong>s Geistes, die<br />
Quelle wahren Glückes.<br />
Wenn sie zum Beispiel einen Knochen sahen, kontemplierten sie wie folgt: “Dieser Knochen<br />
stammt von einem vergänglichen Körper, mit <strong>de</strong>m sich ein Wesen i<strong>de</strong>ntifiziert hat, das aus<br />
Unwissenheit <strong>und</strong> Haften in dieses Leben hineingeboren wur<strong>de</strong>. Und wer unwissend bleibt,<br />
wird nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> wie<strong>de</strong>r nach einem Körper greifen, geboren wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> sterben <strong>und</strong> so<br />
immer wie<strong>de</strong>r aufs Neue in <strong>de</strong>n Kreislauf <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns zurückkehren.” Durch tiefes Nach<strong>de</strong>nken<br />
waren sie imstan<strong>de</strong>, sich von Haften <strong>und</strong> Begier<strong>de</strong> zu lösen <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Meditation einen<br />
echten Wan<strong>de</strong>l zu vollziehen. Sie saßen nicht einfach da, um Ruhe <strong>und</strong> eine gute Zeit zu haben,<br />
son<strong>de</strong>rn sahen wirklich, dass sie in <strong>de</strong>r Falle von Samsara, in Unwissenheit <strong>und</strong> ständigem<br />
Haften, gefangen waren <strong>und</strong> entwickelten eine tiefe Sehnsucht nach Erleuchtung. Da sie<br />
die Natur <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>s verstan<strong>de</strong>n, entwickelten sie innere Gelöstheit, tiefe Entsagung, <strong>und</strong> erlangten<br />
so Befreiung von Samsara.<br />
Wir hingegen sind weniger gründlich <strong>und</strong> unsere Herangehensweise an <strong>de</strong>n Dharma zeugt oft<br />
von großer Unwissenheit. Wir stürzen uns auf die höchsten Lehren über die Natur <strong>de</strong>s Geistes,<br />
Mahamudra, <strong>und</strong> irgendwann später begreifen wir vielleicht, dass wir zunächst die vorbereiten<strong>de</strong>n<br />
Übungen praktizieren sollten. In dieser Hinsicht sind wir ein wenig wie Kin<strong>de</strong>r, die<br />
einen schönen Gegenstand, sobald sie ihn sehen, gleich haben möchten. Wenn wir tatsächlich<br />
Mahamudra verwirklichen wollen, müssen wir uns zuallererst <strong>de</strong>r seltenen Gelegenheit bewusst<br />
wer<strong>de</strong>n, die sich uns jetzt gera<strong>de</strong> bietet: Wir wur<strong>de</strong>n als Menschen geboren, sind <strong>de</strong>m<br />
Dharma begegnet <strong>und</strong> erfreuen uns aller erfor<strong>de</strong>rlichen Voraussetzungen, um zur Erleuchtung<br />
zu gelangen. Wir sollten diese Gelegenheit nicht vergeu<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn uns klar machen, dass<br />
5
je<strong>de</strong>s weitere Verweilen im Daseinskreislauf reine Zeitverschwendung ist. Alle Daseinsformen<br />
in Samsara haben zahllose Nachteile <strong>und</strong> sind von Leid geprägt. Wir sollten uns unablässig<br />
<strong>de</strong>r Vergänglichkeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es bewusst sein. Das wird uns anspornen <strong>und</strong> eine Ahnung<br />
von <strong>de</strong>r Dringlichkeit ernsthafter Praxis entstehen lassen. Zu<strong>de</strong>m müssen wir uns <strong>de</strong>n<br />
unfehlbaren, direkten Zusammenhang zwischen Handlungen <strong>und</strong> ihren Folgen immer wie<strong>de</strong>r<br />
klarmachen <strong>und</strong> unser Augenmerk allein auf heilsames, nutzbringen<strong>de</strong>s Tun richten.“<br />
Kontemplationen über <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong><br />
Auszüge aus <strong>de</strong>m Kostbaren Schmuck <strong>de</strong>r Befreiung von Gampopa (größtenteils Kapitel 4):<br />
„Obwohl <strong>de</strong>r menschliche Körper so schwer zu erlangen <strong>und</strong> von solch großem Nutzen ist, ist<br />
er sehr leicht zu zerstören <strong>und</strong> niemand kann <strong>de</strong>r Lebensspanne etwas hinzufügen o<strong>de</strong>r die<br />
Lebenskraft erneuern. Viele Umstän<strong>de</strong> können <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> herbeiführen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Strom <strong>de</strong>r Zeit<br />
bleibt nicht einen einzigen Moment stehen. In Eintritt in die Bodhisattva-Praxis lesen wir<br />
hierzu folgen<strong>de</strong> Gedanken:<br />
»Es ist unvernünftig, sich zu sagen:<br />
›Ich wer<strong>de</strong> wohl nicht gera<strong>de</strong> heute sterben‹<br />
<strong>und</strong> es sich gemütlich zu machen,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Tag, an <strong>de</strong>m ich zu nichts wer<strong>de</strong>,<br />
wird unausweichlich kommen! «<br />
Ganz allgemein gilt, dass alles Zusammengesetzte vergeht. So sagte es auch <strong>de</strong>r Buddha:<br />
»Mönche, alles Zusammengesetzte ist vergänglich. «<br />
Wie zeigt sich Vergänglichkeit? Alles was wir ansammeln wird einmal wie<strong>de</strong>r zerstreut wer<strong>de</strong>n,<br />
was auch immer wir aufbauen wird schließlich zerfallen, alle Begegnungen en<strong>de</strong>n in<br />
Trennung <strong>und</strong> ein je<strong>de</strong>s Leben fin<strong>de</strong>t sein En<strong>de</strong> im <strong>Tod</strong>. So sagt <strong>de</strong>r Buddha in Dharma-<br />
Essenz in Versen:<br />
»Ansammlung en<strong>de</strong>t in Zerstreuung,<br />
Aufbau en<strong>de</strong>t in Zerfall,<br />
Zusammenkommen en<strong>de</strong>t in Trennung,<br />
Leben en<strong>de</strong>t in <strong>Tod</strong>. «<br />
Bei <strong>de</strong>r Kontemplation über <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> be<strong>de</strong>nke:<br />
»Ich wer<strong>de</strong> nicht lange in dieser Welt bleiben, son<strong>de</strong>rn bald weitergehen müssen. «<br />
»Meine Lebenskraft wird ein En<strong>de</strong> haben, <strong>de</strong>r Atem wird aufhören, dieser Körper wird dann<br />
eine Leiche sein <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Geist woan<strong>de</strong>rshin weiterwan<strong>de</strong>rn müssen. «<br />
»Seit letztem Jahr ist ein Jahr vergangen <strong>und</strong> mein Leben ist jetzt um genau so viel kürzer<br />
gewor<strong>de</strong>n. Seit letztem Monat ist ein Monat vergangen <strong>und</strong> meine Lebensspanne hat um genau<br />
so viel abgenommen. Seit gestern ist ein Tag vergangen <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r ist mein Leben um<br />
einen Tag kürzer gewor<strong>de</strong>n. Im Nu ist dieser Augenblick vorbei <strong>und</strong> mein Leben ist schon<br />
wie<strong>de</strong>r um einen Moment kürzer. « Dies beschreibt Eintritt in die Bodhisattva-Praxis:<br />
»Tag <strong>und</strong> Nacht, ohne je anzuhalten,<br />
verliert sich dieses Leben unaufhörlich.<br />
Es wird nie auch nur ein Stückchen länger,<br />
wie sollte da jemand wie ich nicht sterben? «<br />
Bei <strong>de</strong>r Kontemplation über Trennung be<strong>de</strong>nke:<br />
6
»Meine jetzigen Fre<strong>und</strong>e, mein Besitz, mein Körper <strong>und</strong> alles an<strong>de</strong>re, was ich so sehr schätze,<br />
wer<strong>de</strong>n mich nicht für immer begleiten. Bald schon wer<strong>de</strong>n wir getrennt sein. «<br />
Die neunfache Kontemplation über <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> beinhaltet:<br />
– die Kontemplation <strong>de</strong>r Gewissheit <strong>de</strong>s eigenen <strong>Tod</strong>es (I – III),<br />
– die Kontemplation <strong>de</strong>r Ungewissheit <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>eszeitpunktes (IV - VI) <strong>und</strong><br />
– die Kontemplation, dass uns im <strong>Tod</strong> nichts begleiten kann (VII - IX).<br />
Unser <strong>Tod</strong> ist aus drei Grün<strong>de</strong>n gewiss,<br />
– weil noch niemand <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> entging,<br />
– weil <strong>de</strong>r Körper zusammengesetzt ist <strong>und</strong><br />
– weil die Lebensspanne mit je<strong>de</strong>m Moment abnimmt.<br />
I. Die Gewissheit zu sterben, weil noch niemand <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> entging<br />
Meister Ashvagosha stellt uns die Frage:<br />
»Hast du je gesehen, je gehört<br />
o<strong>de</strong>r Dich überhaupt je gefragt,<br />
ob jemand auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n höheren Daseinsbereichen<br />
geboren wur<strong>de</strong>, ohne dann zu sterben? «<br />
Selbst die großen Weisen mit ihren W<strong>und</strong>erkräften <strong>und</strong> grenzenlosen übersinnlichen Wahrnehmungen<br />
können keinen Ort fin<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> zu entfliehen. Alle müssen sie sterben.<br />
Was sollte unsereins da an<strong>de</strong>res erwarten? So heißt es weiter:<br />
»Die großen Weisen mit ihren<br />
fünf übersinnlichen Wahrnehmungen 2<br />
können weit durch <strong>de</strong>n Raum reisen,<br />
aber an einen Ort, wo es kein Sterben gibt,<br />
können sie nicht gelangen. «<br />
Aber das ist noch nicht alles. Auch verwirklichte Wesen wie die Alleinverwirklicher <strong>und</strong> die<br />
großen Hörer – die Arhats – mussten am En<strong>de</strong> ihre erhabenen Körper zurücklassen. Was sollte<br />
unsereins da an<strong>de</strong>res erwarten? So lesen wir in Dharma-Essenz in Versen:<br />
»Wenn sogar die Alleinverwirklicher<br />
<strong>und</strong> die Hörer <strong>de</strong>r Buddhas<br />
ihren erhabenen Körper aufgeben mussten,<br />
braucht man da noch gewöhnliche MenschenErreur ! Signet non défini. anzuführen? «<br />
Be<strong>de</strong>nke obendrein: Selbst <strong>de</strong>r völlig gereinigte, vollkommene Buddha ließ seinen mit all <strong>de</strong>n<br />
beson<strong>de</strong>ren Merkmalen <strong>und</strong> Zeichen <strong>de</strong>r Vollkommenheit geschmückten Ausstrahlungskörper<br />
von vajragleicher Natur zurück. Was sollte unsereins also an<strong>de</strong>res erwarten?<br />
Der große Lehrer Ashvagosha schreibt dazu:<br />
»Wenn selbst die mit allen Merkmalen <strong>und</strong> Zeichen<br />
geschmückten Vajrakörper <strong>de</strong>r Buddhas vergänglich sind,<br />
was soll man da von gewöhnlichen Wesen erwarten,<br />
<strong>de</strong>ren Bananenbaum-Körper 3 keinerlei festen Kern besitzt? «<br />
2 Die fünf übersinnlichen Wahrnehmungen sind: die Gedanken an<strong>de</strong>rer zu kennen, auch weit Entferntes hören zu können,<br />
frühere Leben zu kennen, die Zukunft vorhersagen zu können <strong>und</strong> W<strong>und</strong>erkräfte.<br />
7
II. Die Gewissheit zu sterben, weil <strong>de</strong>r Körper zusammengesetzt ist<br />
Alles Zusammengesetzte ist vergänglich, alles Bedingte ist <strong>de</strong>m Verfall unterworfen. Dies<br />
lesen wir in Dharma-Essenz in Versen:<br />
»Ach, alles Zusammengesetzte ist vergänglich,<br />
<strong>de</strong>m Entstehen <strong>und</strong> Vergehen unterworfen. «<br />
Da dieser Körper tatsächlich etwas Zusammengesetztes, aus Bedingungen Entstan<strong>de</strong>nes ist,<br />
ist es sicher, dass er vergänglich ist <strong>und</strong> dass wir sterben wer<strong>de</strong>n.<br />
III. Die Gewissheit zu sterben, weil die Lebensspanne je<strong>de</strong>n Moment abnimmt<br />
Mit je<strong>de</strong>m Augenblick ist wie<strong>de</strong>r etwas vom Leben vergangen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> näher gekommen.<br />
Wir mögen seines Kommens nicht gewahr sein, aber er nähert sich so schnell wie <strong>de</strong>r von<br />
einem treffsicheren Bogenschützen abgeschossene Pfeil o<strong>de</strong>r wie Wasser, das die Felsen hinunterstürzt,<br />
<strong>und</strong> er ist uns so gewiss, wie einem zum <strong>Tod</strong>e Verurteilten, <strong>de</strong>r zur Hinrichtungsstätte<br />
geführt wird.<br />
Das Beispiel mit <strong>de</strong>m Pfeil beschreibt, wie schnell sich das Leben, ohne je einen Moment<br />
innezuhalten, <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong>e nähert – genauso wie <strong>de</strong>r von einem guten Schützen abgeschossene<br />
Pfeil, <strong>de</strong>r, ohne einen Moment innezuhalten, schnell sein Ziel erreicht (Dies fin<strong>de</strong>t sich in<br />
Dharma-Essenz in Versen):<br />
»So wie <strong>de</strong>r von einem geschickten Schützen<br />
von gespannter Sehne abgeschossene Pfeil,<br />
schnell sein Ziel erreicht, ohne je innezuhalten,<br />
genauso ist es mit <strong>de</strong>r Lebensspanne <strong>de</strong>r Menschen. «<br />
Das Beispiel mit <strong>de</strong>m Wasserfall beschreibt die offensichtliche Tatsache, dass es unmöglich<br />
ist, das Leben anzuhalten. Das Leben verfließt wie nie stillstehen<strong>de</strong>s, über eine Felsenklippe<br />
hinabrauschen<strong>de</strong>s Wasser. So lesen wir in Spitze <strong>de</strong>r kostbaren Versammlung:<br />
»Fre<strong>und</strong>e, dieses Leben geht so schnell vorüber<br />
wie ein über die Felsenklippe hinabstürzen<strong>de</strong>r Wildbach,<br />
doch kindische Menschen bemerken das nicht<br />
<strong>und</strong> berauschen sich hochmütig an törichten Genüssen. «<br />
Und in Dharma-Essenz in Versen fin<strong>de</strong>t sich hierzu:<br />
»Wie das Strömen eines riesigen Flusses<br />
geht das Leben voran, ohne je umzukehren. «<br />
Das dritte Beispiel beschreibt, wie unser Leben einem Verurteilten gleicht, <strong>de</strong>r zur Hinrichtungsstätte<br />
geführt wird. Mit je<strong>de</strong>m Schritt nähern wir uns <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong>. Genauso sagt es das<br />
Wunscherfüllen<strong>de</strong>r Baum Sutra:<br />
»Wie ein Verurteilter, <strong>de</strong>r zur Hinrichtungsstätte geführt wird,<br />
nähern wir uns mit je<strong>de</strong>m Schritt <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong>. «<br />
Und in Dharma-Essenz in Versen heißt es:<br />
3<br />
Mit Bananenbaum (Tibetisch: chu-shing, »Wasser-Baum«) ist <strong>de</strong>r Pisang-Baum gemeint, eine Bananenstau<strong>de</strong>, die in einer<br />
einzigen Vegetationsperio<strong>de</strong> baumhoch wird <strong>und</strong> Früchte trägt. Der Stamm dieser Stau<strong>de</strong> wirkt kräftig, besteht aber fast<br />
nur aus Wasser, ohne hölzernes Stützgewebe, <strong>und</strong> fällt kurz nach <strong>de</strong>m Früchtetragen in sich zusammen.<br />
8
»So wie sich ein zum <strong>Tod</strong>e Verurteilter mit je<strong>de</strong>m seiner Schritte<br />
<strong>de</strong>r Hinrichtung nähert, genauso ist es mit <strong>de</strong>m Leben <strong>de</strong>r Menschen. «<br />
Auch die Begründung für die Ungewissheit <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>eszeitpunktes ist dreifach. Die <strong>Tod</strong>eszeit<br />
lässt sich nicht vorhersagen,<br />
– weil die Lebensdauer unbestimmt ist,<br />
– weil <strong>de</strong>r Körper nicht von Dauer ist <strong>und</strong><br />
– weil es viele <strong>Tod</strong>esursachen gibt.<br />
IV. Ungewisser <strong>Tod</strong>eszeitpunkt, weil die Lebensdauer unbestimmt ist<br />
Für menschliche Wesen in an<strong>de</strong>ren Daseinsbereichen o<strong>de</strong>r auf an<strong>de</strong>ren Planeten ist die Lebensdauer<br />
gewiss, aber für uns hier auf <strong>de</strong>m Planeten Er<strong>de</strong> ist sie es nicht. So heißt es in <strong>de</strong>r<br />
Abhidharma-Schatzkammer:<br />
»Die Lebensspanne hier ist unbestimmt:<br />
Am En<strong>de</strong> (eines Weltzeitalters) beträgt sie zehn Jahre<br />
<strong>und</strong> zu Anfang ist sie unermesslich.«<br />
Wie ungewiss unsere Lebensdauer ist, beschreibt Dharma-Essenz in Versen:<br />
»Manche sterben im Mutterleib<br />
<strong>und</strong> manche bei <strong>de</strong>r Geburt,<br />
manche, noch ehe sie laufen können,<br />
manche bei vollen Kräften,<br />
manche jung <strong>und</strong> manche alt<br />
<strong>und</strong> manche in <strong>de</strong>r Blüte ihres Lebens –<br />
früher o<strong>de</strong>r später müssen alle gehen. «<br />
V. Ungewisser <strong>Tod</strong>eszeitpunkt, weil <strong>de</strong>r Körper nicht von Dauer ist<br />
In diesem Körper gibt es nicht einen einzigen Bestandteil von wirklich dauerhafter, fester<br />
Beschaffenheit, nur seine (vergänglichen) sechs<strong>und</strong>dreißig unreinen Substanzen. Hierzu lesen<br />
wir in Eintritt in die Bodhisattva-Praxis:<br />
»Öffne zuerst schichtweise<br />
die Haut mit <strong>de</strong>inem Intellekt.<br />
Dann nimm das Skalpell unterschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Weisheit<br />
<strong>und</strong> trenne das Fleisch vom Knochenskelett.<br />
Spalte auch die Knochen<br />
<strong>und</strong> inspiziere ihr Innerstes –<br />
schaue aufs Genaueste nach <strong>und</strong> prüfe:<br />
Gibt es hier irgen<strong>de</strong>twas dauerhaft Bleiben<strong>de</strong>s? «<br />
VI. Ungewisser <strong>Tod</strong>eszeitpunkt, weil es viele <strong>Tod</strong>esursachen gibt<br />
Es gibt nichts, das nicht zur <strong>Tod</strong>esursache für einen selbst o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re wer<strong>de</strong>n könnte. So<br />
lesen wir im Brief an einen Fre<strong>und</strong>:<br />
»Wo doch dieses vom Wind vieler Gefahren gebeutelte Leben<br />
so vergänglich ist wie Luftblasen auf <strong>de</strong>m Wasser,<br />
da ist es wahrlich erstaunlich, dass aufs Ausatmen ein Einatmen folgt<br />
<strong>und</strong> dass man nach einem Schlaf wie<strong>de</strong>r munter erwacht.«<br />
Auch die Begründung dafür, dass uns im <strong>Tod</strong> nichts begleiten wird, ist dreifach, <strong>de</strong>nn:<br />
9
– Nahrung <strong>und</strong> Besitz wer<strong>de</strong>n uns nicht begleiten,<br />
– Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Verwandte wer<strong>de</strong>n uns nicht begleiten<br />
– <strong>und</strong> auch unser Körper wird uns nicht begleiten.<br />
VII. Nahrung <strong>und</strong> Besitz wer<strong>de</strong>n uns im <strong>Tod</strong> nicht begleiten<br />
Dazu heißt es in Eintritt in die Bodhisattva-Praxis:<br />
»Auch wenn ich großen Besitz erworben habe<br />
<strong>und</strong> lange Zeit glücklich lebe,<br />
so wer<strong>de</strong> ich doch, wie von Dieben ausgeraubt,<br />
nackt <strong>und</strong> mit leeren Hän<strong>de</strong>n von dannen gehen. «<br />
Nicht nur wird uns unser Besitz im <strong>Tod</strong> nichts nützen, er ist zu<strong>de</strong>m jetzt wie auch für die Zukunft<br />
eine Quelle von Leid. In diesem Leben wird er zur Ursache von Leid, weil wir uns um<br />
Besitz streiten, ihn gegen Diebe bewachen müssen <strong>und</strong> sein Sklave wer<strong>de</strong>n. Und in zukünftigen<br />
Leben wird das zur vollen Reife kommen<strong>de</strong> Ergebnis hiervon sein, dass wir (aufgr<strong>und</strong><br />
von Streit um Besitz, aus Habgier <strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen) in nie<strong>de</strong>ren Bereichen wie<strong>de</strong>rgeboren<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
VIII. Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Verwandte wer<strong>de</strong>n uns im <strong>Tod</strong> nicht begleiten<br />
Dazu fin<strong>de</strong>t sich in Eintritt in die Bodhisattva-Praxis:<br />
»Wenn die <strong>Tod</strong>esst<strong>und</strong>e geschlagen hat,<br />
sind dir <strong>de</strong>ine Kin<strong>de</strong>r keine Zuflucht,<br />
auch Vater o<strong>de</strong>r Mutter <strong>und</strong> <strong>de</strong>ine Fre<strong>und</strong>e nicht –<br />
niemand kann dann <strong>de</strong>ine Zuflucht sein.«<br />
Nicht nur wer<strong>de</strong>n uns Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Verwandte im <strong>Tod</strong> nichts nützen, sie sind zu<strong>de</strong>m jetzt wie<br />
auch für die Zukunft eine Quelle von Leid. In diesem Leben wer<strong>de</strong>n sie zur Ursache von Leid,<br />
weil wir aus Sorge um ihr Leben <strong>und</strong> Wohlergehen sowie aus Angst, sie könnten Nie<strong>de</strong>rlagen<br />
erleben <strong>und</strong> scheitern, uns in großes Leid verstricken. Und in zukünftigen Leben wird das zur<br />
vollen Reife kommen<strong>de</strong> Ergebnis hiervon sein, dass wir (aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r für sie ausgeführten<br />
schädlichen Handlungen) in <strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>ren Bereichen wie<strong>de</strong>rgeboren wer<strong>de</strong>n.<br />
IX. Unser Körper wird uns im <strong>Tod</strong> nicht begleiten<br />
Auch unser Körper wird uns im <strong>Tod</strong> nichts nützen, <strong>de</strong>nn er kann uns (a) trotz all seiner Fähigkeiten<br />
<strong>und</strong> (b) auch aufgr<strong>und</strong> seiner Beschaffenheit unmöglich begleiten.<br />
(a) Wie stark <strong>und</strong> kräftig wir auch sein mögen, wir können <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> nicht abwen<strong>de</strong>n. Wie<br />
schnell <strong>und</strong> flink wir auch laufen mögen, wir können <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> nicht entfliehen. Wie gelehrt<br />
<strong>und</strong> wortklug wir auch sein mögen, wir können <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> nicht durch geschicktes Verhan<strong>de</strong>ln<br />
aufhalten – genauso, wie niemand in <strong>de</strong>r Lage ist, die Sonne festzuhalten, um zu verhin<strong>de</strong>rn,<br />
dass sie hinter <strong>de</strong>m Berg untergeht.<br />
(b) Auch aufgr<strong>und</strong> seiner Beschaffenheit lässt sich <strong>de</strong>r Körper nicht mitnehmen. Dazu lesen<br />
wir in Eintritt in die Bodhisattva-Praxis:<br />
»Dieser unter großen Schwierigkeiten geformte Körper,<br />
<strong>de</strong>n du nährst <strong>und</strong> klei<strong>de</strong>st, um ihn zu schützen,<br />
wird dich nicht begleiten.<br />
Er wird von Vögeln <strong>und</strong> H<strong>und</strong>en gefressen<br />
o<strong>de</strong>r in lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>m Feuer verbrannt wer<strong>de</strong>n;<br />
10
er wird im Wasser verwesen<br />
o<strong>de</strong>r in einem Erdloch verscharrt wer<strong>de</strong>n. «<br />
Nicht nur wird uns dieser Körper im <strong>Tod</strong> nichts nützen, er ist zu<strong>de</strong>m jetzt wie auch für die<br />
Zukunft eine Quelle von Leid. In diesem Leben verursacht er mancherlei Ungemach, weil er<br />
keine Krankheiten, keine Hitze, keine Kälte, keinen Hunger <strong>und</strong> keinen Durst erträgt. Zu<strong>de</strong>m<br />
entsteht aufgr<strong>und</strong> von Befürchtungen, gefesselt, gesch<strong>und</strong>en, geschlagen <strong>und</strong> getötet zu wer<strong>de</strong>n,<br />
großes Leid. Und in zukünftigen Leben wer<strong>de</strong>n wir als Folge <strong>de</strong>s Karmas, das aufgr<strong>und</strong><br />
<strong>de</strong>s Körpers entstan<strong>de</strong>n ist (d.h. aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r aus unserer Anhaftung an ihn verübten Handlungen),<br />
in <strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>ren Bereichen wie<strong>de</strong>rgeboren.<br />
Rückschlüsse aus <strong>de</strong>r Beobachtung <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es an<strong>de</strong>rer<br />
Je<strong>de</strong>s Mal, wenn wir an<strong>de</strong>re sterben sehen, davon hören o<strong>de</strong>r uns daran erinnern, sollten wir<br />
dies zu uns selbst in Beziehung setzen <strong>und</strong> darüber nach<strong>de</strong>nken:<br />
So wird zum Beispiel ein Verwandter, <strong>de</strong>r gut bei Kräften war, <strong>de</strong>r ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> strahlend aussah,<br />
sich wohl fühlte <strong>und</strong> keinen Gedanken an <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> hatte, plötzlich von einer todbringen<strong>de</strong>n<br />
Krankheit befallen. Seine Kräfte schwin<strong>de</strong>n, er kann nicht mehr aufrecht sitzen, sein Gesicht<br />
verliert alle Frische, das Blut verlässt die Wangen <strong>und</strong> er wird blass. Er hat Schmerzen,<br />
das Fieber setzt ihm zu <strong>und</strong> nichts hilft. Nichts erleichtert seine Agonie. Medikamente <strong>und</strong><br />
ärztliche Kunst versagen; Rituale <strong>und</strong> das Ausführen von Wunschgebeten bleiben wirkungslos.<br />
Er weiß, dass <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> kommt <strong>und</strong> kann nichts dagegen tun. Die Angehörigen versammeln<br />
sich zum letzten Mal um ihn herum. Er isst zum letzten Mal <strong>und</strong> spricht die letzten Worte.<br />
Dann sollten wir be<strong>de</strong>nken: »Er <strong>und</strong> ich sind von gleicher Natur <strong>und</strong> Beschaffenheit. Unsere<br />
Körper haben die gleichen Eigenschaften <strong>und</strong> genau wie er bin auch ich keineswegs jenseits<br />
<strong>de</strong>r Natur aller Dinge. «<br />
Sobald er <strong>de</strong>n letzten Atemzug getan hat, mag ihn niemand von <strong>de</strong>nen, für die er wichtig war<br />
<strong>und</strong> die ihn so geliebt haben, länger im Haus behalten. Er ist nicht einmal mehr für einen Tag<br />
gern gesehen. Auf einer Bahre festgeschnürt, die Last mit einem Tuch be<strong>de</strong>ckt, tragen ihn die<br />
Leichenträger hinaus. In diesem Moment greifen einige <strong>de</strong>r Angehörigen nach <strong>de</strong>m Leichnam,<br />
als ob sie sich an ihn hängen wollten; an<strong>de</strong>re weinen, als wären sie ihm ganz nahe <strong>und</strong><br />
einige sinken zu Bo<strong>de</strong>n, als wür<strong>de</strong>n sie ohnmächtig, woraufhin an<strong>de</strong>re sie ermahnen: »Was<br />
führt ihr euch bloß so kindisch auf! Dieser Körper ist doch nur noch Er<strong>de</strong>, er ist nicht mehr als<br />
ein Stein. «<br />
Wenn du siehst, wie <strong>de</strong>r Leichnam über die Türschwelle getragen wird <strong>und</strong> es klar ist, dass er<br />
unter keinen Umstän<strong>de</strong>n mehr zurückkehrt, dann <strong>de</strong>nke: »Auch mir wird es nicht an<strong>de</strong>rs ergehen.«<br />
Wenn du siehst, wie <strong>de</strong>r zum Leichenacker gebrachte Körper von Würmern zersetzt <strong>und</strong><br />
von H<strong>und</strong>en, Schakalen usw. gefressen wird <strong>und</strong> wie seine Knochen überallhin verstreut wer<strong>de</strong>n,<br />
dann <strong>de</strong>nke: »Auch mir wird es nicht an<strong>de</strong>rs ergehen.«<br />
Wenn du hörst: »Diese o<strong>de</strong>r jene Person ist gestorben« o<strong>de</strong>r »Es gibt dort einen Toten«, dann<br />
<strong>de</strong>nke in gleicher Weise: »Auch mir wird es nicht an<strong>de</strong>rs ergehen. «<br />
Wenn du dich daran erinnerst, wer schon alles von <strong>de</strong>inen Fre<strong>und</strong>en in diesem Land, an diesem<br />
Ort o<strong>de</strong>r in diesem Haus gestorben ist, ob alt o<strong>de</strong>r jung – die verschie<strong>de</strong>nen Menschen,<br />
mit <strong>de</strong>nen du zusammenlebtest – dann mache dir immer wie<strong>de</strong>r klar, dass es dir schon bald<br />
genauso ergehen wird. So heißt es in einem Sutra:<br />
»Wir wissen nicht, was früher eintrifft,<br />
<strong>de</strong>r morgige Tag o<strong>de</strong>r das nächste Leben.<br />
Deshalb ist es weiser, sich ums nächste Leben zu kümmern,<br />
als um die Angelegenheiten von morgen.«<br />
11
Wenn wir verstehen, dass alles Zusammengesetzte vergänglich ist, vertreibt dies unser starkes<br />
Haften an dieses Leben. Es stärkt zu<strong>de</strong>m unser Vertrauen (in die Dharmapraxis) <strong>und</strong> wir gewinnen<br />
freudige Ausdauer als Fre<strong>und</strong>in. Da wir uns schnell von Anhaftung <strong>und</strong> Abneigung<br />
befreien, wird die Voraussetzung geschaffen, die ursprüngliche Gleichheit <strong>de</strong>r Phänomene zu<br />
verstehen.<br />
Gleichgültige Faulheit aufgeben<br />
Gampopa, Schmuck <strong>de</strong>r Befreiung, Kapitel 14: „Gleichgültige Faulheit besteht im Haften an<br />
Annehmlichkeiten wie Liegen, Bequemlichkeit, Schlafens <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren Formen behaglichen<br />
Müßiggangs. Solcher Müßiggang muss aufgegeben wer<strong>de</strong>n. Warum? Weil das Leben nicht<br />
auf uns wartet. So lehrt uns <strong>de</strong>r Buddha in einem Sutra:<br />
»Mönche, wo doch unweigerlich <strong>de</strong>r Verstand nachlässt, die Lebenskraft abnimmt, die<br />
Lebensfaktoren sich erschöpfen <strong>und</strong> auch die Unterweisungen Eures Lehrers verloren<br />
gehen wer<strong>de</strong>n – warum praktiziert ihr da nicht mit freudiger Ausdauer <strong>und</strong> beharrlicher<br />
Stärke?«<br />
Und in Eintritt in die Bodhisattva-Praxis heißt es:<br />
»Da <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> so schnell naht, erwirb die Ansammlungen, solange noch Zeit dafür ist, ...«<br />
Vielleicht <strong>de</strong>nkst du, es wer<strong>de</strong> ausreichen, die Ansammlungen (von positiver Kraft <strong>und</strong> Gewahrsein)<br />
noch kurz vor <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> zu erwerben. Doch wenn <strong>de</strong>ine St<strong>und</strong>e geschlagen hat,<br />
bleibt dafür keine Zeit. So heißt es weiter: »...<strong>de</strong>nn selbst wenn ich dann die Faulheit aufgebe,<br />
bleibt keine Zeit, noch irgen<strong>de</strong>twas zu tun.« Vielleicht <strong>de</strong>nkst du, du wür<strong>de</strong>st schon nicht sterben,<br />
bevor du zu heilsamem Han<strong>de</strong>ln gekommen bist. Doch so zu <strong>de</strong>nken ist töricht. Es heißt:<br />
»Der unberechenbare Herr <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es<br />
wartet nicht ab, ob etwas erledigt ist o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Ob krank o<strong>de</strong>r bei besten Kräften,<br />
aufs Leben ist kein Verlass, <strong>de</strong>nn im Nu ist es vorbei. «<br />
Wie man diese faule Gleichgültigkeit aufgibt? Befreie dich von ihr, so wie du eine Schlange<br />
fortschleu<strong>de</strong>rst, die dir in <strong>de</strong>n Schoß kriecht, o<strong>de</strong>r wie du das Feuer löscht, wenn <strong>de</strong>in Haar in<br />
Flammen steht. So steht an selber Stelle:<br />
»Genauso, wie du sofort aufspringst,<br />
wenn dir eine Schlange in <strong>de</strong>n Schoß kriecht,<br />
solltest du Schläfrigkeit <strong>und</strong> Gleichgültigkeit,<br />
schnellstens vertreiben, sobald sie kommen. «<br />
Und im Brief an einen Fre<strong>und</strong> lesen wir:<br />
»Stehen plötzlich <strong>de</strong>in Haar o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ine Klei<strong>de</strong>r in Flammen,<br />
so tust du alles, um sie zu löschen<br />
<strong>und</strong> ein erneutes Aufflackern zu verhin<strong>de</strong>rn.<br />
Nichts ist dann wichtiger <strong>und</strong> dringen<strong>de</strong>r als das. «“<br />
Hier nun ein Auszug aus Jamgön Kongtrul Lodrö Thayes Erklärungen in seinem Kommentar<br />
zu <strong>de</strong>n sieben Punkten <strong>de</strong>s Geistestrainings:<br />
Die Anwendung <strong>de</strong>r Lodjong Unterweisungen in diesem Leben<br />
Merksatz Nr. 17:<br />
Wen<strong>de</strong> die fünf Kräfte an, welche die Essenz<br />
12
<strong>de</strong>r mündlichen Unterweisungen zusammenfassen<br />
Wenn man die vielen tiefgründigen mündlichen Unterweisungen zur Praxis <strong>de</strong>s edlen Dharma<br />
zu einer Instruktion verbin<strong>de</strong>t, welche die Schlüsselpunkte <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>finitiv zusammenfasst,<br />
so sind dies die fünf Kräfte.<br />
– Von „fünf Kräften“ zu sprechen dient dazu, sich auf einfache Art die Essenz <strong>de</strong>r Unterweisungen<br />
einzuprägen: Bodhicitta mit fünf Aspekten.<br />
Die erste ist die Kraft <strong>de</strong>s Antriebs. Damit ist gemeint, <strong>de</strong>m Geist einen starken Impuls zu<br />
geben, in<strong>de</strong>m du dir sagst: „Von jetzt an bis zur Erleuchtung, wenigstens aber bis ich sterbe,<br />
<strong>und</strong> unter allen Umstän<strong>de</strong>n dieses Jahr <strong>und</strong> diesen Monat, ganz beson<strong>de</strong>rs aber von heute bis<br />
morgen, wer<strong>de</strong> ich mich nie von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Aspekten <strong>de</strong>s Erleuchtungsgeistes trennen.“<br />
– Dies ist <strong>de</strong>r Antrieb zur Achtsamkeit, stets ans Bodhicitta zu <strong>de</strong>nken <strong>und</strong> nicht in gewöhnliche<br />
Sichtweisen zu fallen, nicht einzuschlafen <strong>und</strong> die Zeit bis zum <strong>Tod</strong> ungenutzt verstreichen<br />
zu lassen.<br />
Die zweite ist die Kraft <strong>de</strong>r Gewöhnung. Was immer für Handlungen du ausführst – seien sie<br />
heilsam, nichtheilsam o<strong>de</strong>r neutral – bewahre eine ganz sorgfältige Achtsamkeit <strong>und</strong> praktiziere<br />
so immer wie<strong>de</strong>r, ohne dich je von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Aspekten <strong>de</strong>s Erleuchtungsgeistes zu<br />
trennen. Kurz gesagt, übe dich im Erleuchtungsgeist, <strong>de</strong>r wichtigsten aller heilsamen Praktiken.<br />
– Wir setzen <strong>de</strong>n eben erwähnten Antrieb bei allen Handlungen um, bis dies ganz natürlich<br />
wird. Das ist ein langer Weg, <strong>de</strong>r viel Ausdauer braucht. aber mit <strong>de</strong>r Übung nimmt unsere<br />
Fähigkeit zu, an<strong>de</strong>ren zu helfen.<br />
– Aus Bodhicitta zu han<strong>de</strong>ln be<strong>de</strong>utet auch, Risiken einzugehen, nicht unnötig zu zögern, uns<br />
auf Situationen einzulassen, uns nackt zu zeigen, auch mit unseren Ängsten, Deckmäntelchen<br />
fallen zu lassen...<br />
– Je mehr wir <strong>de</strong>m Bodhicitta folgen, <strong>de</strong>sto mehr wer<strong>de</strong>n wir es in seiner ganzen Tiefe verstehen.<br />
Die dritte ist die Kraft <strong>de</strong>r heilsamen Saat. Um <strong>de</strong>n Erleuchtungsgeist hervorzubringen <strong>und</strong><br />
zu mehren, bemühe dich unaufhörlich mit Körper, Re<strong>de</strong> <strong>und</strong> Geist um heilsames Han<strong>de</strong>ln,<br />
ohne je selbstzufrie<strong>de</strong>n zu meinen, du hättest bereits genug heilsame Handlungen ausgeführt.<br />
– Immer weiter vorwärts gehen, Schritt um Schritt, auch wenn es unangenehm wird, keine<br />
Selbstzufrie<strong>de</strong>nheit.<br />
– Wichtig ist nicht so sehr, was wir tun, son<strong>de</strong>rn mit welchem Bewusstsein wir es tun. Gutes<br />
tun <strong>und</strong> dann stolz darüber sein ist u.U. weniger heilsam als Fehler zu begehen <strong>und</strong> dann<br />
aus diesen zu lernen.<br />
– Es braucht Achtsamkeit, Sorgfalt <strong>und</strong> Bewusstheit vor, während <strong>und</strong> nach einer je<strong>de</strong>n<br />
Handlung. Wir müssen uns stets unserer Gedanken, unserer Motivation bewusst sein, um<br />
diese eventuell korrigieren zu können.<br />
– Konkret be<strong>de</strong>utet das, sich bei je<strong>de</strong>r Handlung zu fragen: Warum tue ich das? Was wird es<br />
bewirken? Wird es wirklich hilfreich sein? Was bewegt mich dazu? Kann daraus Scha<strong>de</strong>n<br />
entstehen? Wie wer<strong>de</strong>n das die an<strong>de</strong>ren erleben? Was wäre das Weiseste? Wir vermei<strong>de</strong>n<br />
eine falsche Spontaneität, entwickeln größere Klarheit, eine reinere Motivation <strong>und</strong> eine<br />
umfassen<strong>de</strong>re Sicht ...<strong>und</strong> dann geben wir ohne zu zögern unser Bestes.<br />
Die vierte ist die Kraft <strong>de</strong>s Zurückweisens. Wann immer Gedanken auftauchen, die dich selbst<br />
wichtig nehmen, weise solche Gedanken <strong>de</strong>s Ichanhaftens weit von dir, in<strong>de</strong>m du <strong>de</strong>nkst:<br />
13
„In <strong>de</strong>r Vergangenheit habt ihr mich durch <strong>de</strong>n anfangslosen Daseinskreislauf irren lassen<br />
<strong>und</strong> ich musste euretwegen alle Arten von Lei<strong>de</strong>n erfahren. Auch für alle Negativität <strong>und</strong> alles<br />
Leid, die mir in diesem Leben begegnen, seid einzig ihr verantwortlich. In eurer Gesellschaft<br />
gibt es kein Glück. Deshalb muss ich jetzt alles daran setzen, euch ein En<strong>de</strong> zu bereiten.“<br />
– Seien wir nicht naiv: Sobald es ans Eingemachte geht, sind wir selbst uns wichtiger als die<br />
an<strong>de</strong>ren. Die Ichbezogenheit zurückzuweisen be<strong>de</strong>utet, diesen Mechanismus konsequent zu<br />
entlarven <strong>und</strong> umzukehren. Wenn wir das nicht tun, ist unsere Dharmapraxis unaufrichtig<br />
o<strong>de</strong>r halbherzig.<br />
– Ein kurzer Blick genügt: Sobald wir <strong>de</strong>n Ich-Mechanismus bemerken, wen<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n<br />
Geist unverzüglich <strong>de</strong>m Bodhicitta zu. Kein Gr<strong>und</strong>, in Selbstkritik <strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen hängen<br />
zu bleiben.<br />
Die fünfte ist die Kraft <strong>de</strong>r Wunschgebete. Zum Abschluss einer je<strong>de</strong>n heilsamen Handlung<br />
bete: „Möge ich, allgemein gesprochen, fähig wer<strong>de</strong>n, alle Wesen selbst allein zur Buddhaschaft<br />
zu führen. Und möge ich insbeson<strong>de</strong>re von jetzt an bis zum Erlangen <strong>de</strong>r Buddhaschaft<br />
selbst im Traum die bei<strong>de</strong>n Aspekte <strong>de</strong>s kostbaren Erleuchtungsgeistes nicht vergessen,<br />
son<strong>de</strong>rn sie stets weiter anwachsen lassen. Möge ich in <strong>de</strong>r Lage sein, alle schwierigen<br />
Situationen als Fre<strong>und</strong>e <strong>de</strong>s Erleuchtungsgeistes zu nutzen!“<br />
Sprich dies aufrichtig <strong>und</strong> widme auf diese Weise sämtliches Heilsame diesem Ziel.<br />
– Alles, was wir tun, widmen wir zum Abschluss <strong>und</strong> besiegeln es so. Wir beschließen die<br />
Handlung mit <strong>de</strong>rselben Bodhisattva-Motivation, mit <strong>de</strong>r wir sie begonnen haben. Widmen<br />
be<strong>de</strong>utet, die heilsamen Kräfte ganz aufs Höchste auszurichten.<br />
– Sind wir im Bodhicitta, dann wächst dies auch im Traum weiter.<br />
– Wunschgebete sind ein wesentlicher Teil <strong>de</strong>r Bodhisattva-Praxis; alle Wünsche wer<strong>de</strong>n<br />
einmal wahr wer<strong>de</strong>n.<br />
– Die fünf Kräfte sind wie die Silbe HUNG: Sie vereinigen in sich die fünf Kayas <strong>und</strong> die fünf<br />
Aspekte zeitlosen Gewahrseins. Da sie die Bodhicittapraxis <strong>und</strong> somit allen Dharma zusammenfassen,<br />
beinhalten sie die vollkommene Erleuchtung.<br />
Was können wir selbst im Sterben tun?<br />
‣ eine Körperhaltung einnehmen, die geistige Klarheit för<strong>de</strong>rt (sitzen<strong>de</strong> Meditationshaltung<br />
o<strong>de</strong>r liegend als „schlafen<strong>de</strong>r Löwe“ wie Buddha Shakyamuni)<br />
‣ <strong>de</strong>n Lama <strong>und</strong> die Zuflucht vor uns o<strong>de</strong>r über unserem Kopf visualisieren, Vertrauen entwickeln<br />
‣ Zufluchtsgebete o<strong>de</strong>r Mantras rezitieren<br />
‣ unsere Herzenspraxis ausführen<br />
‣ starkes Bodhicitta hervorbringen, mit <strong>de</strong>m entschlossenen Impuls, unsere Praxis unter<br />
allen Umstän<strong>de</strong>n fortzusetzen<br />
‣ uns ganz auf <strong>de</strong>n Ort unserer ersehnten <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> ausrichten (z.B. Dewatschen)<br />
‣ Mahamudra meditieren<br />
‣ Phowa<br />
Dies alles ist unter Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utlich schwieriger, wenn wir <strong>de</strong>n Geist benebeln<strong>de</strong><br />
Schmerzmittel bekommen.<br />
Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye schreibt hierzu (an gleicher Stelle):<br />
14
Die Anwendung <strong>de</strong>r Lodjong Unterweisungen im Sterben<br />
Auf die Frage, wie die Anweisungen dieser Dharmatradition zum Zeitpunkt <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es zu<br />
praktizieren sind, heißt es:<br />
– Ein Dharmapraktizieren<strong>de</strong>r bereitet sich auf seinen <strong>Tod</strong> vor: Er erbittet Unterweisungen,<br />
diese hervorragen<strong>de</strong> Gelegenheit aufs Beste zu nutzen, <strong>de</strong>nn im <strong>Tod</strong> können wir einen<br />
Riesenschritt in Richtung Erleuchtung tun.<br />
Merksatz Nr. 18: Die Mahayana-Unterweisungen für das Hinüberwechseln sind ebenfalls<br />
diese fünf Kräfte. Wichtig ist zu<strong>de</strong>m <strong>de</strong>in Verhalten.<br />
– Dies sind die essentiellen Mahayana Phowa-Instruktionen: Das Hinüberwechseln geschieht<br />
im Bodhicitta.<br />
Wenn jemand, <strong>de</strong>r in diesem Dharma geübt ist, von einer Krankheit befallen ist, wo <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong><br />
gewiss ist, dann sollte er als erstes sämtliche Besitztümer weitergeben. Allgemein können<br />
wir sie <strong>de</strong>m Lama <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Juwelen darbringen <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re auch dorthin schenken,<br />
wo wir selbst meinen, dass dies von großem Nutzen sei. Dies ohne eine Spur von Anhaften,<br />
Festhalten o<strong>de</strong>r Sorge zu tun ist die Kraft <strong>de</strong>r heilsamen Saat.<br />
– Es geht darum, vor <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> so viele Verdienste wie möglich anzusammeln, alle Anhaftungen<br />
zu lösen <strong>und</strong> sich von allen Ängsten zu befreien.<br />
– Der größte Nutzen entsteht, wenn unsere Freigebigkeit zum höchsten, geistigen Wohl <strong>de</strong>r<br />
Wesen beiträgt, aber es braucht auch materielle Unterstützung bei Hunger, Krankheit<br />
usw.<br />
Falls möglich, sollten wir siebenteilige Gebete darbringen, aber wenn das nicht möglich ist,<br />
sollten wir mit einsgerichtetem Geist beten:<br />
„Durch die Kraft aller Wurzeln <strong>de</strong>s Heilsamen, die ich in <strong>de</strong>n drei Zeiten angesammelt haben<br />
mag, möge ich in allen Leben nie <strong>de</strong>n kostbaren Erleuchtungsgeist vergessen <strong>und</strong> ihn<br />
durch Übung stets weiter anwachsen lassen. Möge ich authentischen Lamas begegnen, die<br />
diese Lehren unterrichten. Lama <strong>und</strong> Ihr kostbaren Juwelen, bitte segnet mich, dass dies<br />
genauso geschieht.“ Dies ist die Kraft <strong>de</strong>r Wunschgebete.<br />
– Wir richten <strong>de</strong>n Geist ganz auf die Zeit nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> aus, mit <strong>de</strong>m einzigen Wunsch,<br />
stets weiter im Bodhicitta zu wachsen – <strong>und</strong> dafür brauchen wir authentische spirituelle<br />
Lehrer! Möge das Band mit ihnen nie unterbrochen wer<strong>de</strong>n!<br />
– Wir machen Wünsche wie: „Mögen mein Körper, Re<strong>de</strong> <strong>und</strong> Geist immer die Wünsche<br />
alle Lebewesen erfüllen!“ „Mögen alles Leid durch Alter <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> in mich verschmelzen!“<br />
„Mögen meine sämtlichen Verdienste <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>r Wesen dienen!“ Durch diese<br />
Wünsche bis zum letzten Atemzug verweilt unser Geist zutiefst im Heilsamen, was die<br />
beste Vorbereitung auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> ist.<br />
– Wir können auch an<strong>de</strong>re Wünsche machen, die unseren Fähigkeiten entsprechen: im <strong>Tod</strong><br />
in <strong>de</strong>n Dharmakaya aufzugehen, durch das Erkennen <strong>de</strong>r Gottheiten im <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>n Sambhogakaya<br />
zu verwirklichen, bewusst als Nirmanakaya Geburt anzunehmen, die Bewusstseinsübertragung<br />
ins Herz Amitabhas (o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer Buddhas) zu vollziehen o<strong>de</strong>r in die<br />
reinen Län<strong>de</strong>r geleitet zu wer<strong>de</strong>n.<br />
– Je mehr wir darin geübt sind, <strong>de</strong>sto leichter wer<strong>de</strong>n uns diese Wünsche im Sterben fallen.<br />
„Dieses Haften am geliebten Ich hat mich in unzähligen Leben lei<strong>de</strong>n lassen <strong>und</strong> jetzt erfahre<br />
ich zu<strong>de</strong>m das Leid <strong>de</strong>s Sterbens. Da ein ‚Ich‘ o<strong>de</strong>r ‚Geist‘ letztendlich nicht existie-<br />
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en, gibt es auch keinen <strong>Tod</strong>. Ich wer<strong>de</strong> mein Bestes tun, um Dich, dieses Ichanhaften, das<br />
<strong>de</strong>nkt ‚Ich bin krank‘ <strong>und</strong> ‚Ich sterbe‘, zu vernichten.“ Diese <strong>und</strong> ähnliche Gedanken sind<br />
die Kraft <strong>de</strong>s Zurückweisens.<br />
– Aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s Haftens an einem vermeintlichen Ich wer<strong>de</strong>n wir wie<strong>de</strong>rgeboren <strong>und</strong> es ist<br />
nur dieses Ichanhaften, das Angst hat zu sterben. Jetzt ist es Zeit, mit dieser I<strong>de</strong>ntifikation<br />
aufzuräumen <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Geist weit wie <strong>de</strong>r Himmel wer<strong>de</strong>n zu lassen.<br />
Zu <strong>de</strong>nken: „We<strong>de</strong>r im Sterben <strong>und</strong> im Zwischenzustand, noch in allen zukünftigen Leben<br />
wer<strong>de</strong> ich mich von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Arten <strong>de</strong>s kostbaren Erleuchtungsgeistes trennen“, das ist<br />
die Kraft <strong>de</strong>s Antriebs.<br />
– Diese klare innere Ausrichtung wird bewirken, dass wir das Bodhicitta tatsächlich stets<br />
wie<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />
Und die bei<strong>de</strong>n zuvor geübten Arten <strong>de</strong>s Erleuchtungsgeistes klar gegenwärtig zu halten,<br />
das ist die Kraft <strong>de</strong>r Gewöhnung.<br />
– Es ist wie immer: Wir üben unverzüglich <strong>und</strong> kontinuierlich das, was wir uns wünschen –<br />
<strong>und</strong> die Metho<strong>de</strong> dafür ist Tonglen. Mit <strong>de</strong>m letzten Ausatmen schenken wir ein letztes<br />
Mal alles Glück <strong>und</strong> verweilen dann im Gewahrsein <strong>de</strong>r Natur aller Dinge.<br />
Die Hauptsache ist, all dies einsgerichtet zu praktizieren, aber als Hilfe ist auch <strong>de</strong>in Verhalten<br />
wichtig: Nimm die Schlüsselhaltung in sieben Punkten ein o<strong>de</strong>r, falls das nicht möglich<br />
ist, lege dich auf die rechte Seite <strong>und</strong> lasse die Wange in <strong>de</strong>r rechten Hand ruhen, während<br />
du mit <strong>de</strong>m kleinen Finger das rechte Nasenloch verschließt, so dass <strong>de</strong>r Atem durch<br />
das linke Nasenloch fließt.<br />
Beginne mit Liebe <strong>und</strong> Mitgefühl <strong>und</strong> übe dann das Geben <strong>und</strong> Annehmen in Verbindung<br />
mit <strong>de</strong>m Kommen <strong>und</strong> Gehen <strong>de</strong>s Atems.<br />
– Die Schlüsselhaltung in sieben Punkten ist für die meisten Praktizieren<strong>de</strong>n zu schwierig<br />
im Sterben.<br />
– Die an<strong>de</strong>re Haltung ist dieselbe, die wir auch beim Schlafen einnehmen. Sie verschließt<br />
die Energiekanäle auf <strong>de</strong>r rechten Körperseite, in <strong>de</strong>nen sonst viel emotionale, samsarische<br />
Energie zirkuliert. Die Weisheitsenergien <strong>de</strong>r linken Körperhälfte hingegen lassen<br />
wir frei zirkulieren. Dies hilft uns, im Bodhicitta zu verweilen.<br />
Danach ruhe in <strong>de</strong>r Dimension frei von allem intellektuellen Haften, gewahr, dass alles –<br />
Samsara <strong>und</strong> Nirwana, Geburt <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> usw. – Erscheinungen <strong>de</strong>s Geistes sind <strong>und</strong> dass<br />
<strong>de</strong>r Geist als solcher keinerlei Wirklichkeit besitzt. Praktiziere in diesem Gewahrsein solange<br />
du noch atmen kannst.<br />
Es gibt eine Menge von Unterweisungen für <strong>de</strong>n Moment <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es, die viel versprechen,<br />
aber es heißt, dass keine w<strong>und</strong>erbarer ist als diese (zur Bodhicittapraxis).<br />
– In <strong>de</strong>n St<strong>und</strong>en vor <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> wechseln wir Tonglen (relatives Bodhicitta) ab mit <strong>de</strong>m<br />
Gewahrsein <strong>de</strong>r illusorischen Natur aller Projektionen (letztendliches Bodhicitta).<br />
– Wir sind kurz vor <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> sehr motiviert zu praktizieren, haben aber oft nur wenig physische<br />
Kraft dafür, schon gar nicht, um etwas Neues zu lernen <strong>und</strong> zu praktizieren. Deshalb<br />
sollten wir uns jetzt üben, diese rein geistige Praxis auszuführen. Den Körper bringen<br />
wir dafür in eine möglichst hilfreiche Stellung.<br />
– Wir entspannen uns in <strong>de</strong>m Gewahrsein, dass es nie im Leben ein wirkliches Problem gab<br />
<strong>und</strong> noch viel weniger wird es ein Problem im <strong>Tod</strong> geben; es geschieht nichts von Be<strong>de</strong>utung.<br />
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Reibe <strong>de</strong>n Scheitelpunkt <strong>de</strong>s Kopfes mit einer Salbe ein, die aus <strong>de</strong>r Asche von unbeschädigten<br />
Seemuscheln <strong>und</strong> Pulver aus magnetischem Erzgestein vermischt mit wil<strong>de</strong>m Honig<br />
besteht. Dies ist eine mündliche Unterweisung zum Hinüberwechseln mit Hilfe von Substanzen.<br />
– Dadurch verlässt das Gewahrsein <strong>de</strong>n Körper durch die Brahmaöffnung <strong>und</strong> fin<strong>de</strong>t günstige<br />
<strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>.<br />
Was können an<strong>de</strong>re für <strong>de</strong>n Sterben<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Verstorbenen tun?<br />
‣ ruhig, liebevoll <strong>und</strong> mitfühlend bleiben<br />
‣ eine friedvolle Atmosphäre schaffen (belasten<strong>de</strong> Einflüsse/Personen entfernen)<br />
‣ <strong>de</strong>m Sterben<strong>de</strong>n helfen, sich <strong>und</strong> sein Leben ganz anzunehmen<br />
‣ alle Spannungen, Konflikte, Schuldgefühle <strong>und</strong> (Selbst-)Vorwürfe zu bereinigen<br />
‣ tief meditieren, um <strong>de</strong>n Weg zu zeigen<br />
‣ Wunschgebete ausführen<br />
‣ immer wie<strong>de</strong>r an die Nachteile Samsaras <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Weg nach Dewatschen erinnern<br />
‣ Opferungen in seinem Namen machen<br />
‣ hilfreiche Dharmatexte vorlesen (nicht nur das Totenbuch)<br />
‣ sich bei <strong>de</strong>r Auflösungsphase ans Kopfen<strong>de</strong> setzen. Dies erleichtert eine Ausrichtung <strong>de</strong>r<br />
subtilen Energien nach oben <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Folge einen Übergang <strong>de</strong>s Geistes in klarere Geisteszustän<strong>de</strong><br />
mit <strong>de</strong>r Möglichkeit guter <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>.<br />
‣ <strong>de</strong>n Körper in <strong>de</strong>r ersten St<strong>und</strong>e nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> unberührt lassen<br />
‣ wie<strong>de</strong>rholtes Phowa<br />
Aktive Sterbehilfe?<br />
In Buddhas Lehre gibt es keine ein<strong>de</strong>utige Antwort auf die Frage nach aktiver Euthanasie. Die<br />
Frage schien sich damals nicht zu stellen. Der Buddha betont aber überall <strong>de</strong>n Erhalt <strong>de</strong>s Lebens.<br />
Gendün Rinpotsche erklärte es so, dass wir überhaupt nicht wissen können, was auf<br />
jeman<strong>de</strong>n – ob Mensch o<strong>de</strong>r Tier – nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> wartet. Die Qualen in diesem Leben abzukürzen<br />
macht keinen Sinn, wenn sie aus karmischen Grün<strong>de</strong>n dann in einer an<strong>de</strong>ren Existenz<br />
ertragen wer<strong>de</strong>n müssen, wo es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dieselbe Unterstützung<br />
wie in diesem Leben gibt. Deswegen riet er immer dazu, <strong>Tod</strong>kranke bis ans natürliche En<strong>de</strong><br />
zu pflegen <strong>und</strong> zu unterstützen, ohne ihnen die „Gna<strong>de</strong>nspritze“ zu geben. Für ihn war das zu<br />
kurzfristig gedacht, da sich damit das Karma noch nicht erschöpft hat.<br />
Welche <strong>Bardo</strong>s gibt es?<br />
Bar-do ist Tibetisch <strong>und</strong> be<strong>de</strong>utet „Zwischenzustand“ (Antarabhawa auf Sanskrit) <strong>und</strong> eigentlich<br />
ist je<strong>de</strong> Situation in Leben <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> ein solcher Zwischenzustand. In <strong>de</strong>n meisten Aufzählungen<br />
wird von sechs <strong>Bardo</strong>s gesprochen, in <strong>de</strong>nen die sechs Yogas geübt wer<strong>de</strong>n:<br />
– <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> dieses Lebens („an einem Ort Geborenwer<strong>de</strong>n“, skyed-gnas bar-do), wozu<br />
unser ganzes Leben von <strong>de</strong>r Empfängnis bis zum Eintreten in <strong>de</strong>n Sterbeprozess gehört.<br />
Die prinzipiellen Praktiken sind hier <strong>de</strong>r Yoga <strong>de</strong>s illusorischen Körpers in <strong>de</strong>r Aktivität<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Yoga <strong>de</strong>s Klaren Lichtes im Tiefschlaf, sowie die Praktiken <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n<br />
Yogas, das Ansammeln von Verdiensten <strong>und</strong> Ausführen von Wunschgebeten.<br />
17
– <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Träumens (rmi-lam bar-do), <strong>de</strong>r einen Son<strong>de</strong>rzustand in diesem Leben<br />
darstellt, da wir im Traum weniger stark mit <strong>de</strong>m Körper verb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> Zugang zu<br />
an<strong>de</strong>ren Erfahrungswelten haben. Die Praxis ist hier <strong>de</strong>r Traum-Yoga im Leichtschlaf.<br />
– <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> meditativer Versenkung (bsam-gtan bar-do), <strong>de</strong>r einen Son<strong>de</strong>rzustand in diesem<br />
Leben darstellt, da wir uns darin aus <strong>de</strong>r Bedingtheit samsarischen Seins befreien<br />
können. Die Praxis ist hier <strong>de</strong>r Tummo Yoga.<br />
– <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Sterbens ('chi-kha bar-do) mit <strong>de</strong>r äußeren, inneren <strong>und</strong> subtilen Auflösung<br />
bis in <strong>de</strong>n „<strong>Tod</strong>“, wo <strong>de</strong>r Geistesstrom die Natur <strong>de</strong>s Geistes erkennen, im letztendlichen<br />
Klare Licht verschmelzen <strong>und</strong> so Befreiung im Dharmakaya fin<strong>de</strong>n kann. Die Praxis<br />
ist hier zunächst <strong>de</strong>r Yoga <strong>de</strong>s Phowa <strong>und</strong> dann <strong>de</strong>r Yoga <strong>de</strong>s Klaren Lichtes.<br />
– <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge (Skt. dharmata, Tib. chos-nyid bar-do), wo <strong>de</strong>r Geistesstrom<br />
die Natur aller Dinge erkennen <strong>und</strong> Befreiung im Sambhogakaya fin<strong>de</strong>n kann.<br />
Der Praxis hier entspricht <strong>de</strong>m Traum Yoga.<br />
– <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns (srid-pa bar-do), wo <strong>de</strong>r Geistesstrom die reine Sichtweise entwickeln<br />
<strong>und</strong> im Rahmen <strong>de</strong>r nächsten Geburt Befreiung im Nirmanakaya fin<strong>de</strong>n kann. Die<br />
prinzipiellen Praktiken sind hier <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> Yoga <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Yoga <strong>de</strong>s illusorischen Körpers.<br />
Die Verwirklichungen von außergewöhnlichen Praktizieren<strong>de</strong>n<br />
– Guru Rinpotsche hat <strong>de</strong>n unsterblichen Vajrakaya Regenbogenkörper verwirklicht.<br />
– Pandita Vimamitra u.a. haben die vollkommene Einheit von Mahamudra <strong>und</strong> Dzogchen<br />
verwirklicht, <strong>de</strong>n Kaya <strong>de</strong>s Grossen Transfers, wodurch sie ein mittleres Weltzeitalter im<br />
Lichtkörper manifest sind.<br />
– Die Mahasiddhas Mitrajoki, Saraha, Tilopa u.a. haben nach sehr langen Lebensspannen<br />
keinerlei Körper zurückgelassen, son<strong>de</strong>rn sind „in die Aktivität gegangen“, d.h. sie wirken<br />
unter <strong>de</strong>n Dakas <strong>und</strong> Dakinis weiter.<br />
– Mahasiddha Nagabodhi u.a. haben <strong>de</strong>n Jidam so weit verwirklicht, dass sie ständig unter<br />
uns weilen <strong>und</strong> helfen, aber unsichtbar fürs normale Auge sind.<br />
– Manche Vidyadharas wie Nagarjuna, Arya<strong>de</strong>va, Asanga, Padampa Sangye, Yeshe Tsogyal<br />
u.a. haben durch Langlebigkeitspraktiken Lebensspannen von 200 bis 600 Jahren gehabt.<br />
– Garab Shri Sing, Gomtschung Arochoro, Retschungpa u.a. haben sich mit <strong>de</strong>m Erlangen<br />
<strong>de</strong>r höchsten Verwirklichung in einen Regenbogenkörper aufgelöst, ohne irgendwelche<br />
Reste zu lassen. Sie verweilen entwe<strong>de</strong>r an keinem beson<strong>de</strong>ren „Ort“ o<strong>de</strong>r aber in einem<br />
reinen Land <strong>und</strong> manifestieren sich für diejenigen, die ihre Hilfe anrufen <strong>und</strong> geben Unterweisungen.<br />
– Thangtong Gyalpo u.a. haben <strong>de</strong>n Regenbogenkörper verwirklicht, halten sich aber mitten<br />
unter uns an heiligen Stätten <strong>de</strong>r Praxis auf.<br />
– Manche, wie Naropa, Milarepa <strong>und</strong> Karmapakshi zeigen äußerlich einen <strong>Tod</strong>, sind aber<br />
innerlich bereits in <strong>de</strong>r unsterblichen Dimension aufgegangen, aus <strong>de</strong>r heraus sie auch<br />
weiterhin Unterweisungen geben können.<br />
– Als Machikma <strong>de</strong>n Körper ihres vorherigen Lebens als junger Pandita <strong>und</strong> Yogi in Südindien<br />
verließ, benutzte sie die Praxis <strong>de</strong>s tong djug Phowa, durch die sie in <strong>de</strong>n neuen Körper<br />
in Tibet eintreten konnte, während ihr Samadhi zugleich weiterhin <strong>de</strong>n zurückgelassenen<br />
Körper in Potari segnete. Sie gab ihn sozusagen erst dann „frei“ als die indischen<br />
Pandita diesen Beweis ihrer früheren Geburt gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> akzeptiert hatten.<br />
18
– Buddha Shakyamuni <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re Meister verwirklichten die Buddhaschaft, ließen aber<br />
zum Wohl <strong>de</strong>r Wesen einen Körper mit Reliquien zurück.<br />
Der unsterbliche Geist<br />
Gendün Rinpotsche in Herzensunterweisungen: „Der Geist hat keinen Ursprung, er verweilt<br />
nirgends <strong>und</strong> hat auch kein En<strong>de</strong>, keinen <strong>Tod</strong>, <strong>de</strong>nn er ist kein Objekt mit <strong>de</strong>finierbarer Existenz.<br />
Er ist keine Erscheinung, die aufgr<strong>und</strong> von Ursachen <strong>und</strong> Bedingungen entsteht <strong>und</strong><br />
wie<strong>de</strong>r vergeht, son<strong>de</strong>rn die wahre Natur aller Erscheinungen. Es gibt keinen Ort o<strong>de</strong>r Zeitpunkt,<br />
von <strong>de</strong>m man sagen könnte: “Da entsteht <strong>de</strong>r Geist, dies ist <strong>de</strong>r Moment seiner Geburt.”<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> sagen wir, <strong>de</strong>r Geist sei “ungeboren”. Da er sich in Zeit <strong>und</strong> Raum<br />
nicht bestimmen lässt, sagen wir, er verweile nirgends. Und da er ungeboren ist, ist er auch<br />
unsterblich, <strong>de</strong>nn es kann kein En<strong>de</strong> eines ungeborenen Geistes geben.<br />
Obwohl <strong>de</strong>r Geist we<strong>de</strong>r existent noch nichtexistent ist, können wir doch sagen, dass er spontan,<br />
nicht bedingt, ewig, unverän<strong>de</strong>rlich, unzerstörbar, ursprünglich rein <strong>und</strong> vollkommen ist.<br />
Sein unzerstörbarer Aspekt wird auch Körper <strong>de</strong>r letztendlichen Wirklichkeit, unzerstörbarer<br />
Körper o<strong>de</strong>r Buddhanatur genannt.“<br />
Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Sterbens<br />
Mit <strong>de</strong>m Einsetzen <strong>de</strong>s Sterbeprozesses kommt es zu einer schrittweisen Lösung von <strong>de</strong>r jetzigen<br />
Existenz, die vom Groben zum Subtilen fortschreitet. Es ist hilfreich, diese Schritte zu<br />
kennen, um nicht zu erschrecken, wenn sie sich vollziehen. Wir wissen so, dass wir nun tatsächlich<br />
sterben wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> können all unsere Geisteskraft zusammen nehmen <strong>und</strong> aufs Beste<br />
ausrichten.<br />
Die drei Phasen <strong>de</strong>r Auflösung<br />
A. Die grobe „äußere“ Auflösung <strong>de</strong>r fünf Sinnesfähigkeiten: Die Sehwahrnehmung wird<br />
unklar, dann die Klangwahrnehmung, die Gerüche, die Geschmäcker <strong>und</strong> die Körperwahrnehmung.<br />
Damit hört die Wahrnehmung <strong>de</strong>r Außenwelt auf.<br />
B. Darauf folgt die feinere, recht schnelle „innere“ Auflösung <strong>de</strong>r Elemente, die etwa 5 -15<br />
Minuten dauert. Vorzeichen davon können auch schon früher auftauchen:<br />
1. Das Er<strong>de</strong>lement löst sich ins Wasserelement auf. Damit verlieren wir die körperliche<br />
Kraft, z.B. uns aufzurichten (das können dann nur noch Yogis, wo <strong>de</strong>r Körper von<br />
selbst sitzen bleibt). Es kann sich ein Gefühl von Schwere o<strong>de</strong>r Zerschmettertwer<strong>de</strong>n<br />
einstellen. Yogis können sich leichter fühlen, als wären sie von aller Kleidung befreit.<br />
2. Dann löst sich das Wasser- ins Feuerelement auf: M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Nase wer<strong>de</strong>n trocken, die<br />
Körperflüssigkeiten trocknen aus. Ein Gefühl, vom Körper abgeschnitten zu sein mag<br />
sich einstellen, o<strong>de</strong>r aber unabhängig zu sein.<br />
3. Dann löst sich das Feuer- ins Win<strong>de</strong>lement auf: <strong>de</strong>r Körper wird kalt. Die letzte warme<br />
Stelle ist für gewöhnlich das Herz. Das Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Körperwärme von unten<br />
nach oben sei ein Zeichen für höhere <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>, heißt es – <strong>und</strong> umgekehrt.<br />
4. Dann löst sich das Win<strong>de</strong>lement ins Bewusstsein auf: <strong>de</strong>r äußere Atem hört auf, <strong>de</strong>r<br />
innere Atem fließt noch in geringerer Form weiter. Damit hört das grobe Bewusstsein<br />
auf <strong>und</strong> es bleibt nur noch ein ganz feines Bewusstsein übrig. Das ist <strong>de</strong>r äußere <strong>Tod</strong><br />
<strong>und</strong> somit auch <strong>de</strong>r Moment, wo Phowa praktiziert wer<strong>de</strong>n sollte.<br />
C. Hierauf folgt die „äußerst subtile“ schrittweise Auflösung <strong>de</strong>s Bewusstseins in seine feinste<br />
Schicht <strong>de</strong>s Alaya. Dies ist ein Prozess, bei <strong>de</strong>m – zumeist in rascher Reihenfolge – drei Erfahrungen<br />
(snang-ba) auftauchen, mit <strong>de</strong>nen Yogis schon jetzt in diesem Leben aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />
Meditation vertraut sein können, <strong>de</strong>nn wir gehen je<strong>de</strong>s Mal beim Einschlafen <strong>und</strong> Aufwa-<br />
19
chen (dann in umgekehrter Reihenfolge) durch sie durch. Ungeübte Praktizieren<strong>de</strong> erleben<br />
diese Auflösungsphase nicht mehr bewusst. Wenn diese Phase bewusst erlebt wird, ist dies<br />
laut Chökyi Nyima Rinpotsche als wür<strong>de</strong> für einen Moment <strong>de</strong>r Vorhang <strong>de</strong>r drei großen<br />
Geistesgifte weggezogen, wodurch die Begegnung mit <strong>de</strong>m Klaren Licht <strong>de</strong>r nächsten Phase<br />
möglich wird. Auch können Praktizieren<strong>de</strong> in dieser Phase eine Vision von ihrem verbleiben<strong>de</strong>n<br />
Karma <strong>und</strong> ihrer nächsten <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> haben. Ebenfalls können hier bereits Visionen<br />
von Gottheiten auftreten. Manche dieser Visionen seien so furchterregend, dass Unvorbereitete<br />
vor Schreck in Bewusstlosigkeit fallen. Die drei Erfahrungen sind:<br />
1. „Manifestation“: Zunächst erscheint alles unklar, wie eine schmerzhafte Erfahrung<br />
von Nebel o<strong>de</strong>r Rauch, o<strong>de</strong>r als ob ein weißes Licht wie <strong>de</strong>r Mond aufgehen wür<strong>de</strong>,<br />
manchmal von schmerzhafter Kälte im Bewusstsein begleitet. Diese Erfahrung steht<br />
im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m absteigen<strong>de</strong>n weißen Tigle <strong>und</strong> entspricht <strong>de</strong>m Aufhören<br />
von Wut/Abneigung.<br />
2. „Zunahme“: Dann erscheint eine Erfahrung von Glühwürmchen o<strong>de</strong>r das Auftauchen<br />
von rotem, warmem, unangenehmem Licht als wür<strong>de</strong> die Sonne aufgehen. Diese Erfahrung<br />
steht im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m aufsteigen<strong>de</strong>n roten Tigle <strong>und</strong> entspricht<br />
<strong>de</strong>m Aufhören von Begier<strong>de</strong>/Anhaftung.<br />
3. „Nahes Erlangen“: Dann kommt es zu einer Erfahrung von Dunkelheit, von völlig<br />
dunklem Raum o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m stillen Leuchten wie von einer Butterlampe. Hier kann ein<br />
intensives Glücksgefühl entstehen, das losgelassen wer<strong>de</strong>n muss, um weiterzugehen.<br />
Diese Erfahrung steht im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m Zusammentreffen von weißem <strong>und</strong><br />
rotem Tigle, die sich bei gewöhnlichen Menschen auf Höhe <strong>de</strong>s Herzens auflösen (sie<br />
treten für gewöhnlich nicht am Scheitel o<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Nase aus). Die Erfahrung entspricht<br />
<strong>de</strong>m Aufhören von mangeln<strong>de</strong>m Gewahrsein/Ich-I<strong>de</strong>ntifikation. Gewöhnliche<br />
Praktizieren<strong>de</strong> können mit dieser Erfahrung nichts anfangen <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n danach bewusstlos.<br />
Tsele Natsok Rangdröl schreibt, dass es schwierig ist, gültige Angaben über die Dauer dieser<br />
Prozesse zu machen, da dies von <strong>de</strong>r energetischen <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen Konstitution <strong>de</strong>s<br />
Sterben<strong>de</strong>n abhängt. Für gewöhnlich wer<strong>de</strong>n diese Phasen aber sehr rasch, d.h. in wenigen<br />
Minuten, durchlaufen.<br />
Das Aufgehen im Klaren Licht<br />
Nach <strong>de</strong>n eben beschriebenen drei Erfahrungen kommt es zu einer vierten Erfahrung:<br />
4. „Erlangen“: das Aufgehen im Klaren Licht <strong>de</strong>s Dharmakayas. Die Erfahrung ähnelt<br />
einem Hellwer<strong>de</strong>n, wie das Aufgehen <strong>de</strong>r Sonne, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Geist wird erlebt wie ein<br />
strahlen<strong>de</strong>r Himmel, ohne jegliche Wolken o<strong>de</strong>r Trübungen, ohne Mittelpunkt o<strong>de</strong>r<br />
Grenzen. Dies ist das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s dualistischen Bewusstseins für <strong>de</strong>n Yogi, <strong>de</strong>r hier vollkommen<br />
bewusst bleibt <strong>und</strong> so Erleuchtung im Dharmakaya fin<strong>de</strong>t. Ein „Licht“ ohne<br />
Mitte <strong>und</strong> Begrenzung taucht auf, nicht begrifflich, jenseits vom Intellekt. Es wird<br />
auch das Zusammentreffen vom Klaren Licht <strong>de</strong>r Praxis dieses Lebens mit <strong>de</strong>m natürlichen<br />
Klaren Licht genannt, so als wür<strong>de</strong> ein Kind seine Mutter treffen. Es ist, als<br />
wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Raum in einer Tasse eins wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m allumfassen<strong>de</strong>n Raum. Dies wird<br />
auch <strong>de</strong>r „<strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Klaren Lichtes“ genannt. Wir sollten so lange wie möglich darin<br />
verweilen.<br />
Das Aufgehen im letztendlichen Klaren Licht ist nur für Praktizieren<strong>de</strong> möglich, die in ihrem<br />
Leben bereits <strong>de</strong>n Pfad <strong>de</strong>s Sehens, also die Erkenntnis <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Geistes erlangt haben.<br />
Bei allen an<strong>de</strong>ren spricht man vom „indirekten“ o<strong>de</strong>r „beeinträchtigten“ Klaren Licht.<br />
20
Ein fortgeschrittener Yogi auf <strong>de</strong>r oberen Stufe <strong>de</strong>s Einen Geschmackes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r unteren <strong>und</strong><br />
mittleren Stufe <strong>de</strong>r Nicht-Meditation bleibt bewusst <strong>und</strong> verschmilzt mit <strong>de</strong>m eben erwähnten<br />
Glücksgefühl. Er hat zunächst noch einige subtile Konzepte, die sich aber alle rasch auflösen.<br />
Man spricht von 80 subtilen Konzepten, welche die Gr<strong>und</strong>struktur unseres Denkprozesses<br />
bil<strong>de</strong>n, die sich hier auflösen. Ein Yogi, <strong>de</strong>r Stabilität in <strong>de</strong>r Einheit von Kyerim <strong>und</strong> Dzogrim<br />
erlangt hat, wird sich für einen Moment an die reine Form <strong>de</strong>s Yidam erinnern, <strong>de</strong>n von selbst<br />
erscheinen<strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>r Einheit von Freu<strong>de</strong> <strong>und</strong> Leerheit, <strong>und</strong> schon geht sein Bewusstsein<br />
im nicht-begrifflichen Klaren Licht <strong>de</strong>s Dharmakayas auf, in völliger Einfachheit. Darin verweilt<br />
er im besten Falle bis völlige Befreiung im Dharmakaya erlangt ist. Sie können darin<br />
etwas länger verweilen, als es ihnen ihre Übung aus <strong>de</strong>m Menschenleben erlaubt. Die Dauer,<br />
die sie in ihrem Leben stabil in tiefer Meditation verweilen konnten, wird ein „Meditationstag“<br />
genannt, <strong>und</strong> es heißt, dass sie im <strong>Tod</strong> bis zu drei o<strong>de</strong>r fünf solcher „Tage“ im Klaren<br />
Licht verweilen können. Dies nennt man ebenfalls „Thugdam“, wobei dieser Begriff aber<br />
meistens für die nachfolgen<strong>de</strong> Praxis im <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge verwen<strong>de</strong>t wird.<br />
Gendün Rinpotsche in Herzensunterweisungen:<br />
„Die Erkenntnis <strong>de</strong>r leeren Natur aller Dinge entspricht <strong>de</strong>r Verwirklichung <strong>de</strong>s Wahrheitskörpers<br />
(Dharmakaya). Alle Erscheinungen auf <strong>de</strong>r relativen Ebene wer<strong>de</strong>n als die Manifestationen<br />
<strong>de</strong>r Strahlkraft <strong>de</strong>s Dharmakayas erkannt – sie sind leer, erscheinen aber <strong>de</strong>nnoch.<br />
Durch diese Erkenntnis wird alles als die Einheit von Freu<strong>de</strong> (Dynamik) <strong>und</strong> Leerheit erfahren,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Glauben an vermeintlich konkrete Existenz hat sich aufgelöst <strong>und</strong> nichts führt<br />
mehr zu Haften <strong>und</strong> Leid. Da wir nicht mehr <strong>de</strong>r Täuschung unterliegen, wird Leid als leer,<br />
als ohne wirkliche Existenz erkannt – das ist Nirwana, die Dimension jenseits allen Lei<strong>de</strong>s,<br />
das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kreislaufs von <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>. Ob wir <strong>de</strong>m leidvollen Daseinskreislauf<br />
unterliegen o<strong>de</strong>r die leidfreie Dimension erfahren, Samsara o<strong>de</strong>r Nirwana, hängt vom Vorhan<strong>de</strong>nsein<br />
o<strong>de</strong>r Nichtvorhan<strong>de</strong>nsein <strong>de</strong>r Täuschung ab. Wenn unsere Wahrnehmung durch<br />
Unwissenheit, d.h. durch dualistische Täuschung beeinträchtigt <strong>und</strong> verzerrt ist, irren wir in<br />
Samsara umher. Wenn wir <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Täuschung gewahr sind, lösen sich die Schleier dualistischen<br />
Haftens auf <strong>und</strong> wir sind in <strong>de</strong>r erleuchteten Dimension, <strong>de</strong>m Gewahrsein <strong>de</strong>r leeren<br />
Natur aller Erscheinungen.“<br />
Die Phase <strong>de</strong>r Bewusstlosigkeit<br />
Ein normales Wesen verliert mit <strong>de</strong>n Schritten <strong>de</strong>r Auflösung im <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Sterbens das Bewusstsein,<br />
spätestens am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r dritten Auflösungsphase, <strong>und</strong> geht im Klaren Licht auf,<br />
ohne es zu merken. Dies been<strong>de</strong>t die vorherige Existenz, das ist <strong>de</strong>r Moment <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es. Das<br />
dualistische Bewusstsein, d.h. das Alaya Speicherbewusstsein, ist inaktiv. Da es aber an Gewahrsein<br />
mangelt, kommt es nicht zur Befreiung. Dieser Prozess wird nicht mehr von<br />
Schmerzmitteln beeinträchtigt, da diese auf einer groben, physiologischen Ebene ansetzen, die<br />
hier nicht mehr relevant ist. Für jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r nicht praktiziert hat, dauert dieser Durchgang<br />
durch <strong>de</strong>n Dharmakaya nur ein Fingerschnippen o<strong>de</strong>r ein bis zwei Sek<strong>und</strong>en. Für ungeübte<br />
Praktizieren<strong>de</strong> treten hier keinerlei Visionen o<strong>de</strong>r Erfahrungen auf.<br />
An die sek<strong>und</strong>enschnelle, unbewusste Begegnung mit <strong>de</strong>m Dharmakaya schließt sich für gewöhnliche<br />
Menschen eine Bewusstlosigkeit an. Sie scheint unterschiedlich lange zu dauern,<br />
von einigen wenigen Minuten o<strong>de</strong>r St<strong>und</strong>en bis zu mehreren Tagen. Nach bis zu 3 ½ „Meditationstagen“<br />
(s.o.) sind die allermeisten Menschen bereits wie<strong>de</strong>r bei Bewusstsein.<br />
Khenpo Tschödrak erklärt: Die Dauer <strong>de</strong>r Bewusstlosigkeit wird (wie das Verweilen im Klaren<br />
Licht) in <strong>de</strong>n traditionellen Schriften in Meditationstagen (!) <strong>und</strong> nicht in Menschenwelttagen<br />
beschrieben. Die 1 ½ bis 3 ½ „Tage“, von <strong>de</strong>nen die Re<strong>de</strong> ist, entsprechen normalerweise<br />
einer nur wenige Minuten dauern<strong>de</strong>n Erfahrung, die nur bei in <strong>de</strong>r Meditation geübten<br />
Menschen tatsächlich länger dauert. Das ist laut Khenpo ein alter, fast überall zu fin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r<br />
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Übersetzungsfehler in <strong>de</strong>n tibetischen Schriften, <strong>de</strong>r zu vielen (unnötigen) Diskussionen geführt<br />
hat. Die Dauer <strong>de</strong>r Bewusstlosigkeit hängt auch von <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong>esursache ab. Bei plötzlichem<br />
<strong>Tod</strong> kann sie länger dauern. Auch wenn jemand starke Anhaftung (z.B. an seinen Körper)<br />
o<strong>de</strong>r starke Wut hat, kann <strong>de</strong>r Geist länger im Körper bleiben (bis zu einem o<strong>de</strong>r gar zwei<br />
Tagen). Dann kann man die Person kurz <strong>und</strong> laut ins Ohr bei ihrem Namen rufen, was sie<br />
‚aufwecken’ wird, woraufhin <strong>de</strong>r Geist sofort <strong>de</strong>n Körper verlässt. Falls <strong>de</strong>r Körper verbrannt<br />
wird, solange <strong>de</strong>r Geist noch im Körper ist, erzeugt dies in <strong>de</strong>r Tat großes Leid. Der gesamte<br />
Prozess <strong>de</strong>s Sterbens bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bewusstlosigkeit dauert nach Khenpo Tschödrak also<br />
für gewöhnlich nicht länger als 20 Minuten. Mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Bewusstlosigkeit ist also ein<br />
normales Wesen voll <strong>und</strong> ganz für die Hinterbliebenen ‚tot’, wobei die Dynamik seines Geistesstroms<br />
aber ungehin<strong>de</strong>rt weiter geht. Das Leben hört nicht auf.<br />
Wann ist jemand „tot“?<br />
Mit <strong>de</strong>m Eintreten in die Bewusstlosigkeit ist die vorherige Existenz been<strong>de</strong>t. Mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r inneren Auflösung erlischt die Vitalitäts-Energie (Sog-lung, <strong>de</strong>r erste Lung, <strong>de</strong>r auch <strong>de</strong>n<br />
Beginn <strong>de</strong>s Lebens im Embryo einleitet). Manchmal, aber keineswegs regelmäßig, treten nach<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r inneren Atmung Blut <strong>und</strong> Lymphe aus Nasenlöchern <strong>und</strong> Geschlechtsöffnung aus.<br />
Zur gleichen Zeit verlässt bei jenen, die nicht in einen Thugdam eintreten, das Bewusstsein<br />
<strong>de</strong>n Körper. Es kann sein, dass dieser Moment <strong>de</strong>m Auftreten <strong>de</strong>r Null-Linie im EKG, also<br />
<strong>de</strong>m Hirntod, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>finitiven klinischen <strong>Tod</strong>, entspricht. Zwanzig Minuten nach <strong>de</strong>m Verlöschen<br />
<strong>de</strong>r äußeren Atmung an können wir gewöhnlich von jeman<strong>de</strong>m als „tot“ sprechen. Bei<br />
schlimmen Unfällen, wo <strong>de</strong>r Körper völlig zerstört wird, verlässt <strong>de</strong>r Sog-lung <strong>de</strong>n Körper<br />
sofort. Bei geübten Praktizieren<strong>de</strong>n bleibt <strong>de</strong>r Sog-lung noch während <strong>de</strong>r ganzen folgen<strong>de</strong>n<br />
Phase <strong>de</strong>s Thugdam im Körper. Sie sind also noch nicht „tot“ im herkömmlichen Sinne.<br />
Phowa Praxis<br />
„Phowa“ meint hier die verschie<strong>de</strong>nen Möglichkeiten <strong>de</strong>s bewussten Transfers <strong>de</strong>s Geistesstromes<br />
in eine offenere, befreite Bewusstseinsdimension. Es gibt verschie<strong>de</strong>ne Formen<br />
von Phowa:<br />
– Phowa ins Klare Licht („Mahamudra-Phowa“), wie er von sehr geübten Praktizieren<strong>de</strong>n<br />
in <strong>de</strong>r ersten Phase <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge vollzogen wird<br />
– Phowa in <strong>de</strong>n illusorischen Körper <strong>de</strong>s Jidam, wie er von geübten Praktizieren<strong>de</strong>n<br />
in <strong>de</strong>r zweiten Phase <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge vollzogen wird<br />
– <strong>de</strong>r gewöhnliche Phowa mittels einer Visualisation <strong>de</strong>s Transfers (Tigle aus unserem<br />
Zentralkanal ins Herz eines Buddhas über uns)<br />
Ein Praktizieren<strong>de</strong>r praktiziert <strong>de</strong>n Phowa, <strong>de</strong>n er gelernt hat, wenn sein letzter Atemzug gekommen<br />
ist. Außenstehen<strong>de</strong> praktizieren Phowa für <strong>de</strong>n Verstorbenen erst wenn <strong>de</strong>r Puls erlöscht<br />
ist. Ein einmaliges Phowa am Kopfen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Verstorbenen ist oft nicht ausreichend; es<br />
ist besser, diese Visualisation mit Phowa viele Male zu wie<strong>de</strong>rholen. Bei erfolgreichem Phowa<br />
kommt es laut Tsele Natsok Rangdröl zum Austreten von weißem Bodhicitta (Lymphe)<br />
aus <strong>de</strong>r Brahmaöffnung o<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m linken Nasenloch. Dies ist auch als Zeichen <strong>de</strong>s erfolgreichen<br />
Verschmelzens mit <strong>de</strong>m Klaren Licht bekannt.<br />
Den Körper für medizinische Forschung freigeben?<br />
Es scheint aus zweierlei Grün<strong>de</strong>n kein Problem zu sein, <strong>de</strong>n Körper für medizinische Forschung<br />
nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> freizugeben: zum einen, weil es <strong>de</strong>r ausdrückliche Wunsch <strong>de</strong>s Sterben<strong>de</strong>n<br />
ist, <strong>und</strong> zum an<strong>de</strong>ren, weil diese medizinische Forschung (Sezieren durch Anatomie-<br />
Stu<strong>de</strong>nten o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Pathologie) nicht unmittelbar in <strong>de</strong>n St<strong>und</strong>en nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> stattfin<strong>de</strong>t.<br />
Der Körper wird in Formalin-Flüssigkeit aufbewahrt <strong>und</strong> zumeist erst im Wintersemester <strong>de</strong>n<br />
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Stu<strong>de</strong>nten zur Verfügung gestellt. Khenpo Tschödrak hält dies zu<strong>de</strong>m für eine sehr verdienstvolle<br />
Handlung.<br />
Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge (Dharmata)<br />
Mit <strong>de</strong>m Abschluss <strong>de</strong>r vorherigen Phase <strong>de</strong>s Klaren Lichtes, wo Befreiung im Dharmakaya<br />
möglich war, bzw. während <strong>de</strong>r Bewusstlosigkeit, hat sich <strong>de</strong>r Geist vom Körper gelöst. In<br />
<strong>de</strong>r jetzt folgen<strong>de</strong>n Phase, <strong>de</strong>m <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge ist Befreiung im Sambhogakaya<br />
möglich. Es wird erneut geistige Aktivität erfahren, dies ist <strong>de</strong>r Beginn <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong>s <strong>de</strong>r Natur<br />
<strong>de</strong>r Dinge: Die Wesen „wachen auf“, so als wür<strong>de</strong>n wir aus <strong>de</strong>m Tiefschlaf in einen erneuten<br />
Traum o<strong>de</strong>r ins Wachbewusstsein eintreten. Sie erfahren dabei in umgekehrter Reihenfolge<br />
die drei Erfahrungen, die oben am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong>s <strong>de</strong>s Sterbens beschrieben wur<strong>de</strong>n (Nahes<br />
Erlangen, Zunahme <strong>und</strong> Manifestation). Damit entsteht das Gefühl, wie<strong>de</strong>r einen voll intakten<br />
Körper mit allen Sinnesempfindungen so wie zuvor zu haben. Allerdings ist dies ein mentaler<br />
Körper. Man erinnert sich nicht, gestorben zu sein.<br />
Dabei gibt es die Möglichkeit, dass geübte Praktizieren<strong>de</strong> ihr wahres Wesen dank ihrer Vertrautheit<br />
mit <strong>de</strong>r Entstehungsphasen (Kyerim) Meditationspraxis unmittelbar als <strong>de</strong>n illusorischen<br />
Körper eines Sambhogakaya Jidams wahrnehmen, so wie wir in <strong>de</strong>n Sadhanas aus <strong>de</strong>r<br />
Auflösungsphase wie<strong>de</strong>r als Jidams erscheinen. Dies wird „gut geübte Einheit“ (lob-pa’i<br />
zung-jug) genannt. Bei weniger geübten Praktizieren<strong>de</strong>n geschieht dies nicht so unmittelbar<br />
<strong>und</strong> automatisch, son<strong>de</strong>rn es bedarf in <strong>de</strong>n ersten Momenten, wo sich mit <strong>de</strong>n drei Erfahrungen<br />
die volle Bewusstheit einstellt, eines mentalen Impulses, einer willentlichen Ausrichtung<br />
auf die Kyerim Praxis, um als Jidam zu erscheinen. Dies wird „weniger geübte Einheit“ (milob-pa’i<br />
zung-jug) genannt. Sie erlangen dadurch Befreiung <strong>und</strong> können in <strong>de</strong>n reinen Sambhogakaya<br />
Län<strong>de</strong>rn als verwirklichte Bodhisattvas bis zur vollständigen Erleuchtung weiter<br />
praktizieren. Diese Phase wird offenbar im Totenbuch als <strong>de</strong>r „zweite Glanz“ bezeichnet, wobei<br />
<strong>de</strong>r „erste Glanz“ das Klare Licht <strong>de</strong>s Dharmakayas wäre. Die in diesem Übergang stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Praxis wird als Thugdam bezeichnet.<br />
Thugdam<br />
Wir können „Thugdam“ hier als „tiefe Meditation im <strong>Tod</strong>“ übersetzen. Von Thugdam sprechen<br />
wir, wenn es zunächst noch eine Meditation mit Bezugspunkt gibt (Jidam-Praxis, Kyerim),<br />
die sich dann zu einer Praxis ohne Bezugspunkt wan<strong>de</strong>lt, einem Aufgehen in nichtbegrifflicher<br />
Einfachheit. In <strong>de</strong>r Thugdam Praxis wer<strong>de</strong>n die Samen von Anhaften, Ablehnen<br />
<strong>und</strong> mangeln<strong>de</strong>m Gewahrsein aufgelöst bzw. weiter geschwächt. Diese drei dualistischen<br />
Gr<strong>und</strong>muster bil<strong>de</strong>n die Basis samsarischer Funktionsweise <strong>und</strong> sind die Essenz <strong>de</strong>r 80 verschie<strong>de</strong>nen<br />
„Konzepte“, die es hier hinter sich zu lassen gilt, um völlige Befreiung zu erlangen.<br />
Dabei wird <strong>de</strong>r gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong> Geist (Namshe, Alaya vijñana) ins zeitlose Gewahrsein<br />
(Yeshe) gereinigt.<br />
Das nichtbegriffliche, neutrale Alaya- o<strong>de</strong>r Speicherbewusstsein, die achte, tiefste Ebene unseres<br />
Geistes, funktioniert noch mit <strong>de</strong>r irrigen, nichtbegrifflichen, gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong>n Annahme<br />
eines „Ich“, eines Zentrums. Es geht vorbegrifflich davon aus, dass es ein solches Zentrum<br />
gibt. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich also nicht um formulierte Gedanken. Wenn das Alaya frei von dieser<br />
Annahme funktioniert, ist es das zeitlose Gewahrsein. Wenn diese irrige Annahme weiter<br />
bestehen bleibt, ist dies die Gr<strong>und</strong>lage samsarischer <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>.<br />
Solange Yogis im Thugdam (Meditation nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong>) sind, besteht noch eine subtile Verbindung<br />
mit <strong>de</strong>m Körper. Deswegen wird ihr Körper, <strong>de</strong>r meist in <strong>de</strong>r Herzensgegend noch<br />
warm ist <strong>und</strong>/o<strong>de</strong>r flexibel <strong>und</strong> frisch bleibt, möglichst nicht berührt, um <strong>de</strong>n Prozess nicht zu<br />
stören (<strong>und</strong> dies obwohl sie keine körperbezogenen Sinneswahrnehmungen mehr haben). Es<br />
wird geraten, sich in seiner Gegenwart ruhig zu verhalten, nicht laut zu re<strong>de</strong>n, keine starken<br />
Gerüche zu verbreiten o<strong>de</strong>r grelles Licht anzumachen.<br />
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Gewöhnliche Leute verweilen nicht im Thugdam. Es bringt ihnen nicht allzu viel, wenn sie in<br />
dieser ersten Phase Unterweisungen über die Natur <strong>de</strong>s Geistes erhalten. Nachher, wenn sie<br />
im <strong>Bardo</strong> sind, ist dies aber durchaus hilfreich, beson<strong>de</strong>rs wenn sie bereits eine Beziehung zu<br />
diesen Unterweisungen aufgebaut haben. Hilfreich ist das Rezitieren von Mantras <strong>und</strong> von<br />
Namen <strong>de</strong>r Buddhas (z.B. Amitabha). Auch sind die erklären<strong>de</strong>n Unterweisungen zu <strong>de</strong>n <strong>Bardo</strong><br />
Erfahrungen im Totenbuch von großer Hilfe.<br />
Visionen von Gottheiten<br />
Direkt vor <strong>und</strong> nach <strong>de</strong>r Bewusstlosigkeit können Visionen von Lichtgestalten unterschiedlichster<br />
Prägung auftreten. Sie wer<strong>de</strong>n die friedvollen <strong>und</strong> zornvollen Gottheiten <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong><br />
genannt. Diese Visionen sind offenbar manchmal nur sehr kurz <strong>und</strong> gehen fast unbemerkt<br />
vorüber. In an<strong>de</strong>ren Fällen sind sie sehr stark <strong>und</strong> können intensive Glücks- <strong>und</strong> Angstgefühle<br />
auslösen. Sie alle sind Erscheinungen im eigenen Geist. Wer sie als solche erkennt, kann darin<br />
Befreiung bzw. Zugang zu <strong>de</strong>n reinen Län<strong>de</strong>rn erlangen. Das Auftreten dieser Visionen markiert<br />
<strong>de</strong>n Übergang in <strong>de</strong>n <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns.<br />
Um sich auf diese Erscheinungen vorzubereiten <strong>und</strong> sie nicht als Fein<strong>de</strong> wahrzunehmen, wer<strong>de</strong>n<br />
traditionell Erklärungen <strong>und</strong> Einweihung zu <strong>de</strong>n 48 friedvollen <strong>und</strong> 52 zornvollen <strong>Bardo</strong>-<br />
Gottheiten gegeben. Die friedvollen Gottheiten stehen in Verbindung mit <strong>de</strong>m Herzzentrum,<br />
die zornvollen mit <strong>de</strong>m Kopfzentrum <strong>und</strong> die halb zornvollen Vidyadharas mit <strong>de</strong>m Kehlzentrum.<br />
Auch Gendün Rinpotsche gab anfangs in Dhagpo häufiger diese Einweihung. Später<br />
unterließ er das mit <strong>de</strong>r Begründung, dass normale westliche Menschen ihrem kulturellen<br />
Hintergr<strong>und</strong> entsprechend an<strong>de</strong>re Visionen haben wür<strong>de</strong>n als Tibeter o<strong>de</strong>r die wenigen westlichen<br />
Praktizieren<strong>de</strong>n, die mit diesen Gottheiten vertraut sind. Dies ist die Sichtweise <strong>de</strong>r Neuen<br />
(Sarma) Tradition (Kagyü etc.), während die Nyingma Tradition darauf besteht, dass alle<br />
Menschen dieselben Visionen erfahren. Offenbar han<strong>de</strong>lt es sich bei diesen Visionen von Begegnungen<br />
mit Lichtgestalten nicht unbedingt um Begegnungen mit Buddhas, die sich manifestieren,<br />
um uns zu helfen, son<strong>de</strong>rn um lebhafte Projektionen <strong>de</strong>s eigenen Geistes unter <strong>de</strong>m<br />
Einfluss <strong>de</strong>r Bewegungen <strong>de</strong>r Weisheits-Energien (Lungs) in <strong>de</strong>n drei Zentren. Diese Erscheinungen<br />
in ihrer Essenz als Lama <strong>und</strong> Jidam im eigenen Geist zu erkennen, Zuflucht zu nehmen<br />
<strong>und</strong> furchtlos mit ihnen zu verschmelzen, ist Ziel <strong>de</strong>r Praxis. Dafür braucht es viel Übung<br />
im Traum Yoga.<br />
Die Dauer <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong>s <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge<br />
Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge, wo Befreiung im Sambhogakaya erlangt wer<strong>de</strong>n kann, geht<br />
fließend in <strong>de</strong>n <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns über, wo Befreiung im Nirmanakaya möglich ist. Es<br />
scheint so zu sein, dass man vom <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns von da an spricht, wo karmische Projektionen<br />
überwiegen <strong>und</strong> sich <strong>de</strong>r Geistesstrom auf eine neue Existenz ausrichtet.<br />
Über die Dauer <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong>s <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge gehen die Anschauungen ziemlich auseinan<strong>de</strong>r.<br />
Manchmal wird von zwei „Wochen“ gesprochen, eine Woche für die friedvollen <strong>und</strong> eine<br />
Woche für die zornvollen Gottheiten. Für manche Wesen scheint dieser <strong>Bardo</strong> aber nur St<strong>und</strong>en<br />
o<strong>de</strong>r noch kürzer zu dauern. Die Regel scheint zu sein, dass mit <strong>de</strong>m Aufwachen aus <strong>de</strong>r<br />
Bewusstlosigkeit zunächst eine Phase kommt, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Geist noch langsamer arbeitet <strong>und</strong><br />
friedlicher ist. Der Lichtkörper formiert sich <strong>und</strong> die Lungs in <strong>de</strong>n Chakras beginnen zu zirkulieren,<br />
was mit einer erwachen<strong>de</strong>n, zunehmen<strong>de</strong>n geistigen Aktivität einhergeht, wo das Fixieren<br />
aber zunächst noch nicht so stark ausgeprägt ist. Dann wer<strong>de</strong>n die Eindrücke heftiger<br />
<strong>und</strong> die emotionalen Reaktionen nehmen zu. Wenn es zu einer Panikreaktion kommt <strong>und</strong> die<br />
Suche nach einem Ausweg <strong>und</strong> somit nach einer neuen Existenz beginnt, so ist das bereits <strong>de</strong>r<br />
<strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns.<br />
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Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns<br />
Die <strong>Bardo</strong>-Wesen treten in einen Zustand fluktuieren<strong>de</strong>r Bewusstheit ein, in <strong>de</strong>m es aufgr<strong>und</strong><br />
<strong>de</strong>r mangeln<strong>de</strong>n Verankerung durch einen soli<strong>de</strong>n Körper zu rasch wechseln<strong>de</strong>n Erfahrungen<br />
kommt. Dies ist <strong>de</strong>r „<strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns“, wenn es sich bei diesen Erfahrungen um ihre eigenen<br />
karmischen Projektionen han<strong>de</strong>lt. Einige <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Beschreibungen treffen durchaus<br />
auch auf <strong>de</strong>n <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>r Dinge zu, doch sind dort die Projektionen eher Ausdruck<br />
<strong>de</strong>r Weisheits-Lungs.<br />
Der subtile <strong>Bardo</strong>-Lichtkörper nimmt Gestalt an, in<strong>de</strong>m sich die vier Elemente in umgekehrter<br />
Reihenfolge manifestieren. Dieser Körper besitzt alle Sinnesfunktionen (außer <strong>de</strong>m Berührungssinn)<br />
<strong>und</strong> kann sich allein durch Gedanken überall hin begeben. Auch Wesen, die zuvor<br />
behin<strong>de</strong>rt waren, haben jetzt wie<strong>de</strong>r einen intakten Körper, Blin<strong>de</strong> können sehen, Kin<strong>de</strong>r sind<br />
wie Erwachsene. Der Körper ist unzerstörbar, ein mentaler Körper, <strong>de</strong>m nichts etwas anhaben<br />
kann.<br />
Da sich die Wesen nicht daran erinnern, gestorben zu sein, möchten sie zunächst einfach mit<br />
<strong>de</strong>m fortfahren, was ihnen im letzten Leben wichtig war. Sie möchten ihre Angehörigen in<br />
<strong>de</strong>n Arm nehmen, mit ihnen sprechen, sich zu ihnen an <strong>de</strong>n Tisch setzen usw., aber niemand<br />
nimmt sie wahr. Wenn sie vor einem Spiegel sind, ist nichts im Spiegel zu sehen. Durch diesen<br />
völligen Kontaktentzug entsteht großes Leid, manchmal nicht nur Trauer, son<strong>de</strong>rn auch<br />
Wut <strong>und</strong> Groll, alle Arten von starken Emotionen. Allmählich wird ihnen klar, dass sie für die<br />
an<strong>de</strong>ren tot sind. Sie hören <strong>de</strong>ren Gespräche über ihren eigenen <strong>Tod</strong>. In dieser Phase sind die<br />
gera<strong>de</strong> Verstorbenen noch sehr mit ihrem letzten Leben verb<strong>und</strong>en. Sie bekommen mit, wie<br />
sich die Angehörigen übers Erbe streiten; sie können ihre Gedanken lesen <strong>und</strong> sind verletzt<br />
durch scheinheiliges Verhalten, z.B. bei <strong>de</strong>r Beerdigung.<br />
Die Erfahrungen sind sehr intensiv <strong>und</strong> schnell, vergleichbar mit Träumen o<strong>de</strong>r psychotischen<br />
Krisen im Menschenleben, Guru Rinpotsche sagte, <strong>de</strong>r Geist sei etwa siebenmal so schnell<br />
wie im Menschenkörper. Der Inhalt dieser „Träume“ wird vom Karma <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong>wesen bestimmt.<br />
Dabei kommt nicht nur das Karma aus <strong>de</strong>m vorangehen<strong>de</strong>n Leben zur Wirkung, son<strong>de</strong>rn<br />
auch Karma aus allen früheren Existenzen. Die Intensität <strong>de</strong>r Erfahrungen, die oft <strong>de</strong>n<br />
Charakter von Alpträumen annehmen, verschreckt <strong>und</strong> verunsichert die <strong>Bardo</strong>wesen, weshalb<br />
sie sich alsbald nach einer „Verankerung“, einer neuen stabilen Existenzform sehnen.<br />
Wichtig ist zu wissen, dass alle Erscheinungen – egal welcher Form – im eigenen Geistesstrom<br />
passieren. Wer sich im <strong>Bardo</strong> an die illusorische Natur aller Erscheinungen erinnern<br />
kann, erlangt auf <strong>de</strong>r Stelle Einsicht in die Natur <strong>de</strong>s Geistes <strong>und</strong> wird in Reinen Län<strong>de</strong>rn weiter<br />
praktizieren. Wer im Menschenleben wie<strong>de</strong>rholt die illusorische Natur <strong>de</strong>r Träume während<br />
<strong>de</strong>s Träumens erkannt hat, wird auch im <strong>Bardo</strong> zu dieser Erkenntnis Zugang fin<strong>de</strong>n.<br />
Es ist prinzipiell je<strong>de</strong>rzeit möglich, sich an die Jidam-Praxis zu erinnern, Gebete zu machen,<br />
die Buddhas anzurufen, die illusorische Natur <strong>de</strong>r Erscheinungen zu erkennen usw. – all dies<br />
öffnet das Tor zu einer an<strong>de</strong>ren Dimension, wo spirituelle Weiterentwicklung möglich ist.<br />
Beson<strong>de</strong>rs wichtig ist, im vorhergehen<strong>de</strong>n Leben eine tiefe Zufluchtspraxis aufzubauen, um<br />
im <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>n Reflex zu haben, Zuflucht zu nehmen, wodurch sich die Lichtwesen manifestieren<br />
wer<strong>de</strong>n, die uns <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Befreiung zeigen können. Speziell sollten wir uns im <strong>Bardo</strong><br />
so schnell wie möglich, d.h. bevor die Kraft <strong>de</strong>r Projektionen uns woan<strong>de</strong>rs hinzieht, auf A-<br />
mitabha, Tschenresi <strong>und</strong> Dewatschen ausrichten.<br />
In <strong>de</strong>r Anfangsphase sind die <strong>Bardo</strong>wesen noch stärker mit <strong>de</strong>m vorherigen Leben verb<strong>und</strong>en.<br />
Sie fühlen <strong>und</strong> <strong>de</strong>nken ähnlich wie zuvor <strong>und</strong> haben ein Interesse an <strong>de</strong>m, was an ihrer ehemaligen<br />
Heimat passiert. Diese Phase dauert etwa drei Tage (Gampopa) o<strong>de</strong>r bis zu drei Wochen<br />
(Guru Rinpotsche). Dann verblassen die Eindrücke <strong>de</strong>r Vergangenheit <strong>und</strong> an<strong>de</strong>res Karma<br />
beginnt zu überwiegen, welches dann auch zur nächsten Geburt führen wird. Diese Phase ist<br />
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etwa gleich lang, wie die vorhergehen<strong>de</strong>. Es stellen sich Projektionen ein, die bereits <strong>de</strong>m<br />
Bereich <strong>de</strong>r künftigen Geburt entsprechen, man fühlt sich von diesem Bereich angezogen,<br />
mehr als von an<strong>de</strong>ren.<br />
Es heißt, dass man in dieser Phase Lichtern von verschie<strong>de</strong>ner Intensität begegnet. Die meisten<br />
Wesen schrecken offenbar vor <strong>de</strong>m sehr kraftvollen, strahlen<strong>de</strong>n Licht <strong>de</strong>r reinen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />
höheren Bereiche zurück <strong>und</strong> ziehen die weicheren, matteren Lichter <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>ren Bereiche<br />
vor. Um sich auf diese starken Lichter vorzubereiten <strong>und</strong> sich wirklich <strong>de</strong>m hellsten <strong>und</strong><br />
klarsten zuwen<strong>de</strong>n zu können, ist es hilfreich, bereits während unseres jetzigen Lebens sehr<br />
strahlen<strong>de</strong>, leuchten<strong>de</strong> Visualisationen von Gottheiten <strong>und</strong> reinen Län<strong>de</strong>rn zu entwickeln.<br />
Dann wird es möglich sein, sich in die hellsten Lichter hineinzubegeben <strong>und</strong> Zugang zu <strong>de</strong>n<br />
reinen Bereichen zu fin<strong>de</strong>n. Wer sich aber von weichen, schwächeren Lichtern angezogen<br />
fühlt, wird Geburt in <strong>de</strong>n sechs Daseinsbereichen annehmen.<br />
Gampopa schreibt im Schmuck <strong>de</strong>r Befreiung:<br />
„Alle Wesen im Zwischenzustand haben gewisse w<strong>und</strong>ersame Fähigkeiten. Sie können <strong>de</strong>n<br />
Himmelsraum durchqueren <strong>und</strong> können wie mit <strong>de</strong>n Augen von Göttern selbst aus großer<br />
Entfernung ihren zukünftigen Geburtsort sehen. Aufgr<strong>und</strong> ihrer früheren Handlungen erscheinen<br />
ihnen jedoch vier Erfahrungen, die ihre Wahrnehmung verwirren: Es erhebt sich ein starker<br />
Sturm, heftiger Regen fällt, <strong>de</strong>r Himmel verfinstert sich <strong>und</strong> sie hören fürchterlichen<br />
Lärm, als wür<strong>de</strong>n viele Leute durcheinan<strong>de</strong>r schreien. Ihren heilsamen <strong>und</strong> schädlichen Handlungen<br />
entsprechend tauchen dann zehn unreine Wahrnehmungen auf. Sie <strong>de</strong>nken: »Ich betrete<br />
einen Palast« o<strong>de</strong>r: »Ich klettere auf das Dach eines mehrstöckigen Hauses, o<strong>de</strong>r ich besteige<br />
einen Thron, komme in eine Strohhütte, betrete eine Laubhütte, schlüpfe zwischen Grashalme,<br />
komme in einen Wald, schlüpfe in eine Mauernische, o<strong>de</strong>r: »Ich krieche zwischen<br />
Strohhalme.« Mit einer dieser Vorstellungen im Geist sehen die Wesen dann von weitem ihre<br />
künftigen Eltern in sexueller Vereinigung <strong>und</strong> begeben sich dorthin.<br />
Diejenigen, die viel positive Kraft (Verdienste) angesammelt haben <strong>und</strong> höhere <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong><br />
annehmen, wer<strong>de</strong>n einen Palast, mehrstöckige Gebäu<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Ähnliches sehen <strong>und</strong> darauf zueilen.<br />
Diejenigen mit mittleren Verdiensten <strong>und</strong> mittlerer <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> wer<strong>de</strong>n Strohhütten<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen sehen <strong>und</strong> dorthin eilen. Solche ohne Verdienste, die nie<strong>de</strong>re <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong><br />
annehmen, wer<strong>de</strong>n Mauernischen <strong>und</strong> Ähnliches sehen <strong>und</strong> sich zugleich dorthin begeben.<br />
Dort angelangt, entsteht in <strong>de</strong>nen, die männlichen Geschlechts geboren wer<strong>de</strong>n, Zuneigung<br />
zur Mutter <strong>und</strong> Abneigung gegen <strong>de</strong>n Vater. Hingegen entsteht in <strong>de</strong>nen, die weiblichen Geschlechts<br />
geboren wer<strong>de</strong>n, Zuneigung zum Vater <strong>und</strong> Abneigung gegen die Mutter. Mit diesen<br />
Gefühlen <strong>de</strong>s Begehrens <strong>und</strong> Ablehnens vermischt sich das Bewusstsein aus <strong>de</strong>m Zwischenzustand<br />
mit Sperma <strong>und</strong> Ei <strong>de</strong>r zukünftigen Eltern.“ (En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zitates)<br />
Für Wesen mit einem Karma für eine <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in <strong>de</strong>n Höllen erscheinen in ihrer Panik<br />
selbst Seen aus glühen<strong>de</strong>m, flüssigem Metall <strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen als eine Zuflucht vor <strong>de</strong>n vermeintlichen<br />
Gefahren <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong>. Jene mit Tier-Karma wer<strong>de</strong>n Mauernischen <strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen<br />
verheißungsvoll erscheinen. Jene mit Götter-Karma wer<strong>de</strong>n w<strong>und</strong>erbare Paläste sehen. Jene<br />
mit Halbgott-Karma wer<strong>de</strong>n sich von <strong>de</strong>n Kampfstätten <strong>de</strong>r Asuras angezogen fühlen, bei<br />
Menschen-Karma wird uns die sexuelle Vereinigung anziehen <strong>und</strong> die Gebärmutter wird uns<br />
wie das große Geschenk vorkommen usw. Ein je<strong>de</strong>r hat das Gefühl, dass dies <strong>de</strong>r einzig richtige<br />
Ort ist, um Schutz zu fin<strong>de</strong>n. eigentlich fin<strong>de</strong>t keinerlei Wahl statt, son<strong>de</strong>rn ein je<strong>de</strong>r folgt<br />
<strong>de</strong>n Gaukeleien <strong>de</strong>s eigenen Karmas.<br />
Bewusste <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong><br />
Wenn die Befreiung in <strong>de</strong>n Dharmakaya o<strong>de</strong>r Sambhogakaya o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Übergang in Dewatschen<br />
nicht gelungen sind, kann <strong>de</strong>r im Yoga <strong>de</strong>s Illusorischen Körpers geübte Praktizieren<strong>de</strong><br />
seinen Geist auf eine <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> im Menschenbereich ausrichten, um so Befreiung als<br />
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Nirmanakaya zu erlangen. Dies wür<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, dass die nächste Geburt die letzte samsarische<br />
Geburt sein wird.<br />
Bei bewusster <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> als Tulku geht es darum, Begier<strong>de</strong> <strong>und</strong> Anhaftungen aufzulösen,<br />
um nicht in <strong>de</strong>n Sog <strong>de</strong>r gewöhnlichen karmischen Ten<strong>de</strong>nzen zu geraten. Wenn es gelingt,<br />
sich von Anhaftung <strong>und</strong> Abneigung frei zu machen, können sich Praktizieren<strong>de</strong> sogar ihre<br />
Eltern aussuchen, weil sie nicht zwanghaft in die erstbeste Vereinigung hineinspringen wer<strong>de</strong>n.<br />
Sie können schauen, ob <strong>de</strong>r Dharma in <strong>de</strong>m Land praktiziert wird, ob diese Familie geeignete<br />
Bedingungen für Dharmapraxis bietet, on geeignete Meister in <strong>de</strong>r Nähe sein wer<strong>de</strong>n<br />
usw. Bei <strong>de</strong>r Empfängnis wer<strong>de</strong>n sie die zukünftigen Eltern als <strong>de</strong>n Lama in Form <strong>de</strong>s Jidams<br />
in Vereinigung (YabYum) meditieren <strong>und</strong> sich selbst als eine Keimsilbe (das Symbol <strong>de</strong>s<br />
Bodhicitta <strong>und</strong> <strong>de</strong>r zukünftigen Aktivität <strong>de</strong>s Nirmanakaya) visualisieren, die in <strong>de</strong>n Körper<br />
<strong>de</strong>r Mutter wie in <strong>de</strong>n Palast <strong>de</strong>r Gottheit eingeht. Sie praktizieren dabei <strong>de</strong>n Prozess <strong>de</strong>r vier<br />
Einweihungen. Dies geht nur, wenn <strong>de</strong>r Geist frei von emotionalen Reaktionen wie Anhaftung<br />
<strong>und</strong> Begehren gegenüber <strong>de</strong>m einen Elternteil sowie Abneigung <strong>und</strong> Eifersucht gegenüber<br />
<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Elternteil ist.<br />
Dem müssen aber sowohl im <strong>Bardo</strong> wie auch im Menschenleben starke Gebete vorausgehen,<br />
eine Geburt anzunehmen, in <strong>de</strong>r wir weiter <strong>de</strong>n Dharma praktizieren <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren Menschen<br />
hilfreich sein können. Wenn uns all das nicht möglich ist, sollten wir zumin<strong>de</strong>st alle unsere<br />
Verdienste anrufen <strong>und</strong> geistig sammeln, <strong>und</strong> sie einer <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> als Dharmapraktizieren<strong>de</strong>r<br />
widmen. Ohne Verdienste, d.h. ohne positives Karma, wird unser Geist so verschleiert<br />
sein, dass wir keinerlei Freiheit in diesem Prozess haben. Wunschgebete haben eine starke<br />
sammeln<strong>de</strong> Kraft auf unser Bewusstsein <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n es ermöglichen, dass sich alles Karma in<br />
die Richtung unserer stärksten Wünsche ausrichtet.<br />
Für gewöhnlich tritt bei einer menschlichen <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> (laut Gendün Rinpotsche) das Bewusstsein<br />
dabei durch <strong>de</strong>n Scheitel o<strong>de</strong>r M<strong>und</strong> in <strong>de</strong>n Vater ein, verbin<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>ssen<br />
Bodhicitta Tigle <strong>und</strong> tritt damit in die Gebärmutter ein. Khenpo Tschödrak erklärt, dass das<br />
<strong>Bardo</strong>wesen wartet, bis Sperma <strong>und</strong> Ei zusammenkommen. Es ist vorstellbar, dass sich das<br />
Bewusstsein entwe<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Sperma o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Eizelle verbin<strong>de</strong>t. Bei Zwillingen, Drillingen<br />
usw. sind es wohl mehrere Geistesströme, die sich mit einer o<strong>de</strong>r mehreren Eizellen<br />
bzw. Spermien verbin<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Vereinigung <strong>de</strong>r Tigles von Vater <strong>und</strong> Mutter (Sperma <strong>und</strong><br />
Ei), einen Tag nach <strong>de</strong>r Vereinigung, verliert das <strong>Bardo</strong>wesen in aller Regel für eine Weile<br />
das Bewusstsein. Dies ist <strong>de</strong>r Eintritt in <strong>de</strong>n <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>r nächsten Geburt. Nur Wesen wie<br />
Karmapa <strong>und</strong> Guru Rinpotsche verlieren hierbei nicht das Bewusstsein, normale Tulkus wer<strong>de</strong>n<br />
bewusstlos wie an<strong>de</strong>re auch. Nur wenige können in <strong>de</strong>r Gebärmutter Mantras rezitieren...<br />
Wie lange dauert <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns?<br />
Viele Lehrer <strong>und</strong> Texte im Vajrayana, beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r Nyingma Tradition, sagen, <strong>de</strong>r <strong>Bardo</strong><br />
<strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns wür<strong>de</strong> sieben Wochen (49 Tage) dauern. Diese Ansicht ist aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s Tibetischen<br />
Totenbuchs weit verbreitet. In <strong>de</strong>r Theravada Tradition ist aber die Re<strong>de</strong> von nur einer<br />
Woche (7 Tagen). Dies bestätigt auch Gampopa, wobei er sagt, dass die ersten drei Tage noch<br />
in Verbindung mit <strong>de</strong>m Vorleben stehen, am 4. Tag diese Verbindung verlöscht <strong>und</strong> die<br />
nächsten drei Tage auf die nächste Existenz ausgerichtet sind. Im <strong>Bardo</strong> Sutra (vermutlich ein<br />
Mahayana Sutra) spricht Buddha Shakyamuni von einer maximalen Dauer <strong>de</strong>s <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s<br />
Wer<strong>de</strong>ns von drei Wochen. Auch Gendün Rinpotsche sagte in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>n Erklärungen<br />
<strong>de</strong>r Sechs Yogas, dass die allermeisten Menschen nach drei bis vier Wochen bereits<br />
eine neue Existenz gef<strong>und</strong>en hätten. Man solle aber <strong>de</strong>nnoch mit <strong>de</strong>n Gebeten bis zum Ablauf<br />
von sieben Wochen fortfahren. Die geistigen Eindrücke im <strong>Bardo</strong> sind offenbar während <strong>de</strong>r<br />
ersten Hälfte noch stärker auf die Vergangenheit bezogen <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte fast ausschließlich<br />
auf die Zukunft. Manche Lehrer sagen, sie seien bereits von Anfang an auf die<br />
Zukunft bezogen. Gendün Rinpotsche erklärte es als ein allmähliches Verblassen <strong>de</strong>r Eindrü-<br />
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cke aus <strong>de</strong>m früheren Leben <strong>und</strong> einem gleichzeitigen Zunehmen <strong>de</strong>r karmischen Ten<strong>de</strong>nzen,<br />
die für das nächste Leben ausschlaggebend sein wer<strong>de</strong>n.<br />
Der <strong>Bardo</strong> ist sehr viel kürzer für jene, die ein sehr ausgeprägtes, klares Karma haben. So<br />
spricht man davon, dass Menschen, die ihren Vater o<strong>de</strong>r ihre Mutter umgebracht haben (bzw.<br />
eine an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r 5 „Handlungen mit unmittelbarer Konsequenz“), unmittelbar – d.h. ohne irgen<strong>de</strong>ine<br />
weitere <strong>Bardo</strong> Erfahrung – in <strong>de</strong>n Bereichen entsetzlicher Qual Geburt annehmen.<br />
Auch heißt es, dass einer <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in <strong>de</strong>n Samadhis <strong>de</strong>r Form <strong>und</strong> Formlosigkeit kaum<br />
ein <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns vorausgeht. Von verstorbenen Tieren sagte Gendün Rinpotsche, dass<br />
sie fast unmittelbar (innerhalb von Minuten o<strong>de</strong>r St<strong>und</strong>en) wie<strong>de</strong>rgeboren wer<strong>de</strong>n, ohne ein<br />
<strong>Bardo</strong> von mehreren Tagen o<strong>de</strong>r gar Wochen zu erfahren. Dasselbe gilt für Höllenwesen, die<br />
unmittelbar mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Höllenexistenz in ein an<strong>de</strong>res Leben eintreten, ohne <strong>Bardo</strong>.<br />
Es gibt aber auch Wesen, die sehr viel länger (monate- <strong>und</strong> jahrelang) als Gespenst o<strong>de</strong>r Geist<br />
im <strong>Bardo</strong> bleiben. Sie wer<strong>de</strong>n zu <strong>de</strong>n „Geruchsessern“ gezählt, die entwe<strong>de</strong>r wie Hungergeister<br />
lei<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r relative Freu<strong>de</strong>n wie bei Halbgöttern <strong>und</strong> Göttern <strong>de</strong>s Begier<strong>de</strong>bereiches erfahren.<br />
Im speziellen Fall von Selbstmord spricht Khenpo Tschödrak Rinpotsche davon, dass <strong>de</strong>r<br />
traumatisierte Geist unter Umstän<strong>de</strong>n bis zu H<strong>und</strong>erten von Jahren mit <strong>de</strong>m zurückgelassenen<br />
Körper bzw. <strong>de</strong>m, was daran erinnert, verb<strong>und</strong>en bleibt. In <strong>de</strong>m Fall sollten wir uns dieses<br />
Wesen plastisch vorstellen o<strong>de</strong>r irgendwie direkt Kontakt aufnehmen <strong>und</strong> mit ihm sprechen,<br />
um dieses Trauma auflösen zu helfen.<br />
Die Nälung-Praxis für Verstorbene<br />
Die Praxis für Verstorbene, wie sie in Kündröl Ling ausgeführt wird (Dorje Sempa Nälung)<br />
hilft im <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Wer<strong>de</strong>ns <strong>und</strong> zeigt, wie man die Manifestationen im <strong>Bardo</strong> nutzen kann.<br />
Sie hat die Kraft von unterstützen<strong>de</strong>n Wünschen. Wenn ein starkes Band mit Verstorbenen<br />
hergestellt wer<strong>de</strong>n kann, ist es möglich, ihren Geist im <strong>Bardo</strong> zu führen <strong>und</strong> auf Befreiung<br />
bzw. reine Daseinsbereiche wie Dewatschen auszurichten o<strong>de</strong>r Phowa für sie zu machen.<br />
Gendün Rinpotsche sagte (zu L. Lhündrub), dass es durchaus möglich wäre, Nälung bereits<br />
kurze Zeit nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> o<strong>de</strong>r am Tag nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> zu praktizieren, weil die meisten Menschen<br />
die Bewusstlosigkeit dann wie<strong>de</strong>r verlassen hätten. Allgemein (für Gruppenpujas) aber<br />
empfahl er, mit <strong>de</strong>r Nälung-Praxis erst 3 o<strong>de</strong>r 4 Tage nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> zu beginnen. Wichtig ist<br />
laut Khenpo Tschödrak, <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Verstorbenen erst frühestens am zweiten Tag o<strong>de</strong>r<br />
später zu verbrennen, nicht sofort.<br />
Khenpo Tschödrak erzählt folgen<strong>de</strong> Geschichte: Als Karma Tschagme Rinpoche die Nälung-<br />
Praxis für seine Mutter ausführte, tauchte zuerst eine Vision von einer w<strong>und</strong>erschönen Frau<br />
auf, die wie seine Mutter aussah. Er erkannte dies als die täuschen<strong>de</strong> Manifestation eines an<strong>de</strong>ren<br />
Wesens <strong>und</strong> praktizierte „Geg-drel“, das Befreien <strong>de</strong>r Hin<strong>de</strong>rnisse. Danach sah er seine<br />
Mutter als ein Schattenwesen, das sich um ihre ehemalige Lieblingskuh Sorgen machte, <strong>und</strong><br />
konnte ihr <strong>de</strong>n Weg aus <strong>de</strong>m <strong>Bardo</strong> zeigen.<br />
Der <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s Geborenwer<strong>de</strong>ns <strong>und</strong> Verweilens<br />
Vom Verlieren <strong>de</strong>s Bewusstseins bis zur Geburt kann man sich in <strong>de</strong>r Regel an nichts erinnern<br />
(nur Karmapa <strong>und</strong> einige wenige „höchste Tulkus“ sind die Ausnahme). Von einem empfindlichen<br />
Menschenwesen, das seine Umwelt wahrnimmt, können wir etwa zehn Wochen nach<br />
<strong>de</strong>r Empfängnis sprechen. Aber alle Erinnerung daran wird normalerweise mit <strong>de</strong>r Geburt<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n überwältigen<strong>de</strong>n Eindrücken <strong>de</strong>r frühen Kindheit ausgelöscht.<br />
Die in <strong>de</strong>n Texten beschriebenen Prozesse <strong>de</strong>r Embryonal- <strong>und</strong> Fötal-Entwicklung entsprechen<br />
<strong>de</strong>n heutigen Erkenntnissen <strong>de</strong>r medizinischen Wissenschaft <strong>und</strong> brauchen <strong>de</strong>shalb hier<br />
nicht weiter dargestellt zu wer<strong>de</strong>n. Auch brauchen wir unser jetziges Leben nicht weiter zu<br />
beschreiben... Die <strong>Bardo</strong>s <strong>de</strong>s Träumens <strong>und</strong> <strong>de</strong>r meditativen Versenkung müssten getrennt<br />
behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n.<br />
28
Abtreibung?<br />
Khenpo Tschödrak: Einem Sutra zufolge ist <strong>de</strong>r Menschenkörper erst nach drei Monaten so<br />
weit ausgebil<strong>de</strong>t, dass man von einer „Person“, d.h. einem vollgültigen Menschen mit allen<br />
Anlagen, sprechen kann. So ist also eine Abtreibung vor diesem Zeitpunkt nicht mit <strong>de</strong>m Töten<br />
eines voll entwickelten Menschen gleichzusetzen <strong>und</strong> ist karmisch weniger schwerwiegend.<br />
Es bleibt aber Töten <strong>und</strong> Khenpo hat nie von einem großen Lama wie Karmapa gehört,<br />
dass er eine Abtreibung befürwortet hätte.<br />
Anhang: Die Vorbereitung auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> (Gendün Rinpotsche)<br />
Dharmapraxis fin<strong>de</strong>t ihren eigentlichen Sinn in <strong>de</strong>r Vorbereitung auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong>, <strong>de</strong>nn dann wird<br />
sich ihr voller Nutzen zeigen. Da wir zu Lebzeiten praktiziert haben, wer<strong>de</strong>n wir keine Angst<br />
haben, wenn <strong>de</strong>r Sterbeprozess beginnt. Uns wird Vertrauen erfüllen <strong>und</strong> wir wer<strong>de</strong>n wissen,<br />
welche Haltung hilfreich <strong>und</strong> welche hin<strong>de</strong>rlich ist. Wir wer<strong>de</strong>n die Früchte eines Lebens ernten,<br />
dass <strong>de</strong>r Dharmapraxis gewidmet war. Wenn wir jedoch mit <strong>de</strong>r Praxis erst in <strong>de</strong>r letzten<br />
Minute beginnen, wer<strong>de</strong>n sich ihre positiven Wirkungen nicht mehr rechtzeitig einstellen<br />
können. Die Folgen unserer nichtheilsamen Handlungen wer<strong>de</strong>n uns im <strong>Tod</strong>esprozess wie<br />
Schatten folgen <strong>und</strong> zu Erfahrungen von großem Leid führen. Deshalb sollten wir die Unterweisungen<br />
unverzüglich anwen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> die Last unserer schädlichen Handlungen auflösen,<br />
solange noch Zeit ist.<br />
Wir sagen uns vielleicht, dass wir lieber nicht zuviel an <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> <strong>de</strong>nken sollten, da wir ihn<br />
ohnehin nicht abwen<strong>de</strong>n können <strong>und</strong> uns <strong>de</strong>r Gedanke daran nur ängstigen <strong>und</strong> <strong>de</strong>primieren<br />
wür<strong>de</strong>. Doch es ist nicht sehr weise, <strong>de</strong>n Gedanken an <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> zu verdrängen. Wenn wir uns<br />
heute schon <strong>de</strong>r Wirklichkeit <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es, seiner Unausweichlichkeit <strong>und</strong> Unvorhersehbarkeit,<br />
stellen, können wir uns auf ihn vorbereiten <strong>und</strong> ihm dann gelassen <strong>und</strong> mit klarem Geist ins<br />
Auge schauen.<br />
Der <strong>Tod</strong> kann je<strong>de</strong>rzeit eintreten, sei es durch einen Unfall, eine plötzliche Krankheit, verdorbene<br />
Nahrung – eigentlich kann fast alles zu einer <strong>Tod</strong>esursache wer<strong>de</strong>n. Wir können nicht<br />
wissen, wann es soweit sein wird. Und was auch immer wir anstellen: Wir können das Kommen<br />
<strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es nicht verhin<strong>de</strong>rn – genauso wenig, wie wir <strong>de</strong>n Lauf <strong>de</strong>r Sonne anhalten können.<br />
Aller Reichtum <strong>und</strong> alle Macht wer<strong>de</strong>n uns angesichts <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es nicht im Geringsten<br />
helfen. Wir wer<strong>de</strong>n alles hinter uns lassen müssen. Wenn wir unser ganzes Leben damit verbracht<br />
haben, Güter anzuhäufen, Fre<strong>und</strong>e zu gewinnen, Macht aufzubauen <strong>und</strong> Ansehen zu<br />
erringen, be<strong>de</strong>utet das eigentlich nur, dass wir völlig unseren ichbezogenen Ten<strong>de</strong>nzen gefolgt<br />
sind <strong>und</strong> uns emotional immer tiefer verstrickt haben. Im <strong>Tod</strong> wer<strong>de</strong>n wir dann keine Möglichkeit<br />
mehr haben, uns aus diesen Konditionierungen zu befreien. Alle Anstrengungen, die<br />
wir unternommen haben, um aus diesem Leben Glück für uns selbst zu ziehen, wer<strong>de</strong>n nur zu<br />
einem großen Berg von negativem Karma geführt haben, da alle unsere Handlungen von Ichanhaften<br />
motiviert waren. Im <strong>Tod</strong> wird uns die Kraft dieser nichtheilsamen Handlungen in<br />
einen <strong>de</strong>r drei leidvollen Daseinsbereiche schleu<strong>de</strong>rn: in die Höllenbereiche, zu <strong>de</strong>n hungrigen<br />
Geistern o<strong>de</strong>r in das Dasein eines Tieres. In diesen Bereichen herrscht großes Leid, viel intensiveres<br />
als im Menschenbereich.<br />
Mangeln<strong>de</strong> Motivation zur spirituellen Praxis zeigt, dass wir nicht genug über <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> Vergänglichkeit<br />
nach<strong>de</strong>nken. Wir möchten nicht darüber nach<strong>de</strong>nken, welche Folgen ein Leben<br />
hat, das mit sinnlosen Aktivitäten vergeu<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, <strong>und</strong> behaupten einfach, es sei unnötig,<br />
sich auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> die Zeit danach vorzubereiten. Wir haften am weltlichen Leben <strong>und</strong><br />
seinen Freu<strong>de</strong>n <strong>und</strong> halten unser momentanes Wohlbefin<strong>de</strong>n für das Allerwichtigste. Doch<br />
wir wer<strong>de</strong>n uns <strong>de</strong>n Folgen unserer Handlungen unweigerlich stellen müssen – <strong>und</strong> dann wird<br />
es zu spät sein, noch etwas zu än<strong>de</strong>rn.<br />
Wenn wir uns <strong>de</strong>r Wirklichkeit <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es stellen, wird uns vieles klar, das sich bisher unserem<br />
Blick verbarg. Wir sehen, dass <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> nicht nur auf je<strong>de</strong>n Fall kommt, son<strong>de</strong>rn dass sein<br />
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Eintreten zu<strong>de</strong>m völlig unvorhersehbar ist. Er kann je<strong>de</strong>n Moment kommen. Wir haben keine<br />
Zeit zu verlieren. Sofort sollten wir mit <strong>de</strong>r Vorbereitung beginnen <strong>und</strong> alle Handlungen unterlassen,<br />
die zu leidvollen <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>en führen. Die Kontemplation über die alles bestimmen<strong>de</strong><br />
Kraft <strong>de</strong>s Karmas, durch das sich im Moment unseres <strong>Tod</strong>es entschei<strong>de</strong>t, wie es weitergeht,<br />
ist ein mächtiger Antrieb, heilsame Handlungen auszuführen, uns <strong>de</strong>m Dharma zu<br />
widmen <strong>und</strong> keine weitere Zeit auf <strong>de</strong>m Weg zur Erleuchtung zu verlieren.<br />
Die größte Gefahr im <strong>Tod</strong> sind die Auswirkungen <strong>de</strong>r vielen nichtheilsamen Handlungen, die<br />
wir ausgeführt haben. Wir müssen <strong>de</strong>shalb unverzüglich lernen, wie wir diese Saat <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>s<br />
mit Hilfe <strong>de</strong>s Dharma auflösen <strong>und</strong> zugleich Samen <strong>de</strong>s Glücks setzen können. Nur <strong>de</strong>r<br />
Dharma – <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>s Auflösens aller Ichbezogenheit – hat diese Kraft <strong>und</strong> wir sollten <strong>de</strong>shalb<br />
unverzüglich die Dharma-Metho<strong>de</strong>n anwen<strong>de</strong>n. Wenn wir im Sterbeprozess <strong>und</strong> danach<br />
verzweifelt Schutz suchen, wird die einzig wirksame Hilfe von Buddha, Dharma <strong>und</strong> Sangha<br />
kommen. Wir irren uns, falls wir meinen, es sei ausreichend, sich einfach im letzten Moment<br />
für die Drei Juwelen zu öffnen. Wir müssen uns das ganze Leben darin üben, Wunschgebete<br />
zu machen <strong>und</strong> vertrauensvoll Zuflucht bei <strong>de</strong>n Drei Juwelen <strong>und</strong> beim Lama zu fin<strong>de</strong>n, damit<br />
diese Haltung tief genug verwurzelt ist <strong>und</strong> im <strong>Tod</strong> völlig natürlich sein wird. Sterben ist ein<br />
schmerzlicher Prozess <strong>und</strong> wir wer<strong>de</strong>n nicht so besonnen reagieren, wie wir es uns wünschen,<br />
<strong>de</strong>nn es ist nicht leicht, alles loszulassen <strong>und</strong> ins Unbekannte zu gehen. Es wird zu spät sein,<br />
Neues zu lernen – dann müssen uns unsere guten Gewohnheiten tragen.<br />
Wer sein Leben zur Praxis nutzt, kann lernen, schwierige Umstän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Erleuchtung<br />
zu verwan<strong>de</strong>ln, sein Karma zu reinigen <strong>und</strong> sich so vom Ballast <strong>de</strong>r Vergangenheit zu<br />
befreien. Dharmapraxis befreit zu<strong>de</strong>m von <strong>de</strong>n tief verwurzelten Ten<strong>de</strong>nzen, die gleichen Fehler<br />
immer wie<strong>de</strong>r zu begehen <strong>und</strong> stets neues Leid zu erzeugen. Sie befähigt uns allmählich<br />
sogar, an<strong>de</strong>ren in ihrem Leid beizustehen <strong>und</strong> ihnen beim Auflösen ihres Karmas zu helfen.<br />
Durch die Kraft unserer Praxisverpflichtung <strong>und</strong> die Reinheit unserer Motivation wer<strong>de</strong>n wir<br />
fähig, immer mehr Wesen für <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Befreiung zu inspirieren. So bewirkt unsere Praxis<br />
tatsächlich das Wohl aller Wesen. Wenn wir durch Dharmapraxis gut vorbereitet sind, ist <strong>de</strong>r<br />
<strong>Tod</strong> eine außeror<strong>de</strong>ntliche Gelegenheit, die Einsicht zu vertiefen.<br />
Weit fortgeschrittene Praktizieren<strong>de</strong> können im <strong>Tod</strong> Buddhaschaft erreichen, in<strong>de</strong>m sie erkennen,<br />
dass ihr Geist <strong>de</strong>r Wahrheitskörper ist. Etwas weniger weit Fortgeschrittene, die sich<br />
durch Jidam-Praxis geübt haben, alle Erscheinungen als die vielfältigen Ausdrucksformen <strong>de</strong>s<br />
Buddhageistes zu sehen, können im <strong>Tod</strong> Befreiung in <strong>de</strong>r Verwirklichung <strong>de</strong>s Freu<strong>de</strong>nkörpers<br />
erlangen.<br />
Wenn wir nicht ganz so qualifizierte Praktizieren<strong>de</strong> sind, aber einen offenen, gelösten Geist<br />
<strong>und</strong> tiefes Vertrauen in <strong>de</strong>n Lama entwickelt haben, wer<strong>de</strong>n wir uns von <strong>de</strong>n illusorischen<br />
Erscheinungen <strong>de</strong>s Nachtodzustan<strong>de</strong>s nicht bedroht fühlen, son<strong>de</strong>rn in ihnen die wahre Natur<br />
aller Erscheinungen, die Leerheit, wie<strong>de</strong>r erkennen. Da wir im Entwickeln von Hingabe <strong>und</strong><br />
Offenheit <strong>de</strong>m Lama gegenüber <strong>und</strong> im Ausführen von Wunschgebeten geübt sind, wer<strong>de</strong>n<br />
wir fähig sein, unseren Geist mit <strong>de</strong>m Geist <strong>de</strong>s Lamas zu verschmelzen. Dadurch wer<strong>de</strong>n alle<br />
Erscheinungen <strong>de</strong>r Nachtodphase, die nichts an<strong>de</strong>res als die Manifestationen unserer karmischen<br />
Ten<strong>de</strong>nzen sind, unmittelbar bei ihrem Erscheinen gereinigt. Sie lösen sich in <strong>de</strong>r Erkenntnis<br />
ihrer wahren Natur auf <strong>und</strong> wir fin<strong>de</strong>n völlige Befreiung.<br />
Aus diesen Grün<strong>de</strong>n ist es so wichtig, dass wir uns jetzt, wo wir noch am Leben sind, <strong>de</strong>m<br />
Studium <strong>de</strong>s Dharma zuwen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Vertrauen <strong>und</strong> Offenheit <strong>de</strong>m Meister <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Lehre gegenüber<br />
entwickeln. Materielle Güter <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e sind keine Hilfe im <strong>Tod</strong>. Nur die in <strong>de</strong>r<br />
Praxis entwickelte Kraft <strong>und</strong> unsere Fähigkeit, uns vertrauensvoll <strong>de</strong>m Segen <strong>de</strong>r Drei Juwelen<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>s Lamas zu öffnen, können uns dann schützen. Deshalb sollten wir von jetzt an alle<br />
Situationen, beson<strong>de</strong>rs auch die schwierigen <strong>und</strong> schmerzhaften, nutzen, um Vertrauen <strong>und</strong><br />
Hingabe zu <strong>de</strong>n Drei Juwelen <strong>und</strong> insbeson<strong>de</strong>re zum Lama zu entwickeln. Situationen, in <strong>de</strong>-<br />
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nen wir lei<strong>de</strong>n, angegriffen wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Problemen begegnen, sind das beste Übungsfeld,<br />
nicht zu weltlichen Mitteln Zuflucht zu suchen, son<strong>de</strong>rn uns für <strong>de</strong>n Segen zu öffnen.<br />
Je vertrauter wir mit <strong>de</strong>m Zufluchtnehmen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto mehr wird uns die Zuflucht auch im<br />
Schlaf bei schweren Träumen <strong>und</strong> im <strong>Tod</strong> eine Hilfe sein: Durch die Gebete, die wir im<br />
Wachzustand an die Zuflucht richten, erzeugen wir Gewohnheiten, die bewirken, dass wir<br />
auch im Traum natürlicherweise Zuflucht nehmen. Dadurch lösen sich alle Ängste augenblicklich<br />
auf <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Traum nimmt eine an<strong>de</strong>re Wendung. Das spontane Zufluchtnehmen im<br />
Traum zeigt zu<strong>de</strong>m, dass die Zufluchtnahme zu einer verlässlichen, nahezu automatischen<br />
Reaktion wird, die uns auch im Sterbeprozess eine Stütze sein wird. Durch die Kraft <strong>de</strong>r Gewohnheit,<br />
die wir während unseres Lebens entwickelt haben, wer<strong>de</strong>n wir uns im <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> danach<br />
an die Zuflucht <strong>und</strong> damit an <strong>de</strong>n Dharma erinnern <strong>und</strong> können aus allen Ängsten <strong>und</strong><br />
Verwicklungen herausfin<strong>de</strong>n.<br />
In <strong>de</strong>r Hinwendung an die Zuflucht wer<strong>de</strong>n wir die <strong>Tod</strong>eserfahrungen als Projektionen unseres<br />
Geistes erkennen <strong>und</strong> nicht für Kräfte halten, die von außen auf uns einwirken.<br />
Um sicher zu sein, dass wir im <strong>Tod</strong> Befreiung erlangen, müssen wir zusätzlich zu Vertrauen<br />
<strong>und</strong> Hingabe ein direktes Verständnis <strong>de</strong>r wahren Natur <strong>de</strong>r Erscheinungen entwickeln. Deshalb<br />
sollten wir unablässig darüber meditieren, dass die gesamte Welt – alle Wesen <strong>und</strong> Phänomene<br />
– wie ein Traum ohne Wirklichkeit ist, das illusorische Spiel <strong>de</strong>s Geistes. Wenn wir<br />
die illusorische Natur aller Erfahrungen von Glück <strong>und</strong> Leid wirklich verstehen, wer<strong>de</strong>n wir<br />
unserem Erleben keine konkrete Wirklichkeit mehr beimessen <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n auch die Projektionen<br />
<strong>de</strong>r <strong>Tod</strong>esphase als illusorisch erkennen. Wir wer<strong>de</strong>n verstehen, dass sie – so furchterregend<br />
sie auch sein mögen – lediglich Bil<strong>de</strong>r im Spiegel unseres Geistes sind. Dieses Verständnis<br />
entwickelt sich, in<strong>de</strong>m wir uns für <strong>de</strong>n Segen <strong>de</strong>s Lamas <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Drei Juwelen öffnen.<br />
Immer wie<strong>de</strong>r kommen wir auf diese Schlüsselpunkte <strong>de</strong>r Praxis zurück: Vertrauen, Offenheit<br />
<strong>und</strong> Segen.<br />
Sind wir zu Lebzeiten nicht fähig, unsere Erfahrungen wie einen Traum zu leben <strong>und</strong> <strong>de</strong>n<br />
Traumzustand selbst als Illusion zu erkennen, wird es schwierig sein, im <strong>Tod</strong> o<strong>de</strong>r im Nachtodzustand<br />
Befreiung zu fin<strong>de</strong>n. Denn da sich die Erscheinungen <strong>und</strong> unsere Ten<strong>de</strong>nzen nach<br />
<strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> auf dieselbe Weise wie jetzt manifestieren, wer<strong>de</strong>n wir unsere Erfahrungen ohne<br />
Übung auch dann für genauso wirklich halten wie jetzt. Um gut auf <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> vorbereitet zu<br />
sein, sollten wir uns <strong>de</strong>shalb schon jetzt darin üben, die Unwirklichkeit aller Erscheinungen zu<br />
erkennen.<br />
Oft wird das tibetische Wort <strong>Bardo</strong> benutzt, um die Nachtodphase zu bezeichnen, aber eigentlich<br />
be<strong>de</strong>utet <strong>Bardo</strong> nur ganz allgemein “Zwischenzustand”. Auch jetzt sind wir in einem solchen<br />
<strong>Bardo</strong>: <strong>de</strong>m Zwischenzustand zwischen Geburt <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>. Der Unterschied zum Nachtod-<br />
<strong>Bardo</strong> besteht nur darin, dass unsere Erfahrungen nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> intensiver sein wer<strong>de</strong>n als<br />
jetzt. Was immer wir in früheren Leben erlebt haben, was wir im gegenwärtigen <strong>Bardo</strong> erleben<br />
<strong>und</strong> was wir im Nachtod-<strong>Bardo</strong> erleben wer<strong>de</strong>n, ist die Folge <strong>de</strong>s Heranreifens <strong>de</strong>r karmischen<br />
Samen, die wir in unzähligen Leben gesät haben. All diese verschie<strong>de</strong>nen <strong>Bardo</strong>-<br />
Erfahrungen folgen <strong>de</strong>n gleichen Gesetzmäßigkeiten: Sie entstehen aufgr<strong>und</strong> von karmischen<br />
Ursachen <strong>und</strong> Bedingungen. Mit Hilfe <strong>de</strong>r Dharmapraxis zu lernen, im <strong>Bardo</strong> <strong>de</strong>s gegenwärtigen<br />
Momentes zu leben, ist von daher die beste Vorbereitung für <strong>de</strong>n Nachtod-<strong>Bardo</strong>. Aus <strong>de</strong>r<br />
Sicht <strong>de</strong>s Dharma ist <strong>Tod</strong> einfach eine Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>ssen, was wir wahrnehmen. Die Erscheinungen<br />
unserer momentanen Welt hören auf <strong>und</strong> machen an<strong>de</strong>ren Wahrnehmungen<br />
Platz. Dabei gibt es keine wirkliche Unterbrechung: Der Geist bleibt weiterhin, was er von<br />
Natur her ist, <strong>und</strong> nimmt mit <strong>de</strong>nselben Ten<strong>de</strong>nzen wahr. Der Bezugsrahmen <strong>de</strong>r Wahrnehmungen<br />
än<strong>de</strong>rt sich, aber gr<strong>und</strong>sätzlich ist es <strong>de</strong>rselbe Prozess <strong>und</strong> die Reaktionen <strong>de</strong>s Geistes<br />
bleiben die gleichen wie zuvor. In Wahrheit ist <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> – genauso wie das Leben – eine Illusion,<br />
ein vorübergehen<strong>de</strong>r Zwischenzustand, ein <strong>Bardo</strong>. Mit ihm hört nicht, wie wir vielleicht<br />
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annehmen, einfach alles auf. Der <strong>Tod</strong> ist die Fortsetzung <strong>de</strong>s Lebens: ein Szenenwechsel im<br />
kontinuierlichen Prozess <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung.<br />
Die Wahrnehmungen nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> sind die sich fortsetzen<strong>de</strong> Manifestation <strong>de</strong>s zur Reife<br />
kommen<strong>de</strong>n karmischen Potentials. Dieses Karma wird weiterhin vom Geist <strong>und</strong> seinen Sinnen<br />
erlebt. Die Sinneswahrnehmungen gehen weiter, auch wenn wir zunächst keinen materiellen,<br />
son<strong>de</strong>rn nur einen geistigen Körper besitzen. Und genauso wie in unserem jetzigen Leben<br />
reagieren wir mit Anhaftung o<strong>de</strong>r Ablehnung <strong>und</strong> all <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Emotionen, je nach<strong>de</strong>m, ob<br />
unser Karma friedvolle o<strong>de</strong>r erschrecken<strong>de</strong> Erfahrungen bewirkt.<br />
Der <strong>Tod</strong> kann mit einem Umzug verglichen wer<strong>de</strong>n: Wir leben in einem Haus, in <strong>de</strong>m wir<br />
bestimmte Gewohnheiten entwickelt haben, <strong>und</strong> eines Tages erlöschen die Bedingungen, um<br />
dort weiterzuleben. Wir sterben, nehmen notgedrungen unsere “karmischen Koffer” <strong>und</strong> ziehen<br />
woan<strong>de</strong>rshin, um in einer an<strong>de</strong>ren Situation <strong>und</strong> Umgebung zu leben, weiterhin begleitet<br />
von unseren alten Gewohnheiten. Wir fin<strong>de</strong>n uns in einer neuen, unbekannten Welt wie<strong>de</strong>r.<br />
Die Dharmalehren helfen uns, uns in dieser neuen Situation zurechtzufin<strong>de</strong>n, da wir schon<br />
jetzt in diesem Leben Gewohnheiten entwickeln, die uns in unbekannten Lan<strong>de</strong>n weiterhelfen<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Im <strong>Tod</strong> löst sich unser gegenwärtiger Bezugsrahmen auf. Er ist das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r uns vertrauten<br />
Welt. Wenn wir während <strong>de</strong>s Lebens an die Wirklichkeit dieser bedingten Welt geglaubt haben,<br />
wird uns <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> in völlige Verwirrung stürzen. Wir wer<strong>de</strong>n uns nicht mehr zurechtfin<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>nn alle vertrauten Bezugspunkte fehlen – all die Spiegel, die uns früher das Gefühl<br />
gegeben haben, dass es uns gibt. Wir wer<strong>de</strong>n ent<strong>de</strong>cken, dass wir ganz allein sind. Die Illusion,<br />
von an<strong>de</strong>ren umgeben zu sein, jemand zu sein <strong>und</strong> wichtige Dinge zu tun, bricht im <strong>Tod</strong><br />
zusammen. Und wenn wir unser Leben nicht genutzt haben, tiefes Vertrauen in die Zuflucht<br />
<strong>und</strong> damit auch in unseren Geist zu entwickeln, wer<strong>de</strong>n wir uns entwurzelt <strong>und</strong> verloren fühlen.<br />
Was im <strong>Tod</strong> bleibt, ist unser Geist, unsere Sichtweise <strong>de</strong>r Dinge <strong>und</strong> das, was an Vertrauen,<br />
Erfahrungen <strong>und</strong> Verwirklichung in unserem Wesensstrom entstan<strong>de</strong>n ist.<br />
Im <strong>Tod</strong> hängt alles davon ab, ob wir gelernt haben, wirklich Zuflucht zu nehmen: Zuflucht<br />
zum Lama, <strong>de</strong>r zugleich die wahre Dimension unseres Geistes ist. Wenn sich im Sterbeprozess<br />
unsere Umgebung auflöst <strong>und</strong> <strong>de</strong>r äußere Lama nicht mehr erreichbar ist, sollten wir frei<br />
von Zweifeln Zuflucht zur wahren Natur <strong>de</strong>s Lamas nehmen können. Durch solches Zufluchtnehmen<br />
ist <strong>de</strong>r eigentliche Lama in uns gegenwärtig.<br />
Im <strong>Tod</strong> trennt sich <strong>de</strong>r Geist von allem Materiellen, <strong>de</strong>m Körper wie auch <strong>de</strong>r Welt. Er ist<br />
dann vollkommen “nackt”, nicht mehr eingeb<strong>und</strong>en in diesen Körper, <strong>de</strong>r ihn zwar einschränkt,<br />
aber auch vor <strong>de</strong>m allzu schnellen Umsetzen von Impulsen schützt. Das leere, dynamische<br />
Bewusstsein, das nicht mehr in einem physischen Körper verankert ist, zeigt dann<br />
seine erstaunliche Kraft: Je<strong>de</strong>r Gedanke hat in dieser rein geistigen Dimension unmittelbare<br />
Folgen. Taucht eine Emotion auf, fin<strong>de</strong>n wir uns sofort in einer Umgebung wie<strong>de</strong>r, die diese<br />
Emotion spiegelt. Obwohl <strong>de</strong>r gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong> geistige Prozess jetzt <strong>und</strong> später i<strong>de</strong>ntisch ist,<br />
mag es uns im Moment schwer fallen, uns <strong>de</strong>n Geisteszustand nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> vorzustellen, da<br />
wir im gewöhnlichen Leben nie dieses nackte, nicht in <strong>de</strong>r Materie verankerte Bewusstsein<br />
erfahren. Im gewöhnlichen Zustand erzeugen wir ständig konzeptuelle Schleier, welche die<br />
wahre Natur unseres Geistes <strong>und</strong> auch <strong>de</strong>r Welt verhüllen. Wir nehmen nie wirklich bewusst<br />
mit unserer tieferen Natur Kontakt auf – es sei <strong>de</strong>nn, wir üben Meditation. In <strong>de</strong>r Zeit nach<br />
<strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> ist <strong>de</strong>r Geist sehr beweglich <strong>und</strong> besitzt viele Kräfte, <strong>de</strong>ren Kontrolle er nicht gelernt<br />
hat. Zu<strong>de</strong>m begegnen ihm völlig unerwartete <strong>und</strong> unbekannte Situationen. Unvorbereitet wie<br />
er ist, kann er kaum angemessen auf diese Herausfor<strong>de</strong>rungen antworten. Er ist sehr instabil,<br />
alles kann passieren <strong>und</strong> er verliert leicht sein Gleichgewicht. Je nach<strong>de</strong>m, welche Richtung<br />
die Gedanken nehmen, können wir uns in Zustän<strong>de</strong>n größten Glücks o<strong>de</strong>r stärksten Lei<strong>de</strong>s<br />
wie<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>n.<br />
32
Der Dharma lehrt Metho<strong>de</strong>n, die es ermöglichen, die Erkenntnis <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Geistes hervorzubringen.<br />
Diese tiefgründigen Unterweisungen, wie zum Beispiel die Lehren <strong>de</strong>s Großen<br />
Siegels (Mahamudra), <strong>de</strong>r Großen Vollendung (Maha-Ati), <strong>de</strong>r Vervollkommnung <strong>de</strong>r Weisheit<br />
(Prajnaparamita) <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Weges <strong>de</strong>r Mitte (Madhyamaka), üben mit ihren beeindrucken<strong>de</strong>n<br />
Namen eine große Faszination auf spirituell Suchen<strong>de</strong> aus. Doch um diese Lehren aus<br />
eigener Erfahrung zu verstehen, bedarf es regelmäßiger, ausdauern<strong>de</strong>r Praxis. Nur dann wer<strong>de</strong>n<br />
wir ins Herz dieser Metho<strong>de</strong>n vordringen <strong>und</strong> nicht bei einem bloß intellektuellen Verständnis<br />
stehen bleiben. Sich für einen Praktizieren<strong>de</strong>n dieser Lehren zu halten, ohne wirklich<br />
ihren Sinn zu verstehen, ist Ausdruck von spiritueller Überheblichkeit <strong>und</strong> Stolz. Im <strong>Tod</strong><br />
brauchen wir eine Metho<strong>de</strong>, die wir gut beherrschen – Selbstüberschätzung wird uns dann<br />
nicht weiterhelfen.<br />
Es ist angebracht, sich in Beschei<strong>de</strong>nheit zu üben <strong>und</strong> sich auf eine einfache <strong>und</strong> sichere Praxis<br />
zu stützen, die wirklich in unserer Reichweite liegt <strong>und</strong> auch Unwissen<strong>de</strong> wie uns sicher<br />
zur Befreiung führt. Beson<strong>de</strong>rs geeignet dafür ist das Ausführen von Wunschgebeten zur<br />
<strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> im reinen Land von Amitabha, <strong>de</strong>m Buddha <strong>de</strong>s Grenzenlosen Lichtes. Diese<br />
Praxis ermöglicht uns, allein durch Vertrauen in Buddha Amitabha, im <strong>Tod</strong> Zugang zu <strong>de</strong>n<br />
reinen Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Verwirklichung <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Geistes zu fin<strong>de</strong>n. Wenn wir <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong><br />
in einem reinen Land annehmen, wie in Amitabhas reinem Land Dewatschen, sind wir vom<br />
Kreislauf <strong>de</strong>r Existenzen befreit, begegnen keinen Hin<strong>de</strong>rnissen mehr <strong>und</strong> können schnell zur<br />
Erleuchtung voranschreiten.<br />
Natürlich ist es möglich, Mahamudra, die Einsicht in die wahre Natur <strong>de</strong>s Geistes, innerhalb<br />
dieses Lebens zu verwirklichen, doch verlangt das völligen Einsatz. Wir müssen unser Leben<br />
lang unsere gesamte Energie darauf ausrichten <strong>und</strong> unermüdlich praktizieren, bis wir die Entwicklungs-<br />
<strong>und</strong> Vollendungsphasen 4 <strong>de</strong>r Meditation gemeistert haben. Vielen von uns fehlen<br />
im Moment die Zeit <strong>und</strong> die Energie dafür: Die karmischen Bedingungen kommen nicht zusammen<br />
– <strong>und</strong> vielleicht sind wir auch ein wenig faul! Für all diejenigen, die entwe<strong>de</strong>r zu faul<br />
o<strong>de</strong>r zu beschäftigt sind, um intensiv praktizieren zu können, aber eine tiefe Sehnsucht nach<br />
Befreiung von <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Daseinskreislaufes haben, gibt es die Praxis <strong>de</strong>r Wunschgebete<br />
zur <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in Amitabhas “Reinem Land <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>” (Dewatschen). Diese Praxis ist<br />
einfach, braucht wenig Zeit, bringt aber große Ergebnisse.<br />
Dewatschen, das Land wahrer Freu<strong>de</strong><br />
Von allen reinen Län<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>n erleuchteten Bewusstseinsbereichen, ist das Land von Amitabha<br />
am leichtesten zu erreichen, <strong>de</strong>nn Amitabha hat während seines gesamten Weges zur Buddhaschaft<br />
Wunschgebete ausgeführt, dass es auch für gewöhnliche Lebewesen, die zu ihren<br />
Lebzeiten noch nicht die Natur <strong>de</strong>s Geistes verstan<strong>de</strong>n haben, möglich sein wer<strong>de</strong>, in ein Land<br />
<strong>de</strong>r Verwirklichung zu gelangen. Je<strong>de</strong>r Bodhisattva macht während seiner spirituellen Entwicklung<br />
Wunschgebete für seine zukünftige Aktivität. Amitabha sah, dass die an<strong>de</strong>ren reinen<br />
Län<strong>de</strong>r für gewöhnliche Wesen nur schwer zugänglich sind, weil sie voraussetzen, dass man<br />
schon zu Lebzeiten eine gewisse Verwirklichung <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>s Geistes erreicht hat. Er<br />
wünschte, dass mit seinem Erlangen <strong>de</strong>r Buddhaschaft eine spirituelle Umgebung entstehen<br />
wer<strong>de</strong>, die für je<strong>de</strong>n erreichbar sei – allein aufgr<strong>und</strong> <strong>de</strong>s Vertrauens in ihn <strong>und</strong> <strong>de</strong>s aufrichtigen<br />
Wunsches, in diesem reinen Land wie<strong>de</strong>rgeboren zu wer<strong>de</strong>n. Als er dann ein vollkommen<br />
erleuchteter Buddha wur<strong>de</strong>, gingen seine Wunschgebete durch die Kraft seiner Verwirklichung<br />
in Erfüllung: Das “Reine Land <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>” manifestierte sich, offen für alle, die über<br />
genug Vertrauen verfügen. Um nach Dewatschen zu gelangen, brauchen wir ein starkes Ver-<br />
4 In <strong>de</strong>r Entwicklungsphase <strong>de</strong>r Meditation (Kye-rim), auch schöpferische Phase genannt, arbeitet man mit <strong>de</strong>r kreativen<br />
Seite <strong>de</strong>s Geistes, in<strong>de</strong>m man z.B. Visualisationen ausführt <strong>und</strong> sich <strong>de</strong>r illusorischen Natur aller Erscheinungen bewusst<br />
wird. In <strong>de</strong>r Vollendungsphase (Dsog-rim) lässt man alle Vorstellungen los <strong>und</strong> verschmilzt mit <strong>de</strong>r nondualen Dimension,<br />
die allen Erscheinungen zu Gr<strong>und</strong>e liegt. In <strong>de</strong>r Kagyü-Tradition wer<strong>de</strong>n diese bei<strong>de</strong>n Phasen nicht nacheinan<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn<br />
als Einheit praktiziert.<br />
33
trauen in Buddha Amitabha <strong>und</strong> dürfen keinen Zweifel daran haben, dass es uns möglich ist,<br />
dort wie<strong>de</strong>rgeboren zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Dafür ist es von großem Nutzen, täglich Wunschgebete zu machen, unmittelbar nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong><br />
in dieses reine Land zu gelangen, ohne vorher noch einmal im Daseinskreislauf Geburt annehmen<br />
zu müssen. Mit diesen Wunschgebeten üben wir während unseres ganzen Lebens,<br />
uns voller Hingabe Amitabha anzuvertrauen. Beson<strong>de</strong>rs hilfreich dafür ist auch die Meditation<br />
auf Tschenresi, <strong>de</strong>n Buddha <strong>de</strong>s Großen Mitgefühls, <strong>de</strong>nn er ist es, <strong>de</strong>r uns die Tür zu dieser<br />
reinen Gewahrseins-Dimension öffnen <strong>und</strong> uns zu seinem Lama, Buddha Amitabha, geleiten<br />
wird. Durch die Verbindung von Tschenresi Praxis <strong>und</strong> Wunschgebeten wird sich eine<br />
tiefe Sehnsucht in uns entwickeln, nach Dewatschen zu gelangen. Die Praxis beinhaltet natürlich<br />
auch, dass wir uns bemühen, alle nichtheilsamen Handlungen zu vermei<strong>de</strong>n <strong>und</strong> so viel<br />
Nützliches wie möglich zu tun. Wenn wir so unser Leben ganz auf Befreiung <strong>und</strong> Erleuchtung<br />
ausrichten, lösen wir uns allmählich von <strong>de</strong>n Belangen dieser Welt <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n im Moment<br />
<strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es bereit sein, die Welt <strong>de</strong>s Anhaftens hinter uns zu lassen. Wenn wir jegliches Verlangen,<br />
im Daseinskreislauf wie<strong>de</strong>rgeboren zu wer<strong>de</strong>n, aufgelöst haben, gelangen wir nach<br />
<strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> direkt nach Dewatschen. Wir können sicher sein, dass dies wirklich in <strong>de</strong>r Reichweite<br />
eines je<strong>de</strong>n von uns liegt.<br />
Um diesen großen Übergang voller Vertrauen vollziehen zu können, müssen wir ein Verständnis<br />
davon entwickeln, wie wir im Sterbeprozess praktizieren sollten: Wenn <strong>de</strong>r Moment<br />
unseres <strong>Tod</strong>es naht, bringen wir zunächst unseren Körper, unsere Re<strong>de</strong> <strong>und</strong> unseren Geist<br />
sowie alle positiven Handlungen, die wir im Verlauf unseres Lebens ausgeführt haben, <strong>de</strong>m<br />
Wohl <strong>de</strong>r Wesen dar. So vollkommen wie möglich widmen wir ihnen alles Gute <strong>und</strong> wünschen<br />
ihnen die Erfüllung all ihrer Wünsche: Mögen sie glücklich wer<strong>de</strong>n, möge ihr Geist<br />
sich öffnen <strong>und</strong> möge ihr offener, glücklicher Geist sie zur Buddhaschaft führen!<br />
Dann wecken wir in uns <strong>de</strong>n starken, reinen Wunsch, unmittelbar nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> bei Buddha<br />
Amitabha wie<strong>de</strong>rgeboren zu wer<strong>de</strong>n. Um diese innere Ausrichtung zu verstärken, können wir<br />
uns Amitabha als leuchten<strong>de</strong> Form vor uns im Raum o<strong>de</strong>r über unserem Kopf vorstellen. Wir<br />
<strong>de</strong>nken, dass er untrennbar von unserem Wurzellama ist, <strong>de</strong>r uns das ganze Leben begleitet<br />
hat <strong>und</strong> zu <strong>de</strong>m wir eine starke Verbindung entwickelt haben. Wir haben uns bereits in vielen<br />
schwierigen Situationen an ihn gewen<strong>de</strong>t <strong>und</strong> an die Offenheit, das Vertrauen <strong>und</strong> die tiefe<br />
Hingabe, die dadurch entstan<strong>de</strong>n sind, können wir jetzt anknüpfen. Wir stellen uns <strong>de</strong>n Lama<br />
<strong>de</strong>utlich als Buddha Amitabha vor <strong>und</strong> entwickeln Vertrauen in seine Gegenwart, bis wir mit<br />
Gewissheit spüren, dass er tatsächlich anwesend ist.<br />
Voller Hingabe <strong>und</strong> Freu<strong>de</strong> bringen wir ihm dann geistig alles dar, was wir in diesem Leben<br />
als zu uns gehörig empf<strong>und</strong>en haben: unseren Besitz, unsere Wohnstätte, die einzelnen Mitglie<strong>de</strong>r<br />
unserer Familie, alle Fre<strong>und</strong>e, unsere Heimat, kurz alles, an <strong>de</strong>m wir eventuell noch<br />
hängen, bis hin zu unserem Körper. Alles wird Amitabha anvertraut <strong>und</strong> gehört nun nicht<br />
mehr uns. Wir bringen es ohne irgen<strong>de</strong>ine Zurückhaltung <strong>und</strong> Berechnung dar – ohne eine<br />
Gegenleistung zu erwarten. Wir opfern all das, was wir ohnehin zurücklassen müssen. Auf<br />
diese Weise können wir uns von <strong>de</strong>r letzten Anhaftung befreien, die wir noch an diese Welt<br />
haben. Je<strong>de</strong> noch so kleine verbleiben<strong>de</strong> Anhaftung an dieses zu En<strong>de</strong> gehen<strong>de</strong> Leben wird im<br />
Augenblick <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es ein Hin<strong>de</strong>rnis für die Befreiung darstellen.<br />
Anhaftungen <strong>und</strong> die vielen sich daraus ergeben<strong>de</strong>n Emotionen sind das größte Hin<strong>de</strong>rnis für<br />
eine <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in Dewatschen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sollten wir uns innerlich von allem<br />
trennen <strong>und</strong> es Lama Amitabha <strong>und</strong> damit <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>r Wesen opfern. Dadurch entwickeln<br />
wir zugleich eine starke positive Kraft, die uns auf <strong>de</strong>m Weg helfen wird. Frei von allen Sorgen<br />
<strong>und</strong> Anhaftungen können wir uns wirklich <strong>de</strong>n Buddhas Amitabha <strong>und</strong> Tschenresi zuwen<strong>de</strong>n.<br />
In diesem tiefen Loslassen öffnet sich unser Geist <strong>und</strong> es durchdringt ihn bereits die<br />
Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Dewatschen. Wenn er dann <strong>de</strong>n Körper verlässt, wird <strong>de</strong>r Übergang ganz<br />
natürlich in einem einzigen Moment stattfin<strong>de</strong>n – wir wer<strong>de</strong>n unsere gewöhnliche Daseins-<br />
34
ebene hinter uns lassen <strong>und</strong> eine geistige Geburt im Reinen Land <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> annehmen. Wenn<br />
wir jedoch weiter an unserem Besitz <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Freu<strong>de</strong>n dieses Lebens hängen, dann wer<strong>de</strong>n wir<br />
vielen Hin<strong>de</strong>rnissen begegnen, <strong>de</strong>nn uns wird vor <strong>und</strong> nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> die Angst plagen, die<br />
Objekte unseres Anhaftens zu verlieren. Das ist eine Quelle großen Lei<strong>de</strong>s.<br />
Nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> nehmen wir noch für eine Weile unseren Körper <strong>und</strong> unsere frühere Umgebung<br />
wahr <strong>und</strong> es könnte uns sehr aufwühlen, miterleben zu müssen, dass die Dinge, an <strong>de</strong>nen<br />
wir hängen, nun an<strong>de</strong>ren gehören, vielleicht sogar <strong>de</strong>nen, die uns am meisten scha<strong>de</strong>ten o<strong>de</strong>r<br />
die wir am meisten hassten. Wir müssen vielleicht mit ansehen, wie sich unsere Angehörigen<br />
gierig auf unseren Besitz stürzen <strong>und</strong> sich streiten. Das könnte große Enttäuschung <strong>und</strong> Wut<br />
in uns auslösen, was uns direkt in leidvolle Daseinsbereiche katapultieren wür<strong>de</strong>. Deshalb ist<br />
es so wichtig, uns von allen Verwandten, Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> von allem Besitz zu lösen <strong>und</strong> auch<br />
unseren Körper <strong>de</strong>m Buddha zu opfern, so dass unser Geist nicht davon beeinflusst wird, was<br />
nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> mit <strong>und</strong> um unseren Leichnam herum geschieht.<br />
Haben wir dieses Leben <strong>und</strong> diese Welt völlig losgelassen, konzentrieren wir uns auf Amitabha<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>n Wunsch, in seinem reinen Land wie<strong>de</strong>rgeboren zu wer<strong>de</strong>n. Dieses Bewusstsein<br />
halten wir bis zu unserem letzten Atemzug aufrecht. Wenn wir ganz auf dieses Ziel ausgerichtet<br />
sind, wird sich unser Bewusstsein im <strong>Tod</strong> natürlicherweise zu Buddha Amitabha nach<br />
Dewatschen begeben. Dafür ist es nicht einmal notwendig, die Praxis <strong>de</strong>s Phowa – eine Meditationsmetho<strong>de</strong><br />
zum gezielten Hinüberwechseln <strong>de</strong>s Bewusstseins in an<strong>de</strong>re Bereiche – zu<br />
kennen. Tiefes Vertrauen in die Kraft von Amitabhas Wunschgebeten <strong>und</strong> die Sehnsucht unseres<br />
völlig ausgerichteten Geistes sind ausreichend.<br />
Mit solchem Vertrauen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Kraft innerer Ausrichtung wird das Bewusstsein unseren Körper<br />
natürlicherweise durch <strong>de</strong>n Scheitelpunkt <strong>de</strong>s Kopfes verlassen <strong>und</strong> wir wer<strong>de</strong>n augenblicklich,<br />
in einem einzigen Moment, <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in einer Lotusblüte im Reinen Land <strong>de</strong>r<br />
Freu<strong>de</strong> annehmen. Wenn wir wirklich tiefes Vertrauen entwickelt haben, wird sich <strong>de</strong>r Lotus<br />
sofort öffnen <strong>und</strong> wir können in dieses reine Land erwachten Gewahrseins eintreten. Die Lotusblüte,<br />
in <strong>de</strong>r wir geboren wer<strong>de</strong>n, symbolisiert unseren vertrauensvollen Geist. Bei großem<br />
Vertrauen ist <strong>de</strong>r Lotus weit offen, aber bei schwanken<strong>de</strong>m Vertrauen <strong>und</strong> mangeln<strong>de</strong>r Hingabe<br />
bleiben die Blütenblätter um uns herum zunächst geschlossen. Das ist keineswegs unangenehm,<br />
<strong>de</strong>nn wir haben alles, was wir brauchen. Wir haben die Möglichkeit, alle Unterweisungen<br />
Buddha Amitabhas zu hören, aber wir können we<strong>de</strong>r ihn noch die Umgebung von<br />
Dewatschen sehen. Erst wenn völliges Vertrauen entstan<strong>de</strong>n ist, wird sich <strong>de</strong>r Lotus öffnen.<br />
Die <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in Dewatschen durch einfaches Erscheinen in einem einzigen Augenblick<br />
mag uns wie ein W<strong>und</strong>er anmuten, doch ist sie nichts an<strong>de</strong>res als die Folge unserer Wunschgebete<br />
in Verbindung mit <strong>de</strong>r Segenskraft <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Mitgefühl <strong>de</strong>s Buddhas “Grenzenloses<br />
Licht”. Solch eine <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in Dewatschen ist wirklich in unserer Reichweite – vorausgesetzt,<br />
wir wünschen sie inständig.<br />
Die Beschreibung dieses reinen Lan<strong>de</strong>s <strong>und</strong> all seiner Qualitäten stammt von Buddha<br />
Shakyamuni selbst. Die Lebewesen dort haben keinen Körper aus Fleisch <strong>und</strong> Blut, son<strong>de</strong>rn<br />
besitzen einen Lichtkörper geistiger Natur, <strong>de</strong>r Ausdruck ihrer Buddhanatur ist. Es gibt keine<br />
Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen zu durchlaufen – unser Lichtkörper ist augenblicklich<br />
so vollkommen wie <strong>de</strong>r eines Buddhas. Dabei gibt es keine Unterscheidung in Mann<br />
o<strong>de</strong>r Frau, <strong>de</strong>nn die Polarität <strong>de</strong>r Geschlechter ist dann aufgelöst. Da es keine Geburt im üblichen<br />
Sinne gibt, sind wir auch nicht <strong>de</strong>m Prozess von Alter, Krankheit <strong>und</strong> <strong>Tod</strong> ausgesetzt.<br />
Wir leben zusammen mit Amitabha <strong>und</strong> vielen Bodhisattvas in diesem w<strong>und</strong>erschönen Land.<br />
Es gibt keine Sorgen, keine Arbeit – alle Wünsche erfüllen sich spontan, es fehlt an nichts.<br />
Alles hat Lichtnatur, auch die Bäume <strong>und</strong> Pflanzen. Die Nahrung – wenn wir überhaupt welche<br />
einnehmen wollen – ist reiner Weisheitsnektar. Wir brauchen uns nicht vor Gefahren o<strong>de</strong>r<br />
Witterungseinflüssen zu schützen <strong>und</strong> Häuser sind <strong>de</strong>shalb überflüssig. Wir haben keinen<br />
35
festen Wohnort, können uns überall aufhalten <strong>und</strong> sind frei von Anhaftung an materielle Güter.<br />
Es ist ein Ort großen Glücks <strong>und</strong> tiefen Frie<strong>de</strong>ns.<br />
In Dewatschen ist alles Ausdruck <strong>de</strong>r Aktivität von Buddha Amitabha. Unaufhörlich bewirken<br />
unzählige seiner Ausstrahlungen auf spontane Weise das Wohl aller Lebewesen. Sie manifestieren<br />
sich in <strong>de</strong>n Formen von Guru Rinpotsche 5 , Tschenresi, Tara 6 <strong>und</strong> unzähligen an<strong>de</strong>ren<br />
Helfern, die alle Welten durchdringen. Im Herzen von Amitabha befin<strong>de</strong>t sich eine<br />
Lichtsphäre, in <strong>de</strong>r Guru Rinpotsche weilt <strong>und</strong> von <strong>de</strong>r unzählige Formen von Guru Rinpotsche<br />
in alle Welten <strong>und</strong> Daseinsbereiche ausstrahlen. Aus einer Lichtsphäre in Amitabhas<br />
rechter Hand tritt ein ununterbrochener Strom von Emanationen <strong>de</strong>s Tschenresi aus, die alle<br />
Wesen mit erleuchtetem Mitgefühl beschützen <strong>und</strong> führen. Aus einer Lichtsphäre in seiner<br />
linken Hand strömen unzählige Formen <strong>de</strong>s weiblichen Buddha Grüne Tara, welche die Wesen<br />
vor Angst <strong>und</strong> Gefahren bewahren <strong>und</strong> sie aus allem Leid befreien. So wirken Amitabha<br />
<strong>und</strong> seine Ausstrahlungen unaufhörlich für das Wohl <strong>und</strong> die Erleuchtung aller Wesen.<br />
In Dewatschen wird je<strong>de</strong>m offensichtlich, was erleuchtete Aktivität ist. Der Dharma ist überall<br />
gegenwärtig. Wann immer wir ihn hören möchten, kommen uns Amitabhas Unterweisungen<br />
ganz natürlich zu Ohren. Wir verstehen alles, was er erklärt, <strong>und</strong> können uns später vollkommen<br />
daran erinnern. So entwickeln wir uns schnell zu Bodhisattvas <strong>und</strong> schließlich zu<br />
Buddhas, ohne einem langen, leidvollen Weg mit vielen Hin<strong>de</strong>rnissen folgen zu müssen.<br />
Nichts lenkt uns ab <strong>und</strong> unser Geist fin<strong>de</strong>t mit Leichtigkeit in tiefe Meditation. Wir können<br />
je<strong>de</strong> gewünschte Meditation ausführen <strong>und</strong> ihre Verwirklichung erlangen.<br />
Die Wesen in Dewatschen wer<strong>de</strong>n nicht mehr aufgr<strong>und</strong> von Karma im Daseinskreislauf wie<strong>de</strong>rgeboren<br />
<strong>und</strong> erfahren selbst kein Leid mehr, aber sie nehmen das Leid <strong>de</strong>r gewöhnlichen<br />
Wesen in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Daseinsbereichen wahr <strong>und</strong> können Emanationen aussen<strong>de</strong>n, um ihnen<br />
zu helfen. So sind sie sich zum Beispiel <strong>de</strong>r Verwirrung <strong>und</strong> Schrecken <strong>de</strong>r Wesen bewusst,<br />
die im Nachtodzustand umherirren, <strong>und</strong> haben die Fähigkeit, sie ins reine Land zu führen.<br />
Auf <strong>de</strong>r Bewusstseinsebene von Dewatschen bewegt man sich mit <strong>de</strong>m Geist fort: Durch einen<br />
einzigen Gedanken sind wir augenblicklich dort, wo wir hin wollen. Mit unserem Geistkörper<br />
können wir auch eine Vielzahl an<strong>de</strong>rer Buddhagefil<strong>de</strong> besuchen, in <strong>de</strong>nen wir die Unterweisungen<br />
an<strong>de</strong>rer Buddhas erhalten können. Die Bedingungen für die innere Entwicklung<br />
sind i<strong>de</strong>al <strong>und</strong> so sollten wir <strong>de</strong>n tiefen Wunsch kultivieren, am En<strong>de</strong> dieses Lebens nach Dewatschen<br />
zu gelangen.<br />
Diese Unterweisungen öffnen uns das Tor nach Dewatschen – nun liegt es nur noch an uns,<br />
ob wir sie anwen<strong>de</strong>n. Aber wir sollten nicht glauben, dass wir durch <strong>de</strong>n bloßen Gedanken:<br />
“Ich sollte mal Dewatschen ausprobieren, die Beschreibung hört sich nicht schlecht an”,<br />
schon dort wie<strong>de</strong>rgeboren wer<strong>de</strong>n. Eine solche <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> ist die Frucht eines Lebens, das<br />
mit vielen Wunschgebeten <strong>und</strong> regelmäßiger Tschenresi Praxis ganz auf dieses Ziel ausgerichtet<br />
ist. Nur dann wird genug Vertrauen in Amitabha, Tschenresi <strong>und</strong> Dewatschen vorhan<strong>de</strong>n<br />
sein, so dass sich diese <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> spontan <strong>und</strong> ohne Hin<strong>de</strong>rnisse vollziehen kann.<br />
Wenn wir lernen, je<strong>de</strong>r Situation offen zu begegnen <strong>und</strong> sie für <strong>de</strong>n Weg zu nutzen, wer<strong>de</strong>n<br />
sich uns die Qualitäten <strong>de</strong>s Dharma schnell offenbaren. Wir wer<strong>de</strong>n lernen, wie wir uns von<br />
Leid befreien <strong>und</strong> es in Glück verwan<strong>de</strong>ln können. Beson<strong>de</strong>rs hilfreich für uns wie auch für<br />
alle an<strong>de</strong>ren Wesen ist dabei die Meditation auf Tschenresi, <strong>de</strong>n Buddha <strong>de</strong>s Großen Mitgefühls,<br />
<strong>und</strong> die Rezitation seines Mantras OM MANI PEME HUNG.<br />
5 Mit Guru Rinpotsche (“Juwelengleicher Meister”) ist hier die mitfühlen<strong>de</strong>, erleuchtete Aktivität von Buddha Amitabha<br />
gemeint. Damit wird auch auf die Ausstrahlung Amitabhas verwiesen, die als Guru Rinpotsche (Padmasambhava) im 8.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert u. Z. <strong>de</strong>n Dharma von Nordindien nach Tibet brachte <strong>und</strong> als großer Wegbereiter buddhistischer Lehren, speziell<br />
<strong>de</strong>s Vajrayana, verehrt wird.<br />
6 Tara ist ein weiblicher Buddha. Sie manifestiert sich in vielfältigen Formen, <strong>de</strong>ren bekannteste die Grüne Tara ist, um <strong>de</strong>n<br />
Lebewesen aus ihrer Bedrängnis zu helfen. Es heißt, sie sei aus <strong>de</strong>n Tränen von Tschenresi entstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r verzweifelt darüber<br />
war, dass die Lebewesen immer wie<strong>de</strong>r in ihre ichbezogenen Muster <strong>und</strong> in nicht en<strong>de</strong>n wollen<strong>de</strong>s Leid zurückfallen.<br />
36
Tschenresi ist die symbolische Manifestation <strong>de</strong>s erleuchteten Mitgefühls, das alle Wesen<br />
gleichermaßen einschließt. Erleuchtetes Mitgefühl ist untrennbar von Weisheit, <strong>de</strong>m Gewahrsein<br />
<strong>de</strong>r Leerheit. Tschenresi ist dieses erleuchtete Gewahrsein, das allen Wesen innewohnt<br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>ssen Natur die Einheit von Mitgefühl <strong>und</strong> Leerheit ist. Er ist kein Gott, son<strong>de</strong>rn<br />
<strong>de</strong>r Spiegel unseres eigenen wahren Wesens <strong>und</strong> als solcher nicht getrennt von uns. Wenn wir<br />
sein Mantra rezitieren, entwickeln sich Liebe <strong>und</strong> Mitgefühl auf natürliche Weise <strong>und</strong> die<br />
Erfahrung <strong>de</strong>r Leerheit wird sich allmählich auftun. Lieben<strong>de</strong> Güte <strong>und</strong> Mitgefühl führen zur<br />
Verwirklichung <strong>de</strong>s Wahrheitskörpers, <strong>de</strong>r leeren Natur <strong>de</strong>s Geistes <strong>und</strong> aller Erscheinungen.<br />
Von daher ist es sehr nützlich, diese Praxis regelmäßig auszuführen. Dabei ist es wichtig, mit<br />
Freu<strong>de</strong> <strong>und</strong> Vertrauen zu praktizieren. Wir been<strong>de</strong>n die Tschenresi Praxis stets mit Wunschgebeten<br />
für die <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in Dewatschen. Beständige Übung hierin wird uns <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> sehr<br />
erleichtern.<br />
Wenn wir keine Verwirklichung erlangt haben <strong>und</strong> angesichts <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es alle Konzepte zusammenfallen,<br />
bleibt uns immer noch die Verbindung mit <strong>de</strong>m Buddha <strong>de</strong>s Großen Mitgefühls.<br />
Unser Vertrauen in ihn <strong>und</strong> die Kraft all <strong>de</strong>r Mantras <strong>de</strong>s erleuchteten Mitgefühls, die<br />
wir rezitiert haben, wer<strong>de</strong>n uns dann helfen. Wenn uns in <strong>de</strong>n letzten Momenten vor <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong><br />
die Angst überfällt, wer<strong>de</strong>n wir uns wie von selbst an Tschenresi wen<strong>de</strong>n, ihn um Hilfe anrufen<br />
<strong>und</strong> Zuflucht erhalten. Es wird ganz natürlich sein, das Mitgefühl <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Segen aller<br />
Buddhas anzurufen, da wir dieses Vertrauen durch beständige Praxis kultiviert haben.<br />
Der Ruf nach Tschenresi wird nicht aus <strong>de</strong>m Intellekt, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>r Tiefe unseres Herzens<br />
kommen. Wir wer<strong>de</strong>n seine Gegenwart spüren, unser Geist wird sich öffnen, das Mitgefühl<br />
Tschenresis wird uns erfüllen <strong>und</strong> wir wer<strong>de</strong>n merken, dass unser Geist untrennbar eins mit<br />
Tschenresi gewor<strong>de</strong>n ist. Unsere Re<strong>de</strong> wird, da wir sein Mantra rezitieren, zu seiner Re<strong>de</strong><br />
wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> unser Körper wird untrennbar von seinem Körper sein. Wir wer<strong>de</strong>n erleben, dass<br />
unser Körper, unsere Re<strong>de</strong> <strong>und</strong> unser Geist <strong>de</strong>m erleuchteten Körper, <strong>de</strong>r erleuchteten Re<strong>de</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>de</strong>m erleuchteten Geist Tschenresis gleich sind. Wir können dann ohne Furcht, voller<br />
Sicherheit <strong>und</strong> Vertrauen <strong>de</strong>n letzten Atem ausströmen lassen. Aber dafür müssen wir zuvor<br />
viel praktizieren. Wenn wir uns jetzt mit <strong>de</strong>r Tschenresi Praxis vertraut machen <strong>und</strong> uns darin<br />
üben, <strong>de</strong>n Geist in Ursprünglichkeit <strong>und</strong> Mitgefühl ruhen zu lassen, wird das zu einer Gewohnheit,<br />
die uns auch im Moment <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es helfen wird.<br />
Wenn <strong>de</strong>r <strong>Tod</strong> naht, sollten wir uns von aller Angst freimachen <strong>und</strong> nicht <strong>de</strong>nken, dass uns<br />
leidvolle Erfahrungen erwarten. Wir widmen, wie bereits beschrieben, freudigen Geistes all<br />
unsere guten Handlungen <strong>und</strong> spirituellen Verdienste <strong>de</strong>m Wohl aller Wesen <strong>und</strong> stellen uns<br />
vor, dass sie ins Glück <strong>de</strong>r Erleuchtung fin<strong>de</strong>n. So füllt sich unser Geist mit Liebe <strong>und</strong> Freu<strong>de</strong>.<br />
Wenn wir mit <strong>de</strong>r Praxis <strong>de</strong>s Austauschens von uns selbst <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren (Tonglen) bereits gut<br />
vertraut sind <strong>und</strong> sie häufig geübt haben, dann können wir sie auch jetzt ausführen <strong>und</strong> sie<br />
zu<strong>de</strong>m noch verstärken, in<strong>de</strong>m wir das Tschenresi Mantra rezitieren <strong>und</strong> uns vorstellen, dass<br />
wir zu Tschenresi wer<strong>de</strong>n. Zum Abschluss verweilen wir für eine Weile in vollkommener<br />
Natürlichkeit, jenseits aller Vorstellungen von Ich <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren. Wir beschließen diese heilsame<br />
Handlung mit <strong>de</strong>m Wunsch, dass nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> unser Körper, unsere Re<strong>de</strong> <strong>und</strong> unser<br />
Geist zur Quelle von all <strong>de</strong>m wer<strong>de</strong>n mögen, was hilfreich <strong>und</strong> nützlich für die Wesen ist:<br />
Was immer die Wesen in all <strong>de</strong>n Daseinsbereichen erstreben o<strong>de</strong>r benötigen – möge ich wie<br />
von selbst alle dafür dienlichen Formen annehmen. Mögen alle Wesen sich in völliger Freiheit,<br />
ohne irgendwelche Beschränkungen <strong>und</strong> Gefahren, daran erfreuen <strong>und</strong> mögen all ihre<br />
Wünsche in Erfüllung gehen. Möge ich befähigt sein, stets das Wohl <strong>de</strong>r Wesen zu bewirken.<br />
Wenn unsere Fähigkeit, uns ganz <strong>de</strong>m Wohl <strong>de</strong>r Wesen hinzugeben, noch begrenzt ist, können<br />
wir Wunschgebete machen, dass sich diese Geisteshaltung <strong>und</strong> Aktivität immer weiter<br />
aus<strong>de</strong>hnen mögen, so dass wir in Zukunft von immer größerem Nutzen sein wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> an<strong>de</strong>re<br />
tatsächlich zur Befreiung führen können. Wenn wir so praktizieren, wer<strong>de</strong>n wir im Moment<br />
<strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es große Freu<strong>de</strong> empfin<strong>de</strong>n. Mit solchen Wünschen zu sterben wird zu einer Wie<strong>de</strong>r-<br />
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geburt führen, die für <strong>de</strong>n Weg zur Erleuchtung hilfreich ist. Aufgr<strong>und</strong> unserer spontanen<br />
Neigung zu Liebe <strong>und</strong> Mitgefühl für alle Wesen wer<strong>de</strong>n wir in zukünftigen Leben auf natürliche<br />
Weise die Bedingungen fin<strong>de</strong>n, die zum Erlangen <strong>de</strong>r Buddhaschaft notwendig sind. Wir<br />
wer<strong>de</strong>n mit vielen Qualitäten <strong>und</strong> Fähigkeiten ausgestattet sein, an<strong>de</strong>ren helfen zu können.<br />
Die Kraft <strong>de</strong>r Wunschgebete im Augenblick <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es ist wirklich außergewöhnlich.<br />
Der Geisteszustand im Moment <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es ist <strong>de</strong>shalb von so entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung, weil<br />
die letzten Impulse dieses Lebens augenblicklich zu <strong>de</strong>r Erfahrung einer geistigen Welt führen,<br />
die <strong>de</strong>r Spiegel dieser Impulse ist. In <strong>de</strong>m Moment, in <strong>de</strong>m das Bewusstsein <strong>de</strong>n Körper<br />
verlässt, ist es sehr instabil <strong>und</strong> leicht beeinflussbar. Wenn sich die letzten Momente <strong>de</strong>s Lebens<br />
in Zorn o<strong>de</strong>r Schrecken vollziehen, prägen diese emotionalen Kräfte das Bewusstsein<br />
mit <strong>de</strong>r ihnen entsprechen<strong>de</strong>n Energie <strong>und</strong> es besteht die Gefahr einer <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> in <strong>de</strong>n<br />
nie<strong>de</strong>ren Daseinsbereichen. Ist <strong>de</strong>r Geist aber ruhig, voller Zuversicht <strong>und</strong> frei von Anhaftungen<br />
an dieses Leben, ist es möglich, ihn auf Dewatschen <strong>und</strong> die Befreiung auszurichten. Zumin<strong>de</strong>st<br />
bestehen dann große Chancen, in einem <strong>de</strong>r höheren Daseinsbereiche wie<strong>de</strong>rgeboren<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Daher müssen wir sehr auf die Atmosphäre achten, die einen Sterben<strong>de</strong>n umgibt,<br />
<strong>und</strong> versuchen, ihm soviel Ruhe <strong>und</strong> Sicherheit wie möglich zu geben. Noch wichtiger aber<br />
als äußere Ruhe ist das Hervorbringen einer reinen, altruistischen Motivation. Es ist äußerst<br />
hilfreich, wenn wir in uns wie auch beim Sterben<strong>de</strong>n solch eine Motivation wecken können.<br />
Oft geht Sterben mit Leid, Angst <strong>und</strong> auch Panik einher. Viele Menschen erfahren dabei<br />
Verwirrung, quälen<strong>de</strong> Gedanken <strong>und</strong> starke Emotionen, wie Ärger, Enttäuschung <strong>und</strong> Hass.<br />
Wir müssen rechtzeitig lernen, mit diesen Geisteszustän<strong>de</strong>n umzugehen, damit sie uns im <strong>Tod</strong><br />
nicht davontragen können. Denn in einem negativen Geisteszustand zu sterben hat einen starken<br />
negativen Einfluss auf das nächste Leben. Meist wird man unter ungünstigen Bedingungen<br />
wie<strong>de</strong>rgeboren, in einem für die Dharmapraxis untauglichen Körper, was wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>n<br />
Geist <strong>und</strong> alles weitere Tun beeinflusst. Die Ten<strong>de</strong>nz, nichtheilsame Handlungen auszuführen,<br />
wird sich weiter verstärken <strong>und</strong> die karmische Last zunehmen. Um dies zu vermei<strong>de</strong>n, ist es<br />
wirklich wichtig, heute schon zu lernen, unsere Gefühle zu meistern, um im <strong>Tod</strong> entspannen<br />
zu können. Sonst sterben wir wie Tiere, die ohne zu verstehen, was geschieht, impulsiv ihren<br />
Instinkten <strong>und</strong> Emotionen folgen. Als Menschen haben wir die Chance, im vollen Bewusstsein<br />
<strong>de</strong>ssen zu sterben, was vor sich geht, <strong>und</strong> in <strong>de</strong>m Wissen, was wir tun können, um die<br />
Situation zur Befreiung zu nutzen.<br />
Im Augenblick <strong>de</strong>s <strong>Tod</strong>es ist es sehr wichtig, ruhig, ausgeglichen <strong>und</strong> frei von Anhaftung zu<br />
sein. Das gilt zunächst für <strong>de</strong>n Sterben<strong>de</strong>n selbst, aber auch für jene, die ihm beistehen. Wir<br />
sollten mit Feingefühl <strong>und</strong> Weisheit alle zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Mittel nutzen, damit <strong>de</strong>r<br />
Sterben<strong>de</strong> diese Welt in einer friedlichen Umgebung mit ruhigem Geist verlassen kann. Wir<br />
versuchen, ihn im Entwickeln einer positiven Geisteshaltung zu unterstützen, auch wenn er<br />
nicht mit Buddhas Unterweisungen vertraut ist <strong>und</strong> nicht dieselben Gebete ausführt. Das<br />
Wichtigste im Sterben ist die Geisteshaltung.<br />
Der Sterben<strong>de</strong> macht intensive emotionale Zustän<strong>de</strong> durch: Er hat Schmerzen, ist nervös <strong>und</strong><br />
schwach – <strong>und</strong> das alles beunruhigt ihn sehr. Um ihn nicht noch mehr aufzuwühlen, sollten<br />
wir in unseren Bewegungen <strong>und</strong> Worten sanft <strong>und</strong> behutsam sein <strong>und</strong> ihm beistehen, wo wir<br />
können. Wir vermei<strong>de</strong>n alles, was ihn mit Bedauern erfüllen könnte o<strong>de</strong>r ihn wütend, stolz,<br />
neidisch o<strong>de</strong>r eifersüchtig wer<strong>de</strong>n lässt – alle Emotionen, die zu einem schwierigen <strong>Tod</strong> <strong>und</strong><br />
zu leidvoller <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong> führen. Solche Emotionen beim Sterben<strong>de</strong>n auszulösen – <strong>und</strong> sei<br />
es auch nur aus Unwissenheit o<strong>de</strong>r Ungeschicklichkeit – hat nicht nur für ihn starke Folgen,<br />
son<strong>de</strong>rn hinterlässt auch bei uns negative karmische Spuren. Wir sollten <strong>de</strong>shalb nicht unbedacht<br />
han<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r sprechen, son<strong>de</strong>rn sehr aufmerksam sein <strong>und</strong> uns versöhnlich <strong>und</strong> mitfühlend<br />
verhalten. Wenn wir durch regelmäßige Praxis lernen, unseren Geist in allen Situationen<br />
zu entspannen <strong>und</strong> uns nicht von Emotionen davontragen zu lassen, wird dies auch in <strong>de</strong>r<br />
Sterbebegleitung eine große Hilfe sein.<br />
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Nach <strong>de</strong>m <strong>Tod</strong> können wir <strong>de</strong>n Verstorbenen ihren weiteren Weg erleichtern, wenn wir nicht<br />
an ihnen festhalten, son<strong>de</strong>rn Mitgefühl entwickeln <strong>und</strong> viele positive Handlungen mit Körper,<br />
Re<strong>de</strong> <strong>und</strong> Geist ausführen, die wir ihrer Erleuchtung widmen. Beson<strong>de</strong>rs hilfreich für sie <strong>und</strong><br />
für ihre Angehörigen ist es, die Tschenresi Praxis auszuführen, falls möglich sogar zusammen<br />
mit an<strong>de</strong>ren Praktizieren<strong>de</strong>n, wobei wir stellvertretend für die Verstorbenen auch Lichter,<br />
Blumen <strong>und</strong> <strong>de</strong>rgleichen darbringen können. Dabei ist es unerheblich, ob die Verstorbenen<br />
eine nähere Verbindung zum Dharma hatten o<strong>de</strong>r nicht – die Tschenresi Praxis ist universell<br />
<strong>und</strong> erreicht alle Wesen gleichermaßen.<br />
Um innere Freiheit zu fin<strong>de</strong>n, kommt es vor allem darauf an, nicht mehr automatisch auf je<strong>de</strong><br />
Erfahrung mit Anhaften <strong>und</strong> Ablehnen zu reagieren. Dafür müssen wir Achtsamkeit <strong>und</strong> Güte<br />
kultivieren, sonst wird uns <strong>de</strong>r Ausstieg aus diesen Reaktionsmustern nicht gelingen. Nur<br />
wenn wir gewahr sind, was in unserem Geist geschieht, können wir uns die Zeit nehmen herauszufin<strong>de</strong>n,<br />
welche Antwort auf eine bestimmte Situation die sinnvollste ist. Ohne Achtsamkeit<br />
wer<strong>de</strong>n wir von unseren ichbezogenen Impulsen mitgerissen <strong>und</strong> wer<strong>de</strong>n zwangsläufig<br />
die Spirale negativen Karmas weiter verstärken. Die einzige Lösung, um aus diesem Teufelskreis<br />
auszusteigen <strong>und</strong> leidvolle <strong>Wie<strong>de</strong>rgeburt</strong>en zu vermei<strong>de</strong>n, besteht im Entwickeln einer<br />
reinen, altruistischen Geisteshaltung <strong>und</strong> eines aufmerksamen Gewahrseins von Moment zu<br />
Moment. Wenn wir in richtiger Weise an uns gearbeitet haben, gibt es im <strong>Tod</strong> nichts zu befürchten.<br />
Wir haben Vertrauen in die Drei Juwelen, in die Qualitäten <strong>de</strong>r Erleuchtung, gefasst <strong>und</strong> unsere<br />
negativen Ten<strong>de</strong>nzen soweit wie möglich gereinigt. Den <strong>Tod</strong> wer<strong>de</strong>n wir dann nicht mehr<br />
als das furchtbare En<strong>de</strong> eines Lebens voller Freu<strong>de</strong>n sehen, son<strong>de</strong>rn als eine Möglichkeit, weitere<br />
Erfahrungen zu machen, die uns <strong>de</strong>r Befreiung näher bringen <strong>und</strong> uns helfen wer<strong>de</strong>n,<br />
auch an<strong>de</strong>re Lebewesen zu befreien. Sterben ist dann nicht mehr ein Gr<strong>und</strong> zur Panik, son<strong>de</strong>rn<br />
ein Anlass zu wirklicher Freu<strong>de</strong>. Ob wir <strong>de</strong>n <strong>Tod</strong> als furchtbar o<strong>de</strong>r befreiend erleben, hängt<br />
von uns selbst ab, von unseren Handlungen <strong>und</strong> unserer inneren Arbeit. Wenn wir nicht bewusst<br />
an uns gearbeitet haben, wer<strong>de</strong>n wir wie ein Fisch sein, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Strand geworfen<br />
wird <strong>und</strong> sich im <strong>Tod</strong>eskampf win<strong>de</strong>t. Was im <strong>Tod</strong> bleibt, ist das, was unseren Geist seit langer<br />
Zeit geprägt hat. Es ist nicht schwierig, würdig zu sterben, wenn wir durch ein Leben <strong>de</strong>r<br />
Praxis gut vorbereitet sind.“<br />
Quellen<br />
– Sechster Shamar Rinpotsche Tschökyi Wangtschug in „Der Nektarsaft“, Sechs Yoga Lehren<br />
<strong>de</strong>r Karma Kamtsang Tradition<br />
– Gendün Rinpotsche: Gespräche mit L. Lhündrub <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren Schülern<br />
– Gendün Rinpotsche: Herzensunterweisungen eines Mahamudra Meisters, Theseus Verlag<br />
– Lama Yeshe Nyingpo, <strong>Bardo</strong> Teachings 1997<br />
– Gampopa, Kostbarer Schmuck <strong>de</strong>r Befreiung, Theseus Verlag<br />
– Djamgön Kongtrul Lodrö Thayä, Der Hauptweg zur Erleuchtung, Kommentar zum Sieben<br />
Punkte Geistestraining<br />
– Khenpo Tschödrak Rinpotsche: Gespräche am 6. 7. <strong>und</strong> 7.7. 2003 (Notizen von Sherab<br />
Künsang, ergänzt von Lhündrub)<br />
– Karme Tschagme Rinpotsche, Kapitel 41 in „Dharma-Unterweisungen auf <strong>de</strong>m Berge“<br />
– Chökyi Nyima Rinpotsche, “The <strong>Bardo</strong> Gui<strong>de</strong>book”, Rangjung Yeshe Publications, 1991<br />
– Quellenvergleich zu diesem Thema von L. Sherab Künsang, 2003<br />
– Tsele Natsok Rangdröl, “The Mirror of Mindfulness”, Rangjung Yeshe Publications, 1993<br />
– Milarepa, Lie<strong>de</strong>r, Band II, S.145f., Unterweisungen zu <strong>de</strong>n <strong>Bardo</strong>s<br />
Danksagung: Ein beson<strong>de</strong>rer Dank geht an Lama Sherab Künsang, <strong>de</strong>ren persönliche Notizen<br />
mir bei dieser Zusammenstellung sehr geholfen haben!<br />
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