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Statement Markus Grübel MdB, Kommission sexueller Missbrauch

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Pressekonferenz am 19. April 2012<br />

zu den Vorwürfen gegenüber dem ehemaligen Kinderheim St. Josef<br />

in Gutenzell-Hürbel<br />

<strong>Statement</strong> von <strong>Markus</strong> <strong>Grübel</strong>, <strong>MdB</strong>/CDU,<br />

Vorsitzender der <strong>Kommission</strong> <strong>sexueller</strong> <strong>Missbrauch</strong> der Diözese Rottenburg-<br />

Stuttgart<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

am 4. August 2011 erschien in der STUTTGARTER ZEITUNG ein Beitrag mit dem<br />

Titel „Freunde in der Dunkelheit“. Darin schildern drei ehemalige Heimkinder des<br />

einstigen Kinderheims St. Josef in Gutenzell-Hürbel ihre dortigen Erlebnisse. Kurz<br />

darauf, am 14. September 2011, wurde dieser Beitrag in überarbeiteter Version<br />

auch in ZEIT online veröffentlicht, später schlossen sich SWR-Hörfunk und<br />

-Fernsehen an, allerdings ohne die Aussagen über den Kinderfriedhof in Hürbel<br />

aufzugreifen, auf die ich etwas später zu sprechen komme.<br />

Die Vorwürfe der drei ehemaligen Heimkinder lassen sich im Wesentlichen in drei<br />

Punkten zusammenfassen:<br />

• Das Kinderheim St. Josef wird als „Stätte der Kindheitsschrecken“ bezeichnet. In<br />

Internetbeiträgen unter www.netzwerkb.org vom 11. August, vom 30. September<br />

und vom 12. Oktober 2011 wird von „katholischen“ bzw. „kirchlichen<br />

Konzentrationslagern“ gesprochen, in denen gravierende Misshandlungen,<br />

Essensentzug und Folter stattgefunden haben sollen. „Wir hatten kein Spielzeug,<br />

keine Privatsphäre. Zuneigung gab’s nicht, nur Schläge“, kann man in dem<br />

Beitrag der STUTTGARTER ZEITUNG lesen. Der Kontakt zu den Eltern, sei<br />

unterbunden, ja noch mehr: sie seien „ihrer Familien beraubt“ worden.


• Ein zweiter Vorwurf bezieht sich auf angeblichen Medikamentenbissbrauch mit<br />

den damals gebräuchlichen Psychopharmaka wie Nobrium, Valium und Librium.<br />

Heimkinder, so wird berichtet, mussten kleineren Kindern nachts diese<br />

Medikamente austeilen, wenn diese unruhig waren und nicht schlafen konnten.<br />

„Wer die Psychopharmaka geschluckt hatte, wurde schnell ruhig“, ist zu lesen.<br />

• Der dritte, der gravierendste Vorwurf spricht von einem Kinderfriedhof bei dem<br />

Heim, angeblich ein für die Kinder verbotener Ort, den zu besuchen eine<br />

Mutprobe darstellte. Darauf hätten weiß gekalkte Grabkreuze ohne Namen<br />

gestanden. An die 50 Kreuze hätten die Zeugen des Berichts gesehen, aber<br />

erfahren, dass es einmal viel mehr gewesen seien. Die genannten<br />

Internetbeiträge sprechen davon, „Kleinkinder und Säuglinge seien anonym und<br />

ohne Würde verscharrt“ worden; in Hürbel seien 75 Prozent der Säuglinge<br />

gestorben. Es scheine kein Verzeichnis für den Kinderfriedhof zu geben, heißt es<br />

in dem Pressebeitrag. Die drei Gewährsleute seien davon überzeugt,<br />

„Überlebende systematischer Misshandlungen zu sein, von denen tödliche Gefahr<br />

ausging“.<br />

Sie verstehen, dass derart schwer wiegende Vorwürfe für die Franziskanerinnen von<br />

Bonlanden, Trägerorganisation des Kinderheims St. Josef, für die Diözese<br />

Rottenburg-Stuttgart und nicht zuletzt für die <strong>Kommission</strong> <strong>sexueller</strong> <strong>Missbrauch</strong> der<br />

Diözese Rottenburg-Stuttgart so alarmierend waren, dass eine sorgfältige<br />

Untersuchung selbstverständlich war. Die Diözese hat daher auf Antrag der<br />

<strong>Kommission</strong> ihren Diözesanhistoriker, Herrn Dr. Stephan Janker, mit den<br />

Recherchen beauftragt. Für seine minutiöse Spurensuche und qualifizierte<br />

historische Aufarbeitung danke ich ihm herzlich. Auch die Informationen und<br />

Kenntnisse eines <strong>Kommission</strong>smitglieds, des Biberacher Kinder- und<br />

Jugendpsychiaters Dr. Christoph Funk, wurden herangezogen. In ebenso<br />

dankenswerter Weise kooperierte die Ordensleitung der Bonlandener<br />

Franziskanerinnen sowie Bürgermeister Andreas Merkle und die<br />

Gemeindeverwaltung von Gutenzell-Hürbel, die uns alle verfügbaren Akten zur<br />

Verfügung gestellt haben und jederzeit zur Auskunft bereit gestanden sind.<br />

Einsicht in diese Akten haben übrigens auch die drei ehemaligen Heimkinder, die<br />

heutigen Informanten, bekommen. Ihr Vorwurf, es gebe zu den genannten<br />

2


Vorgängen keine oder nur sehr lückenhafte Unterlagen, ist daher schwer<br />

nachvollziehbar.<br />

Ich möchte auf einige der schwerwiegendsten Vorwürfe im Einzelnen eingehen;<br />

ausführliche ergänzende Informationen können gerne auf Nachfrage auch die Herren<br />

Dr. Janker und Dr. Funk sowie Frau Generaloberin Angelika Maiß geben.<br />

1. Zur Aktenlage bezüglich der Kinder<br />

Das Kinder-Asyl St. Josef in Hürbel wurde am 15. Oktober 1908 durch den<br />

Rottenburger Bischof Paul Wilhelm von Keppler als Ort der Hilfe für Säuglinge und<br />

Kleinkinder eröffnet. Bis zum Jahr 1956 waren dort ausschließlich Säuglinge ab dem<br />

dritten Lebensmonat, Kleinkinder sowie Kinder im vorschulpflichtigen Alter<br />

untergebracht. Nach 1956 wurde zusätzlich eine Gruppe eingerichtet, die in Hürbel<br />

die Grundschule besuchte.<br />

Die Heimkinder waren vielfach Kinder von ledigen Müttern; in den Kriegs- und<br />

Nachkriegsjahren der beiden Weltkriege aber auch Kinder, die in den schweren<br />

Notlagen dieser Zeiten auf einen Ort angewiesen waren, an dem sie aufwachsen<br />

konnten.<br />

Ab 1979 wurden keine neuen Kinder mehr aufgenommen, im Juli 1980 verließen die<br />

letzten Jugendlichen das Haus. Nach dem Verlauf der Immobilien kehrten die letzten<br />

Schwestern am 12. Mai 1981 ins Mutterhaus in Bonlanden zurück. Die damalige<br />

Generaloberin protokollierte – so der letzte Eintrag im Tagebuch – „im Namen<br />

Gottes“ die „Aufhebung des Konvents St. Josef, Hürbel“.<br />

Die 4.200 Kinder, die in diesen 72 Jahren im Kinderheim St. Josef lebten, sind alle<br />

lückenlos und mehrfach erfasst: Aufnahme, Entlassung und weiterer Verbleib; die<br />

familiären und sozialen Hintergründe, Schulbesuch und Schulerfolge, Elternkontakte,<br />

Erkrankungen und ärztliche Maßnahmen u. v. a. m. Auch jeder Todesfall ist mit<br />

Namen und Todesumständen dokumentiert.<br />

3


Das umfangreiche Quellenmaterial, das wir dafür ausgewertet haben, ist in der<br />

Pressemappe dokumentiert.<br />

2. Erziehungsmethoden und Misshandlungsvorwürfe<br />

Dass die Erziehungsmethoden in der Heimerziehung bis zur Heimreform in den<br />

1970-er Jahren oft keineswegs unseren heutigen Vorstellungen von einer kind- und<br />

jugendgerechten Pädagogik entsprochen haben, bestreitet niemand.<br />

Die Diözese Rottenburg-Stuttgart hat dazu unter der federführenden Verantwortung<br />

von Frau Ordinariatsrätin Dr. Irme Stetter-Karp, der Leiterin der Hauptabteilung der<br />

Caritas, selbst eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben, die im<br />

Frühjahr 2011 unter dem Titel „Die Zeit heilt keine Wunden“ veröffentlicht und am 4.<br />

April 2011 in Stuttgart in einer Pressekonferenz vorgestellt worden ist. Was auch<br />

immer die Ursachen dafür im Allgemeinen und für das pädagogische Fehlverhalten<br />

im Einzelfall waren – mangelnde Ausbildung des pädagogischen Personals,<br />

Überforderung, moralischer Rigorismus oder gar Sadismus –, nichts vermag das<br />

Unrecht zu entschuldigen, das Kindern und Jugendlichen oftmals angetan worden<br />

ist. Vieles ist nie wieder gut zu machen, und viele leiden ein Leben lang darunter. Es<br />

beschäme ihn zutiefst, dass im Verantwortungsbereich der Kirche damals so<br />

schlimme Dinge geschehen konnten, hat Bischof Dr. Gebhard Fürst bei dieser<br />

Pressekonferenz betont. Und weiter wörtlich: „Ich bitte die ehemaligen Heimkinder<br />

persönlich und im Namen der Diözese um Vergebung. Ich hoffe, dass sie das hören<br />

und annehmen können.“<br />

Daran sind keine Abstriche zu machen. Dennoch stellt sich die Frage, ob und in<br />

welcher Weise dies für das Kinder-Asyl und (erst) seit 1956 das Kinderheim St. Josef<br />

in Hürbel zutrifft.<br />

Die Aktenlage bestätigt dieses Bild jedenfalls nicht. Fotos von Heimkindern, die diese<br />

später – als Erwachsene – den Schwestern zur Erinnerung zugesandt haben,<br />

erzählen eher Geschichten von unbeschwertem Alltag, von Ausflügen, von Festen.<br />

Wenn ich mir eine persönliche Bemerkung erlauben darf: Ich selbst hatte als Kind<br />

des Öfteren Gelegenheit, das Kinderheim in Hürbel zu besuchen, weil meine jüngere<br />

Schwester dort oft die Ferien verbrachte. Und ich kann mich an vieles erinnern, nur<br />

4


nicht daran, dass dieses Heim für die Kinder ein Konzentrationslager gewesen sein<br />

soll.<br />

Die Schilderung der Atmosphäre durch die in der STUTTGARTER ZEITUNG zu Wort<br />

gekommenen ehemaligen Heimkinder ist denn auch keineswegs durchweg negativ.<br />

Einige Schwestern werden ausdrücklich mit guten Erinnerungen in Verbindung<br />

gebracht. Die Kritik konzentriert sich nach Ausweis der Erinnerungsberichte über drei<br />

„Bewohner-Generationen“ hinweg vor allem auf eine Schwester mit Namen Remigia<br />

(gelegentlich erscheint sie auch irrtümlich unter den Namen Emidia oder Regina). Sie<br />

war seit Kriegsende bis 1972 in dem Heim und nach 1956 auch die verantwortliche<br />

Gruppenleiterin für die damals gegründete „Schülergruppe“, der später auch die<br />

Informanten der Medienberichte angehörten. Sie und eine weitere Schwester, die<br />

ebenfalls in der Gruppe tätig war, werden auch von den Mitschwestern kritisch<br />

beurteilt.<br />

Wir wissen allerdings auch von einer ehemaligen Heimbewohnerin, dass sie bis<br />

heute „auf Sr. Remigia schwört“ und nichts Negatives auf sie kommen lässt.<br />

Herr Dr. Janker und Herr Dr. Funk hatten Gelegenheit, mit einer anderen ehemaligen<br />

Heimbewohnerin zu sprechen, die in einigen Schilderungen im Internet als die „rote<br />

Cilly“ erwähnt wird.<br />

Zu unserem Bedauern – obwohl es verständlich und zu respektieren ist – möchte sie<br />

ihre heutige Identität mit Rücksicht auf ihre Familie und ihr soziales Umfeld nicht<br />

öffentlich preisgeben. Diese heute etwa 60-jährige Dame pflegt einen guten Kontakt<br />

mit den Franziskanerinnen von Bonlanden. Nach ihrer Aussage hat sie sich mit<br />

Schwester Remigia nicht verstanden. „Ich wurde die „rote Cilly“ genannt, weil ich<br />

damals rötliche Haare hatte.“ „Ich war ein schlimmes Kind. Ich war nicht so brav wie<br />

der E.“ „Ich bin auch geschlagen worden. Ich habe ‚Scheiße gebaut’ und habe dafür<br />

Schläge gekriegt.“ „Das hat mit dem Stock sein können, auch mal ein Kleiderbügel.<br />

Es kam darauf an, was man gemacht hat.“<br />

Den Bericht in der STUTTGARTER ZEITUNG hält sie allerdings für „maßlos<br />

übertrieben“. Misshandlungen, wie sie sie nach Schilderungen in den<br />

5


Internetportalen www.ZEIT-online.de, www.SCHWÄBISCH.de und www.kinder-<br />

heim.de an ihr verübt worden sein sollen, bestreitet sie kategorisch. Im Gegenteil,<br />

sagt die spätere Erzieherin: „Ich würde heute wieder nach Hürbel gehen, weils gut<br />

war. Ein riesen Haus, nicht gegängelt worden – abgesehen von dem, wie man es<br />

heute macht.“<br />

Nicht auszuschließen ist, dass die Kinder und Jugendlichen durch den Besitzer des<br />

Hofs, auf dem sie arbeiten mussten, Gewalt erlebt haben.<br />

Keineswegs nachvollziehbar ist aber die oben zitierte Behauptung, der Kontakt zu<br />

den Eltern sei unterbunden worden. Uns liegen im Gegenteil in dem Fall des<br />

Informanten Dokumente vor, die dieser kennt und die belegen, dass zunächst ein<br />

regelmäßiger Kontakt mit Mutter und Schwester bestanden hat. Begegnungen und<br />

Besuche zu Hause wurden von den Schwestern sogar sehr gewünscht und<br />

gefördert. Ab 1972 fragen Mutter und Schwester nicht mehr nach ihm und lassen<br />

nichts mehr von sich hören. Es ist verständlich, dass der Junge darunter leidet und<br />

dass sich dies auch in den Erinnerungen des Erwachsenen eingeprägt hat.<br />

Nachweislich bedauern dies aber auch die Ordensschwestern sehr.<br />

3. Todesfälle und der Kinderfriedhof in Hürbel<br />

Was es mit dem Kinderfriedhof beim Kinderheim St. Josef in Hürbel auf sich hat, ist<br />

bestens dokumentiert. Zusammenfassend lässt sich vorab sagen, dass er in keiner<br />

Weise ein geheimer und verbotener Ort war, auf dem auf rätselhafte Weise zu Tode<br />

gekommene Kinder anonym und unwürdig verscharrt worden wären. Der Autor der<br />

entsprechenden Einträge in www.netzwerkb.org – identisch mit einem der<br />

Informanten für den Bericht in der STUTTGARTER ZEITUNG – behauptet in Hürbel<br />

eine Kindersterblichkeit von 75 Prozent. Das Dokument auf das er sich beruft, liegt<br />

der Pressemappe bei. Es bestätigt allerdings seine Aussage in keiner Weise,<br />

sondern belegt im Gegenteil, dass er es falsch interpretiert.<br />

6


Zunächst zu den Todesfällen insgesamt:<br />

Seit Errichtung des Kinderheims in Hürbel im Jahr 1908 bis zum Jahr 1970 sind von<br />

den 4.200 Kindern insgesamt 303 Kinder gestorben. Das entspricht über die 62<br />

Jahre hinweg einer Sterblichkeitsrate von durchschnittlich rund sieben Prozent.<br />

Tatsächlich konzentriert sich eine ausgesprochen hohe Kindersterblichkeit auf die<br />

Zeit zwischen 1908 und 1924. In diesem Zeitraum sterben 260 Säuglinge und<br />

Kleinkinder. Die höchste Rate mit dem Tod von 36 Kindern ist im Jahr 1914 zu<br />

verzeichnen.<br />

Aus dem damaligen Drama machte niemand ein Geheimnis. Im Gegenteil: In den<br />

seit 1910 veröffentlichten Jahresberichten berichtete an erster Stelle der Hausarzt.<br />

Die jeweiligen Hausärzte kamen immer ihrer Melde- und Berichtspflicht nach. Aus<br />

diesen Berichten, aus den Reaktionen der staatlichen Behörden und ihren auf ihre<br />

Einhaltung überwachten Empfehlungen an die Ordensleitung sowie schließlich aus<br />

den Berichten der Schwestern über die Todesursachen wissen wir, dass die<br />

bedrückende Zahl von Todesfällen in den 15 Jahren von 1908 bis 1924 auf Masern-<br />

Epidemien in den Jahren 1911, 1913, 1914 und 1923, auf eine Keuchhusten-<br />

Epidemie 1919/1920 und auf die Pandemie der „Spanischen Grippe“ in den Jahren<br />

1918/1919 zurückzuführen ist. Sie korrespondiert in dieser Zeit mit der<br />

Kindersterblichkeit auch außerhalb des Heims.<br />

Es gab dann während des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach noch einmal<br />

einen Anstieg der Sterblichkeitsrate im Hürbeler Heim. Nach 1950 verläuft sie völlig<br />

unspektakulär. Während des Heimaufenthalts der drei Informanten ab 1962 starben<br />

zwei Kinder in auswärtigen Kliniken.<br />

Die entsprechenden statistischen Informationen finden Sie in der Pressemappe.<br />

Nun zu dem Kinderfriedhof:<br />

Im Jahr 1916 stellte die bürgerliche Gemeinde aus Platzgründen einen Antrag auf<br />

Erweiterung des Gemeindefriedhofs. Zugleich wurde auch die Neuanlage eines<br />

7


Kinderfriedhofs für das Kinderheim St. Josef beantragt. Die vor der Errichtung des<br />

Kinderfriedhofs 169 verstorbenen Kinder aus dem Heim waren auf dem<br />

Gemeindefriedhof Hürbel bestattet worden, in einem eigenen Kindergräberfeld, das<br />

1964 geräumt wurde.<br />

Im November 1917 wurde der neue Kinderfriedhof eingeweiht. Das erste Kind – der<br />

Säugling Rosa – wurde dort am 24. Januar 1918 durch den Pfarrer von Hürbel<br />

beerdigt. Die letzte Beerdigung fand am 23. Dezember 1955 statt. Zwischen 1918<br />

und 1955 starben insgesamt 111 Kinder des Heims. Von ihnen wurden 101 auf dem<br />

Kinderfriedhof bestattet, die anderen – soweit feststellbar – in der Heimat ihrer Eltern.<br />

Die Gräber auf dem Hürbeler Kinderfriedhof wurden mit einem weißen Kreuz<br />

versehen, wie es zum Teil bis heute noch Landesbrauch ist.<br />

Der Kinderfriedhof wurde – nach Ablauf der vorgeschriebenen Totenruhe – an die<br />

Gemeinde Gutenzell-Hürbel verkauft, die dieses Areal für Wohnbebauung benötigte.<br />

Ich stelle diesen Rechercheergebnissen die Aussage der Informanten gegenüber, sie<br />

seien „Überlebende systematischer Misshandlungen“, „von denen tödliche Gefahr<br />

ausging“. Und ich frage mich, wie diese Aussagen zu bewerten sind.<br />

4. Zur medizinischen Situation und zum Vorwurf des Medikamentenmissbrauchs<br />

Das „Kinderasyl“ St. Josef hatte von Anfang an einen eigenen Hausarzt unter<br />

Vertrag. Das Heim unterlag sodann der Aufsicht durch das Gesundheitsamt<br />

Biberach. Seit 1958 wurden die jeweiligen Hausärzte auch durch Fachärzte für<br />

Pädiatrie, für Psychiatrie, durch Zahnärzte, HNO-, Augenärzte, Kieferorthopäden u.<br />

a. unterstützt. Nachweislich wurden die Indikationen der Fachärzte oft dem Rat der<br />

vertrauten Hausärzte vorgezogen. Außerdem unterlag das Heim der engmaschigen<br />

Kontrolle des Jugendamts sowie des Regierungspräsidiums Tübingen und des<br />

Diözesan-Caritasverbands als Fachaufsichtsinstitutionen. Deren Veränderungs- und<br />

Verbesserungsauflagen – deren Berechtigung durchaus begründet war – wurden<br />

durch die Ordensleitung aufgegriffen, nicht zuletzt durch die Anstellung einer Diplom-<br />

Psychologin im eigenen Haus.<br />

8


Es ist interessant, zu den Vorwürfen des Medikamentenmissbrauchs eine Zeitzeugin,<br />

die bereits erwähnte „rote Cilly“ zur Wort kommen zu lassen. In einem Gespräch am<br />

8. Februar 2012 berichtete diese: „Dr. N. war Hausarzt. Er kam donnerstags zur<br />

Sprechstunde, das Arztzimmer lag neben dem Besuchszimmer. Er führte die<br />

Impfungen durch. Medikamente gab es keine, man trank Tee und machte<br />

Wadenwickel. Wegen Röteln wurde ich in einem Zimmer oben isoliert, ich war sehr<br />

unglücklich, wollte bei den andern sein. Es gab Röteln, viele hatten Mumps.“<br />

Von Psychopharmaka weiß Cilly nichts. „Es gab keine beruhigten Kinder. Eine<br />

Medikamentenausteilung etwa beim Essen ist mir nicht in Erinnerung.“<br />

Es gibt in den Akten Arztbriefe, die belegen, dass Kinder mit besonders auffälligem<br />

Verhalten vom Hausarzt einem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie vorgestellt<br />

wurden und dass Psychopharmaka nur von Fachärzten verordnet wurden. Diese<br />

Briefe belegen auch, dass entsprechende Medikationen nach sorgfältiger Abwägung<br />

verordnet wurden. Die genannten Verordnungen halten sich an die Normen der<br />

Dosierung, wie sie auch in der Kinderheilkunde gegolten haben. Sie sind nach<br />

heutigen Erkenntnissen überholt. Sie entsprachen aber dem damaligen<br />

medizinischen Standard. Daraus den Vorwurf eines missbräuchlichen Verhaltens<br />

der Hürbeler Schwestern abzuleiten, wird weder den Fakten noch den Schwestern<br />

gerecht.<br />

***********<br />

Ich fasse zusammen: Wir haben die schwer wiegenden Vorwürfe gegen das einstige<br />

Kinderheim St. Josef in Hürbel und gegen die dort tätigen Ordensschwestern sehr<br />

ernst genommen und sind ihnen in sorgfältigen Untersuchungen nachgegangen, wie<br />

wir dies grundsätzlich bei Vorwürfen im Zusammenhang mit Misshandlung oder<br />

<strong>Missbrauch</strong> von Kindern und Jugendlichen tun.<br />

Dennoch ergeben sich in dem unfangreich vorhandenen Aktenmaterial auch bei<br />

sorgfältigster Recherche nicht nur keine Anhaltspunkte für diese Vorwürfe, vielmehr<br />

werden sie sogar weitestgehend widerlegt. Nachdem die Vorwürfe öffentlich<br />

9


vorgebracht worden sind, müssen jetzt auch die nachweisbaren Fakten öffentlich<br />

bekannt gemacht werden.<br />

• Dies gilt vor allem für den insinuierten Vorwurf, eine große Zahl von Kindern sei in<br />

Folge von schlechter Behandlung oder gar Misshandlung verstorben und<br />

„anonym und ohne Würde verscharrt“ worden. Vielmehr sind seit Bestehen des<br />

Heimes bis zu seinem Ende alle Todesfälle und Todesursachen lückenlos<br />

dokumentiert, ebenso die Bestattungen. Der allergrößte Teil dieser Sterbefälle<br />

liehgt in den Jahren zwischen 1908 und 1924, in der auch außerhalb des Heimes<br />

wegen Kriegsereignissen und Epidemien eine hohe Kindersterblichkeit zu<br />

verzeichnen ist. Während des Heimaufenthalts der drei Informanten sind drei<br />

Kinder in auswärtigen Kliniken gestorben – zwei davon in einer Zeit, als die<br />

Informanten noch Säuglinge waren.<br />

• Dem Vorwurf des Medikamentenmissbrauchs steht entgegen, dass Medikamente,<br />

die Kindern verabreicht wurden, von Fachärzten verordnet worden sind. Die<br />

entsprechenden ärztlichen Dokumente liegen uns vor. Dass manche Medikation<br />

aus heutiger medizinischer Sicht kritisch gesehen werden kann, ist eine andere<br />

Frage. Damals entsprach sie dem medizinischen Standard.<br />

• Bleibt der Vorwurf der quälenden Behandlung der Kinder. Subjektive<br />

Empfindungen und Erinnerungen sind schwer zu bewerten. Wir sehen klar, dass<br />

heute manches völlig inakzeptabel ist, was damals pädagogischer Alltag war.<br />

Sadistische Behandlung war freilich zu keiner Zeit akzeptabel. Es dürfte auch in<br />

Hürbel – selbst nach dem Zeugnis von Mitschwestern – sehr strenge Schwestern<br />

gegeben haben. Die Erinnerungen fokussieren sich im Wesentlichen auf eine<br />

Person. Aber selbst an diese Schwester gibt es sehr unterschiedliche und<br />

durchaus widersprüchliche Erinnerungen.<br />

Das sind die Fakten. Sie sind jederzeit nachprüfbar. Die Bewertung stelle ich Ihrem<br />

Urteil anheim.<br />

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

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