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"Sprachen fallen nicht vom Himmel" (1) (Ein Kommentar ... - pro idioms

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"<strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong> Himmel" (1)<br />

(<strong>Ein</strong> <strong>Kommentar</strong> von Alexi Decurtins, Okt.<br />

2012)<br />

Zwei sich ergänzende Beiträge<br />

Kurz nacheinander publizierte Bernard Cathomas,<br />

ehemals Generalsekretär der Lia Rumantscha, zwei<br />

Beiträge zur Rätoromanischen Sprachpolitik. Im<br />

Bündner Monatsblatt (1/2012) skizzierte er die<br />

nunmehr dreissigjährige Geschichte der<br />

Kunstsprache Rumantsch Grischun. Im zweiten<br />

Beitrag unter dem Titel "<strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong><br />

Himmel" versucht er recht forsch zu zeigen, wie<br />

rätoromanische Sprachplanung sein muss und wie<br />

sie <strong>nicht</strong> anders sein kann und sein wird.<br />

Der Feststellung, dass "<strong>Sprachen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong><br />

Himmel <strong>fallen</strong>", wird man zustimmen. Jedoch:<br />

Wenn es die Nutzer sind, die den Sprachwandel<br />

herbeiführen, d.h. die betroffenen Menschen<br />

selber, so dürfte ein bekannter italienischer<br />

Lexikograph <strong>nicht</strong> falsch liegen, wenn er schreibt:<br />

"<strong>Sprachen</strong> sind <strong>nicht</strong> naturgegeben, sondern das<br />

Ergebnis des Zusammenwirkens von kulturellem<br />

Erbe und sozial organisierter und gelebter<br />

Gemeinschaft" (2). Für gewöhnlich somit keine<br />

Kunst- oder Papiersprachen.<br />

Gewagte Vergleiche<br />

Zur Stütze seiner Aussage führt der Verfasser<br />

Beispiele von Übersetzern an, welche die<br />

Verschriftung der Sprache entscheidend geprägt<br />

haben. <strong>Ein</strong>erseits Notker Labeo aus dem Kloster<br />

St. Gallen, um 1000 herum, mit Übersetzungen<br />

aus dem Lateinischen ins Althochdeutsche.<br />

Andererseits, 550 Jahre später, Jachem Bifrun, mit<br />

den ersten gedruckten Schriften ins<br />

Oberengadinische. Beider Texte seien heute <strong>nicht</strong><br />

ohne weiteres für jedermann verständlich.


Die Vergleiche sind kühn. Sie betreffen im Falle<br />

Notkers wie Bifruns Sprachkundige, die dank<br />

ihren Fähigkeiten und ihrer Intuition der<br />

<strong>Sprachen</strong>twicklung einen besonderen Schub zu<br />

geben vermochten. Es ist aber offensichtlich, dass<br />

sie <strong>nicht</strong> unbebautes Land vorfanden, sondern dass<br />

ihrer Leistung eine lange Reifezeit der Sprache<br />

vorausging (3).<br />

Für die Erkundung, wie eine neue Schriftsprache<br />

entsteht und Form annimmt, taugen die Beispiele<br />

wenig und schon gar <strong>nicht</strong>, will man sie unter<br />

"Sprachplanung" einordnen.<br />

Cathomas geht von der zurechtgestutzten Meinung<br />

aus, dass auch "künstlich" geschaffene<br />

Ausgleichssprachen wie das Deutsche und<br />

Italienische zu grossen Literatur- und<br />

Staatssprachen geworden seien. Alte<br />

Kultursprachen als "künstlich" geschaffene<br />

Ausgleichssprachen zu qualifizieren, ist an sich<br />

schon eigenartig, sie mit einer<br />

Minderheitensprache besonderer Art zu<br />

vergleichen aber sicher fragwürdig.<br />

Caspar Decurtins` umstrittene Rolle<br />

Sprachplanung als eigene Disziplin etablierte sich<br />

um und seit 1970. Dieser jungen, ihrem Entstehen<br />

nach sozialpolitisch <strong>nicht</strong> immer zweckfreien<br />

Sprachbetrachtung, folgt Cathomas (4). Was ihr<br />

vorausging war, aus seinem Blickwinkel mit<br />

Bezug auf das Rätoromanische, die Geschichte<br />

von gelungenen und gescheiterten<br />

Sprachplanungs<strong>pro</strong>zessen (erste Schriften im16.-<br />

17. Jh.; zaghafte Anfänge der Literatur im 17./18.<br />

Jh., Gemeinde- und Gerichtstatuten, Schulbücher).<br />

Zweifellos eine statusfördernde Entwicklung,<br />

jedoch oft mit Rückschlägen befrachtet<br />

(<strong>Ein</strong>heitsbestrebungen, usw.).<br />

In diesem Auf und Ab weist der Verfasser vor allem<br />

der "Rolle von Caspar Decurtins" eine abwertende<br />

Note zu. Dessen monumentale Rätoromanische<br />

Chrestomathie trug wesentlich zum Prestige von


Sprache und Kultur bei. Die Arbeiten daran<br />

leiteten die "Rätoromanische Wiedergeburt" ein,<br />

die in ganz Romanischbünden für die Zeit<br />

zwischen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis<br />

zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges tragend<br />

wurde (5).<br />

Als Politiker hat Decurtins 1887 durch sein<br />

<strong>Ein</strong>treten im Grossen Rat der Fusionssprache<br />

Bühlers (<strong>Ein</strong>heitssprache) an der Bündner<br />

Kantonsschule einen Riegel geschoben und dies<br />

auch begründet (6). Er stand mit Frédéric Mistral<br />

in brieflichem Kontakt und wusste um die<br />

Erwartungen und Schwierigkeiten des<br />

neo<strong>pro</strong>venzalischen Aufbruchs. Trotz grossen<br />

Anstrengungen und dem 1902 an Mistral<br />

vergebenen Nobelpreis für sein episches Werk<br />

"Mirèio/Mireille", gedieh dieser Neubeginn neben<br />

dem alles beherrschenden Französischen nur<br />

mässig und lief später in ein intellektuelles und<br />

akademisches Anliegen aus (7). Die bis heute<br />

ungelösten Probleme des Serbokroatischen und<br />

anderer Minderheitensprachen waren Decurtins<br />

ebenfalls bekannt.<br />

Mit seiner Skepsis gegenüber <strong>Ein</strong>heitsbestrebungen<br />

stand Decurtins <strong>nicht</strong> allein. Die Surselva mit<br />

Pater Baseli Carigiet, Redaktor Placi Condrau und<br />

der Lehrerkonferenz lehnten die Fusionssprache<br />

unisono ab (8). Im Engadin kam mit den<br />

Bemühungen von Zaccaria Pallioppi (Arbeiten zur<br />

Orthographie, Orthoepie/Aussprache,<br />

Morphologie der Verben, Lexikographie) eine<br />

sprachpflegerisch namhafte Bewegung auf. Die<br />

Engadiner haben sich mit wenigen Ausnahmen<br />

überhaupt <strong>nicht</strong> um die Fusionssprache<br />

gekümmert. Sogar Pallioppi bekämpfte diese bei<br />

jeder sich bietenden Gelegenheit.<br />

Durch die Schrift des Romanisten Heinrich Morf<br />

(Universitäten Bern, Zürich) erhielt die Front der<br />

Ablehnung in der Surselva wie im Engadin eine<br />

Bestätigung und Stütze von hoher Warte (8).<br />

"Es wäre geradezu eine Versündigung an der<br />

rätischen Jugend", schreibt Morf, "ihre Zeit durch


den Romonsch fusionau oder irgendeiner anders<br />

ausgeklügelten rätischen <strong>Ein</strong>heitsprache in<br />

Anspruch zu nehmen." Und weiter: "Das<br />

Gemeinfranzösische z.B. ist <strong>nicht</strong> so entstanden,<br />

dass ein normannischer Artikel vor ein<br />

burgundisches Substantiv gestellt und diesem ein<br />

wallonisches Adjektiv angefügt worden wäre, um<br />

ein von einem poitevinischen Adverb begleitetes,<br />

lateinisch aufgeputztes Verbum folgen zu lasssen.<br />

Das Gemeinfranzösische ist ein bestimmter<br />

Dialekt, dem die politischen, religiösen, sozialen,<br />

literarischen Verhältnisse, <strong>nicht</strong> aber der Wille der<br />

Grammatiker, das Übergewicht über die anderen<br />

Dialekte gegeben haben: der Dialekt der Isle de<br />

France mit ihrer alles an sich ziehenden Residenz<br />

Paris."<br />

Morf wurde entgegengehalten, er habe seine Schrift<br />

in Absprache mit dem Kulturpolitiker Decurtins<br />

und ihm zuliebe verfasst. Ihr und dem Verfasser<br />

mangle es daher an Unparteilichkeit (10). Geht<br />

man die Ausführungen durch, so wird man<br />

gewahr, dass Morf sich gründlich in das Konzept<br />

Bühlers vertiefte und die nachfolgenden Schritte<br />

und Änderungen des Projektes genau auflistete und<br />

bewertete.<br />

Bühler"s "Fusionssprache" und RG<br />

<strong>Ein</strong> direkter Vergleich des Schicksals von Bühlers<br />

Fusionssprache mit dem Projekt Rumantsch<br />

Grischun ist nur bedingt möglich und wohl auch<br />

<strong>nicht</strong> tunlich. Gewisse Züge (unausgereifte<br />

<strong>Ein</strong>schätzungen, wechselnde Strategien,<br />

Abrutschen ins Ideologische, Manipulationen noch<br />

und noch, Erfolge und Misserfolge) ähneln sich<br />

aber in starkem Masse.<br />

<strong>Ein</strong>mal das starre Dogma, dass eine<br />

Sprachgemeinschaft, möge sie so oder so<br />

beschaffen sein, <strong>nicht</strong> ohne eine gemeinsame<br />

überregionale Schriftsprache auskomme. Darum<br />

ist ein solches Medium vonnöten, koste es was es<br />

wolle; möglichst überzeugend auf dem Reissbrett


entworfen und schnellstmöglich freigegeben und<br />

verbreitet ohne Rücksicht auf die Volksmeinung<br />

oder auf eintretende Folgen.<br />

Wenn Bühlers Bemühungen Schiffbruch erlitten, so<br />

vor allem deshalb, weil er seine Fusionssprache<br />

ständig änderte und sie immer artifizieller<br />

ausgestaltete.<br />

Beim Ausbau des RG, bei welchem die lenkende<br />

und ordnende Hand des Verfassers H. Schmid seit<br />

1999 leider fehlt, zeichnen sich ähnliche<br />

Schräglagen ab. Meine jüngeren Kollegen bei der<br />

Ausarbeitung des Handbuchs des Rätoromanischen<br />

stellten schon zu Beginn fest, dass die<br />

Zusammensetzung von RG rund 60% surselvische<br />

Elemente aufweise. Die gegen RG eingestellten,<br />

aufmüpfigen Leute in der Surselva sollten sich<br />

also zufrieden geben. Doch damit <strong>nicht</strong> genug.<br />

Durch die praktische Anwendung und aufgrund der<br />

weitergehenden, den grössten gemeinsamen<br />

Nenner suchenden Standardisierung von RG, fällt<br />

dieses immer mehr auf ein surselvisches Glacis<br />

ab. Es ist <strong>nicht</strong> erstaunlich, dass die Engadiner mit<br />

ihrer alten Schrifttradition daran wenig Freude<br />

haben.<br />

Radikale Wende durch Statusplanung<br />

Dem Glaubensbekenntnis zu einer überregionalen<br />

Schriftsprache folgt konform die schiere<br />

Dringlichkeit, durch sie und über sie eine radikale<br />

Wende der romanischen Sprach- und<br />

Kulturbewegung anzuschieben. Am ehesten lässt<br />

sich das bewerkstelligen, indem man die<br />

Korpusplanung zugunsten einer Statusplanung<br />

hintanstellt (11).<br />

Schon lange vor der Gründung der Lia Rumantscha<br />

(1919) haben die Rätoromanen Korpusplanung<br />

betrieben. Sie haben gesammelt, archiviert, ediert,<br />

kommentiert. Dieser <strong>Ein</strong>satz hat ihnen<br />

Wörterbücher, Grammatiken, eine ansehnliche<br />

Literatur, romanische Rechtsquellen, Schulbücher,


Bibliographien, Sagen und Märchen,<br />

Liedersammlungen, Zeitschriften und<br />

ethnographische Studien von beachtlicher Qualität<br />

gebracht.<br />

Für einen Sekretär der LR ist es <strong>nicht</strong> leicht, im<br />

Gewirr der verschiedenen Idiome sich einen<br />

gangbaren Kommunikationsweg freizuschaufeln.<br />

Je nach ihrer idiomatischen Herkunft gelang dies<br />

den zuständigen Beauftragten bislang leidlich.<br />

Überfordert wurde die Institution LR erst, als<br />

man daran ging, die neue Ausrichtung der<br />

Sprachplanung Schritt für Schritt umzusetzen. Die<br />

Form des "Gemeinromanischen" (Koine) sollte<br />

<strong>nicht</strong> nur gefestigt, sondern auch über die<br />

verschiedensten Kanäle verbreitet werden. Sich<br />

neue Domänen ausloten und solche erschliessen<br />

und besetzen, war und ist ein wichtiges Anliegen<br />

der Sprachplaner.<br />

Kam hinzu, dass die LR ihre Strukturen aus<br />

finanziellen Gründen drastisch verschlanken<br />

musste, die praktische Arbeit dezentralisierte und<br />

delegierte und dadurch die eigentliche kulturelle<br />

Aufgabe vorort, namentlich an kritischen<br />

Brennpunkten des Geschehens einschränkte oder<br />

diese gar aus den Händen gab.<br />

Orientierung nach aussen und deren Folgen<br />

<strong>Ein</strong>e systematisch geförderte Orientierung nach<br />

aussen (Politik, Wirtschaft, Medien), ein<br />

Fortschreiten auf Augenhöhe mit den übrigen<br />

bündnerischen Sprachgruppen, förderte eine<br />

steigende Präsenz des Rätoromanischen in der<br />

Öffentlichkeit. Sie trug wohl auch zum<br />

wachsenden Selbstbewusstsein der Rätoromanen<br />

bei. Wie es sich aber zeigt, war die Wirkung<br />

weder nachhaltig noch ging sie in die Tiefe. Es<br />

fällt auf, dass man neuerdings immer mehr auf<br />

Hilfe von Leuten ausserhalb der romanischen<br />

Stammlande angewiesen ist, um das "Neuland" zu<br />

halten und zu sichern. Jakobs "Himmelsleiter",


der direkte Weg in himmlische Sphären, die schon<br />

G.A. Bühler vorschwebte, blieb ein Phantom.<br />

Das soll an einigen Fallbeispielen näher erläutert<br />

werden. In den 1980er Jahren wurden ernsthafte<br />

Anstrengungen unternommen, das Rätoromanische<br />

auch in die Armee einzubringen. <strong>Ein</strong>e<br />

Kommandosprache wurde festgelegt, verschiedene<br />

Leitschriften bereitgestellt und damit<br />

Füsiliereinheiten (Battaillon, Kompanie)<br />

anges<strong>pro</strong>chen. Mit der Begründung es mangle an<br />

Kaderleuten (Offiziere und Unteroffiziere) und am<br />

festen Willen, überhaupt solche <strong>Ein</strong>heiten zu<br />

bilden und zu halten, versandete das Ganze nach<br />

einem hoffnungsvollen Anfang. Kleinsprachen<br />

haben ihre Grenzen und es bringt <strong>nicht</strong>s, dies <strong>nicht</strong><br />

wahrhaben zu wollen und sie überall ins Spiel zu<br />

bringen.<br />

Das gleiche spielte sich bei der Belegung der<br />

Universitäten mit Romanischvorlesungen und mit<br />

verschiedenen Angeboten für Examina ab. Auch<br />

hier wird man sich institutionell und personell<br />

schon angesichts schrumpfender<br />

Studentenzahlen auf das Machbare beschränken<br />

müssen. Die LR hat offensichtlich unterschätzt,<br />

dass die Auflösung des Kantonalen<br />

Lehrerseminars, früher eine Kaderschmiede für<br />

romanisches Unterrichtspersonal, schlimme Folgen<br />

haben würde.<br />

Europäische Minderheiten im Aufbruch<br />

Der im Beitrag von Cathomas erwähnte Aufbruch<br />

von Sprach- und Minderheiten in Europa im<br />

letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist <strong>nicht</strong> zum<br />

Nennwert zu nehmen. Sieht man von Ausnahmen<br />

ab (etwa beim historisch und wirtschaftlich<br />

starken und während der Franco-Zeit<br />

unterdrückten Katalanischen oder beim<br />

wirtschaftlich boomenden Norwegen mit seinen<br />

zwei koexistierenden Schriftsprachen), so sind<br />

wirkliche Fortschritte eher spärlich auszumachen.<br />

Wo stehen heute andere Minderheitensprachen,


z.B. das Friaulische, das Zentralladinische im<br />

Südtirol, das Franko<strong>pro</strong>venzalische im Piemont,<br />

das Walserische am Alpensüdhang, wo das<br />

Bretonische und das Okzitanische<br />

(Provenzalische) in Frankreich? Wie verhält es<br />

sich tatsächlich mit der immer wieder zitierten<br />

und vorgeführten sorbischen Minderheit in<br />

Deutschland oder mit dem Status des<br />

Inselfriesischen?<br />

Günstige Voraussetzungen für das Überleben<br />

Allgemein werden dem Rätoromanischen im<br />

dreisprachigen Graubünden und in der föderativen<br />

Schweiz ansprechende Bedingungen für die<br />

Fortentwiklung und für das Überleben<br />

bescheinigt.<br />

Caspar Decurtins hat erkannt, wo, neben staatlicher<br />

Hilfe, der eigentliche Schlüssel dafür liegt. Das<br />

Rätoromanische sei gegenüber anderen<br />

europäischen Sprachminderheiten in den<br />

Gemeinden und Regionen verwurzelt und beziehe<br />

von dorther seine <strong>nicht</strong> zu unterschätzende<br />

Lebenskraft. Diese <strong>Ein</strong>sicht teilte er seinem<br />

Briefpartner Frédéric Mistral ausdrücklich mit<br />

(12).<br />

Auf der Suche nach einem Masterplan<br />

In den 1980er Jahren schlug Cathomas einen<br />

Sieben-Punkte- oder Masterplan vor. Dieser nimmt<br />

sich obenhin betrachtet gut aus. Natürlich ist er<br />

sich bewusst, dass kein noch so klug<br />

ausgeheckter und durchdachter Leitplan alle<br />

auftauchenden Schwierigkeiten abdecken oder<br />

lösen kann.<br />

Aufgrund der Erfahrungen wird man aber Abstriche<br />

daran machen dürfen. Wer kann den Romanen ein<br />

gesichertes Gebiet verbürgen, in dem die Sprache<br />

in der einheitlichen, nirgends ges<strong>pro</strong>chenen Form


von RG einen wirklichen Nutzen und wo letzteres<br />

neben den Idiomen eine klare Stellung hat oder<br />

haben wird? Wer vermag in diesen Schon- oder<br />

Kerngebieten eine solide wirtschaftliche<br />

Grundlage zu garantieren? Und so wie die Dinge<br />

liegen: Wer kann der romanischen Volksschule<br />

eine gemeinsame überregionale Schriftsprache<br />

aufzwingen oder sie ihr verordnen?<br />

"Die Schüler haben ein Grundrecht, <strong>nicht</strong> verbildet<br />

zu werden" befindet der deutsche<br />

Bundesverwaltungsrichter und Schulrechtsexperte<br />

Jörg Berkemann, der in einer frühen Vorphase<br />

sich mit massiven Kritiken von Eltern und<br />

Gemeinschaften an der neuen deutschen<br />

Schreibweise zu befassen hatte. Und weiter<br />

schreibt er: "Nur vernünftige<br />

`Gemeinwohlzwecke` könnten [in diesem Bereich]<br />

Grundrechtseingriffe legitimieren" (13). Wenn<br />

90% der romanischen Gemeinden heute eine<br />

idiomatisch geführte Grundschule wollen, muss<br />

man dieses `Gemeinwohlzweck` wohl <strong>nicht</strong> weit<br />

suchen.<br />

Bilinguität der Rätoromanen<br />

Bilinguität der Rätoromanen ist <strong>nicht</strong> erst heute eine<br />

Tatsache. Es gilt Wege zu finden, diese möglichst<br />

gut zu steuern und zu bewältigen. <strong>Ein</strong>e neue von<br />

oben verordnete Form des Rätoromanischen<br />

("Logik von oben") dürfte in diesen Bemühungen<br />

eher die Ladung zum Kippen bringen.<br />

Der unerwartete Erfolg von RG sei zum eigenen<br />

Stolperstein geworden, kommentierte Pieder<br />

Caminada irgendwo in der Südostschweiz (SO).<br />

Man kann es so sehen. Der hauptsächlich medial<br />

"aufgebauschte" und herbeigeredete Erfolg lässt<br />

sich aber auch anders einordnen. Ist es <strong>nicht</strong><br />

vielmehr so, dass RG, mit oder ohne Erfolg, sich<br />

selber und die tragenden Idiome mit in den<br />

Absturz zu reissen droht, wenn es <strong>nicht</strong> gelingt,<br />

das Ruder herumzudrehen, eine vernünftige<br />

Balance zu finden und in der Sprach- und


Kulturbewegung Prioritäten zu setzen welche die<br />

tatsächlichen Bedürfnissen der Sprachträger<br />

abbilden. Bei den oben dargestellten<br />

Verhältnissen von Idiomen und RG in der<br />

Grundschule dürfte eine vernünftige faktische<br />

und finanzielle "Justierung" der Waage kein allzu<br />

grosses Kopfzerbrechen verursachen.<br />

Schulterschluss mit den Medien<br />

Durch einen Schulterschluss mit den Medien<br />

(Bündner Zeitung/SO) gelang der LR eine starke<br />

Allianz. <strong>Ein</strong>e Win-win-Situation wie es so schön<br />

heisst. Die angestrebte `Unique Sells Proposition`<br />

ist "unique" (einmalig) vor allem in dem Sinn,<br />

dass sie erlaubt, manches bewusst zu sichten,<br />

auszugrenzen oder gar das zu verschweigen was<br />

<strong>nicht</strong> ins Konzept passt.<br />

Das Rätoromanische zum Dauerthema in den<br />

deutsch- und anderssprachigen Zeitungen machen<br />

zu wollen, birgt auch echte Gefahren und Tücken.<br />

Und diese zeigten sich mehrmals eindeutig. Etwa<br />

im Zusammenhang mit der romanischen<br />

Tageszeitung (La Quotidiana) und ihrer impliziten<br />

Verschränkung mit der Zusammensetzung und<br />

Finanzierung der ANR (Agentura da Novitads<br />

Rumantscha). Sie kam zum Ausdruck anlässlich<br />

der Verlegung des Bundesparlaments nach Flims<br />

(Herbst 2006) und den daraus entstehenden <strong>nicht</strong><br />

endenwollenden Diskussionen, namentlich jener<br />

mit dem Journalisten Urs Paul Engler von der<br />

"Weltwoche" (14), schliesslich in den<br />

Wortgefechten mit Direktor Andreas Wieland mit<br />

Bezug auf mangelnde Deutschkenntnisse von<br />

romanischen Lehrlingen. Von den heutigen<br />

Problemen der romanischen Schulen <strong>nicht</strong> zu<br />

reden! Sie zeigt sich auch darin, dass Mitteilungen<br />

über das Romanische in der Presse auffällig<br />

gleichgeschaltet daherkommen, ja in deutschen<br />

und romanischen (tw. <strong>vom</strong> gleichen Verlag<br />

betriebenen) Zeitungen, je nachdem, bewusst<br />

anders dargestellt oder gar unterdrückt werden.<br />

Wo hinaus wollen eigentlich englisch verfasste,


wirre Darstellungen über das Problem der<br />

Schulsprache im Val Müstair im amerikanischen<br />

"The Wallstreet Journal" (Samstag, 1. Sept. 2011)<br />

oder Kassandrarufe zur Rettung des<br />

Rätoromanischen durch RG im Zürcher<br />

Boulevardblatt "20 Minuten" <strong>vom</strong> 5. Oktober 2012<br />

(15) ?<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das andauernde<br />

Ausbreiten von Streitereien in den<br />

anderssprachigen Medien strapaziert die Bündner<br />

und Schweizer Nachbarn arg. Je länger je mehr<br />

werden sie Mühe haben, Verständnis dafür<br />

aufbringen.<br />

Die letzte Konsequenz dieser unheiligen Allianz<br />

ist augenfällig und vielleicht geradezu gewollt.<br />

Die Sprachplaner bemühen sich offen oder<br />

verschlüsselt, die anderssprachigen Bündner dafür<br />

zu gewinnen, die widerborstigen Romanen<br />

endlich zur Vernunft zu bringen. "Sollen die<br />

Romanen in sprachpolitischen Fragen allein<br />

entscheiden?" (16) Dieses Vorspiel kommt im<br />

Beitrag von Cathomas scheinheilig daher. Wahr<br />

ist, dass die "verquere" Idee schon lange in den<br />

Köpfen mancher Leute geisterte. Wird man es<br />

ihnen abnehmen, wenn sie sich heute fast<br />

gebetsmühlenartig davon distanzieren? Es ist und<br />

bleibt so "dass im besten Fall...die<br />

anderssprachigen Mitstimmenden der<br />

rätoromanischen Minderheit dazu verhelfen,<br />

Entscheide zu fällen, die über Partikularinteressen<br />

hinausgehen und langfristig für alle besser sind",<br />

oder wie es von juristischer Warte herab tönt:<br />

"Daran führt kein Weg vorbei!" (17). Die<br />

Warnungen von Romedi Arquint und Martin<br />

Candinas vor solchen <strong>nicht</strong> zu verantwortenden<br />

Vorschlägen und deren Folgen wird man<br />

gebührend zur Kenntnis nehmen.<br />

Vielis Traum anders gedeutet


Vielis Traum (vgl.VIELI, Regurdientschas 1963,39), den<br />

Cathomas am Schluss seines immer<br />

leidenschaftlicher werdenden Berichtes neu<br />

aufleben lässt, ist <strong>nicht</strong> so abwegig.<br />

Ramun Vieli unterrichtete an der Bündner<br />

Kantonsschule mit Erfolg Schüler aus dem ganzen<br />

Rhein- und Albula-Julia-Gebiet gemeinsam, also<br />

aus Mittelbünden und der Surselva. Er und sein<br />

Mentor, Gion Cahannes, haben es fertig gebracht,<br />

eine Schriftsprache zu formen, die klare Konturen<br />

hat. Frei jeglicher Träumerei sagt es Vieli am<br />

besten selber: "Die endgültige Festlegung einer<br />

einheitlichen Schriftsprache für das gesamte<br />

Rheingebiet dürfte nur noch eine Frage der Zeit<br />

sein. Ganz verfehlt wäre es aber, eine<br />

Verschmelzung dieser Schriftsprache mit<br />

derjenigen des Engadins anstreben zu wollen"<br />

(18).<br />

Bekanntlich ist seine Vision <strong>nicht</strong> ganz in Erfüllung<br />

gegangen. Und gerade in diesem Zusammenhang<br />

kann man der LR den Vorwurf <strong>nicht</strong> ersparen,<br />

dass sie das Ziel Vielis gutmeinend durchkreuzt<br />

hat, indem sie, zumal nach 1944, die<br />

Absetzbewegung Mittelbündens <strong>vom</strong><br />

Surselvischen kräftig förderte.<br />

Ramponierte Strukturen<br />

Am Schluss seiner Ausführungen muss der<br />

Verfasser eingestehen, dass rätoromanische<br />

Strukturen, die er eigenwillig und souverän<br />

gemanagt hat, ziemlich ramponiert dastehen.<br />

<strong>Ein</strong>mal die LR mit schmalen Finanzen, ohne klare<br />

Zielsetzung, sodann die regionalen Zentren, die<br />

tw. unter der gleichen Orientierungslosigkeit<br />

leiden und daher alles andere als innovativ in<br />

Erscheinung treten.<br />

In einem 2011 verfassten, unveröffentlichten<br />

Beitrag zeigt Martin Bundi, dass es <strong>nicht</strong> damit<br />

getan ist, bedenkliche Entwicklungen etwa im<br />

Schulwesen im Albulatal und im Schams zu<br />

"observieren", sondern aktiv einzuwirken und


Lösungen vorzuschlagen. Seine breit angelegte<br />

Auslegeordnung mit Bezug auf den Ist-Zustand der<br />

Bemühungen um das Rätoromanische könnte,<br />

zusammen mit anderen Vorschlägen, die<br />

Grundlage für eine umfassende Diskussion bilden,<br />

wie Sprach- und Kulturpolitik unter den<br />

Rätoromanen aber auch im Rahmen des Kantons<br />

und der Schweiz in den kommenden Dezennien<br />

aussehen könnte (19).<br />

Anmerkungen:<br />

1 B.CATHOMAS <strong>Sprachen</strong> <strong>fallen</strong> <strong>nicht</strong> <strong>vom</strong> Himmel. Zur<br />

Sprachplanung in der Rätoromania, in: Schriftenreihe des<br />

Arbeitskreises für interregionale Geschichte des mittleren<br />

Alpenraumes, Band 2/2012, 125 - 147. Hsg.: Gerhard<br />

Wanner/Georg Jäger; Abkz.: CATHOMAS 2012.<br />

2 N. ZINGARELLI Vocabolario della lingua italiana. Novissima<br />

edizione interamente riveduta, 1944; pref. "La lingua è opera di<br />

civiltà e non di natura".<br />

3 A. DECURTINS, Gedanken zum Thema "Das Engadin und seine<br />

(literarische) Schrifttradition", in: BM 1/2004, 51 ff. - Zu Bifrun<br />

vgl. Maria H.J. FERMIN, Le vocabularie de Bifrun dans sa<br />

traduction des quatre évangiles, p.11 "Bifrun, le notaire<br />

montagnard, doit être considéré comme un génie linguistique<br />

hautement doué".<br />

4 Auf sozialpolitische, mitunter "manipulierende" Strategien der<br />

Soziolinguistik nimmt eine Schrift der Bank Julius Bär & Co AG<br />

<strong>vom</strong> 3. Mai 1979 Bezug ("Aus dem Wochenbericht der Bank<br />

Julius Bär & Co AG", Tiposkript, 4 Seiten). - Vgl. auch<br />

R.C.CORAY, Rumantsch Grischun: Sprach- und Machtpolitik in<br />

Graubünden, in: Ann. 123/2010, 147-165.<br />

5 C. FRY, Caspar Decurtins (1855-1916), Il campiun della<br />

Renaschientscha Romontscha. Ed. LR (ohne Datum).<br />

6 C. DECURTINS, Rätoromanische Chrestomathie, Bd. 4/2, S. 974-76.<br />

7 Bettina BERTHER, Gl`interess dils Romontschs sper la mar per ils<br />

Romontschs sin las alps, in: Ann. 123/2010, 47, bes. 72 ff.<br />

8 G. DEPLAZES, Geschichte der sprachlichen Schulbücher im<br />

romanischen Rheingebiet. Arbeiten zur Psychologie, Pädagogik und<br />

Heilpädagogik, Bd.1,93 ff. - Vgl. G.Gadola, Pader Baseli Carigiet e<br />

siu temps (1811-1883), in: Ischi XLVI, 81 f., ibid. 119 ff.


9 H. MORF, Die sprachlichen <strong>Ein</strong>heitsbestrebungen in der rätischen<br />

Schweiz, Bern 1888, bes. S. 41 ff.<br />

10 Il Sursilvan, Nr. 51, 1887, <strong>vom</strong> 16.12. Excurs rhätoromonsch : "La<br />

partischaunadad en favur d`ina part litigonta ei lient trop<br />

transparenta dall`ançetta tochen la fin".<br />

11 CATHOMAS 2012, 125 f.,129 f.<br />

12 Vgl. N. 7.<br />

13 Der Spiegel, Nr. 44 <strong>vom</strong> 28.10. 96, S.71 f. Logik von oben. (Ist<br />

die Reform vor den Gerichten zu stoppen? Verfassungsrechtler<br />

sehen Chancen).<br />

14 Tages-Anzeiger <strong>vom</strong> Donnerstag, 24.Mai 2007, Analyse 11. D.<br />

FOPPA: Seldwyla auf Rätoromanisch. Zur Rassismus-Klage gegen<br />

Urs Paul Engler.<br />

15 .Zürcher Boulevard-Blatt `2o Minuten`<strong>vom</strong> Freitag, den 5.Oktober<br />

2012. "Kommt Hilfe zu spät? FREIBURG-. Vor 30 Jahren wurde<br />

für die rätoromanischen Dialekte [sic] eine gemeinsame<br />

Schriftsprache geschaffen. Damit sollte unsere vierte Landessprache<br />

gerettet werden.<br />

16 Cathomas 2012, 141 f.<br />

17 Südostschweiz, Donnerstag, den 24. Mai 2012. Region, 3. Denise<br />

Alig: Volksinitiative zu Romanischunterricht wird vorbereitet.<br />

18 R.Vieli: Das Ringen der Rätoromanen um ihre Muttersprache, Sep.<br />

"Rätia", Februar 1938,12. - Vgl. auch La Quotidiana, <strong>vom</strong> 21.<br />

Februar 2011,11, A.DECURTINS, Scola primara romontscha e<br />

rumantsch grischun.<br />

19 M. Bundi, "Zur Situation des Rätoromanischen in Graubünden"<br />

(Dezember 2011, Kopie, 17 Seiten).

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