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Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem

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250 Hans-Günter Zmarzlik<br />

biologischen Organismus ähnlich und daher pr<strong>in</strong>zipiell den gleichen Gesetzen unterworfen<br />

sei. So gilt die Gesellschaft <strong>als</strong> e<strong>in</strong> Aggregat, dessen Natur sich aus der Natur<br />

se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heiten, der E<strong>in</strong>zelmenschen, ergebe. Die physiologisch nachweisbare Tendenz<br />

der Organismen, sich zu differenzierteren und immer höher <strong>in</strong>tegrierten<br />

Gebilden zu entwickeln, wird <strong>als</strong> Vervollkommnung gedeutet und beim Menschen<br />

aus der fortschreitenden Anpassung an die stets komplizierteren Verhältnisse der<br />

gesellschaftlichen Umwelt erklärt. Damit wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gleichsam automatisch sich<br />

vollziehenden, aufsteigenden Evolution das Grundgesetz gesehen, welches Naturgeschehen<br />

wie Gesellschaftsprozeß gleichermaßen regiert, so daß der Konkurrenzkampf<br />

der Individuen den immerwährenden zivilisatorischen und sittlichen Fortschritt<br />

verbürgt. Indem er zum Motor des humanitären Fortschritts wird, verblaßt<br />

er zu e<strong>in</strong>em agonalen Bewegungspr<strong>in</strong>zip.<br />

<strong>Der</strong> evolutionistische Optimismus, der die erste Phase der Anwendung darw<strong>in</strong>istischer<br />

Pr<strong>in</strong>zipien auf naturphilosophische Weltdeutung, Gesellschaftstheorie und<br />

-ethik charakterisiert, war <strong>in</strong> weit höherem Maße Ausdruck aufklärerisch-liberaler<br />

Zeitdoktr<strong>in</strong> <strong>als</strong> strenge Konsequenz von Darw<strong>in</strong>s Lehre. Denn deren Kern ist e<strong>in</strong><br />

grundsätzlich richtungsoffener, wertneutraler Selektionsvorgang. Wenn Darw<strong>in</strong><br />

auch <strong>in</strong> der „Verbesserung der meisten Organismen <strong>in</strong> bezug auf ihre Lebenseignung"<br />

5 e<strong>in</strong>e gewisse Richtung des Evolutionsprozesses auf höhere und leistungsfähigere<br />

Typen h<strong>in</strong> zugab, hat er es doch vermieden, daraus Wertkriterien abzuleiten.<br />

Er konstatierte im übrigen <strong>als</strong> unbestechlich-scharfsichtiger Beobachter, daß<br />

ohneh<strong>in</strong> nicht jede Entwicklung <strong>in</strong> der Natur Höherentwicklung bedeute. Genau<br />

betrachtet, ergab sich daher aus se<strong>in</strong>er Lehre, daß die Bewährung im Kampf ums<br />

Dase<strong>in</strong> lediglich die biologische Tauglichkeit unter den jeweiligen Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

bedeuten konnte. Somit läßt sich <strong>in</strong> spezifischerem S<strong>in</strong>ne von „<strong>Sozialdarw<strong>in</strong>ismus</strong>"<br />

erst sprechen, wo man Entwicklung nicht mehr mit Fortschritt gleichsetzt<br />

und die Selektionstheorie selbst zum zentralen Modell sozialen und politischen<br />

Denkens wird. Denn damit erst kommt das Besondere an Darw<strong>in</strong>s Lehre, die<br />

kausalmechanische Erklärung des Naturgeschehens durch Auslese- und Ausmerzevorgänge<br />

und das Absehen von aller Teleologie zu voller Wirkung.<br />

E<strong>in</strong>e Akzentverschiebung <strong>in</strong> dieser Richtung erfolgte, <strong>als</strong> im Zeitalter der <strong>in</strong>dustriellen<br />

Revolution, des Imperialismus und der Nationalitätenkampfe <strong>in</strong> Ostmitteleuropa<br />

mit dem Vertrauen auf die natürliche Harmonie und die automatische<br />

Aufwärtsbewegung des gesellschaftlichen Gesamtprozesses auch die liberale Doktr<strong>in</strong><br />

die Vorherrschaft e<strong>in</strong>büßte. Dieser Wandel des Zeitklimas, der sich im ganzen<br />

westlichen Kulturkreis <strong>in</strong> den 70er Jahren anbahnte und seit den 90er Jahren zu<br />

breiterer Wirkung kam, war durch e<strong>in</strong>e Naturalisierung des politischen Denkens<br />

und e<strong>in</strong>e Brutalisierung des politischen Stils charakterisiert. Dies drückt sich <strong>in</strong> den<br />

Schriften sozialdarw<strong>in</strong>istischer Autoren mit besonderer Schärfe aus. Was eben noch<br />

<strong>als</strong> freie Konkurrenz der Individuen um den Preis des Tüchtigsten und sittlich<br />

Besten hatte verstanden werden können, wird nun im wortwörtlichen S<strong>in</strong>ne <strong>als</strong><br />

5 Zitiert nach Julian S. Huxley, Darw<strong>in</strong> und der Gedanke der Evolution, <strong>in</strong>: Heberer/<br />

Schwanitz, a. a. O., S. 3.

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