"Sprachen fallen nicht vom Himmel" (1) (Ein Kommentar ... - pro idioms
"Sprachen fallen nicht vom Himmel" (1) (Ein Kommentar ... - pro idioms
"Sprachen fallen nicht vom Himmel" (1) (Ein Kommentar ... - pro idioms
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
"<strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong> Himmel" (1)<br />
(<strong>Ein</strong> <strong>Kommentar</strong> von Alexi Decurtins, Okt.<br />
2012)<br />
Zwei sich ergänzende Beiträge<br />
Kurz nacheinander publizierte Bernard Cathomas,<br />
ehemals Generalsekretär der Lia Rumantscha, zwei<br />
Beiträge zur Rätoromanischen Sprachpolitik. Im<br />
Bündner Monatsblatt (1/2012) skizzierte er die<br />
nunmehr dreissigjährige Geschichte der<br />
Kunstsprache Rumantsch Grischun. Im zweiten<br />
Beitrag unter dem Titel "<strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong><br />
Himmel" versucht er recht forsch zu zeigen, wie<br />
rätoromanische Sprachplanung sein muss und wie<br />
sie <strong>nicht</strong> anders sein kann und sein wird.<br />
Der Feststellung, dass "<strong>Sprachen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong><br />
Himmel <strong>fallen</strong>", wird man zustimmen. Jedoch:<br />
Wenn es die Nutzer sind, die den Sprachwandel<br />
herbeiführen, d.h. die betroffenen Menschen<br />
selber, so dürfte ein bekannter italienischer<br />
Lexikograph <strong>nicht</strong> falsch liegen, wenn er schreibt:<br />
"<strong>Sprachen</strong> sind <strong>nicht</strong> naturgegeben, sondern das<br />
Ergebnis des Zusammenwirkens von kulturellem<br />
Erbe und sozial organisierter und gelebter<br />
Gemeinschaft" (2). Für gewöhnlich somit keine<br />
Kunst- oder Papiersprachen.<br />
Gewagte Vergleiche<br />
Zur Stütze seiner Aussage führt der Verfasser<br />
Beispiele von Übersetzern an, welche die<br />
Verschriftung der Sprache entscheidend geprägt<br />
haben. <strong>Ein</strong>erseits Notker Labeo aus dem Kloster<br />
St. Gallen, um 1000 herum, mit Übersetzungen<br />
aus dem Lateinischen ins Althochdeutsche.<br />
Andererseits, 550 Jahre später, Jachem Bifrun, mit<br />
den ersten gedruckten Schriften ins<br />
Oberengadinische. Beider Texte seien heute <strong>nicht</strong><br />
ohne weiteres für jedermann verständlich.
Die Vergleiche sind kühn. Sie betreffen im Falle<br />
Notkers wie Bifruns Sprachkundige, die dank<br />
ihren Fähigkeiten und ihrer Intuition der<br />
<strong>Sprachen</strong>twicklung einen besonderen Schub zu<br />
geben vermochten. Es ist aber offensichtlich, dass<br />
sie <strong>nicht</strong> unbebautes Land vorfanden, sondern dass<br />
ihrer Leistung eine lange Reifezeit der Sprache<br />
vorausging (3).<br />
Für die Erkundung, wie eine neue Schriftsprache<br />
entsteht und Form annimmt, taugen die Beispiele<br />
wenig und schon gar <strong>nicht</strong>, will man sie unter<br />
"Sprachplanung" einordnen.<br />
Cathomas geht von der zurechtgestutzten Meinung<br />
aus, dass auch "künstlich" geschaffene<br />
Ausgleichssprachen wie das Deutsche und<br />
Italienische zu grossen Literatur- und<br />
Staatssprachen geworden seien. Alte<br />
Kultursprachen als "künstlich" geschaffene<br />
Ausgleichssprachen zu qualifizieren, ist an sich<br />
schon eigenartig, sie mit einer<br />
Minderheitensprache besonderer Art zu<br />
vergleichen aber sicher fragwürdig.<br />
Caspar Decurtins` umstrittene Rolle<br />
Sprachplanung als eigene Disziplin etablierte sich<br />
um und seit 1970. Dieser jungen, ihrem Entstehen<br />
nach sozialpolitisch <strong>nicht</strong> immer zweckfreien<br />
Sprachbetrachtung, folgt Cathomas (4). Was ihr<br />
vorausging war, aus seinem Blickwinkel mit<br />
Bezug auf das Rätoromanische, die Geschichte<br />
von gelungenen und gescheiterten<br />
Sprachplanungs<strong>pro</strong>zessen (erste Schriften im16.-<br />
17. Jh.; zaghafte Anfänge der Literatur im 17./18.<br />
Jh., Gemeinde- und Gerichtstatuten, Schulbücher).<br />
Zweifellos eine statusfördernde Entwicklung,<br />
jedoch oft mit Rückschlägen befrachtet<br />
(<strong>Ein</strong>heitsbestrebungen, usw.).<br />
In diesem Auf und Ab weist der Verfasser vor allem<br />
der "Rolle von Caspar Decurtins" eine abwertende<br />
Note zu. Dessen monumentale Rätoromanische<br />
Chrestomathie trug wesentlich zum Prestige von
Sprache und Kultur bei. Die Arbeiten daran<br />
leiteten die "Rätoromanische Wiedergeburt" ein,<br />
die in ganz Romanischbünden für die Zeit<br />
zwischen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis<br />
zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges tragend<br />
wurde (5).<br />
Als Politiker hat Decurtins 1887 durch sein<br />
<strong>Ein</strong>treten im Grossen Rat der Fusionssprache<br />
Bühlers (<strong>Ein</strong>heitssprache) an der Bündner<br />
Kantonsschule einen Riegel geschoben und dies<br />
auch begründet (6). Er stand mit Frédéric Mistral<br />
in brieflichem Kontakt und wusste um die<br />
Erwartungen und Schwierigkeiten des<br />
neo<strong>pro</strong>venzalischen Aufbruchs. Trotz grossen<br />
Anstrengungen und dem 1902 an Mistral<br />
vergebenen Nobelpreis für sein episches Werk<br />
"Mirèio/Mireille", gedieh dieser Neubeginn neben<br />
dem alles beherrschenden Französischen nur<br />
mässig und lief später in ein intellektuelles und<br />
akademisches Anliegen aus (7). Die bis heute<br />
ungelösten Probleme des Serbokroatischen und<br />
anderer Minderheitensprachen waren Decurtins<br />
ebenfalls bekannt.<br />
Mit seiner Skepsis gegenüber <strong>Ein</strong>heitsbestrebungen<br />
stand Decurtins <strong>nicht</strong> allein. Die Surselva mit<br />
Pater Baseli Carigiet, Redaktor Placi Condrau und<br />
der Lehrerkonferenz lehnten die Fusionssprache<br />
unisono ab (8). Im Engadin kam mit den<br />
Bemühungen von Zaccaria Pallioppi (Arbeiten zur<br />
Orthographie, Orthoepie/Aussprache,<br />
Morphologie der Verben, Lexikographie) eine<br />
sprachpflegerisch namhafte Bewegung auf. Die<br />
Engadiner haben sich mit wenigen Ausnahmen<br />
überhaupt <strong>nicht</strong> um die Fusionssprache<br />
gekümmert. Sogar Pallioppi bekämpfte diese bei<br />
jeder sich bietenden Gelegenheit.<br />
Durch die Schrift des Romanisten Heinrich Morf<br />
(Universitäten Bern, Zürich) erhielt die Front der<br />
Ablehnung in der Surselva wie im Engadin eine<br />
Bestätigung und Stütze von hoher Warte (8).<br />
"Es wäre geradezu eine Versündigung an der<br />
rätischen Jugend", schreibt Morf, "ihre Zeit durch
den Romonsch fusionau oder irgendeiner anders<br />
ausgeklügelten rätischen <strong>Ein</strong>heitsprache in<br />
Anspruch zu nehmen." Und weiter: "Das<br />
Gemeinfranzösische z.B. ist <strong>nicht</strong> so entstanden,<br />
dass ein normannischer Artikel vor ein<br />
burgundisches Substantiv gestellt und diesem ein<br />
wallonisches Adjektiv angefügt worden wäre, um<br />
ein von einem poitevinischen Adverb begleitetes,<br />
lateinisch aufgeputztes Verbum folgen zu lasssen.<br />
Das Gemeinfranzösische ist ein bestimmter<br />
Dialekt, dem die politischen, religiösen, sozialen,<br />
literarischen Verhältnisse, <strong>nicht</strong> aber der Wille der<br />
Grammatiker, das Übergewicht über die anderen<br />
Dialekte gegeben haben: der Dialekt der Isle de<br />
France mit ihrer alles an sich ziehenden Residenz<br />
Paris."<br />
Morf wurde entgegengehalten, er habe seine Schrift<br />
in Absprache mit dem Kulturpolitiker Decurtins<br />
und ihm zuliebe verfasst. Ihr und dem Verfasser<br />
mangle es daher an Unparteilichkeit (10). Geht<br />
man die Ausführungen durch, so wird man<br />
gewahr, dass Morf sich gründlich in das Konzept<br />
Bühlers vertiefte und die nachfolgenden Schritte<br />
und Änderungen des Projektes genau auflistete und<br />
bewertete.<br />
Bühler"s "Fusionssprache" und RG<br />
<strong>Ein</strong> direkter Vergleich des Schicksals von Bühlers<br />
Fusionssprache mit dem Projekt Rumantsch<br />
Grischun ist nur bedingt möglich und wohl auch<br />
<strong>nicht</strong> tunlich. Gewisse Züge (unausgereifte<br />
<strong>Ein</strong>schätzungen, wechselnde Strategien,<br />
Abrutschen ins Ideologische, Manipulationen noch<br />
und noch, Erfolge und Misserfolge) ähneln sich<br />
aber in starkem Masse.<br />
<strong>Ein</strong>mal das starre Dogma, dass eine<br />
Sprachgemeinschaft, möge sie so oder so<br />
beschaffen sein, <strong>nicht</strong> ohne eine gemeinsame<br />
überregionale Schriftsprache auskomme. Darum<br />
ist ein solches Medium vonnöten, koste es was es<br />
wolle; möglichst überzeugend auf dem Reissbrett
entworfen und schnellstmöglich freigegeben und<br />
verbreitet ohne Rücksicht auf die Volksmeinung<br />
oder auf eintretende Folgen.<br />
Wenn Bühlers Bemühungen Schiffbruch erlitten, so<br />
vor allem deshalb, weil er seine Fusionssprache<br />
ständig änderte und sie immer artifizieller<br />
ausgestaltete.<br />
Beim Ausbau des RG, bei welchem die lenkende<br />
und ordnende Hand des Verfassers H. Schmid seit<br />
1999 leider fehlt, zeichnen sich ähnliche<br />
Schräglagen ab. Meine jüngeren Kollegen bei der<br />
Ausarbeitung des Handbuchs des Rätoromanischen<br />
stellten schon zu Beginn fest, dass die<br />
Zusammensetzung von RG rund 60% surselvische<br />
Elemente aufweise. Die gegen RG eingestellten,<br />
aufmüpfigen Leute in der Surselva sollten sich<br />
also zufrieden geben. Doch damit <strong>nicht</strong> genug.<br />
Durch die praktische Anwendung und aufgrund der<br />
weitergehenden, den grössten gemeinsamen<br />
Nenner suchenden Standardisierung von RG, fällt<br />
dieses immer mehr auf ein surselvisches Glacis<br />
ab. Es ist <strong>nicht</strong> erstaunlich, dass die Engadiner mit<br />
ihrer alten Schrifttradition daran wenig Freude<br />
haben.<br />
Radikale Wende durch Statusplanung<br />
Dem Glaubensbekenntnis zu einer überregionalen<br />
Schriftsprache folgt konform die schiere<br />
Dringlichkeit, durch sie und über sie eine radikale<br />
Wende der romanischen Sprach- und<br />
Kulturbewegung anzuschieben. Am ehesten lässt<br />
sich das bewerkstelligen, indem man die<br />
Korpusplanung zugunsten einer Statusplanung<br />
hintanstellt (11).<br />
Schon lange vor der Gründung der Lia Rumantscha<br />
(1919) haben die Rätoromanen Korpusplanung<br />
betrieben. Sie haben gesammelt, archiviert, ediert,<br />
kommentiert. Dieser <strong>Ein</strong>satz hat ihnen<br />
Wörterbücher, Grammatiken, eine ansehnliche<br />
Literatur, romanische Rechtsquellen, Schulbücher,
Bibliographien, Sagen und Märchen,<br />
Liedersammlungen, Zeitschriften und<br />
ethnographische Studien von beachtlicher Qualität<br />
gebracht.<br />
Für einen Sekretär der LR ist es <strong>nicht</strong> leicht, im<br />
Gewirr der verschiedenen Idiome sich einen<br />
gangbaren Kommunikationsweg freizuschaufeln.<br />
Je nach ihrer idiomatischen Herkunft gelang dies<br />
den zuständigen Beauftragten bislang leidlich.<br />
Überfordert wurde die Institution LR erst, als<br />
man daran ging, die neue Ausrichtung der<br />
Sprachplanung Schritt für Schritt umzusetzen. Die<br />
Form des "Gemeinromanischen" (Koine) sollte<br />
<strong>nicht</strong> nur gefestigt, sondern auch über die<br />
verschiedensten Kanäle verbreitet werden. Sich<br />
neue Domänen ausloten und solche erschliessen<br />
und besetzen, war und ist ein wichtiges Anliegen<br />
der Sprachplaner.<br />
Kam hinzu, dass die LR ihre Strukturen aus<br />
finanziellen Gründen drastisch verschlanken<br />
musste, die praktische Arbeit dezentralisierte und<br />
delegierte und dadurch die eigentliche kulturelle<br />
Aufgabe vorort, namentlich an kritischen<br />
Brennpunkten des Geschehens einschränkte oder<br />
diese gar aus den Händen gab.<br />
Orientierung nach aussen und deren Folgen<br />
<strong>Ein</strong>e systematisch geförderte Orientierung nach<br />
aussen (Politik, Wirtschaft, Medien), ein<br />
Fortschreiten auf Augenhöhe mit den übrigen<br />
bündnerischen Sprachgruppen, förderte eine<br />
steigende Präsenz des Rätoromanischen in der<br />
Öffentlichkeit. Sie trug wohl auch zum<br />
wachsenden Selbstbewusstsein der Rätoromanen<br />
bei. Wie es sich aber zeigt, war die Wirkung<br />
weder nachhaltig noch ging sie in die Tiefe. Es<br />
fällt auf, dass man neuerdings immer mehr auf<br />
Hilfe von Leuten ausserhalb der romanischen<br />
Stammlande angewiesen ist, um das "Neuland" zu<br />
halten und zu sichern. Jakobs "Himmelsleiter",
der direkte Weg in himmlische Sphären, die schon<br />
G.A. Bühler vorschwebte, blieb ein Phantom.<br />
Das soll an einigen Fallbeispielen näher erläutert<br />
werden. In den 1980er Jahren wurden ernsthafte<br />
Anstrengungen unternommen, das Rätoromanische<br />
auch in die Armee einzubringen. <strong>Ein</strong>e<br />
Kommandosprache wurde festgelegt, verschiedene<br />
Leitschriften bereitgestellt und damit<br />
Füsiliereinheiten (Battaillon, Kompanie)<br />
anges<strong>pro</strong>chen. Mit der Begründung es mangle an<br />
Kaderleuten (Offiziere und Unteroffiziere) und am<br />
festen Willen, überhaupt solche <strong>Ein</strong>heiten zu<br />
bilden und zu halten, versandete das Ganze nach<br />
einem hoffnungsvollen Anfang. Kleinsprachen<br />
haben ihre Grenzen und es bringt <strong>nicht</strong>s, dies <strong>nicht</strong><br />
wahrhaben zu wollen und sie überall ins Spiel zu<br />
bringen.<br />
Das gleiche spielte sich bei der Belegung der<br />
Universitäten mit Romanischvorlesungen und mit<br />
verschiedenen Angeboten für Examina ab. Auch<br />
hier wird man sich institutionell und personell<br />
schon angesichts schrumpfender<br />
Studentenzahlen auf das Machbare beschränken<br />
müssen. Die LR hat offensichtlich unterschätzt,<br />
dass die Auflösung des Kantonalen<br />
Lehrerseminars, früher eine Kaderschmiede für<br />
romanisches Unterrichtspersonal, schlimme Folgen<br />
haben würde.<br />
Europäische Minderheiten im Aufbruch<br />
Der im Beitrag von Cathomas erwähnte Aufbruch<br />
von Sprach- und Minderheiten in Europa im<br />
letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist <strong>nicht</strong> zum<br />
Nennwert zu nehmen. Sieht man von Ausnahmen<br />
ab (etwa beim historisch und wirtschaftlich<br />
starken und während der Franco-Zeit<br />
unterdrückten Katalanischen oder beim<br />
wirtschaftlich boomenden Norwegen mit seinen<br />
zwei koexistierenden Schriftsprachen), so sind<br />
wirkliche Fortschritte eher spärlich auszumachen.<br />
Wo stehen heute andere Minderheitensprachen,
z.B. das Friaulische, das Zentralladinische im<br />
Südtirol, das Franko<strong>pro</strong>venzalische im Piemont,<br />
das Walserische am Alpensüdhang, wo das<br />
Bretonische und das Okzitanische<br />
(Provenzalische) in Frankreich? Wie verhält es<br />
sich tatsächlich mit der immer wieder zitierten<br />
und vorgeführten sorbischen Minderheit in<br />
Deutschland oder mit dem Status des<br />
Inselfriesischen?<br />
Günstige Voraussetzungen für das Überleben<br />
Allgemein werden dem Rätoromanischen im<br />
dreisprachigen Graubünden und in der föderativen<br />
Schweiz ansprechende Bedingungen für die<br />
Fortentwiklung und für das Überleben<br />
bescheinigt.<br />
Caspar Decurtins hat erkannt, wo, neben staatlicher<br />
Hilfe, der eigentliche Schlüssel dafür liegt. Das<br />
Rätoromanische sei gegenüber anderen<br />
europäischen Sprachminderheiten in den<br />
Gemeinden und Regionen verwurzelt und beziehe<br />
von dorther seine <strong>nicht</strong> zu unterschätzende<br />
Lebenskraft. Diese <strong>Ein</strong>sicht teilte er seinem<br />
Briefpartner Frédéric Mistral ausdrücklich mit<br />
(12).<br />
Auf der Suche nach einem Masterplan<br />
In den 1980er Jahren schlug Cathomas einen<br />
Sieben-Punkte- oder Masterplan vor. Dieser nimmt<br />
sich obenhin betrachtet gut aus. Natürlich ist er<br />
sich bewusst, dass kein noch so klug<br />
ausgeheckter und durchdachter Leitplan alle<br />
auftauchenden Schwierigkeiten abdecken oder<br />
lösen kann.<br />
Aufgrund der Erfahrungen wird man aber Abstriche<br />
daran machen dürfen. Wer kann den Romanen ein<br />
gesichertes Gebiet verbürgen, in dem die Sprache<br />
in der einheitlichen, nirgends ges<strong>pro</strong>chenen Form
von RG einen wirklichen Nutzen und wo letzteres<br />
neben den Idiomen eine klare Stellung hat oder<br />
haben wird? Wer vermag in diesen Schon- oder<br />
Kerngebieten eine solide wirtschaftliche<br />
Grundlage zu garantieren? Und so wie die Dinge<br />
liegen: Wer kann der romanischen Volksschule<br />
eine gemeinsame überregionale Schriftsprache<br />
aufzwingen oder sie ihr verordnen?<br />
"Die Schüler haben ein Grundrecht, <strong>nicht</strong> verbildet<br />
zu werden" befindet der deutsche<br />
Bundesverwaltungsrichter und Schulrechtsexperte<br />
Jörg Berkemann, der in einer frühen Vorphase<br />
sich mit massiven Kritiken von Eltern und<br />
Gemeinschaften an der neuen deutschen<br />
Schreibweise zu befassen hatte. Und weiter<br />
schreibt er: "Nur vernünftige<br />
`Gemeinwohlzwecke` könnten [in diesem Bereich]<br />
Grundrechtseingriffe legitimieren" (13). Wenn<br />
90% der romanischen Gemeinden heute eine<br />
idiomatisch geführte Grundschule wollen, muss<br />
man dieses `Gemeinwohlzweck` wohl <strong>nicht</strong> weit<br />
suchen.<br />
Bilinguität der Rätoromanen<br />
Bilinguität der Rätoromanen ist <strong>nicht</strong> erst heute eine<br />
Tatsache. Es gilt Wege zu finden, diese möglichst<br />
gut zu steuern und zu bewältigen. <strong>Ein</strong>e neue von<br />
oben verordnete Form des Rätoromanischen<br />
("Logik von oben") dürfte in diesen Bemühungen<br />
eher die Ladung zum Kippen bringen.<br />
Der unerwartete Erfolg von RG sei zum eigenen<br />
Stolperstein geworden, kommentierte Pieder<br />
Caminada irgendwo in der Südostschweiz (SO).<br />
Man kann es so sehen. Der hauptsächlich medial<br />
"aufgebauschte" und herbeigeredete Erfolg lässt<br />
sich aber auch anders einordnen. Ist es <strong>nicht</strong><br />
vielmehr so, dass RG, mit oder ohne Erfolg, sich<br />
selber und die tragenden Idiome mit in den<br />
Absturz zu reissen droht, wenn es <strong>nicht</strong> gelingt,<br />
das Ruder herumzudrehen, eine vernünftige<br />
Balance zu finden und in der Sprach- und
Kulturbewegung Prioritäten zu setzen welche die<br />
tatsächlichen Bedürfnissen der Sprachträger<br />
abbilden. Bei den oben dargestellten<br />
Verhältnissen von Idiomen und RG in der<br />
Grundschule dürfte eine vernünftige faktische<br />
und finanzielle "Justierung" der Waage kein allzu<br />
grosses Kopfzerbrechen verursachen.<br />
Schulterschluss mit den Medien<br />
Durch einen Schulterschluss mit den Medien<br />
(Bündner Zeitung/SO) gelang der LR eine starke<br />
Allianz. <strong>Ein</strong>e Win-win-Situation wie es so schön<br />
heisst. Die angestrebte `Unique Sells Proposition`<br />
ist "unique" (einmalig) vor allem in dem Sinn,<br />
dass sie erlaubt, manches bewusst zu sichten,<br />
auszugrenzen oder gar das zu verschweigen was<br />
<strong>nicht</strong> ins Konzept passt.<br />
Das Rätoromanische zum Dauerthema in den<br />
deutsch- und anderssprachigen Zeitungen machen<br />
zu wollen, birgt auch echte Gefahren und Tücken.<br />
Und diese zeigten sich mehrmals eindeutig. Etwa<br />
im Zusammenhang mit der romanischen<br />
Tageszeitung (La Quotidiana) und ihrer impliziten<br />
Verschränkung mit der Zusammensetzung und<br />
Finanzierung der ANR (Agentura da Novitads<br />
Rumantscha). Sie kam zum Ausdruck anlässlich<br />
der Verlegung des Bundesparlaments nach Flims<br />
(Herbst 2006) und den daraus entstehenden <strong>nicht</strong><br />
endenwollenden Diskussionen, namentlich jener<br />
mit dem Journalisten Urs Paul Engler von der<br />
"Weltwoche" (14), schliesslich in den<br />
Wortgefechten mit Direktor Andreas Wieland mit<br />
Bezug auf mangelnde Deutschkenntnisse von<br />
romanischen Lehrlingen. Von den heutigen<br />
Problemen der romanischen Schulen <strong>nicht</strong> zu<br />
reden! Sie zeigt sich auch darin, dass Mitteilungen<br />
über das Romanische in der Presse auffällig<br />
gleichgeschaltet daherkommen, ja in deutschen<br />
und romanischen (tw. <strong>vom</strong> gleichen Verlag<br />
betriebenen) Zeitungen, je nachdem, bewusst<br />
anders dargestellt oder gar unterdrückt werden.<br />
Wo hinaus wollen eigentlich englisch verfasste,
wirre Darstellungen über das Problem der<br />
Schulsprache im Val Müstair im amerikanischen<br />
"The Wallstreet Journal" (Samstag, 1. Sept. 2011)<br />
oder Kassandrarufe zur Rettung des<br />
Rätoromanischen durch RG im Zürcher<br />
Boulevardblatt "20 Minuten" <strong>vom</strong> 5. Oktober 2012<br />
(15) ?<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen: Das andauernde<br />
Ausbreiten von Streitereien in den<br />
anderssprachigen Medien strapaziert die Bündner<br />
und Schweizer Nachbarn arg. Je länger je mehr<br />
werden sie Mühe haben, Verständnis dafür<br />
aufbringen.<br />
Die letzte Konsequenz dieser unheiligen Allianz<br />
ist augenfällig und vielleicht geradezu gewollt.<br />
Die Sprachplaner bemühen sich offen oder<br />
verschlüsselt, die anderssprachigen Bündner dafür<br />
zu gewinnen, die widerborstigen Romanen<br />
endlich zur Vernunft zu bringen. "Sollen die<br />
Romanen in sprachpolitischen Fragen allein<br />
entscheiden?" (16) Dieses Vorspiel kommt im<br />
Beitrag von Cathomas scheinheilig daher. Wahr<br />
ist, dass die "verquere" Idee schon lange in den<br />
Köpfen mancher Leute geisterte. Wird man es<br />
ihnen abnehmen, wenn sie sich heute fast<br />
gebetsmühlenartig davon distanzieren? Es ist und<br />
bleibt so "dass im besten Fall...die<br />
anderssprachigen Mitstimmenden der<br />
rätoromanischen Minderheit dazu verhelfen,<br />
Entscheide zu fällen, die über Partikularinteressen<br />
hinausgehen und langfristig für alle besser sind",<br />
oder wie es von juristischer Warte herab tönt:<br />
"Daran führt kein Weg vorbei!" (17). Die<br />
Warnungen von Romedi Arquint und Martin<br />
Candinas vor solchen <strong>nicht</strong> zu verantwortenden<br />
Vorschlägen und deren Folgen wird man<br />
gebührend zur Kenntnis nehmen.<br />
Vielis Traum anders gedeutet
Vielis Traum (vgl.VIELI, Regurdientschas 1963,39), den<br />
Cathomas am Schluss seines immer<br />
leidenschaftlicher werdenden Berichtes neu<br />
aufleben lässt, ist <strong>nicht</strong> so abwegig.<br />
Ramun Vieli unterrichtete an der Bündner<br />
Kantonsschule mit Erfolg Schüler aus dem ganzen<br />
Rhein- und Albula-Julia-Gebiet gemeinsam, also<br />
aus Mittelbünden und der Surselva. Er und sein<br />
Mentor, Gion Cahannes, haben es fertig gebracht,<br />
eine Schriftsprache zu formen, die klare Konturen<br />
hat. Frei jeglicher Träumerei sagt es Vieli am<br />
besten selber: "Die endgültige Festlegung einer<br />
einheitlichen Schriftsprache für das gesamte<br />
Rheingebiet dürfte nur noch eine Frage der Zeit<br />
sein. Ganz verfehlt wäre es aber, eine<br />
Verschmelzung dieser Schriftsprache mit<br />
derjenigen des Engadins anstreben zu wollen"<br />
(18).<br />
Bekanntlich ist seine Vision <strong>nicht</strong> ganz in Erfüllung<br />
gegangen. Und gerade in diesem Zusammenhang<br />
kann man der LR den Vorwurf <strong>nicht</strong> ersparen,<br />
dass sie das Ziel Vielis gutmeinend durchkreuzt<br />
hat, indem sie, zumal nach 1944, die<br />
Absetzbewegung Mittelbündens <strong>vom</strong><br />
Surselvischen kräftig förderte.<br />
Ramponierte Strukturen<br />
Am Schluss seiner Ausführungen muss der<br />
Verfasser eingestehen, dass rätoromanische<br />
Strukturen, die er eigenwillig und souverän<br />
gemanagt hat, ziemlich ramponiert dastehen.<br />
<strong>Ein</strong>mal die LR mit schmalen Finanzen, ohne klare<br />
Zielsetzung, sodann die regionalen Zentren, die<br />
tw. unter der gleichen Orientierungslosigkeit<br />
leiden und daher alles andere als innovativ in<br />
Erscheinung treten.<br />
In einem 2011 verfassten, unveröffentlichten<br />
Beitrag zeigt Martin Bundi, dass es <strong>nicht</strong> damit<br />
getan ist, bedenkliche Entwicklungen etwa im<br />
Schulwesen im Albulatal und im Schams zu<br />
"observieren", sondern aktiv einzuwirken und
Lösungen vorzuschlagen. Seine breit angelegte<br />
Auslegeordnung mit Bezug auf den Ist-Zustand der<br />
Bemühungen um das Rätoromanische könnte,<br />
zusammen mit anderen Vorschlägen, die<br />
Grundlage für eine umfassende Diskussion bilden,<br />
wie Sprach- und Kulturpolitik unter den<br />
Rätoromanen aber auch im Rahmen des Kantons<br />
und der Schweiz in den kommenden Dezennien<br />
aussehen könnte (19).<br />
Anmerkungen:<br />
1 B.CATHOMAS <strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong> Himmel. Zur<br />
Sprachplanung in der Rätoromania, in: Schriftenreihe des<br />
Arbeitskreises für interregionale Geschichte des mittleren<br />
Alpenraumes, Band 2/2012, 125 - 147. Hsg.: Gerhard<br />
Wanner/Georg Jäger; Abkz.: CATHOMAS 2012.<br />
2 N. ZINGARELLI Vocabolario della lingua italiana. Novissima<br />
edizione interamente riveduta, 1944; pref. "La lingua è opera di<br />
civiltà e non di natura".<br />
3 A. DECURTINS, Gedanken zum Thema "Das Engadin und seine<br />
(literarische) Schrifttradition", in: BM 1/2004, 51 ff. - Zu Bifrun<br />
vgl. Maria H.J. FERMIN, Le vocabularie de Bifrun dans sa<br />
traduction des quatre évangiles, p.11 "Bifrun, le notaire<br />
montagnard, doit être considéré comme un génie linguistique<br />
hautement doué".<br />
4 Auf sozialpolitische, mitunter "manipulierende" Strategien der<br />
Soziolinguistik nimmt eine Schrift der Bank Julius Bär & Co AG<br />
<strong>vom</strong> 3. Mai 1979 Bezug ("Aus dem Wochenbericht der Bank<br />
Julius Bär & Co AG", Tiposkript, 4 Seiten). - Vgl. auch<br />
R.C.CORAY, Rumantsch Grischun: Sprach- und Machtpolitik in<br />
Graubünden, in: Ann. 123/2010, 147-165.<br />
5 C. FRY, Caspar Decurtins (1855-1916), Il campiun della<br />
Renaschientscha Romontscha. Ed. LR (ohne Datum).<br />
6 C. DECURTINS, Rätoromanische Chrestomathie, Bd. 4/2, S. 974-76.<br />
7 Bettina BERTHER, Gl`interess dils Romontschs sper la mar per ils<br />
Romontschs sin las alps, in: Ann. 123/2010, 47, bes. 72 ff.<br />
8 G. DEPLAZES, Geschichte der sprachlichen Schulbücher im<br />
romanischen Rheingebiet. Arbeiten zur Psychologie, Pädagogik und<br />
Heilpädagogik, Bd.1,93 ff. - Vgl. G.Gadola, Pader Baseli Carigiet e<br />
siu temps (1811-1883), in: Ischi XLVI, 81 f., ibid. 119 ff.
9 H. MORF, Die sprachlichen <strong>Ein</strong>heitsbestrebungen in der rätischen<br />
Schweiz, Bern 1888, bes. S. 41 ff.<br />
10 Il Sursilvan, Nr. 51, 1887, <strong>vom</strong> 16.12. Excurs rhätoromonsch : "La<br />
partischaunadad en favur d`ina part litigonta ei lient trop<br />
transparenta dall`ançetta tochen la fin".<br />
11 CATHOMAS 2012, 125 f.,129 f.<br />
12 Vgl. N. 7.<br />
13 Der Spiegel, Nr. 44 <strong>vom</strong> 28.10. 96, S.71 f. Logik von oben. (Ist<br />
die Reform vor den Gerichten zu stoppen? Verfassungsrechtler<br />
sehen Chancen).<br />
14 Tages-Anzeiger <strong>vom</strong> Donnerstag, 24.Mai 2007, Analyse 11. D.<br />
FOPPA: Seldwyla auf Rätoromanisch. Zur Rassismus-Klage gegen<br />
Urs Paul Engler.<br />
15 .Zürcher Boulevard-Blatt `2o Minuten`<strong>vom</strong> Freitag, den 5.Oktober<br />
2012. "Kommt Hilfe zu spät? FREIBURG-. Vor 30 Jahren wurde<br />
für die rätoromanischen Dialekte [sic] eine gemeinsame<br />
Schriftsprache geschaffen. Damit sollte unsere vierte Landessprache<br />
gerettet werden.<br />
16 Cathomas 2012, 141 f.<br />
17 Südostschweiz, Donnerstag, den 24. Mai 2012. Region, 3. Denise<br />
Alig: Volksinitiative zu Romanischunterricht wird vorbereitet.<br />
18 R.Vieli: Das Ringen der Rätoromanen um ihre Muttersprache, Sep.<br />
"Rätia", Februar 1938,12. - Vgl. auch La Quotidiana, <strong>vom</strong> 21.<br />
Februar 2011,11, A.DECURTINS, Scola primara romontscha e<br />
rumantsch grischun.<br />
19 M. Bundi, "Zur Situation des Rätoromanischen in Graubünden"<br />
(Dezember 2011, Kopie, 17 Seiten).