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<strong>Jun</strong>i 2010 – 02/10<br />
■ VON CHRISTIAN GLANZ<br />
Im Erfolgsmusical „Fiddler on the Roof“ (zu Deutsch „Anatevka“)<br />
beruft sich der streng gläubige Milchbauer Tevje wiederholt auf<br />
die „Tradition“, wenn es darum geht, die ihm zunehmend unverständlichen<br />
Verhaltensweisen seiner heranwachsenden Töchter zu<br />
beurteilen. Freilich beschleicht ihn dabei schon immer stärker der<br />
Verdacht, dass er seine „Tradition“ wohl kritisch hinterfragen wird<br />
müssen (was er dann auch tut). Gustav Mahler wiederum soll gesagt<br />
haben: „Tradition ist Schlamperei.“<br />
Wir lassen einmal unberücksichtigt, ob und wie diese Aussage tatsächlich<br />
gefallen ist, und fragen uns, was damit gemeint sein könnte:<br />
Mahler war ja nicht nur Komponist, sondern vor allem auch<br />
Dirigent. Dabei ging es ihm besonders darum, die Substanz jeglicher<br />
Komposition vollkommen deutlich zu machen. „Liebgewordene“<br />
Traditionen der Aufführungspraxis standen ihm da oft im Weg und<br />
er kämpfte dagegen an. Aus diesem Blickwinkel ist dann vermeintlich<br />
wohlbegründete Tradition tatsächlich oft nur Denkfaulheit und<br />
Schlamperei. „Tradition“ erscheint nun gerade im blasmusikalischen<br />
Zusammenhang immer wieder.<br />
Beginnen wir beim musikalisch Unkonkretesten: Politiker -<br />
ansprachen beinhalten sehr häufig das mit warmen Worten vorgetragene<br />
Lob des Blasmusikwesens für die unverbrüchliche „Pflege<br />
der Tradition“ bei gleichzeitiger Auf ge schlossenheit für die „Gegen -<br />
wart“ (manchmal sogar für die „Zu kunft“). Das könnte uns zunächst<br />
mehr oder weniger egal sein, weil ja derartige Wort spenden<br />
ohnehin nur dann erfolgen, wenn es darum geht, „öffentlich präsent“<br />
zu sein oder (wie in Vor wahlkampfzeiten) potenzielles Wahl -<br />
volk zu umgarnen, ansonsten aber für die solcherart Be lobigten<br />
meistens folgenlos bleiben. Aber auch im formulierten Selbst -<br />
verständnis des Blasmusikwesens erscheint nicht selten diese<br />
Begriffskombination von „Tradition“ und „Aktualität“, hier als eine<br />
Art „selbstgestellter Aufgabe“, an deren Umsetzung man sich<br />
durchaus auch messen lassen will.<br />
Neujahrskonzert und Radetzkymarsch<br />
Schließlich tritt uns die „Tradition“ machtvoll im praktizierten<br />
Repertoire entgegen: „Traditionsmärsche“ stehen am Beginn und<br />
am Ende von Konzerten, die Auseinandersetzung mit der „Wiener<br />
Musik tradition“ als identitätsstiftendes Modell erscheint als wichtiges<br />
Anliegen des Blasmusikverbandes. Konzertberichte feiern die<br />
Werke der „Tradition“ stets als besonders akklamierte Höhepunkte<br />
der Programme, wobei das strukturbestimmende Vorbild der<br />
„Neujahrskonzerte“ der Wiener Philharmoniker mit „Donauwalzer“<br />
und „Radetzkymarsch“ am Schluss überdeutlich ist. Auch im engeren<br />
Sinn hat das Konzertrepertoire bereits seine „Traditionen“, etwa<br />
im Fall von Sepp Tanzers Suite „Tirol 1809“.<br />
Es scheint also einen mehr oder weniger fest umrissenen Bestand<br />
an Kompositionen aller Gattungen zu geben, die das „traditionelle<br />
Repertoire“ ausmachen. Früher hat man so etwas einen „Kanon“<br />
genannt und damit in Anlehnung an die griechische Wurzel des<br />
Begriffs einen allgemein bekannten und vorbildlichen Werkbestand<br />
gemeint, der auch Maßstab und Vorbild für aktuelles Schaffen sein<br />
soll. Ich möchte in der nächsten Zeit in lockerer Folge aufzeigen,<br />
welche Fragen und Probleme sich für das Blasmusikrepertoire und<br />
die Blasmusikpraxis aus diesen Zusammenhängen ergeben können.<br />
Beginnen wir gleich mit einem ganz besonders häufig genannten<br />
Blasmusik in der Steiermark<br />
Tradition: „Auftrag“ oder „Schlamperei“?<br />
Bezug, der sogenannten „altösterreichischen Tradition“. Bis heute<br />
stammt ein beträchtlicher Anteil der in den Marschbüchern präsenten<br />
Kompositionen aus diesem „altösterreichischen“ Repertoire.<br />
Bekanntlich war dieses Repertoire in engem funktionellem Zu -<br />
sammenhang entstanden, nämlich mit der Militärmusik. In der zu<br />
Ende gehenden k.u.k. Monarchie, die vor allem an starken Ze -<br />
rfallserscheinungen litt, sollte das Militär als Ganzes und die<br />
Militärmusik im Speziellen als Symbol des Staats ganzen wirken, somit<br />
das schon Auseinanderstrebende nach Mög lichkeit zusammenhalten.<br />
Kein Wunder also, dass „Viribus unitis“ („Mit vereinten<br />
Kräften“, nicht zufällig der Wahlspruch des Langzeitkaisers Franz<br />
Joseph I.) auch zu Titelehren im Marsch repertoire kam.<br />
Von den Türkenkriegen bis zur Schlacht an der Piave<br />
In Eugen Brixels bis heute zu Recht als Standard werk geltender<br />
Arbeit über die Geschichte der österreichischen Militärmusik befindet<br />
sich ein umfangreicher Anhang, der die zahlreichen Märsche<br />
auflistet, die zumeist von den Regiments kapellmeistern selbst für<br />
ihre über die gesamte Monarchie verteilten Kapellen komponiert<br />
wurden. Die Lektüre ihrer Titel ist eine kurz gefasste Geschichte der<br />
österreichisch-ungarischen politischen Bemühungen. Naheliegend,<br />
dass dabei kriegerische Ereignisse und Orte von „Schlachten“ von<br />
Szlankamen (Sieg Österreichs gegen die Türken 1691) bis Piave<br />
(1917 Endpunkt der letzten erfolgreichen Offensive Österreichs im<br />
Ersten Weltkrieg) eine besondere Rolle spielen. Die zu einem bedeutenden<br />
Teil aus den slawischen Regionen der Monarchie stammenden<br />
Militärkapellmeister (die einzige Militär musikaus bil dungs -<br />
institution, die „Elevenschule“, war nicht umsonst in Prag!) integrierten<br />
auch immer wieder „Volksmusik“ in ihre Kompo sitio nen<br />
oder bemühten sich zumindest, je nachdem, wo sie gerade stationiert<br />
waren, den jeweiligen regionalen „Musikdialekt“ zu integrieren.<br />
Auf diesem Weg etablierte sich die bunte Stilistik der Re -<br />
gimentsmusik auch in wichtigen Teilen der damaligen Popu -<br />
larmusik. Die vielen Militärmusiker, die nach ihrer „Aktivzeit“ in<br />
örtlichen Blaskapellen wirkten, haben ebenfalls zur Etablierung<br />
dieser speziellen „Tradition“ beigetragen.<br />
Und, wie gesagt, sie ist bis heute unüberhörbar präsent. Was heißt<br />
das aber jetzt? Zunächst einmal die attraktive Seite: Die heimische<br />
Blasmusik verfügt über ein umfangreiches Repertoire mittlerweile<br />
historischer Musik, ein Repertoire, das schon zur Zeit seines<br />
Entstehens eine ausdrückliche Bindung an „Österreich“ hatte:<br />
„Österreichbezug“ war gleichsam die Bedingung für das Entstehen<br />
dieses Repertoires. Weiters ist dieses Repertoire nicht nur einem<br />
„nationalen“ Musikstil zuzuordnen, sondern im Gegenteil: es spiegelt<br />
unüberhörbar die kulturelle Buntheit des damaligen Österreich,<br />
somit letztlich die „Völker unter dem Doppeladler“, also das<br />
heutige Österreich und unsere Nachbarn, deren Sprache wir meistens<br />
nicht verstehen.<br />
Altösterreichisches in musikalischer Mehrsprachigkeit<br />
Was liegt also näher, als die Pflege dieses Repertoires zu verknüpfen<br />
mit unserer Gegenwart, in der es zwar keine Monarchie mehr gibt,<br />
die aber der kulturellen Vielfalt zumindest in Sonntagsreden immer<br />
einen großen Wert zuweist? Also: „Altösterreichisches“ Repertoire<br />
(auch und gerade der Militärmarsch) kann als stilistisch vielfältiges<br />
System die Idee einer „musikalischen Mehrsprachigkeit“ in der