Klausur im Strafrecht für Anfänger - CF Müller Campus
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Prof. Dr. Mitsch<br />
Universität Potsdam<br />
<strong>Klausur</strong> <strong>im</strong> <strong>Strafrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Anfänger</strong><br />
Musterlösung<br />
Strafbarkeit des T<br />
A. Ausgangsfall<br />
I. Versuchter Totschlag, §§ 212, 22 StGB (Opfer X)<br />
1. Vollendeter Totschlag liegt nicht vor, da X nicht gestorben ist.<br />
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2. Totschlagsversuch ist mit Strafe bedroht, § 23 I StGB, da Totschlag ein<br />
Verbrechen ist, § 12 I StGB.<br />
3. Subjektiver Tatbestand (Tatentschluß)<br />
T müßte den Vorsatz gehabt haben, eine Tat zu begehen, die alle objektiven<br />
Tatbestandsmerkmale des Totschlags erfüllt.<br />
T hatte Vorsatz bezüglich :<br />
a) X ist ein anderer Mensch.<br />
© C. F. <strong>Müller</strong> Verlag <strong>Klausur</strong> <strong>im</strong> <strong>Strafrecht</strong> <strong>für</strong> <strong>Anfänger</strong>, Nr.2
) T tötet den X durch den Steinwurf.<br />
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aa) Der Steinwurf wird eine Ursache des danach eingetretenen Todes sein.<br />
Hätte T den Stein nicht geworfen, wäre X nicht getroffen und lebensgefährlich<br />
verletzt worden.<br />
bb) Gründe, die die objektive Zurechenbarkeit des Todeserfolges zu dem<br />
Steinwurf ausschließen könnten, liegen nicht vor.<br />
T hielt die tödliche Wirkung seines Steinwurfs <strong>für</strong> möglich und nahm sie<br />
billigend in Kauf. Also hatte er bedingten Tötungsvorsatz.<br />
4. Objektiver Tatbestand<br />
Indem T mit dem 500 g schweren Stein in die Richtung der Jugendlichen warf,<br />
setzte er zur Verwirklichung des Totschlagstatbestandes unmittelbar an, § 22<br />
StGB.<br />
5. Rechtswidrigkeit<br />
Die Tat des T könnte durch Nothilfe gerechtfertigt sein, § 32 StGB.<br />
a) Die drei Jugendlichen griffen den S an. Ihr Angriff richtete sich gegen das<br />
Eigentum des S (Eis, Geld, Uhr), gegen seine Freiheit, gegen seine Ehre<br />
und wohl auch gegen seine körperliche Integrität. Das angegriffene<br />
Rechtsgutsobjekt braucht nicht dem Täter (Verteidiger) zu gehören. § 32<br />
StGB berücksichtigt auch die Verteidigung zugunsten eines Dritten<br />
(Nothilfe, Notwehrhilfe).<br />
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b) Der Angriff der Jugendlichen gegen S war gegenwärtig, als T den Stein<br />
warf.<br />
c) Der Angriff der Jugendlichen gegen S war rechtswidrig. Der Streit um den<br />
Rechtswidrigkeits-Begriff des § 32 II StGB ist hier nicht<br />
entscheidungserheblich. Nach beiden Theorien handelten die Jugendlichen<br />
rechtswidrig. S brauchte den Angriff nicht zu dulden. Die Jugendlichen<br />
handelten vorsätzlich und ohne Rechtfertigung.<br />
d) Der Steinwurf hatte die Qualität einer Verteidigung. Er war ex ante gesehen<br />
geeignet, den Angriff der Jugendlichen gegen S abzuwehren. Außerdem<br />
richtete sich der Steinwurf gegen X und damit gegen einen der Angreifer.<br />
e) Der Steinwurf war erforderlich, da es <strong>für</strong> T keine andere Möglichkeit gab,<br />
den Angriff der Jugendlichen gegen S abzuwehren. Auch S selbst oder<br />
irgendwelche Dritte waren nicht in der Lage, den Angriff in schonenderer<br />
Wesie abzuwehren.<br />
f) Bei der Nothilfe ist umstritten, ob die Rechtfertigung des Nothelfers von<br />
einem Einverständnis des Angegriffenen abhängig ist. Die Streitfrage<br />
spielt an dieser Stelle keine Rolle, da S mit dem ihn verteidigenden<br />
Steinwurf des T einverstanden war.<br />
g) Gründe, die die Gebotenheit der Verteidigung ausschließen könnten, sind<br />
nicht ersichtlich. Mit der Gebotenheit werden die “sozialethischen<br />
Notwehreinschränkungen” in Verbindung gebracht. Hier käme allenfalls der<br />
Gesichtspunkt des krassen Mißverhältnisses in Betracht. Ein solches<br />
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Mißverhältnis liegt aber nicht schon dann vor, wenn ein Angriff auf Eigentum<br />
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oder Vermögen mit einer tödlichen Verteidigungsaktion abgewehrt wird. Hier<br />
hatten die Sachen, deren Herausgabe die Jugendliche von S verlangten,<br />
mehr als nur geringen Wert. Zudem griffen die Jugendlicheh nicht nur<br />
Eigentum und Vermögen des S, sondern auch seine Freiheit, Ehre und<br />
körperliche Unversehrtheit an. In Relation zu einem solchen Angriff ist auch<br />
eine mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführte tödliche Verteidigung nicht<br />
kraß unverhältnismäßig.<br />
Art. 2 II MRK steht auch nicht entgegen. Die Verteidigung diente der Abwehr<br />
von Gewalt und war nicht von Tötungsabsicht getragen (Roxin AT 1, § 15<br />
Rn. 78). Außerdem schränkt Art. 2 II MRK nicht das Notwehr- oder<br />
Nothilferecht des Bürgers ein, da sich die MRK nur an Staaten und<br />
Staatsorgane richtet.<br />
h) Schließlich müßte T das subjektive Rechtfertigungselement<br />
(“Verteidigungswille”) erfüllen. Dies ist nach h. M. die Kenntnis aller<br />
Tatsachen, die die objektiven Voraussetzungen der Notwehr bzw. Nothilfe<br />
erfüllen : Angriff, Gegenwärtigkeit, Rechtswidrigkeit, Verteidigung,<br />
Erforderlichkeit, Gebotenheit. Nach dem Sachverhalt erkannte T den<br />
rechtswidrigen und gegenwärtigen Angriff der Jugendlichen gegen S. Er<br />
schrieb seinem Steinwurf auch die Funktion einer Verteidigung zu und<br />
erkannte, daß diese Art der Verteidigung erforderlich war.<br />
Auch an dieser Stelle braucht zu dem Streit über das Erfordernis eines<br />
Einverständnisses des Angegriffene mit der Nothilfe nicht Stellung<br />
genommen zu werden. Überwiegend wird die Respektierung des<br />
entgegenstehenden Willens des Angegriffenen jedenfalls dann gefordert,<br />
wenn der Angegriffene selbst durch die Verteidigung an Leib oder Leben<br />
gefährdet werden könnte und er aus Furcht vor einer Verletzung diese Art<br />
der Verteidigung ablehnt (Roxin <strong>Strafrecht</strong> AT 1, 3. Aufl. 1997, § 15 Rn. 101;<br />
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Kühl AT 2. Aufl. 1997, § 7 Rn. 143; ausführlich Irene und Detlev Sternberg-<br />
Lieben, JuS 1999, 444 ff., insb. 448).<br />
T nahm – zutreffend – an, daß S trotz des auch <strong>für</strong> ihn bestehenden Risikos<br />
mit dieser Art der Verteidigung einverstanden ist. Also ist auch in dieser<br />
Hinsicht das subjektive Rechtfertigungselement gegeben.<br />
Da T alle Voraussetzungen des § 32 StGB erfüllt hat, ist seine Tat durch<br />
Nothilfe gerechtfertigt.<br />
6. Ergebnis:<br />
T hat sich nicht aus §§ 212, 22 StGB strafbar gemacht.<br />
II. Versuchter Totschlag, §§ 212, 22 StGB (Opfer S)<br />
1. Vollendeter Totschlag liegt nicht vor, da S noch lebt.<br />
2. Totschlagsversuch ist mit Strafe bedroht (s. o. I 2).<br />
3. Subjektiver Tatbestand (Tatentschluß)<br />
T müßte den Vorsatz gehabt haben, eine Tat zu begehen, die sämtliche<br />
objektiven Tatbestandsmerkmale des Totschlags erfüllt.<br />
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Oben (I 3) wurde festgestellt, daß T den Vorsatz hatte, eine Tat zu begehen, die<br />
sämtliche objektiven Tatbestandsmerkmale des Totschlags erfüllt. Allerdings<br />
bezog sich dieser Vorsatz auf die drei Jugendlichen (einschließlich des X),<br />
nicht aber auf den S. Zwar hielt es T <strong>für</strong> möglich, daß S von dem Stein<br />
getroffen werden könnte. Jedoch nahm er dies - und erst recht nicht einen<br />
dadurch verursachten Tod des S - nicht billigend in Kauf. Nach der<br />
überwiegend vertretenen Definition des dolus eventualis hatte T keinen<br />
Totschlagsvorsatz bezüglich S. Vorsatz bezüglich des S ließe sich nur nach<br />
dolus-eventualis-Theorien begründen, die auf ein voluntatives Element<br />
verzichten und die Möglichkeit des Erfolgseintritts ausreichen lassen (dazu<br />
Lackner/Kühl § 15 Rn. 27).<br />
a) Möglicherweise kommt es darauf aber nicht an, weil T ja <strong>im</strong>merhin<br />
bezüglich anderer Menschen (die drei Jugendlichen) Totschlagsvorsatz<br />
hatte. Sofern dieser Vorsatz ohne weiteres auf das Opfer S bezogen werden<br />
könnte, wäre Totschlagsvorsatz bezüglich S gegeben. Hätte der Stein<br />
tatsächlich den S getroffen und getötet, stellte sich dieser Geschehensverlauf<br />
als “aberratio ictus” dar. So wie die tatsächliche Tötung des S hier den<br />
strafrechtlichen Regeln der aberratio ictus zu unterwerfen wäre, ist auch die<br />
objektiv mögliche und von T auch <strong>für</strong> möglich gehaltene Tötung des S den<br />
Regeln der aberratio ictus zu unterwerfen. Denn auch der Totschlagsversuch ist<br />
letztlich ein Erfolgsdelikt, wenn man den durch das unmittelbare Ansetzen<br />
geschaffenen Zustand als konkrete Lebensgefahr - also als Gefährdungserfolg -<br />
qualifiziert (so ausdrücklich Herzberg, FS Spendel, 1992, S. 203, 213). Die<br />
aberratio-Situation ergibt sich also nicht erst, wenn das - aus der Sicht des<br />
Täters - “falsche”, d. h. vom Tätervorsatz nicht erfaßte Opfer tatsächlich getötet<br />
worden ist, also der “falsche” Tötungserfolg eingetreten ist. Sie ergibt sich<br />
schon vorher, wenn das - aus der Sicht des Täters .- “falsche” Opfer durch<br />
einen Totschlagsversuch konkret gefährdet worden ist.<br />
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Die h. M. verneint <strong>im</strong> Fall einer aberratio ictus den Vorsatz bezüglich des<br />
Opfers, welches der Täter nicht als Opfer ausersehen hat (Lackner/Kühl § 15<br />
Rn. 12).<br />
Eine Mindermeinung stellt darauf ab, daß der Vorsatz sich nur auf ein der<br />
tatbestandsmäßigen Gattung angehörendes Oibjekt beziehen müsse. Folglich<br />
habe der Täter Vorsatz bezüglich aller zu dieser tatbestandsmäßigen Gattung<br />
gehörenden Objekte, wenn er auch nur ein konkretes gattungszugehöriges<br />
Objekt in seinen Verletzungsvorsatz aufgenommen hat. Richtet sich der<br />
Tötungsvorsatz auf den Menschen X, richtet er sich generell auf Objekte der<br />
Gattung “Mensch”. Da auch S ein der Gattung “Mensch” angehörendes Objekt<br />
ist, richtet sich auch der Vorsatz gegen ihn.<br />
Die Argumentation der Mindermeinung führt aber jedenfalls <strong>im</strong> vorliegenden<br />
Fall nicht zur Bejahung eines Totschlagsvorsazes gegenüber S. Denn hier ist<br />
zu berücksichtigen, daß sich der Totschlagsvorsatz des T nicht generell auf<br />
Objekte der Gattung “Mensch”, sondern einschränkend nur auf Menschen der<br />
Gattung “Angreifer i. S. des § 32 StGB” richtete. Die Tatsache, daß<br />
gegenüber den drei Jugendlichen ein Notwehrrecht/Nothilferecht bestand, nicht<br />
aber gegenüber dem S, begründet eine unterschiedliche<br />
Gattungszugehörigkeit des S einerseits und der drei Jugendlichen andererseits.<br />
Alle vier Personen sind zwar Menschen i. S. des § 212 StGB. Dennoch<br />
bewertet das <strong>Strafrecht</strong> ihre Position als Totschlagsopfer unterschiedlich. Daß<br />
diese unterschiedlichen Gattungen strafrechtlich relevant sind, ergibt sich aus<br />
der Anerkennung des Rechtfertigungsgrundes Notwehr/Nothilfe in § 32 StGB.<br />
Ein Mensch, dem gegenüber ein Notwehrrecht besteht, hat strafrechtlich eine<br />
andere Opferqualität als ein Mensch, dem gegenüber kein Notwehrrecht<br />
besteht. Hier hatte T nur den Vorsatz zur Begehung eines Totschlags an<br />
Menschen, denen gegenüber dieser Totschlag durch Notwehr/Nothilfe<br />
gerechtfertigt wäre. Dies ist folglich ein anderer Totschlagsvorsatz als der<br />
Vorsatz zur Begehung eines Totschlags an Menschen, denen gegenüber kein<br />
Notwehrrecht besteht. Da gegenüber S kein Notwehrrecht besteht, kann der<br />
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Totschlagsvorsatz bezüglich der drei Jugendlichen nicht auf den S übertragen<br />
werden. Auch nach der Mindermeinung zur aberratio ictus hatte T keinen<br />
Totschlagsvorsatz bezüglich S.<br />
b) Bleibt noch zu prüfen, ob T nach anderen Theorien zum dolus eventualis<br />
vielleicht gegenüber S selbst bedingten Totschlagsvorsatz hatte. Nach den<br />
Theorien, die auf ein voluntatives Vorsatzelement verzichten und allein auf die<br />
Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts abstellen, wäre das<br />
wohl zu bejahen. Allerdings darf auch unter dieser Voraussetzung nicht außer<br />
Betracht bleiben, daß T auf einen <strong>für</strong> S gl<strong>im</strong>pflichen Ausgang hoffte und er<br />
außerdem zutreffend annahm, S sei mit der <strong>für</strong> ihn riskanten<br />
Verteidigungsmaßnahme einverstanden. Da also S die Gefahr, in die T ihn<br />
brachte, billigte und T dies annahm, richtete sich der Vorsatz des T auf ein<br />
erlaubtes Tötungsrisiko. Da T sich eine erlaubte Gefahrschaffung vorstellte,<br />
erfaßt sein Vorsatz auch eine erlaubte Gefahrrealisierung (= Eintritt des <strong>für</strong><br />
möglich gehaltenen Todes) . Denn die adäquaten Folgen einer erlaubten<br />
Gefahr sind ihrerseits erlaubt. Es wäre widersprüchlich, dem T einerseits die<br />
Schaffung einer Gefahr zu erlauben, den Eintritt der adäquaten (= bei<br />
normalem Verlauf der Dinge erwartbaren) Folgen dieser Gefahr aber zu einem<br />
unerlaubten Vorgang zu erklären.<br />
T hatte also nicht den Vorsatz zur Begehung eines Totschlags an S.<br />
4. Ergebnis<br />
T hat sich nicht aus §§ 212, 22 StGB bezüglich des S strafbar gemacht.<br />
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III. Versuchter Totschlag durch Unterlassen, §§ 212, 13, 22 StGB<br />
1. Vollendeter Totschlag durch Unterlassen liegt nicht vor, da X noch lebt.<br />
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2. Versuchter Totschlag durch Unterlassen ist mit Strafe bedroht, §§ 23 I, 12 I<br />
StGB. Das gilt auch <strong>für</strong> den Versuch des Totschlags durch Unterlassen.<br />
3. Subjektiver Tatbestand (Tatentschluß)<br />
T müßte den Vorsatz gehabt haben, eine Tat zu begehen, die sämtliche<br />
objektiven Tatbestandsmerkmale eines Totschlags durch Unterlassen erfüllt.<br />
T hatte Vorsatz bezüglich folgender Tatsachen :<br />
a) X ist ein anderer Mensch.<br />
b) Der Tod des X tritt ein.<br />
c) T unterläßt es, den Tod des X abzuwenden.<br />
aa) Es gibt eine Handlung, die geeignet ist, den Tod des X abzuwenden.<br />
Herbeirufen eines Arztes unmittelbar nach dem Eintritt der steinwurfbedingten<br />
Kopfverletzung würde zur Einleitung lebensrettender Maßnahmen führen und<br />
tatsächlich das Leben des X retten. Da diese Handlung kausal <strong>für</strong> den<br />
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Nichteintritt des Todeserfolges wäre, wäre ihre Unterlassung kausal <strong>für</strong> den<br />
Eintritt des Todes.<br />
bb) Der Vollzug dieser Handlung wäre möglich, da sich eine Telefonzelle in der<br />
Nähe befindet (objektive Möglichkeit).<br />
cc) T wäre selbst ohne weiteres in der Lage gewesen, die lebensrettende<br />
Handlung – Telefonieren – auszuführen, denn er hatte genügend Geld zur<br />
Benutzung des Telefons dabei (subjektiv-individuelle Möglichkeit).<br />
dd) T hatte den Vorsatz, nicht sofort einen Arzt herbeizurufen. Also hatte er<br />
den Vorsatz, die Handlung zu unterlassen, die den Tod des X – relativ sicher –<br />
abgewendet hätte.<br />
ee) Die Zumutbarkeit der Handlung ist nach vorzugswürdiger Ansicht<br />
Schuldmerkmal. Wer sie als Tatbestandsmerkmal qualifiziert, muß die sie<br />
begründenden Tatsachen als Vorsatzinhalt berücksichtigen. Hier war es dem T<br />
zumutbar, von der Telefonzelle aus Hilfe <strong>für</strong> den verletzten X herbeizurufen.<br />
Dies wußte der T auch.<br />
d) Begehungsgleichheit des Unterlassens<br />
Der Vorsatz des T müßte sich auf Tatsachen bezogen haben, aus denen sich<br />
eine Garantenstellung (§ 13 I StGB) ergibt bzw. ergeben würde, wenn diese<br />
Tatsachen wirklich wären.<br />
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In Betracht kommt nur eine Garantenstellung aus gefahrbegründendem<br />
Vorverhalten (Ingerenz).<br />
aa) Diese Garantenstellung ist nicht ganz unumstritten, wird aber von der h. M.<br />
in Rechtsprechung und Literatur als Bestrafungsgrundlage wegen unechten<br />
Unterlassungsdelikts anerkannt (Lackner/Kühl § 13 Rn. 11).<br />
bb) T hat den X durch seinen Steinwurf in Lebensgefahr gebracht.<br />
cc) Die Lebensgefahr ist auch eine konkrete, unmittelbare und dem Steinwurf<br />
adäquate Gefahr.<br />
dd) Fraglich ist, ob das gefahrbegründende Vorverhalten pflichtwidrig<br />
(sorgfaltspflichtwidrig iS von Fahrlässigkeit oder objektiv-tatbestandsmäßig und<br />
vorsätzlich) und rechtswidrig gewesen sein muß. Die Antwort auf dies Frage<br />
ist hier entscheidungserheblich, weil der gefahrbegründende Steinwurf des T<br />
durch Nothilfe (§ 32 StGB) gerechtfertigt war.<br />
(1) Eine Mindermeinung in der Literatur behauptet, schon die bloße<br />
Verursachung einer Gefahr führe zur Entstehung einer Garantenpflicht zur<br />
Abwendung weiterer Gefahrfolgen. Unerheblich sei, ob die gefährdende<br />
Handlung pflichtwidrig und rechtswidrig war oder nicht. Auch rechtlich<br />
einwandfreie, sorgfaltspflichtgemäße und gerechtfertigte<br />
Gefahrbegründungshandlungen könnten eine Garantenstellung begründen.<br />
Dies folge daraus, daß es dem Gefahrverursacher verboten sei, den aus der<br />
Gefahr resultierenden weitergehenden Erfolg durch aktives Tun zu<br />
verursachen. Dann dürfe er diesen Erfolg ebensowenig durch Unterlassen -<br />
also durch Nichtabwendung - verursachen. Im vorliegenden Fall trifft es zu, daß<br />
das Nothilferecht (§ 32 StGB) des T in dem Moment endete, als X von dem<br />
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Stein getroffen worden und angriffsunfähig geworden war. Jede weitere<br />
rechtsgutsverletzende Handlung des T gegen X wäre nunmehr nicht mehr von<br />
§ 32 StGB gedeckt gewesen. Sie wäre daher rechtswidrig gewesen. Da also die<br />
Phase nach erfolgreicher Abwehr des Angriffs nicht mehr von dem<br />
Rechtfertigungsgrund aus § 32 StGB gedeckt war, ist nach der Mindermeinung<br />
jedes gefahrerhöhende - hier vor allem : todesursächliche - Verhalten des T<br />
rechtswidrig.<br />
Entgegen der Mindermeinung folgt daraus aber nur, daß weitere gefährdende<br />
oder verletzende Aktivitäten des T zum Nachteil des X rechtswidrig wären. Die<br />
Frage, um die es hier geht, ob der T zur Vornahme aktiver lebensrettender<br />
Handlungen verpflichtet - ihre Unterlassung also tatbestandsmäßig und<br />
rechtswidrig - war, ist damit nicht beantwortet, sondern <strong>im</strong>mer noch offen. Aus<br />
der Rechtswidrigkeit von Aktivitäten, die nicht mehr von § 32 StGB gedeckt<br />
sind, läßt sich kein zwingender Schluß auf das Bestehen einer<br />
Garantenstellung ziehen. Vielmehr spricht die Tatsache, daß der Steinwurf des<br />
T auch dann durch Nothilfe gerechtfertigt gewesen wäre, wenn er zum<br />
sofortigen Tod des X geführt hätte - also eine Möglichkeit zur Lebensrettung<br />
von vornherein nicht bestanden hätte - da<strong>für</strong>, daß T während der Phase nach<br />
Abwehr des Angriffs keine Garantenstellung gegenüber X hatte. Es wäre<br />
wertungswidersprüchlich, wenn T <strong>im</strong> Falle eines Steinwurfs, der den X sofort<br />
auf der Stelle tötet, strafrechtlich günstiger stünde als <strong>im</strong> Fall eines Steinwurfs,<br />
der zunächst “nur” zur Bewußtlosigkeit und Verletzung des X und damit zu<br />
einem erst später eintretenden Tod führt.<br />
(2) Die h. M. lehnt daher zumindest <strong>im</strong> Fall einer Rechtfertigung durch Notwehr<br />
(§ 32 StGB) die Entstehung einer Garantenstellung aus Ingerenz bei<br />
gerechtfertigtem Vorverhalten ab (Gropp AT 1997 § 11 Rn. 35;<br />
Jescheck/Weigend AT 5. Aufl. 1996 § 59 IV 4 a; Haft AT 8. Aufl. 1998 S. 183).<br />
Vor allem der BGH hat in seiner Entscheidung BGHSt 23, 327 diese Ansicht<br />
überzeugend begründet :<br />
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“Auszugehen ist davon, daß der in Notwehr Handelnde sich in einer wesentlich<br />
anderen Lage befindet, als gewöhnlich der Urheber einer Gefahrensituation.<br />
Die Gefährdungshandlung des Angegriffenen, also die Verteidigung gegen den<br />
Angreifer, beruht nicht auf seiner freien Entschließung, sondern ist durch das<br />
rechtswidrige Verhalten des Angreifers herausgefordert und ausgelöst. Dieser<br />
besondere Umstand muß sich auf die rechtliche Stellung des durch die<br />
Verteidigungshandlung gefährdeten Angreifers auswirken. Wer durch einen<br />
rechtswidrigen Angriff eine Selbstgefährdung herbeiführt, kann hierdurch nicht<br />
erzwingen, daß der Angegriffene als Garant zu seinem Beschützer wird. Damit<br />
ist der Angreifer keineswegs schutzlos gestellt. Der durch § 323 c StGB<br />
strafbewehrte allgemeine Anspruch auf Hilfeleistung verbleibt ihm ohnehin, weil<br />
ein Unglücksfall <strong>im</strong> Sinne dieser Best<strong>im</strong>mung auch dann vorliegt, wenn der<br />
Betroffene die Notlage selbst hervorgerufen hat. Den Angegriffenen darüber<br />
hinaus mit der Garantenstellung zu belasten, widerspricht dem Sinn des<br />
Notwehrrechts. Denn damit wäre der Angreifer stärker geschützt als ein ohne<br />
eigene und fremde Schuld Verunglückter.”<br />
Die Argumentation des BGH bezieht sich zwar auf einen Fall der<br />
Gefahrbegründung durch einen sich selbst in Notwehr verteidigenden<br />
Angegriffenen, also nicht unmittelbar auf den hier zu beurteilenden Fall der<br />
Nothilfe. Die ausschlaggebenden Sachgründe treffen aber auch auf die<br />
Gefahrbegründung durch Nothilfe zu. Das Nothilferecht wäre erheblich<br />
eingeschränkt und entwertet, wenn der Verteidiger von vornherein damit<br />
rechnen müßte, daß ihn nach erfolgreicher Angriffsabwehr eine strafbewehrte<br />
Garantenpflicht gegenüber dem Angreifer belasten wird. Auf der anderen Seite<br />
bedeutete es eine <strong>für</strong> den Angreifer unverdiente Besserstellung und<br />
Verstärkung seines strafrechtlichen Schutzes, wenn zu seinen Gunsten nicht<br />
nur die allgemeine Hilfeleistungspflicht des § 323 c StGB, sondern sogar die<br />
gravierendere Garantenpflicht des § 13 StGB bestünde.<br />
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Noch deutlicher wird der Wertungswiderspruch, den eine Garantenstellung des<br />
T zugunsten des X erzeugen würde, wenn man sich folgende Fallkonstellation<br />
vor Augen führt : Angenommen, der S wäre von den Jugendlichen schwer und<br />
lebensgefährlich verletzt worden, bevor der Stein den X traf, läge <strong>für</strong> T die<br />
Situation einer Pflichtenkumulation vor. Er müßte dem S und dem X helfen.<br />
Stellt man sich nun noch vor, daß T nur einem der beiden Verletzten effektiv<br />
helfen könnte (kein Telefon in der Nähe, T muß Erste Hilfe leisten), läge die<br />
Situation einer Pflichtenkollision vor. In einer Pflichtenkollisionslage gilt die<br />
Regel, daß die Nichterfüllung der Pflicht gerechtfertigt ist, die gegenüber der<br />
anderen - erfüllten - Pflicht geringerwertig ist. Zwar hängt der Rang und Wert<br />
einer Handlungspflicht von vielen Kriterien ab. Ein gewichtiger Aspekt ist aber<br />
die Einordnung der Handlungspflicht als Garantenpflicht i. S. des § 13 StGB<br />
oder als allgemeine Hilfeleistungspflicht i. S. des § 323 c StGB. Die<br />
Garantenpflicht hat in der Regel einen höheren Stellenwert als die allgemeine<br />
Hilfeleistungspflicht. Orientiert man sich an dieser Regel und be<strong>für</strong>wortete man<br />
eine Garantenpflicht des T gegenüber X, hätte T dem X vorrangig zu helfen und<br />
die Hilfe zugunsten des S wäre nachrangig. Denn gegenüber S hat T eindeutig<br />
keine Garantenstellung, sondern nur die allgemeine Hilfeleistungspflicht des §<br />
323 c StGB. Daß diese Reihenfolge (zuerst dem X und erst danach oder<br />
überhaupt nicht dem S) aber mit der Schutzwürdigkeit der beiden Opfer nicht<br />
harmoniert, liegt auf der Hand. Auch daran erkennt man, daß die Aufwertung<br />
der Pflicht zugunsten des X zur Garantenpflicht eine Überbewertung der<br />
Stellung des X wäre.<br />
(3) Die besseren Argumente sprechen also <strong>für</strong> die h. M., die eine<br />
Garantenstellung des Verteidigers gegenüber dem von ihm in gefahr<br />
gebrachten Angreifer ablehnt.<br />
Wer der Gegenansicht anhängt, muß hier natürlich die Prüfung der<br />
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Strafbarkeitsvoraussetzungen des §§ 212, 13, 22 StGB fortsetzen. Wie diese<br />
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weitere Prüfung <strong>im</strong> einzelnen aussieht, wird unten bei der Abwandlung<br />
dargestellt (Abwandlung II. Versuchter Totschlag durch Unterlassen). Denn dort<br />
ergibt sich <strong>für</strong> die Bearbeiter, die <strong>im</strong> Ausgangsfall eine Garantenstellung des T<br />
aus Ingerenz mit der h. M. verneinen, eine entscheidende Abweichung : Da die<br />
Verteidigung des T nicht erforderlich war, war der Steinwurf nicht durch Nothilfe<br />
gerechtfertigt. Also war die gefahrbegründende Handlung rechtswidrig. Eine<br />
Garantenstellung des T aus Ingerenz ist in der Abwandlung also auch nach der<br />
h. M. gegeben.<br />
Folgt man der h. M., bezog sich der Vorsatz des T nicht auf Tatsachen, aus<br />
denen sich eine Garantenstellung ergibt. Also hatte T nicht den Vorsatz, eine<br />
Tat zu begehen, die alle objektiven Tatbestandsmerkmale des Toitschlags<br />
durch Unterlassen erfüllt.<br />
4. Ergebnis<br />
T ist nicht aus §§ 212, 13 , 22 StGB strafbar.<br />
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B. Abwandlung<br />
I. Versuchter Totschlag, §§ 212, 22 StGB<br />
1. Es liegt kein vollendeter Totschlag vor.<br />
2. Versuchter Totschlag ist mit Strafe bedroht, §§ 23 I, 12 I StGB.<br />
3. Subjektiver Tatbestand<br />
T hatte den Vorsatz, eine Tat zu begehen, die alle objektiven<br />
Tatbestandsmerkmale des Totschlags erfüllt<br />
keine Abweichung vom Ausgangsfall<br />
4. Objektiver Tatbestand<br />
Mit dem Steinwurf setzte T zur Verwirklichung des Totschlagstatbestandes<br />
unmittelbar an, § 22 StGB<br />
keine Abweichung vom Ausgangsfall<br />
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5. Rechtswidrigkeit<br />
Die Tat könnte durch Nothilfe gerechtfertigt sein, § 32 StGB.<br />
a) Die drei Jugendlichen haben den S angegriffen.<br />
b) Der Angriff war <strong>im</strong> Zeitpunkt des Steinwurfs gegenwärtig.<br />
c) Der Angriff war rechtswidrig.<br />
d) Der Steinwurf war eine Verteidigung.<br />
Bis hierher keine Abweichung vom Ausgangsfall.<br />
e) Die Verteidigungsart, die T angewendet hat, war aber nicht erforderlich.<br />
Nach dem Sachverhalt war eine andere Verteidigung möglich, die hinreichend<br />
erfolgversprechend (zur Abwehr des Angriffs geeignet) war und den X bzw. die<br />
anderen Jugendlichen weniger intensiv geschädigt hätte. Es gab also ein<br />
milderes Abwehrmittel, das zur Abwehr des Angriffs geeignet und deshalb<br />
erforderlich war. Daraus ergibt sch, daß der gefährlichere und schädlichere<br />
Steinwurf nicht erforderlich war.<br />
Die Tat des T erfüllt also nicht alle objektiven Voraussetzungen des<br />
Rechtfertigungsgrundes Nothilfe. Daher ist die Tat des T nicht durch Nothilfe<br />
gerechtfertigt.<br />
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Andere Rechtfertigungsgründe kommen ebenfalls nicht in Betracht. § 34 StGB<br />
ist nicht gegeben, weil auch hier Erforderlichkeit (nicht anders abwendbar)<br />
Rechtfertigungsvoraussetzung ist und die Tat des T diese Voraussetzung nicht<br />
erfüllt.<br />
§ 127 I 1 StPO scheidet aus, weil dieser Rechtfertigungsgrund schwere<br />
Verletzungen nicht deckt.<br />
6. Schuld<br />
Die Tat des T war schuldhaft. Ein Erlaubnistatbestandsirrtum liegt nicht vor, daß<br />
T die Möglichkeit anderweitiger - weniger schädlicher und daher unter dem<br />
Erforderlichkeits-gesichtspunkt vorzugswürdiger - Verteidigungsmöglichkeit<br />
erkannte.<br />
7. Rücktritt<br />
T könnte gemäß § 24 StGB vom Totschlagsversuch strafbefreiend<br />
zurückgetreten sein.<br />
a) Da es sich um die Tat eines Alleintäters handelt, kommt § 24 I StGB zur<br />
Anwendung.<br />
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) Der Totschlagsversuch war ein beendeter Versuch, da T alles zur<br />
Herbeiführung des Todes erforderliche getan hatte. Der Tod des X wäre<br />
nach dem Steinwurf ohne weitere todesursächliche Handlungen des T<br />
eingetreten.<br />
c) Im Fall eines beendeten Versuchs erfordert der strafbefreiende Rücktritt<br />
aktive Gegenmaßnahmen des Täters, durch die die Vollendung der Tat<br />
verhindert wird, § 24 I 1 Alt. 2 StGB. Nicht erforderlich ist, daß der Täter<br />
allein und eigenhändig die Vollendung verhindert. Er darf Dritte einschalten,<br />
die vielleicht über mehr und bessere Vollendungshinderungskompetenz<br />
verfügen als er selbst (Lackner/Kühl § 24 Rn. 19). T hat hier durch seinen<br />
Anruf einen Rettungsprozeß in Gang gesetzt, der letztendlich den Tod des X<br />
abgewendet hat. Aus diesem Grund ist der Totschlag nicht vollendet<br />
worden. T hat also durch seine Maßnahme die Vollendung der Tat<br />
verhindert. Daß er dabei nicht die opt<strong>im</strong>ale Rettungsmöglichkeit (sofortiger<br />
Anruf) wahrnahm, ist nach h. M. irrelevant, da es nur auf den tatsächlich<br />
eingetretenen Vollendungsverhinderungserfolg ankommt und dieser dem<br />
Täter wegen seiner Mitwirkung am Vollendungsverhinderungsvorgang<br />
zuzurechnen ist (Lackner/Kühl § 24 Rn. 19 b).<br />
d) T hat auch freiwillig gehandelt. Die moralischen Bedenken haben die<br />
Fähigkeit des T zu einer freien autonomen Entscheidung zwischen den<br />
Alternativen Sterbenlassen / Lebensrettung nicht beseitigt.<br />
e) T ist also strafbefreiend vom Totschlagsversuch zurückgetreten.<br />
8. Ergebnis<br />
T hat sich nicht wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht.<br />
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II. Versuchter Totschlag durch Unterlassen, §§ 212, 13, 22 StGB<br />
1. Vollendeter Totschlag durch Unterlassen liegt nicht vor.<br />
2. Versuchter Totschlag durch Unterlassen ist mit Strafe bedroht.<br />
3. Subjektiver Tatbestand (Tatentschluß)<br />
T müßte den Vorsatz gehabt haben, eine Tat zu begehen, die sämtliche<br />
objektiven Tatbestandsmerkmnale eines Totschlags durch Unterlassen erfüllt.<br />
T hatte Vorsatz bezüglich folgender Tatsachen :<br />
a) X ist ein anderer Mensch.<br />
b) Der Tod des X tritt ein.<br />
c) T unterläßt es, den Tod des X abzuwenden.<br />
aa) Es gibt eine Handlung, die geeignet ist, den Tod des X abzuwenden.<br />
Herbeirufen eines Arztes unmittelbar nach dem Eintritt der steinwurfbedingten<br />
Kopfverletzung würde zur Einleitung lebensrettender Maßnahmen führen und<br />
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tatsächlich das Leben des X retten. da diese Handlung kausal <strong>für</strong> den<br />
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Nichteintritt des Todeserfolges wäre, wäre ihre Unterlassung kausal <strong>für</strong> den<br />
Eintritt des Todes.<br />
bb) Der Vollzug dieser Handlung wäre möglich, da sich eine Telefonzelle in der<br />
Nähe befindet (objektive Möglichkeit).<br />
cc) T wäre selbst ohne weiteres in der Lage gewesen, die lebensettende<br />
Handlung – Telefonieren – auszuführen (subjektiv-individuelle Möglichkeit).<br />
dd) T hat nicht sofort einen Arzt herbeigerufen. Also hat er es unterlassen, die<br />
Handlung zu voillziehen, die den Tod des X – relativ sicher – abgewendet hätte.<br />
ee) Die Zumutbarkeit der Handlung ist nach vorzugswürdiger Ansicht<br />
Schuldmerkmal. Wer sie als Tatbestandsmerkmal qualifiziert, muß die sie<br />
begründenden Tatsachen als Vorsatzinhalt berücksichtigen. Hier war es dem T<br />
zumutbar, von der Telefonzelle aus Hilfe <strong>für</strong> den verletzten X herbeizurufen.<br />
Keine Abweichung vom Ausgangsfall<br />
d) Begehungsgleichheit des Unterlassens<br />
Der Vorsatz des T müßte Tatsachen umfassen, die eine Garantenstellung i. S.<br />
des § 13 I StGB begründen. In Betracht kommt eine Garanstenstellung aus<br />
gefahrbegründendem Vorverhalten (Ingerenz).<br />
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Im Unterschied zum Ausgangsfall ist in der Abwandlung das<br />
lebensgefährdende Vorverhalten des T nicht durch Nothilfe gerechtfertigt und<br />
deshalb rechtswidrig. Daher ist auch nach der h. M. eine Garantenstellung aus<br />
Ingerenz entstanden.<br />
e) Entsprechensklausel, § 13 I a. E. StGB<br />
Die Entsprechensklausel hat bei Erfolgsdelikten wie Totschlag keine Funktion<br />
(str. vgl. Lackner/Kühl § 13 Rn. 16).<br />
4. Objektiver Tatbestand<br />
T müßte zur Verwirklichung des Tatbestandes “Totschlag durch Unterlassen”<br />
unmittelbar angesetzt haben, § 22 StGB. Bei Unterlassungsdelikten ist die<br />
Abgrenzung von Vorbereitungs- und Versuchsphase umstritten.<br />
a) Heute nicht mehr vertreten wird die Ansicht, daß das unmittelbare Ansetzen<br />
schon mit der Nichtwahrnehmung der ersten Handlungs- (Erfolgsabwendungs-<br />
) möglichkeit zusammenfalle. Danach hätte T schon in dem Moment unmittelbar<br />
angesetzt, als er erkannte, daß er von der Telefonzelle Hilfe <strong>für</strong> X herbeirufen<br />
könnte, auf diese Erkenntnis aber nicht mit sofortiger Wahrnehmung der<br />
Möglichkeit reagierte. Diese Ansicht verlagert den Versuchsbeginn zu weit vor.<br />
b) Ebenfalls keine nennenswerte Resonanz in Rechtsprechung und Literatur<br />
hat die entgegengesetzte Extremmeinung, nach der der<br />
Unterlassungsdeliktsversuch erst mit Nichtwahrnehmung der letzten<br />
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Handlungs- (Erfolgsabwendungs-) möglichkeit beginnt. Nach dieser Ansicht<br />
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hätte T überhaupt nicht unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt,<br />
da er eine - möglicherweise die letzte, vielleicht auch die vorletzte -<br />
Erfolgsabwendungsmöglichkeit wahrgenommen hat. Diese Meinung verlagert<br />
den Versuchsbeginn zu weit nach hinten, weil es nach ihr überhaupt nur<br />
untaugliche Versuche des Unterlassungsdelikts gibt. Denn <strong>im</strong> Fall eines<br />
tauglichen Versuchs führt die Nichtwahrnehmung der letzten<br />
Erfolgsabwendungsmöglichkeit zwangsläufig zum Erfolgseintritt und damit zur<br />
Vollendung des Unterlassungsdelikts.<br />
c) Richtig ist daher eine vermittelnde Lösung : Der Versuch beginnt, wenn sich<br />
die Gefahr <strong>für</strong> das Rechtsgut erheblich verschärft und die<br />
Erfolgsabwendungspflicht sich deshalb nur noch mit erheblich höherem<br />
Aufwand erfüllen läßt bzw. die Erfolgsabwendungschancen deutlich geringer<br />
geworden sind (Lackner/Kühl § 22 Rn. 17). Im vorliegenden Fall war diese<br />
Grenze klar überschritten, weil nach dem Befund des Arztes die Rettung des X<br />
fast ein Glücksfall war. Durch die Verzögerung des rettenden Anrufes hat T also<br />
die Gefahr <strong>für</strong> das Leben des X erheblich erhöht. Deshalb hatte er unmittelbar<br />
zur Verwirklichung des Tatbestandes des Totschlags durch Unterlassen<br />
angesetzt.<br />
5. Rechtswidrigkeit<br />
Das Unterlassen des T war nicht (z. B. durch Pflichtenkollision) gerechtfertigt.<br />
Also war das Verhalten des T rechtswidrig.<br />
6. Schuld<br />
Das Verhalten des T war schuldhaft. Insbesondere war es dem T zuzumuten,<br />
dem X sofort zu helfen, also sofort einen Arzt anzurufen.<br />
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7. Rücktritt<br />
Auch vom Versuch des unechten Unterlassungsdelikts kann man strafbefreiend<br />
zurücktreten. Als Rücktrittsleistung ist <strong>im</strong>mer die Vornahme einer<br />
vollendungsverhindernden Handlung notwendig (Lackner/Kühl § 24 Rn. 22 a).<br />
Das ist die Handlung, durch die die Handlungspflicht<br />
(Erfolgsabwendungspflicht) letztendlich erfüllt wird. Hier hat T den Tod des X<br />
und damit die Vollendung des Totschlags durch Unterlassen verhindert. Da dies<br />
freiwillig geschah, ist er strafbefreiend von dem Versuch des Totschlags durch<br />
Unterlassen zurückgetreten.<br />
8. Ergebnis<br />
T hat sich nicht aus §§ 212, 13, 22 StGB strafbar gemacht.<br />
ENDE<br />
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Hauptbewertungskriterien :<br />
1. Richtiger Aufbau des Versuchsdelikts (auch be<strong>im</strong> Unterlassungsdelikt).<br />
2. Richtiger und vollständiger Aufbau des Tatbestandes des<br />
Unterlassungsdelikts, insbesondere der Merkmale, die aus dem Unterlassen ein<br />
“Töten” machen (Möglichkeit, Abwendungskausalität, Garantenstellung).<br />
3. Richtige und vollständige Prüfung der Notwehrmerkmale.<br />
4. Saubere Erörterung der Garantenstellungs-Problematik.<br />
5. Sorgfältige Prüfung des § 24 StGB, insbesondere klare Unterscheidung von<br />
§ 24 I 1<br />
1. Alt. (unbeendeter Versuch) und § 24 I 1 2. Alt. (beendeter Versuch).<br />
6. Spitzenkönner sollten die Problematik des Versuchsbeginns be<strong>im</strong> unechten<br />
Unterlassungsdelikt und die aberratio-ictus-Konstellation (Totschlagsversuch<br />
bezüglich S ?) ansprechen.<br />
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