Der Narzisst: Die Wut - Buch.de
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<strong>Der</strong> <strong>Narzisst</strong>: <strong>Die</strong> <strong>Wut</strong><br />
Herr S. wur<strong>de</strong> in Nordafrika geboren und verbrachte, als<br />
jüngstes von sechs Kin<strong>de</strong>rn und einziger Sohn seiner Eltern,<br />
die Zeit bis zu seinem sechsten Lebensjahr fast ausschließlich<br />
in weiblicher Gesellschaft. Den sporadisch auftauchen<strong>de</strong>n<br />
Vater erinnerte er rückblickend nur in blitzlichtartigen<br />
Sequenzen als einen ihm frem<strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r mit Geschenken<br />
kam, von allen bewun<strong>de</strong>rt und bedient wur<strong>de</strong> und nach<br />
kurzer Zeit wie<strong>de</strong>r verschwand. <strong>Die</strong>se Besuche waren eher<br />
unangenehm: Während sich sonst alles um ihn drehte, wur<strong>de</strong><br />
er in Anwesenheit <strong>de</strong>s Vaters fast ignoriert und war daher<br />
recht zufrie<strong>de</strong>n, wenn <strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r verschwand.<br />
Als er das sechste Lebensjahr erreicht hatte, wur<strong>de</strong><br />
schlagartig alles an<strong>de</strong>res: Zuerst kam eine hektische Betriebsamkeit<br />
in die Großfamilie, dann wur<strong>de</strong> alles Mögliche<br />
gepackt, es gab einen tränenreichen Abschied von <strong>de</strong>r Großmutter<br />
und <strong>de</strong>n Tanten, und als wie<strong>de</strong>r Ruhe einkehrte,<br />
steckten alle in einer kleinen Wohnung mit drei Zimmern,<br />
draußen war es furchtbar kalt, er verstand nichts, wenn die<br />
Mutter ihn zum Einkaufen mitnahm, und <strong>de</strong>r „frem<strong>de</strong><br />
Mann“, <strong>de</strong>r doch sein Vater war, wohnte nun offenbar auf<br />
Dauer mit ihnen zusammen und war die wichtigste Person<br />
im Haushalt, die, nach <strong>de</strong>r sich alle richteten. Vorbei waren<br />
die sonnigen Zeiten, in je<strong>de</strong>r Hinsicht, und es wur<strong>de</strong> rasch<br />
klar, dass die Aussichten düster waren: Sie waren gekommen,<br />
um zu bleiben, da konnte er wüten und toben, so viel<br />
er wollte. Was zu Hause immer geholfen hatte, um seinen<br />
Willen durchzusetzen, funktionierte nun überhaupt nicht<br />
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er seinem Vater dann nach zwei Wochen klar und weigerte<br />
sich schlichtweg, dort noch einmal hinzugehen, nach<strong>de</strong>m<br />
er zuvor noch <strong>de</strong>m Chef gründlich seine Meinung gesagt<br />
hatte. Vorerst gab es dafür natürlich wie<strong>de</strong>r die üblichen<br />
Prügel, aber dann wur<strong>de</strong>n die Aussichten zunehmend rosig:<br />
Er konnte <strong>de</strong>n ganzen Tag tun, was er wollte, die<br />
Freun<strong>de</strong> waren großteils auch nicht so blöd, sich von irgen<strong>de</strong>inem<br />
Idioten herumkommandieren zu lassen, die<br />
Clique war ziemlich vollzählig erhalten, er verlebte drei<br />
nette Jahre, das Leben war schön.<br />
Und dann kam <strong>de</strong>r Hammer schlechthin: Er war, nichts<br />
Böses ahnend, nach Hause gekommen, und dort saß ein<br />
unglaublich wichtigtuerischer Typ, maximal zehn Jahre älter<br />
als er, <strong>de</strong>r sich als sein Cousin vorstellte und großspurig<br />
von <strong>de</strong>n drei Restaurants erzählte, die er in Deutschland<br />
betrieb. Anfangs dachte er sich noch nichts Schlimmes, bis<br />
klar wur<strong>de</strong>, dass <strong>de</strong>r ihn allen Ernstes mitnehmen wollte<br />
nach Deutschland; er sollte für <strong>de</strong>n Großkotz ein Restaurant<br />
leiten, irgendwo in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Pampa; da gab es<br />
garantiert gar nichts von all <strong>de</strong>m, was ihm lustig war, und<br />
<strong>de</strong>r Vater war wild entschlossen, das wur<strong>de</strong> ihm sehr rasch<br />
klar. Als Alternative blieb nur <strong>de</strong>r Auszug von zu Hause,<br />
und da dann sein Lebensunterhalt nicht mehr gesichert<br />
wäre, blieb ihm nichts an<strong>de</strong>res übrig, als mitzugehen.<br />
Deutschland entpuppte sich dann als durchaus brauchbar:<br />
Er hatte, als Chef eines Lokals, ungehin<strong>de</strong>rten Zugang zu<br />
Alkohol, fand auch rasch Anschluss und über die neuen<br />
Freun<strong>de</strong> Zugang zu einer tollen Sache: Drogen. Geld war<br />
kein Problem, das hatte er ja aus <strong>de</strong>m Lokal (aus <strong>de</strong>r Kas-<br />
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lieben immer noch ihre Wertgegenstän<strong>de</strong>, die er verkaufte.<br />
Wenn man das Ganze als eine Art Spiel betrachtete und<br />
<strong>de</strong>n Gewinn mit <strong>de</strong>m Einsatz abglich, dann war das Ergebnis<br />
im positiven Bereich, die Vorteile überwogen die Nachteile.<br />
Wenn sie meinte, ihn terrorisieren zu können, in<strong>de</strong>m<br />
sie ihn mit Eifersuchtsszenen belästigte o<strong>de</strong>r ihm Vorhaltungen<br />
machte (er hatte ein Erbstück ihrer Großmutter verkauft),<br />
dann ging er einfach, sie rief verlässlich wie<strong>de</strong>r an<br />
und bat ihn zurückzukommen. Bei solchen Gelegenheiten<br />
erklärte er ihr immer wie<strong>de</strong>r, dass die Schuld an allem alleine<br />
bei ihr liege, sie habe ihn zu <strong>de</strong>m gemacht, was er sei<br />
und müsse nun wohl o<strong>de</strong>r übel die Folgen tragen. Einmal<br />
schlug er sie, da hatte sie ihn erpressen wollen und ange<strong>de</strong>utet,<br />
ihn im Fall einer Trennung wegen seiner Drogengeschichten<br />
anzuzeigen; mit dieser klaren Sprache hatte er<br />
ihr ihre Unverschämtheit wohl ausgetrieben und das Thema<br />
<strong>de</strong>r angedrohten Anzeige ein für allemal geklärt.<br />
Als das Notarztteam, gerufen von einem aufgeregten,<br />
aber klar und <strong>de</strong>utlich artikulieren<strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r einen<br />
Blaulichteinsatz anfor<strong>de</strong>rte, an <strong>de</strong>r benannten Adresse eintraf,<br />
fand man dort zwei Personen vor: Am Esstisch <strong>de</strong>r<br />
or<strong>de</strong>ntlichen, aufgeräumten Wohnung (es hatte offenbar<br />
kein Kampf stattgefun<strong>de</strong>n) saß Herr S. und verlangte, dass<br />
man sofort einen Psychiater hole, da er soeben einen<br />
Schock erlitten habe und schnellstens Hilfe brauche. Dass<br />
diesem Wunsch nicht unmittelbar entsprochen wur<strong>de</strong>, lag<br />
an <strong>de</strong>r zweiten Person, einer jungen Frau. <strong>Die</strong>se lag nackt<br />
im Bett, inmitten von so viel Blut, dass alles Leben aus ihr<br />
ausgeronnen schien. Neben ihr auf <strong>de</strong>m Nachtkästchen lag<br />
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Narzissmus<br />
Narziss, <strong>de</strong>r selbstverliebte Göttersohn<br />
<strong>Der</strong> Begrif „Narzissmus“ bezieht sich auf Narkissos (Narziss),<br />
in <strong>de</strong>r griechischen Mythologie <strong>de</strong>r Sohn eines Flussgottes,<br />
<strong>de</strong>m seine Schönheit zum Verhängnis wur<strong>de</strong>. Allseits begehrt<br />
und umworben, wies er die Liebe einer Nymphe zurück und<br />
wur<strong>de</strong> von Nemesis (<strong>de</strong>r Göttin <strong>de</strong>s gerechten Zorns) mit un-<br />
ersättlicher Selbstliebe bestraft. Er verbrachte seine Tage mit<br />
<strong>de</strong>r Betrachtung seines Spiegelbilds im Wasser und ertrank<br />
bei <strong>de</strong>m Versuch, sich mit sich selbst zu vereinigen.<br />
<strong>Der</strong> heutige Begrifsgebrauch wur<strong>de</strong> geprägt von <strong>de</strong>r Sexu-<br />
alwissenschaft <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts, die damit ursprünglich<br />
eine Perversion <strong>de</strong>inierte, die sich aus <strong>de</strong>r nicht überwun<strong>de</strong>-<br />
nen normalen Entwicklungsstufe <strong>de</strong>r selbstbezogenen Libido<br />
entwickelt. Selbstliebe, eine notwendige Voraussetzung für die<br />
Liebe zum an<strong>de</strong>ren, wird hier zum Selbstzweck und zur Sack-<br />
gasse, in <strong>de</strong>r sich jegliches Han<strong>de</strong>ln an <strong>de</strong>n engen Grenzen <strong>de</strong>s<br />
Eigenbezugs erschöpft. Das Paradoxon <strong>de</strong>s Narzissmus liegt<br />
aber letztlich darin, dass eben dieses Selbst ohne tiefere und<br />
damit korrigieren<strong>de</strong> Beziehung zur Welt und zu an<strong>de</strong>ren ein<br />
unsicher <strong>de</strong>iniertes ist, ein brüchiges und unzuverlässiges. Wie<br />
das Spiegelbild im Wasser ist das Selbst zwar nicht greifbar,<br />
aber durch geringste Einlüsse störbar und dauernd bedroht.<br />
Eingeschlossen in <strong>de</strong>n beengten (und mit <strong>de</strong>r Zeit reichlich<br />
redundanten) Dialog mit sich selbst, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren als Mo-<br />
nolog erscheint, betritt <strong>de</strong>r <strong>Narzisst</strong> die Bühne als vermeint-<br />
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lich einziger Schauspieler in <strong>de</strong>r ewig gleichen Rolle, dul<strong>de</strong>t<br />
keinen Mitspieler neben sich und for<strong>de</strong>rt Applaus, ein Leben<br />
lang, bis zum häuig einsamen En<strong>de</strong>. Narzissmus ist hohle<br />
Grandiosität, Hülle ohne Kern, ist ein gasgefüllter Ballon, <strong>de</strong>r<br />
platzt, sobald man ihn ansticht, <strong>de</strong>r aber sich (und an<strong>de</strong>re) in<br />
<strong>de</strong>r Wucht <strong>de</strong>r Explosion zerstören kann.<br />
<strong>Der</strong> krankhafte Narzissmus<br />
Narzissmus in pathologischer Ausprägung ist letztlich immer<br />
selbst<strong>de</strong>struktiv und stellt die Betrofenen vor ein unlösbares<br />
Dilemma: Einerseits sind sie von ihrer grandiosen Einzigartig-<br />
keit so überzeugt, dass kein an<strong>de</strong>rer neben ihnen bestehen<br />
kann und also auch kein an<strong>de</strong>rer gut genug ist, um Beachtung<br />
o<strong>de</strong>r Rücksicht zu verdienen. An<strong>de</strong>rerseits benötigen sie ein<br />
Umfeld, das ihnen diese ihre Großartigkeit und Einmaligkeit<br />
dauernd bestätigt – einerseits nähren sie sich von Anbetung,<br />
an<strong>de</strong>rerseits verachten sie die Anbeten<strong>de</strong>n, was es mit <strong>de</strong>r Zeit<br />
schwierig machen kann, eine ausreichend große Schar von An-<br />
hängern um sich zu scharen. Dazu kommt noch die extreme<br />
Kränkbarkeit, die die inhaltliche Wahrnehmung auch konstruk-<br />
tiver, wohlmeinen<strong>de</strong>r Kritik verhin<strong>de</strong>rt und je<strong>de</strong>n Ratschlag als<br />
Rat-Schlag erscheinen lässt, als gezielten, in bösartiger Absicht<br />
versetzten Schlag, <strong>de</strong>n es natürlich mit Macht abzuwehren gilt.<br />
22<br />
Ein fast schon in die Umgangssprache eingegangener Fach-<br />
terminus ist die „narzisstische Kränkung“, ein Begrif, <strong>de</strong>r von<br />
Sigmund Freud geprägt wur<strong>de</strong> und das unerträgliche Ausei-<br />
nan<strong>de</strong>rklafen von i<strong>de</strong>alisiertem Selbstbild und gespiegelter
Realität bezeichnet. Freud benannte drei grundlegen<strong>de</strong> Krän-<br />
kungen <strong>de</strong>r gesamten Menschheit, nämlich die Erkenntnis<br />
<strong>de</strong>s Kopernikus, dass die Er<strong>de</strong> nicht das Zentrum <strong>de</strong>s Univer-<br />
sums darstellt, die (wenig schmeichelhafte) Ent<strong>de</strong>ckung Dar-<br />
wins, unsere vom Afen herleitbare Abstammung betrefend,<br />
und die Ent<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s Unbewussten, das uns die Herrschaft<br />
im eigenen Haus streitig zu machen scheint. (Heute wür<strong>de</strong> er<br />
wohl auch noch die aktuell mit neurobiologischen Metho<strong>de</strong>n<br />
und missionarischer Vehemenz geführte Attacke gegen die<br />
Willensfreiheit dazuzählen, die uns auch noch die letzten Res-<br />
te unserer Souveränität abzusprechen scheint.)<br />
Das extrem hohe Maß an Empindsamkeit, das freilich aus-<br />
schließlich im <strong>Die</strong>nst <strong>de</strong>r eigenen Sache zum Tragen kommt,<br />
macht <strong>Narzisst</strong>en zu prekären Partnern und Vorgesetzten<br />
und erfor<strong>de</strong>rt ein beständiges „Gehen auf Zehenspitzen“,<br />
widrigenfalls sich die gesamte Wucht <strong>de</strong>r narzisstischen <strong>Wut</strong><br />
gegen das nichts ahnen<strong>de</strong> Gegenüber richten kann.<br />
Falsche Demut<br />
Schopenhauer formuliert: „Sie haben die zarteste Empind-<br />
lichkeit gegen je<strong>de</strong>s, was auch nur auf die entfernteste und<br />
indirekte Weise ihre kleinliche Eitelkeit verletzen o<strong>de</strong>r irgend-<br />
wie nachteilig ihr höchst pretiöses Selbst relektieren könnte.“<br />
Was hier <strong>de</strong>utlich zu hören ist, ist die Verachtung, mit <strong>de</strong>r<br />
Schopenhauer die solcherart Aufälligen be<strong>de</strong>nkt. <strong>Die</strong> Verach-<br />
tung wie<strong>de</strong>rum ist die Steigerungsstufe <strong>de</strong>s Misstrauens, mit<br />
<strong>de</strong>m wir Menschen mit einem positiven Selbstbild gerne be-<br />
23
gegnen, falls sie es wagen, sich und ihre Qualitäten auch vor<br />
an<strong>de</strong>ren positiv zu beschreiben. Wo die <strong>de</strong>r christlichen Tradi-<br />
tion zuzurechnen<strong>de</strong> Demut als Tugend angesehen wird, ist ihr<br />
Gegenteil, die „superbia“ (Hochmut), eines <strong>de</strong>r sieben Haupt-<br />
laster (gemeinsam mit Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei und<br />
Wollust) und eine wesentliche Voraussetzung für die Bege-<br />
hung von Todsün<strong>de</strong>n. <strong>Die</strong> (oftmals mit einer gehörigen Porti-<br />
on Falschheit) vorgetragene Selbstschmähung in<strong>de</strong>t hier we-<br />
sentlich mehr Beifall als eine gesun<strong>de</strong> Achtung seiner selbst,<br />
die ja paradoxerweise die beste Versicherung wäre gegen die<br />
Ausbildung einer krankhaften, aber hohlen Selbstüberhö-<br />
hung. Nicht vor <strong>de</strong>nen, die im Wissen um ihre Fähigkeiten<br />
selbstbewusst auftreten, müssen wir auf <strong>de</strong>r Hut sein, weit<br />
eher ist Misstrauen dort angebracht, wo ein Mensch keine Ge-<br />
legenheit auslässt, sich unbe<strong>de</strong>utend und klein zu präsentie-<br />
ren (und dabei doch meist auf die lautstarke Bestätigung <strong>de</strong>s<br />
Gegenteils hoft): Kaum jemand ist so groß, dass er sich <strong>de</strong>rart<br />
klein machen müsste, um für an<strong>de</strong>re erträglich zu sein. „Self-<br />
compassion“, die Fähigkeit, sich selbst zu achten und entspre-<br />
chend achtsam zu behan<strong>de</strong>ln, ist Teil je<strong>de</strong>s gesun<strong>de</strong>n Persön-<br />
lichkeitsinventars, ihr Fehlen die tiefste Wurzeln allen Übels.<br />
Deinition <strong>de</strong>r narzisstischen Störung<br />
Auch wenn <strong>de</strong>r Narzissmus heute in aller Mun<strong>de</strong> zu sein<br />
scheint und uns immer wie<strong>de</strong>r bestätigt wird, dass wir „im<br />
Zeitalter <strong>de</strong>s Narzissmus“ leben, herrscht doch nach wie vor<br />
wissenschaftliche Uneinigkeit über die Validität <strong>de</strong>s Kon-<br />
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zepts. Als Persönlichkeitsstörung, also als durchgängiges und<br />
sozial unverträgliches Muster von Wahrnehmen, Denken,<br />
Fühlen und Beziehungsgestaltung, in<strong>de</strong>t sich die narzissti-<br />
sche Störung im Diagnosemanual <strong>de</strong>r American Psychiatric<br />
Association, <strong>de</strong>m DSM-IV, und ist hier <strong>de</strong>iniert als ein tief-<br />
greifen<strong>de</strong>s Muster von Großartigkeit, Bedürfnis nach Bewun-<br />
<strong>de</strong>rung und Mangel an Empathie. Min<strong>de</strong>stens fünf <strong>de</strong>r fol-<br />
gen<strong>de</strong>n Kriterien müssen erfüllt sein:<br />
1. hat ein grandioses Gefühl <strong>de</strong>r eigenen Wichtigkeit (über-<br />
treibt die eigenen Leistungen und Talente; erwartet,<br />
ohne entsprechen<strong>de</strong> Leistung als überlegen anerkannt<br />
zu wer<strong>de</strong>n);<br />
2. ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Er-<br />
folgs, Macht, Glanz, Schönheit o<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>aler Liebe;<br />
3. glaubt von sich, „beson<strong>de</strong>rs“ und einzigartig zu sein und<br />
nur von an<strong>de</strong>ren beson<strong>de</strong>ren o<strong>de</strong>r angesehenen Perso-<br />
nen (o<strong>de</strong>r Institutionen) verstan<strong>de</strong>n zu wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r nur<br />
mit diesen verkehren zu können;<br />
4. verlangt nach übermäßiger Bewun<strong>de</strong>rung;<br />
5. legt ein Anspruchs<strong>de</strong>nken an <strong>de</strong>n Tag, d.h. übertriebene<br />
Erwartungen an eine beson<strong>de</strong>rs bevorzugte Behand-<br />
lung o<strong>de</strong>r automatisches Eingehen auf die eigenen Er-<br />
wartungen;<br />
6. ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeute-<br />
risch, d.h. zieht Nutzen aus an<strong>de</strong>ren, um die eigenen Zie-<br />
le zu erreichen;<br />
7. zeigt einen Mangel an Empathie: Ist nicht willens, die<br />
Gefühle und Bedürfnisse an<strong>de</strong>rer zu erkennen o<strong>de</strong>r sich<br />
mit ihnen zu i<strong>de</strong>ntiizieren;<br />
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8. ist häuig neidisch auf an<strong>de</strong>re o<strong>de</strong>r glaubt, an<strong>de</strong>re seien<br />
26<br />
neidisch auf ihn;<br />
9. zeigt arrogante und überhebliche Verhaltensweisen<br />
o<strong>de</strong>r Haltungen.<br />
Auch über die Verbreitung <strong>de</strong>r Störung herrscht Unklarheit:<br />
Während die Prävalenz (d.h. die Häuigkeit <strong>de</strong>s Vorliegens <strong>de</strong>r<br />
Störung) in Feldstudien unter 1 Prozent liegt, wer<strong>de</strong>n teilwei-<br />
se weit höhere Zahlen genannt. In einer Studie <strong>de</strong>r Universi-<br />
tät Bochum, durchgeführt an 250 Stu<strong>de</strong>nten, die in Bezie-<br />
hungen lebten, fan<strong>de</strong>n sich gar bei je<strong>de</strong>m fünften Teilnehmer<br />
(also bei 20 Prozent) Hinweise auf eine Selbstüberschätzung<br />
im Sinne einer narzisstischen Störung, die dazu führte, dass<br />
<strong>de</strong>r eigene Beitrag zur Partnerschaft und die eigene Attrakti-<br />
vität weit höher veranschlagt wur<strong>de</strong>n als jene <strong>de</strong>s Partners.<br />
<strong>Narzisst</strong>en im Strafvollzug<br />
<strong>Die</strong> höchsten Zuschreibungsraten fän<strong>de</strong>n sich allerdings mit<br />
Sicherheit bei Menschen, die sich einer strafrechtlichen Be-<br />
gutachtung o<strong>de</strong>r einer von Gesetz wegen verordneten Thera-<br />
pie unterziehen müssen: Hier entsteht bisweilen <strong>de</strong>r Eindruck,<br />
dass je<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch gegen die Deutungshoheit <strong>de</strong>s Fach-<br />
personals, je<strong>de</strong>s Beharren auf eigenen Positionen, je<strong>de</strong>s Be-<br />
streben, das Eigene im Übermaß <strong>de</strong>s Fremdbestimmten zu<br />
behaupten, kurz alles, was ein gesun<strong>de</strong>s Selbstverständnis<br />
auszeichnet, schon ausreicht, um als narzisstisch etikettiert zu<br />
wer<strong>de</strong>n: <strong>Der</strong> Klient will nicht glauben, dass <strong>de</strong>r Therapeut sein<br />
Zuspätkommen zur Therapiesitzung weit besser erklären
kann als er selbst? Er beharrt auch im Strafvollzug auf <strong>de</strong>n ihm<br />
gesetzlich zustehen<strong>de</strong>n Rechten? Er legt auch im Gefängnis<br />
Wert auf ein ansprechen<strong>de</strong>s Äußeres? Vieles, was hier die Zu-<br />
schreibung einer narzisstischen Störung (und damit auch ei-<br />
nes negativen Prognosefaktors) begrün<strong>de</strong>t, ist nichts an<strong>de</strong>res<br />
als <strong>de</strong>r Versuch, das durch <strong>de</strong>n Freiheitsentzug ohnehin lä-<br />
dierte Selbstwertgefühl zumin<strong>de</strong>st in Rudimenten zu bewah-<br />
ren und sich ein Selbstkonzept zu erhalten, das Selbstachtung<br />
ermöglicht. Im Gegenzug ist das institutionelle Beharren auf<br />
absoluter Dominanz und absoluter Unterwerfung <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>-<br />
ren weit eher <strong>de</strong>m narzisstischen Spektrum zuzurechnen,<br />
ebenso wie die Intoleranz für an sich harmlose Schwächen<br />
wie Eitelkeit o<strong>de</strong>r Wichtigtuerei bei an<strong>de</strong>ren.<br />
Eine spezielle Ausformung <strong>de</strong>s Narzissmus scheint aller-<br />
dings unter geschlossenen Bedingungen wirklich weit besser<br />
aufgehoben als in <strong>de</strong>r Unbegrenztheit <strong>de</strong>r frei wählbaren so-<br />
zialen Interaktion. Bei dieser Gruppe von Menschen han<strong>de</strong>lt<br />
es sich um Personen mit einer so genannten malignen (bös-<br />
artigen) narzisstischen Störung, die über das bekannte nar-<br />
zisstische Inventar hinaus auch noch dissoziale Verhaltens-<br />
muster und eine grundlegend paranoi<strong>de</strong>, also extrem<br />
misstrauische Haltung beinhaltet. Wo schon <strong>de</strong>r „normale“<br />
<strong>Narzisst</strong> anfällig ist für Kränkungen aus banalem Anlass, po-<br />
tenziert sich das Kränkungsrisiko hier durch eine Grundhal-<br />
tung, die je<strong>de</strong> noch so neutrale Äußerung als gezielte Beleidi-<br />
gung interpretiert, und verbin<strong>de</strong>t sich mit einem gehörigen<br />
Ausmaß an Aggression und <strong>de</strong>r (dissozialen) Bereitschaft,<br />
diese auch je<strong>de</strong>rzeit skrupellos auszuleben, zu einer hochbri-<br />
santen Mischung. <strong>Wut</strong>, Hass und ein ausgeprägter, durch<br />
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keine innere Gewissensinstanz sanktionierter Sadismus kön-<br />
nen sich gegen je<strong>de</strong>n vermeintlichen Gegner, aber auch ge-<br />
gen beliebig verfügbare und leicht unterwerfbare an<strong>de</strong>re<br />
richten und in <strong>de</strong>r erlebten Befriedigung <strong>de</strong>r Machtausübung<br />
eine Eigendynamik entwickeln, die sich unter an<strong>de</strong>rem in<br />
Serienmor<strong>de</strong>n manifestiert.<br />
28