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afrique noire 05<br />

les poupées russes<br />

25 jahre frauenhaus bern<br />

queersichtfestival<br />

bern rocks?


Es ist Zeit.<br />

Mit diesem Satz versucht man heutzutage in Bern 8.7 Millionen «Aufstockung der städtischen Kulturförderung».<br />

ensuite - kulturmagazin gehört anscheinend nicht zur fördernswürdigen Berner Kultur und<br />

wurde davon ausgeschlossen. Spätestens jetzt ist es höchste Zeit ein Abonnement zu lösen und jetzt ist es<br />

erst recht Zeit, «dass sich die Stadt Bern klar zu ihrer Kultur bekennt und die nötigen Mittel bereitstellt.»<br />

Wir brauchen dringend die fi nanzielle Unterstützung von den Menschen aus Bern - wenn wir nicht bis Ende<br />

Jahr 30‘000 Franken zusammentrommeln können, müssen wir den Betrieb einstellen und die Schulden abarbeiten.<br />

Braucht Bern ein ensuite - kulturmagazin? Wenn ja, so helft mit - wir sind nicht selbstverständlich.<br />

Jetzt.<br />

TELEFON 031 318 6050<br />

ABO@ENSUITE.CH<br />

WWW.ENSUITE.CH


Titelseite und rechts: Les Poupées Russes - Kinofi lm von Cédric Klapisch mit Romain<br />

Duris, Audrey Tautou, Cécile de France, Kelly Reilly (Seite 23)<br />

Vor allem...<br />

■ ensuite - kulturmagazin hat nach 35 Nummern zum ersten Mal 72 Seiten<br />

erhalten - ein halbes Kulturbuch - und wir haben schon wieder Seitennotstand.<br />

Die Inhaltsmenge steht im krassen Gegensatz zu unserem<br />

fi nanziellen Dilemma, doch sollte uns das Geld nicht an der Vision hindern<br />

und die kulturelle Vielfalt von Bern macht uns mächtig Dampf. Mit Verlaub:<br />

Wenn ein Stadttheater und andere Institutionen 50‘000 Franken-Beiträge<br />

an die Konkurrenz bezahlen können, so sollten wir ebenfalls mit gleichen<br />

Rudern im Boot sitzen dürfen. Sollten. Aber es scheint, dass die Politik<br />

über den Verstand siegen will. Jetzt erst recht.<br />

Ebenfalls scheint es in Bern Mode zu sein, dass Kultur erst ab 100‘000er<br />

Summen stattfi nden kann. Die Forderungen der Kulturinstitutionen übersteigen<br />

sich in den letzten Monaten und hinterlassen den Eindruck, dass<br />

man mit wenig Geld keine Kultur oder gar, dass Kultur überhaupt nur aus<br />

Geld bestehen kann. Das ist übel. Es ist ein gutes Zeichen, dass mehr und<br />

mehr VeranstalterInnen Farbe bekennen und sich aktiv an unserer unabhängigen<br />

und günstigen Medieninstitution beteiligen. Wir haben interessante<br />

Zuwachsraten zu verzeichnen und die Gespräche laufen in ganz<br />

neue Richtungen.<br />

Aber den Höhepunkt vom Oktober haben wir noch nicht geschluckt:<br />

Das Schauspiel des Stadttheaters soll aus der Stadt in die urbane Einsamkeit<br />

- obwohl der Sinn dieser Übung noch nicht einstimmig ist. Im VIDMAR-<br />

Areal in Köniz gibt‘s kein Bern-Billett und auch kein Restaurant, welches<br />

300 Personen zum Schlummertrunk halten könnte. Und von wegen urban:<br />

Das Industriehaus der Lista AG konnte nur schlecht ausgemietet werden.<br />

Auf jeden Fall kann die Abendgardarobe in Zukunft im Schrank hängen<br />

bleiben. Auf dem Velo ins Theater - notabene den Berg hoch! - wird wohl<br />

nicht zum neuen Berner Volkssport mutieren. Eine solche Provinzbühne<br />

wird uns auch kein nationales Interesse einbringen und damit eine verbesserte<br />

Finanzierung ermöglichen - im Gegenteil. Und über die zusätzlichen<br />

Transportkosten hat noch niemand ein Wort verloren. Wir sehen auch<br />

nicht darüber hinweg, dass das Ensemble die Nachrichten aus der Zeitung<br />

vernehmen musste und man eilligst für den nächsten Tag eine eine<br />

Pressekonferenz arrangierte. Warum? Warum ist Bern nicht fähig, andere<br />

Lösungen zu fi nden. Lösungen die uns längerfristig dem Theater näher<br />

bringen und das Publikum gewinnend engagieren lässt. Die Ideen wäre da,<br />

die Menschen, welche sie umsetzen könnten auch. Doch die Macht bleibt<br />

unangetastet. Das kennen wir schon, es ist eine alte Geschichte und diese<br />

ist unwürdig asozial.<br />

Lukas Vogelsang<br />

i n h a l t<br />

K U L T U R & G E S E L L S C H A F T<br />

mit der fi ngerspitze gegen die faust 6<br />

anklang#1 - stegreifkunst der frau 8<br />

queersicht auf leckere östlichkeit 8<br />

L I T E R A T U R<br />

kirsten fuchs, harold pinter, walter wittmann 9<br />

nur liebhaber können das unmögliche möglich machen 10<br />

letzte lustseite 32<br />

B Ü H N E<br />

die magie der puppen 11<br />

lebendiges eisen - ein fenster nach russland 26<br />

V E R A N S T A L T E R<br />

afrique noire 11<br />

M U S I K<br />

bern rocks? 14<br />

antifolk 19<br />

aus den taschen gekramt - le cose che ami 20<br />

cd - tipps 17<br />

K I N O / F I L M<br />

don juan im trainerjäckchen 23<br />

corpse bride 22<br />

a history of violence 22<br />

les poupées russes - wiedersehen in st. petersburg 23<br />

das andere kino 24<br />

<strong>art</strong>ensuite<br />

ich weide meine pilze aus... 30<br />

wie es ist. 31<br />

farben wie an einem wintermorgen 32<br />

willkommen in zombietown - knut åsdam 33<br />

z<strong>art</strong>e farben, bewegte strukturen 33<br />

galerien in bern 34<br />

augenspiel 35<br />

D I V E R S E S<br />

kulturnotizen 4<br />

stadtläufer 26<br />

menschen & medien/ fauser c<strong>art</strong>oon 27<br />

menschen: ...oder warum franz obrist neben einem dachs läuft 28<br />

tratschundlaber 23<br />

A G E N D A 38<br />

kulturagenda bern 37<br />

museen bern/biel/thun 65<br />

kulturagenda biel 67<br />

kulturagenda thun 70<br />

3


4<br />

K U L T U R N O T I Z E N<br />

ZOOM IM MÜNSIGEN<br />

■ Am 4. bis zum 6. November fi ndet zum zweiten<br />

Mal ein Festival für improvisierte Musik statt. Nationale<br />

und Internationale Musikgrössen versuchen<br />

sich in der improvisierten Musik. Das ist nicht nur<br />

chaotisches Geklinge, sondern hat durchaus wichtige<br />

Entdeckungen zu bieten. So meint die Sängerin<br />

Saadet Türköz (Stimme): «Wenn ich improvisiere,<br />

habe ich das Gefühl, ich selbst und gleichzeitig eine<br />

andere Person zu sein.» Und mit der heutigen Technik<br />

und Improvisationsvielfalt wird Musik in einem<br />

anderen Kontext, einem anderen Spannungsfeld,<br />

zum Experiment für alle Beteiligten. Grenzerfahrungen<br />

für die ZuhörerInnen, wie auch Wohlklang,<br />

werden zum laufenden Prozess - oder auch nicht. Wir<br />

treffen am Festival auch auf Balts Nill, der nach dem<br />

Stillen Has seine anderen Klänge vermitteln wird:<br />

«Alles was chepft und tätscht hat mich schon immer<br />

gleichzeitig fasziniert und abgeschreckt.» Und so<br />

geht es über drei Tage in Spannung und Entdeckung,<br />

Neugierde und Flucht. «Zoom» eben. (vl)<br />

Programmübersicht<br />

Freitag 4. November 2005<br />

20.30 SAADET TÜRKÖZ (Stimme)<br />

21.30 BUCHER/GLAUSER<br />

Christian Bucher (Schlagzeug), Andreas<br />

Glauser (Elektronik)<br />

22.30 BALTS NILL (Perkussion, Diverses)<br />

Samstag 5. November 2005<br />

20.30 ACTIVITY CENTER<br />

Burkhard Beins (Perkussion, Saiten), Michael<br />

Renkel (Gitarre, Perkussion)<br />

22.00 HANS KOCH<br />

(Bassklarinette, Sopransaxophon)<br />

KOCH/KOBI<br />

Hans Koch (Bassklarinette, Sopransaxophon),<br />

Christian Kobi, (Sopransaxophon)<br />

Sonntag 6. November 2005<br />

20.30 TRIO LEIMGRUBER/DEMIERRE/PHILLIPS<br />

Urs Leimgruber (Saxophone), Jacques Demierre<br />

(Klavier), Barre Phillips (Kontrabass)<br />

In Zusammenarbeit mit der Gemeinde und der<br />

Volksschule organisiert »zoom in« Münsingen zwei<br />

weitere Konzerte: BALTS NILL/SOLO (Perkussion,<br />

Diverses):<br />

Donnerstag 3. November 2005<br />

11.00 in der Aula Rebacker Münsingen<br />

13.30 in der Aula Schlossmatte Münsingen<br />

Diese zwei Konzerte sind gratis<br />

Reservationen unter info@zoominfestival.ch<br />

PHOENIX AUS DER ASCHE<br />

■ Ab dem 3. November gastiert das Ensemble Phoenix<br />

aus Basel im Zentrum Paul Klee. Die Gruppe, welche<br />

1998 von Jürg Henneberger, Christoph Bösch und<br />

Daniel Buess gegründet wurde und sich seither gezielt<br />

für zeitgenössische Musik einsetzt, ist bekannt für seine<br />

experimentell-gattungsübergreifende Projekte. Das<br />

teilweise bis zu 25 Musikern erweiterte Gespann kann<br />

auf eine weltweite Konzerttätigkeit zurückblicken und<br />

erhielt 2003 gar den europäischen «Ensemble-Preis<br />

Thies Knauf für Neue Musik». In jüngster Zeit suchten<br />

die Musiker auch vermehrt die Zusammenarbeit mit<br />

jungen, noch wenig bekannten Komponistinnen und<br />

Komponisten unserer Zeit auf regionaler und internationaler<br />

Ebene. Der Gastauftritt im Zentrum Paul Klee ist<br />

der erste in Bern. Im ersten Programm vom 3.11. werden<br />

mit Beat Furrer, Jim Grimm, Georg Friedrich Haas und<br />

Jakob Ullmann auch zwei Schweizer sowie zwei in der<br />

Schweiz lebenden Komponisten aus drei Generationen<br />

IN EIGENER SACHE<br />

■ Wir möchten uns ganz herzlich (für eine Weile) von<br />

unserem Mitschreiber Klaus Bonanomi verabschieden<br />

und bedanken uns für den unermüdlichen Einsatz der<br />

letzten drei Jahren. Er war der erste kontinuierliche<br />

Schreiber in diesem Kulturmagazin. Seine Medienspiegelseite<br />

«Von Menschen und Medien» werden wir respektvoll<br />

weiterführen - und hoffen, dass seine Wege<br />

wieder einmal bei uns kreuzen... Viel Glück mit dem<br />

Nachwuchs!<br />

und mit verschiedenen ästhetischen Stilrichtungen vorgestellt.<br />

Traditionell spielt das Ensemble auch einmal in<br />

seiner Gründerbesetzung.<br />

Sicher, gegenüber zeitgenössisch-experimenteller<br />

Musik darf man auch skeptisch sein; auf jene Musik aber,<br />

die von der NZZ als physische Erfahrung an der Grenze<br />

des Verkraftbaren bezeichnet wird, sollte im mindesten<br />

eingegangen werden; seichte und wenig fordernde<br />

Klänge hört man ja bisweilen genug.<br />

Programm:<br />

3.11. Schweizer Komponisten, 19:30<br />

13.12. Trio Bösch (Flöte), Buess (Schlagzeug), Henne<br />

berger (Klavier/Cembalo), 19:30<br />

7. 3.06 Italiener, 19:30<br />

16.5.06 Programm 4 (Grisey, Sciarrino, Treiber), 19:30<br />

jeweils im Zentrum Paul Klee.<br />

DIE ZWEITE SACHE<br />

Bild: zVg.<br />

■ ensuite - kulturmagazin hat Platzprobleme: Wir haben<br />

diese Nummer um 8 Seiten erweitert - doch schon<br />

5 Minuten nach dieser Entscheidung waren die Seiten<br />

bereits ausgebucht. Geschriebene Artikel mussten zum<br />

ersten Mal in unserer Geschichte abgelehnt oder auf die<br />

nächste Nummer verschoben werden. Noch mehr Seiten<br />

ist ein fi nanzielles Risiko, welches wir langsam angehen<br />

wollen. Wir entschuldigen uns für den Erfolg und verweisen<br />

für versprochenes auf die Dezember Ausgabe...


DAS REZEPT BRASILIEN<br />

- BRASIL A GOSTO<br />

■ Ein Fotoband mit dem sinnigen Namen «Brazil a<br />

gosto» von Alexandre Schneider und kulinarische Starkocherei<br />

von Margarida Nogueira und Teresa Corção,<br />

bilden eine weitere jährliche Verführung im Restaurant<br />

Dona Flor in Frieswil. Was hier auf den Teller und den<br />

Augen geboten werden, ist wie ein Ferienaufenthalt im<br />

warmen Süden - wir müssen dabei nur knappe 20 Minuten<br />

aus Bern raus. Und das lohnt sich! Noch bis zum<br />

5. November können wir im Schlaraffenland schwelgen.<br />

Überzeugend ist nicht nur das Essen, sondern auch die<br />

Einfachheit und familiäre Ambiente. Besonders Interessant<br />

ist der Kontakt zu den Köchinnen - wir erfahren<br />

einiges über eine andere Art zu kochen... und das inspiriert.<br />

Der Winter wird auf uns w<strong>art</strong>en müssen... (vl)<br />

last minute:<br />

vorpremiere!<br />

Habana Blues<br />

Der Regisseur Benito Zambrano (Solas) ist anwesend.<br />

Infos zum Film und Zeiten auf unserer Webseite.<br />

20 x 2 Gratistickets!<br />

30.11. - 20:30 Uhr - Kino Movie Bern<br />

Bestellen über www.ensuite.ch oder 031 318 6050!<br />

DIFFERENT MOODS<br />

IM THEATER NATIONAL<br />

■ Stephan Rigert ist wieder auf Tour. Die Kulturaustauschprojekte<br />

haben schon viele Begeisterte ZuschauerInnen<br />

miterleben können - und ein Ende ist sicherlich<br />

nicht in Sicht. Und das ist gut so. Auch diesmal haben<br />

wir eine unglaubliche Vielfalt an multikulturellen Musikern<br />

auf der Bühne vereint: Pritha Roy (Indien/ voc),<br />

Rupak Kulkarin (Indien/ fl ute), Kalinath Mishra (Indien/<br />

tabla), Gabriel Rivano (Argentinien/ bandoneon), Leon<br />

Duncan (Jamaica/ bass), Luis Ribeiro (Brasilien/ perc.),<br />

Daniel Pezzotti (CH/ cello), Sandro Schneebeli (CH/ guitar<br />

& comp.) und natürlich Staphan Rigert selber (CH/<br />

perc. & arr.). Hier vereinen sich spannende und interessante<br />

Klänge und Rhythmen - vor allem das Cello weckt<br />

zusammen mit dem Bandoneon das Interesse. Heiss<br />

wird es im Theater National werden - auch hier muss<br />

der Winter noch etwas Geduld üben. Schön auch zu<br />

wissen, dass Bern in Sachen Perkussion eine wichtige,<br />

internationale Drehscheibe ist - und dies nicht nur für<br />

Weltenbummler und Schöngeister...(vl)<br />

«TÜRKISCHER HONIG<br />

ODER FISCHBACHS ERBE»<br />

■ Seit fünfzehn Jahren bringen Antonia Limacher und<br />

Peter Freiburghaus als Lilian und Ernst Fischbach politische<br />

und gesellschaftliche Themen in Form von Alltagspossen<br />

auf die Bühne. Zeit die Lichter zu löschen, die<br />

Böden feucht aufzunehmen und in Pension zu gehen?<br />

«Mit dem Wohnwagen an einem Ort, wo man die Füsse<br />

ins warme Meer strecken kann.» Dazu müsste aber in<br />

korrekter Schweizer Manier zuerst die Nachfolge des<br />

erfolgreichen Familienunternehmens (mit «Fischbachs<br />

Hochzeit» füllten sie landesweit alle Säle, beim Zirkus<br />

Knie waren sie mehrmals im Programm) geregelt sein.<br />

Joint Ventures mit der nächsten Generation, Nischenprodukte<br />

und die Auslagerung der Senioren sollen helfen,<br />

den Firmenkarren aus dem Sumpf der «niederen<br />

Künste» zu ziehen.<br />

Zu der Türkei als Migrationsziel – immerhin, wie die<br />

Schweiz, noch immer nicht-EU-Land – könnten sich die<br />

«bodeständige» Entlebucher noch durchringen, auch<br />

wenn Ernst «im Ausland erst so richtig den Inländer in<br />

sich spürt». Auch gilt es für das Paar, das sich einst am<br />

Ländlermusigtreffen in Trubschachen kennengelernt<br />

hat, vorher noch die Scherben ihrer langen gemeinsamen<br />

Vergangenheit zu kitten - denn zu lachen hatte in<br />

all den Jahren vorwiegend ihr Publikum. Und weitere<br />

Vorlagen für Fischbachs legendäres Gezänk liefert die<br />

nicht ganz einfache (den Fischbachs aber durchaus aus<br />

dem Gesicht geschnittene) Verwandtschaft , die fi nanziell<br />

ebenfalls zufrieden gestellt sein will. So lässt sich<br />

etwa die mit musikalischem Talent und einer eher nihilistisch-abgeklärten<br />

Sicht der Dinge ausgezeichnete<br />

Schwiegertochter keinen Honig ums Maul schmieren,<br />

nicht mal türkischen:<br />

«Die Katz tut selten etwas.<br />

Meistens tut sie nichts.<br />

Sie bringt es aber auch zu nichts.<br />

Vor allem Anfang war das Nichts.<br />

Aus dem Nichts ist alles geworden.<br />

Ist alles für die Katz.»<br />

Ernst Fischbachs Motto gemäss, muss man aber ja<br />

»nicht immer alles so tragisch nehmen, wie es wirklich<br />

ist.» (jlf)<br />

Vorstellungen:<br />

22. - 26. November 2005 im National, Bern<br />

K U L T U R N O T I Z E N<br />

NIK BIERI<br />

AUF DIE<br />

BÄUME, IHR AFFEN!<br />

Winshluss: Sm<strong>art</strong> Monkey. Cmic<br />

5<br />

■ Eine dicke Nase, grosse, abstehende Ohren und<br />

die Intelligenz der ersten Stunde: Aus diesen Zutaten<br />

ist die Hauptfi gur in Winshluss‘ Comic gestrickt - ein<br />

kleiner Schimpanse, der friedlich auf einem Ast eines<br />

urzeitlichen Baumes döst. Doch diese Idylle währt<br />

nicht lange. Schliesslich tummelt sich allerlei Getier<br />

im Geäst, ständiges Fressen und Gefressenwerden<br />

dominiert die Szenerie. Glücklicherweise wurde der<br />

«Sm<strong>art</strong> Monkey» evolutionär mit etwas Intelligenz<br />

versehen und widersteht dadurch immer wieder den<br />

hungrigen Säbelzahntigern, Pterodaktylen und Tyrannosauriern<br />

und der Unbill der entfesselten Natur.<br />

Dass am Schluss doch die Kraft über die Intelligenz<br />

siegt, ist zwar tragisch, aber natürlich: Auch dies eine<br />

Spielform der Evolution. Im Epilog - Jahrmillionen<br />

später wird in der naturkundlich interessierten Gesellschaft<br />

des neunzehnten Jahrhunderts Darwins<br />

Theorie diskutiert - wird dieser Faden wieder aufgenommen.<br />

Ein befl issener Forscher versucht sich für<br />

erlittene Schmach zu rächen, in dem er stichfeste<br />

Beweise für die Evolutionstheorie fi ndet. Dazu reist<br />

er in den Dschungel Afrikas, wo sich der Kreis des<br />

«Sm<strong>art</strong> Monkey» überraschend schliesst. Die Evolution<br />

fi ndet statt, doch ist sie nicht mit dem Fortschritt<br />

zu verwechseln. Dies scheint die Hauptaussage des<br />

Autors zu sein, aus dessen Bildergeschichte der Evolutionspessimismus<br />

lacht. Die Zeichnung ist schwarzweiss<br />

und so fahrig, dynamisch und fl iessend, dass<br />

sie als natürliche Handschrift des Autors erscheint.<br />

Winshluss erzählt die Geschichte vom sm<strong>art</strong>en Affen<br />

ohne Worte, dafür mit ausgeprägtem Sinn für Details<br />

und Situationskomik. Erst im Epilog wird gesprochen,<br />

und zwar französisch: Sm<strong>art</strong> Monkey erschien beim<br />

französischen Kleinverlag Cornélius und eine deutsche<br />

Übersetzung gibt es (noch?) nicht.<br />

Winshluss: Sm<strong>art</strong> Monkey. Comic. Editions Cornélius.<br />

Paris 2004. ISBN 2-909990-91-5


6 K U L T U R & G E S E L L S C H A F T<br />

TILL HILLBRECHT<br />

mit der fingerspitze gegen die faust<br />

Das Frauenhaus in Bern feiert 25 Jahre Engagement für die Gesellschaft<br />

■ Ein Übel schafft es, sich der<strong>art</strong> fest in eine Gesellschaft<br />

einzuhocken, dass man es kaum mehr wegbringt.<br />

Das Übel setzt sich an, setzt zu, sitzt fest und wird, irgendwann,<br />

normal. Einmal alltäglich geworden, mag die<br />

Gesellschaft es nicht mehr wahr haben und lässt das<br />

Bekämpfen sein. Und so wird das Übel erst richtig gefährlich:<br />

Es verschwindet zwar aus den Gedanken, nicht<br />

aber aus der Gesellschaft.<br />

Suchen und Finden. Ich stehe auf, bedanke mich und<br />

gehe zu meinem Fahrrad. Diesem sonnigen Herbstag<br />

fehlt nichts, wir haben unser Gespräch kurzerhand auf<br />

die Terrasse des Restaurants verlegt, um dem vielleicht<br />

letzten wirklich warmen Nachmittag des Jahres das<br />

Sommergemüt abzuknöpfen und es für einen bevorstehenden<br />

tristen, regnerischen Novembertag zu sparen.<br />

Einzig der Grund des Treffens ist in der Wurzel ein Trüber<br />

und nun, nach dem Gespräch, haben sich zumindest<br />

in meinem Kopf ein paar dunkle Wolken breit gemacht<br />

– Gedanken über unsere Gesellschaft und reichlich<br />

Zweifel an ihr sind die Ursache. Sie haben mir die geheime<br />

Adresse nicht verraten, ich habe auch kein Interesse,<br />

sie zu erfahren. Aber Stephanie und Yasmin vom<br />

Frauenhaus haben mir von den h<strong>art</strong>en Schicksalen jener<br />

Frauen erzählt, welche die Adresse erfahren dürfen, um<br />

an diesem Ort Zufl ucht zu fi nden. Beide arbeiten dort<br />

– Stephanie H<strong>art</strong>ung als Leiterin, Yasmin Nüscheler-Gutiérrez<br />

als Beraterin. Und wenn diese zwei Frauen zu<br />

meinem Erstaunen mit einer gewissen – oder professionellen<br />

– Leichtigkeit von Gewalt und Bedrohung erzählen,<br />

dann nicht, weil es sie nicht berührt. Sondern weil es<br />

ihr Alltag ist, Opfern männlicher Gewalt zu helfen. Dabei<br />

dreht es sich nebst physischer oftmals auch um psychische<br />

Gewalt: Drohung, Nötigung, Erniedrigung und vor<br />

allem geistige Tortur treibt Frauen in einen Teufelskreis,<br />

aus dem der Weg hinaus, sprich hinein ins Frauenhaus<br />

kaum machbar scheint: Wenn du gehst, bring ich dich<br />

um / wirst du dein Kind nie wieder sehen / mache ich<br />

dein Leben zur Hölle / glaub ja nicht, ich werde dich<br />

nicht fi nden… Stephanie und Yasmin zählen auf. So wagen<br />

viele Frauen und Kinder den Schritt ins Frauenhaus<br />

gar nicht erst zu unternehmen. Dort versucht das Beraterinnenteam<br />

die Opfer aus der Gewaltspirale zu ziehen.<br />

Die meist traurige und schwierige Vorgeschichte macht<br />

diese Aufgabe jedoch zu einem sehr komplexen, subtilen<br />

Unterfangen, das viel Fingerspitzengefühl verlangt.<br />

Denn viele Frauen stehen in einer so enormen Abhängigkeit,<br />

dass ein rund ein Drittel bald wieder zu ihrem<br />

Peiniger zurückkehrt, bald wieder Leid erfährt und zuweilen<br />

auch bald wieder am Frauenhaus anklopft. Trotzdem<br />

– Stephanie sieht ihr Tun nicht als Sisyphosarbeit.<br />

Wer den Weg ins Frauenhaus schafft, hat bereits einen<br />

wichtigen Schritt gemacht.<br />

Theorie und Praxis. Ich sitze an unserem Tisch, nippe<br />

an meinem Glas Wasser. Es ist mir nicht ganz wohl in<br />

meiner Haut. Stephanie und Yasmin erzählen mir ganz<br />

offen über ihre Arbeit im Frauenhaus, obwohl sich mit<br />

der unbekannten Adresse doch eigentlich die schützende<br />

Hand der Anonymität über die Institution legt. Ich<br />

frage mich, was wohl die Kellnerin oder der Mann am<br />

Tisch neben mir denken, ich weiss sie hören die Schilderungen<br />

mit einem Ohr mit. Ob sie wohl auch so wenig<br />

über ein Problem wissen, von dem mehr Menschen<br />

betroffen sind, als die meisten denken? Dieser Punkt<br />

stellt eine komplexe Aufgabe an die Leitung des Frauenhauses:<br />

Den mühseligen Gang zwischen Geheimhaltung<br />

und Öffentlichkeitsarbeit zu meistern. Die Gesellschaft<br />

bestmöglich über eine Institution zu informieren, von<br />

der niemand wissen darf, wo sie ist. Den Frauen Angst<br />

nehmen, ihnen näher bringen, was sie nicht sehen dürfen.<br />

Enttabuisieren, Schweigen brechen. Unterstützen.<br />

Das Frauenhaus Bern ist eine anerkannte Opferhilfestelle<br />

und fi nanziert sich über Kantonsbeiträge, Landeskirchen,<br />

Kostgeldeinnahmen und Spenden. Der Auftrag<br />

der Häuser indes ist mit drei Schüsselbegriffen klar<br />

defi niert: Schutz, Beratung und Unterkunft für Frauen<br />

und Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Diese<br />

Aufgabe beginnt damit, Hilfesuchenden einen ersten<br />

Moment der Sicherheit und Ruhe zu schenken, dann<br />

Grundlage des Falles zu analysieren und schlussendlich<br />

mit weiterführenden Fachstellen zu vernetzen: ÄrztInnen,<br />

SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, Polizei. Das<br />

Frauenhaus sieht sich als stationäre Einrichtung für gewaltbetroffene<br />

Frauen und Kinder, als Beratungs- nicht<br />

aber Therapiestelle. Doch so klar dieser Auftrag auf<br />

dem Papier steht, so schwierig ist er in der Praxis umzusetzen<br />

und ihn auch einzuhalten. Die prekären Vorgeschichten<br />

der Betroffenen loten die Grenzen des Beratungsauftrages<br />

oftmals aus. Hinzu kommen Faktoren,<br />

die ein standardisiertes Abwickeln der Fälle vorneweg<br />

ausschliessen: Kultur- und Sprachbarrieren, religiöse<br />

Hintergründe, kontinuierliche Gewaltandrohung, zunehmende<br />

Elterngewalt gegenüber jungen Frauen. So kann<br />

ein Aufenthalt bis zu sechs Monaten dauern und endet<br />

in einzelnen Fällen sogar mit Namen- und Ortswechsel.<br />

Im Worst Case liegen Perücken bereit.<br />

Nicht gerade mit Perücke und Schminke, aber mit<br />

einer handvoll anderer Animationen ist der einzige<br />

Mann im Hause engagiert. Seine Tätigkeit nennt sich<br />

«Kinderanimator», das junge Klientel kennt ihn allerdings<br />

unter dem Namen «Kindermann». Im Gefüge des<br />

Frauenhauses ist dem Kindermann diejenige Rolle zugeteilt,<br />

welche die untergebrachten Kinder vielleicht nur<br />

vom Hörensagen kennen: Die Person des Guten Mannes.<br />

Diese unternimmt mit den Kids kleine Ausfl üge, geht in<br />

den Tierpark oder auf die Schlittschuhbahn. Es klingt<br />

simpel, aber die Wichtigkeit dieser Figur ist für ein Kind<br />

nicht zu unterschätzen. Der Kindermann soll ihm den<br />

Eindruck schenken, dass ein Mann auch nett, lieb und<br />

vertrauenswürdig sein kann. Kann.<br />

Die Kunst des Loslassens. Gegen das Klischee, häusliche<br />

Gewalt sei vorwiegend ein Migrantinnenproblem,<br />

wehrt sich Yasmin vehement. Die betroffenen Frauen<br />

kommen aus allen Schichten, durchschnittlich sind sie<br />

32 Jahre alt. Doch die verschiedenen kulturellen Fundamente<br />

verlangen auch ein differenziertes Umgehen<br />

mit den Frauen und Kindern. Die Beraterinnen bewegen<br />

sich während dem Kontakt mit Hilfesuchenden auf dem<br />

schmalen Grat zwischen Einfühlung und Abgrenzung.<br />

Yasmin will keine Wand zwischen der Frau und ihrer Person<br />

bilden, im Gegenteil: Betroffenheit soll entstehen.<br />

Dennoch darf die Option, Abschalten zu können, nicht<br />

verloren gehen. Man refl ektiert im Team Erlebnisse,<br />

tauscht aus, was sonst aufgrund der Schweigepfl icht<br />

niemand hören darf. Psychohygiene nennen sich diese<br />

Massnahmen: Die innere Balance fi nden, den Kopf frei<br />

halten. Abschalten. Trotzdem – die Erlebnisse begleiten<br />

Yasmin oftmals über die Schwelle des Frauenhauses hinaus.<br />

Wir wollen auch mal. Der Beginn des Gespräches ist<br />

kein Einfacher bei so einem ernsten Thema. Stephanie<br />

hat kurzerhand Yasmin mitgenommen, sie kennt den<br />

Frauenhausalltag als Beraterin aus erster Hand. Reden<br />

wir erst über das 25. Jubiläum, denke ich, ein dankbarer<br />

Einstieg in ein ernstes Thema. Locker anfangen. Ich halte<br />

den farbigen Flyer des Geburtstag-Events im Progr in


der Hand. Er zeigt eine junge Frau hinter<br />

bunten Strichen. Sie aber, die Frau, ist<br />

schwarz gekleidet, ihre Augen verstecken<br />

sich hinter einer dunklen Sonnenbrille.<br />

Die Grafi k legt die K<strong>art</strong>en der Kritiker<br />

auf den Tisch: Eine ernste Sache will ein<br />

fröhliches Fest feiern. Ein Widerspruch?<br />

Eigentlich schon. Eigentlich aber auch<br />

überhaupt nicht. Das Frauenhaus, 1980<br />

als Projekt der neuen Frauenbewegung<br />

entstanden, hat Grund genug sich selbst<br />

feiern zu dürfen: Wer sich ein Vierteljahrhundert<br />

gegen Gewalt eingesetzt hat<br />

und dies auch nur aus dem Versteckten,<br />

darf den Schritt in die Öffentlichkeit tun.<br />

«Wir wollen ganz einfach auch mal feiern»,<br />

meinen Yasmin und Stephanie. Und<br />

das locker, ohne Drohfi nger. Es soll kein<br />

schwerer Anlass werden, man will niemanden<br />

belehren. Die Menschen sollen<br />

die Institution kennenlernen, aber auch<br />

einfach die Freude der Frauenhäuslerinnen<br />

teilen, es bereits so lange geschafft<br />

zu haben. 25 Jahre Frauenhaus, am 25.<br />

November 2005 im Progr. Und als ob die<br />

Zahlen 2 und 5 nicht schon Mysterium<br />

genug wären, ist an diesem Tag gleich<br />

auch noch der internationale Tag der Gewalt<br />

gegen Frauen. Ein Zeichen setzen.<br />

Oder feiern, dass man in diesen 25 Jahren<br />

schon so manches Zeichen gesetzt<br />

hat. Nur, dass kaum jemand davon etwas<br />

weiss.<br />

Ich mache mich auf zum Gespräch mit<br />

Stephanie, wir haben in einem Restaurant<br />

abgemacht. Als Fachstellenleiterin des<br />

Frauenhauses sieht sie einem grossen<br />

Anlass entgegen. Das Frauenhaus feiert<br />

Geburtstag und ich soll mit ihr darüber<br />

sprechen und was schreiben – über diese<br />

Einrichtung, aber was genau? Ich weiss<br />

nicht recht, recherchiere ein wenig im Internet,<br />

aber man fi ndet kaum was. Habe<br />

gar nicht gewusst, dass die eine geheime<br />

Adresse haben.<br />

FR 25.11. 17h<br />

25 Jahre Berner Frauenhaus<br />

Ort: Turnhalle - PROGR_Zentrum für Kulturproduktion,<br />

Eingang Innenhof Speichergasse, 3001 Bern<br />

Das Frauenhaus, die stationäre Institution für gewaltbetroffene<br />

Frauen und Kinder feiert mit einem grossen<br />

Fest ihr 25-jähriges Engagement für die Gesellschaft.<br />

Programm:<br />

17h Apéro, Kunstinstallation «sweet home» von Tina<br />

z’Rotz / Tanzeinlagen der Compagnie Afro Rhythme<br />

Danse, 18h einen Vortrag von Maja Wicki, 20h Konzert<br />

mit Lyn Leon. Anschliessend abtanzen mit DJ Anouk<br />

Amok // www.frauenhaus-schweiz.ch / www.lynleon.com<br />

7


8 G E S E L L S C H A F T<br />

ANKLANG#1 –<br />

STEGREIFKUNST DER<br />

FRAU<br />

■ Wer ist IDA? Neben all dem Knatsch um die Reitschule,<br />

dieser Austobewiese lokaler Politaktiven<br />

zwecks Ausschmückung ihres Palmarés, dringt nur<br />

noch wenig Produktives aus dem Gemäuer der Kulturstätte.<br />

Konzerte, klar. Der Dachstock dabei meist<br />

voll, der Vorplatz genau so. Dennoch schafft es die<br />

Reitschule öfter in den Politteil als in die Kultursp<strong>art</strong>e<br />

der Medien – wie auch immer. Ganz hinten in der<br />

Reitschule, am Ende des gepfl asterten Innenhofes, da<br />

fi ndet man eine Tür. Vom Raum dahinter könnte man<br />

glauben, er trotze im Stillen ein wenig diesem Seilziehen<br />

um das Gebäude. Er bleibt oft unentdeckt ausserhalb<br />

des Laternenlichtkegels liegen, und manch<br />

ein Ortskundiger kennt ihn nur vom Hörensagen.<br />

Vielleicht gerade deshalb ist es einer der schönsten<br />

Räumlichkeiten der Reitschule: Der Frauenraum. Darin<br />

waltet IDA. IDA ist ein Veranstaltungskollektiv von<br />

Frauen und organisiert kulturelle und gesellschaftspolitische<br />

Veranstaltungen, 70 an der Zahl pro Jahr.<br />

IDA sieht sich zwar als Plattform für Frauen, das Angebot<br />

richtet sich jedoch an alle Geschlechter, unabhängig<br />

von Glauben, Gesinnung oder auch sexueller<br />

Orientierung.<br />

Nun präsentiert IDA mit anKlang#1 ihren neusten<br />

Wurf. anKlang#1 ist der Schweizweit erste Zyklus<br />

improvisierter Musik, die von Musikerinnen und Tonkünstlerinnen<br />

produziert, gestaltet und präsentiert<br />

wird. Zeitgenössisches Schaffen im Bereich der Audiokunst,<br />

konstruiert von Frauen aus dem In- und benachb<strong>art</strong>en<br />

Ausland. Dabei kommen die Künstlerinnen<br />

aus ganz unterschiedlichen musikalischen Ecken.<br />

Regula Gerber aus Bern etwa, wanderte mit ihrem<br />

Kontrabass im Gepäck aus der Klassik in Richtung<br />

Freejazz und macht für ihr Spiel auch mal in Höhlen,<br />

Kirchen oder Fabriken halt. Oder Elisabeth Wandeler-<br />

Deck: Ihre Texte bilden die Grundlage für die Musik<br />

der «bunten Hörschlaufen» . Dabei geschehen Texterarbeitung<br />

und Improvisationskomposition unabhängig<br />

von einander und werden in der Aufführung<br />

zusammengeführt. Anklang dürfte auch der Improvisations-Workshop<br />

am Freitag- und Samstagnachmittag<br />

fi nden. Unter der Leitung von Katharina Weber<br />

( Hochschule der Künste Bern ) widmen sich die Teilnehmerinnen<br />

der Improvisation und werden im Vorprogramm<br />

des Samstagabends gleich selbst Teil des<br />

Festivals. (th)<br />

anKlang#1 fi ndet vom 17. bis 20 November statt.<br />

Im Frauenraum, Programmverweis: For women and<br />

men.<br />

TILL HILLBRECHT<br />

queersicht auf<br />

leckere östlichkeit<br />

■ Wenn im November jemand die Rosa Brille aufgesetzt<br />

bekommt, dann nicht als Geschenk von Amor<br />

an Frischverliebte. In diesem Fall nämlich handelt es<br />

sich vielmehr um den Filmpreis «Rosa Brille» für den<br />

besten Kurzfi lm am schwul-/lesbischen Filmfestival<br />

QUEERSICHT. Queersicht, Sicht auf nichtalltägliches<br />

oder nichtalltägliche Sicht. Die Sicht ist das Format der<br />

Leinwand eines queeren Festivals. Sicht auf Queeres<br />

aus dem In- und Ausland, auf Dokumentar-, Spiel- und<br />

Kurzfi lme. Unterhaltend, vergnügend. Erschütternd.<br />

Das älteste schwul- / lesbische Filmfestival der<br />

Schweiz steigt in diesem Jahr bereits zum neunten Mal<br />

und hat sich zu einem festen Kulturereignis in Bern gemausert.<br />

Für das Festival hat der Trägerverein Queersicht<br />

fünf Kinos und Kulturlokale eingespannt. Film<br />

und Rahmenprogramm fi ndet im Kino ABC, Kellerkino,<br />

Kunstmuseum, der Reithalle und im Gaskessel statt. 40<br />

Produktionen aus verschiedenen Ländern hat das Komitee<br />

für die diesjährige Ausgabe zusammengetragen.<br />

Was ist das Ziel eines schwul-/lesbischen Filmfestivals?<br />

Filmperlen unterschiedlichster Art den Zugang<br />

ins Kino zu ermöglichen, die sonst an den Hürden der<br />

Intoleranz und der Zensur scheitern. Oder am Finanziellen.<br />

Queersicht gräbt tief in unbekannten Filmkisten<br />

und bringt uns Low-Budget-Kino, zum Beispiel aus Asien<br />

( Yan Yan Mak: «Butterfl y») oder Argentinien: «Un<br />

año sin amor» von Anahí Bernerí zeigt auf erschütternde<br />

Weise, wie heutzutage mit Aids umgegangen wird.<br />

Berneri schildert die Leidensgeschichte eines aidskranken,<br />

schwulen Autors, der in seiner Trauer langsam tiefer<br />

in die SM-Welt hinein gerät und sich schliesslich in<br />

ihr verliert.<br />

Im Osten nichts Neues? ist Name und Pogramm des<br />

diesjährigen Festivalschwerpunktes. Der Osten im Aufbruch.<br />

Vieles mag besser werden, einiges bleibt wie es<br />

ist und manches verschlechtert sich. Die aktuelle Situation<br />

für Lesben und Schwulen indes ist verworren: So<br />

wurde in Polen zum zweiten Mal die Durchführung des<br />

Christophers Street Day verboten, während umgekehrt<br />

in Ungarn Lesben und Schwule eingetragene P<strong>art</strong>nerschaften<br />

eingehen können. Zeitgenössisches Ostkino<br />

Bild: zVg.<br />

unter anderem aus Russland und der Slowakei. ben dem<br />

aktuellen Filmschaffen wirft das Queersicht-Festival<br />

aber auch eine Retrospektive auf die Zeit vor dem Systemwechsel.<br />

«Coming Out» von Heiner Carow etwa gilt<br />

als erster bedeutender Schwulenfi lm aus der ehemaligen<br />

DDR: Ein Zeitzeuge sowohl historischer Ereignisse<br />

als auch damaliger homosexuellen Paradigmen.<br />

Um diesem schwierigen und grossen Rahmen gerecht<br />

zu werden wird unmittelbar vor dem Festival ein viertägiges<br />

Pre-Festivalprogramm in Salecina durchgeführt.<br />

«Warming-up for exchange» nennt sich das Treffen in<br />

den Schweizer Alpen, das darauf zielt, ost- und westeuropäisches<br />

Filmschaffen zusammenzubringen. Politisch<br />

und kulturell engagierte Personen aus osteuropäischen<br />

Ländern fi nden hier einen Austausch von Erfahrungen,<br />

die sie beim Realisieren von Festivals und Filmen unter<br />

widrigsten Umständen gemacht haben. Während dem<br />

Festival werden die Ergebnisse aus Salecina am «Open<br />

Forum» gezeigt und diskutiert.<br />

Neues für alle Weg von der Ostthematik und hin zur<br />

Wollust führt der Videovortrag von Manuela Kay: Wie<br />

drehen wir gute lesbische Pornos? Dabei geht es um<br />

sachliche Kriterien wie Authentizität, Schauspielkunst<br />

und den Scharfmach-Faktor. Die Berliner Filmmacherin<br />

muss es wissen: Sie ist unter vielem anderen Autorin<br />

des Werkes «Schöner kommen», das Sexbuch für Lesben.<br />

Aber auch eine ganze Reihe anderer Leckerbissen<br />

im Rahmenprogramm des Festivals verkürzen dem<br />

Cineasten die Filmpausen: Podiumsdiskussionen, die<br />

Queersichtlounge im Frauenraum, die Festivalp<strong>art</strong>y am<br />

Samstagabend. Ein Wochenende lang wird Kultur geschaffen,<br />

die Bern gut tut. Schön unkonventionell, provokativ,<br />

erweiternd. Nicht nur wie die meisten Filme, ist<br />

auch das Festival an sich eine Low-Budget-Produktion.<br />

Aber: nicht billig gemacht. Sondern gewagt, ausgewogen,<br />

mit viel Umschwung. Queer eben.


Sprachgewaltige Newcomerin<br />

Kirsten Fuchs: Die Titanic und Herr Berg. Roman.<br />

Die 1977 in Karl-Marx-Stadt geborene Kirsten Fuchs<br />

lernte zunächst Tischlerin, bevor sie sich daran machte,<br />

ihre Wahlheimat Berlin literarisch zu erobern. Dieser<br />

Feldzug lohnte sich insofern als sie 2003 den begehrten<br />

Open Mike entgegennehmen durfte und mit ihrem Romanerstling<br />

verdientermassen weit über Deutschlands<br />

Hauptstadt hinaus bekannt geworden ist.<br />

In ihrer ureigenen Sprache lässt sie den Leser Anteil<br />

haben an der Begegnung zwischen einer jungen Sozialhilfeempfängerin<br />

und deren Sachbearbeiter vom Sozialamt,<br />

mit Namen Berg. Dazu ein kleiner Auszug: «Und<br />

dann war da mein neuer Sachbearbeiter. Den wollte ich<br />

gar nicht anlügen. Den wollte ich mich mir in den Schlüpfer<br />

stecken, damit er sich aufwärmen kann.» (S. 13)<br />

Zwei Welten prallen diametral aufeinander. Sie weiss<br />

sofort: er ist der Mann, der Richtige, weil da sind noch<br />

viele andere. Er aber, Vater zweier Kinder, mit zwei Trennungen<br />

im Rücken will nicht so recht und kann sich doch<br />

nicht entziehen. Physisch können die beiden nicht voneinander<br />

lassen. Und doch scheint das Happy-End, welches<br />

der Leser unweigerlich erw<strong>art</strong>et, in immer weitere<br />

Ferne zu rücken. Sie verliert sich zusehends in Traumwelten,<br />

während er nicht weiss, wohin mit sich selbst.<br />

Es wird gefährlich für sie beide, denn schliesslich ist er<br />

Herr Berg und sie ist die Titanic.<br />

Für zusätzliche Spannung sorgt die Autorin dadurch,<br />

dass sie ihren beiden Protagonisten eine eigene Stimme<br />

verleiht und diese ihre jeweils individuellen Geschichten,<br />

welche sich immer wieder kreuzen, einzeln erzählen<br />

lässt.<br />

Allen Unkenrufen zum Trotz beweist Kirsten Fuchs einmal<br />

mehr, dass die junge deutsche Literatur lebt...und<br />

wie sie lebt!<br />

Fuchs, Kirsten: Die Titanic und Herr Berg. Roman. Rowohlt<br />

Verlag. Berlin 2005. ISBN 3 87134 531 8. S. 286.<br />

Wider die gängige Moral<br />

Harold Pinter: The Homecoming. Drama.<br />

Harold Pinter, der in den letzten Jahren vor allem aufgrund<br />

seiner kritischen Äusserungen bezüglich Tony<br />

Blairs Irakpolitik von sich reden machte, erhielt vor wenigen<br />

Tagen den diesjährigen Nobelpreis für Literatur.<br />

Ausgezeichnet wurde er insbesondere für seine Dramen<br />

wider die bürgerliche Moral der 60er und 70er Jahre,<br />

welchen er zu verdanken hat, schon zu Lebzeiten zur<br />

Erweiterung der Englischen Sprache beigetragen zu haben.<br />

Das Ajektiv «pinteresk» leitet sich von jener Welt<br />

ab, die Pinter in seinen Stücken zeichnet. Eine Welt, in<br />

welcher wenige, an sich harmlose Worte genügen, um<br />

eine Atmosphäre der Bedrohung zu schaffen.<br />

The Homecoming beschreibt nun die Rückkehr des erfolgreichen,<br />

an einer amerikanischen Universität tätigen<br />

Philosophieprofessors Teddy mit seiner Ehefrau Ruth in<br />

sein Geburtshaus in London. Hier lebt sein Vater Max<br />

gemeinsam mit seinem Bruder Sam und seinen beiden<br />

weiteren Söhnen Lenny und Joey.<br />

Scheint zunächst allseitig Freude über das Wiedersehen<br />

zu herrschen, entwickelt sich die Beziehung zwischen<br />

Ruth und den männlichen Mitgliedern der Familie schon<br />

bald auf höchst seltsame Weise. Die seit sechs Jahren<br />

verheiratete Mutter lässt sich von ihren Schwagern verführen<br />

beziehungsweise verführt diese ihrerseits. Dies<br />

alles im Beisein ihres Mannes, welcher eine der<strong>art</strong>ige<br />

Entwicklung der Ereignisse schon vorausgesehen haben<br />

musste, da er seine Angetraute möglichst schnell wieder<br />

hatte aus seinem Elternhaus wegbringen wollen.<br />

In Anbetracht dessen, was sich nun abspielt, bleibt der<br />

gehörnte Ehemann erstaunlich ruhig, er willigt sogar<br />

ein, seine Frau für eine Weile in seinem Elternhaus wohnen<br />

zu lassen, wenn das ihrem Wunsch entspreche.<br />

Ein verstörendes Drama, welches genauer zu verdeutlichen<br />

vermag, was unter dem Begriff «pinteresk» zu<br />

verstehen ist.<br />

Pinter, Harold: The Homecoming. Drama. Faber and Faber.<br />

London 1965. Neuaufl age 1999. ISBN 0-571-16080-<br />

8. S. 138.<br />

Wohin des Weges?<br />

L I T E R A T U R<br />

Walter Wittmann: Halbzeit – der Bundesrat<br />

auf dem Prüfstand.<br />

Walter Wittmann, emiritierter Wirtschaftsprofessor der<br />

Universität Freiburg, malt ein nicht eben positives Bild<br />

der Schweiz. Nüchtern stellt er fest, dass die Erfolgsgeschichte<br />

nicht erst in den 90er Jahren des letzten<br />

Jahrhunderts endet, sondern bereits 1973. Diese Trendwende<br />

in den frühen 70er Jahren führt Wittmann auf<br />

unterschiedliche Faktoren zurück: einerseits auf die<br />

fehlende Erneuerung des Produktionsapparates, andererseits<br />

auf den bis 1973 unterbewerteten Franken, was<br />

der Schweiz Exportvorteile einbrachte, wichtige Innovationen<br />

jedoch verhinderte. Den Zuzug von nicht qualifi -<br />

zierten ausländischen Arbeitskräften führt er als einen<br />

weiteren Punkt an.<br />

Wittmann stellt klar, dass über die dringend nötigen<br />

Reformen, welche das wirtschaftliche Wachstum, die Sicherung<br />

der Sozialwerke, den Anstieg der Gesundheitskosten<br />

etc. betreffen, inzwischen Konsens herrsche.<br />

Darüber hinaus bezeichnet der Autor die Bundesratswahl<br />

2003 als eine besondere, da hier erstmals seit<br />

1959 mit der Zauberformel gebrochen wird, und stellt<br />

diese im Pressespiegel dar. Darin wird deutlich, wie<br />

gross die Hoffnungen, welche man in diesen nunmehr<br />

bürgerlichen Bundesrat gesetzt hatte, zu Beginn der Legislaturperiode<br />

waren.<br />

Akribisch, wenn auch etwas trocken, untersucht Wittmann<br />

im Hauptteil des Buches die Plattformen der<br />

SVP und der FDP und deren jeweilige Umsetzung, um<br />

mit der ernüchternden Festellung abzuschliessen, dass<br />

die Reformen bis anhin auf der Strecke geblieben sind.<br />

Der Hauptgrund des bisherigen Scheiterns ist gemäss<br />

Wittmann insbesondere auf unsere direkte Demokratie<br />

zurückzuführen, welche bisher den Beitritt der Schweiz<br />

zur EU verhindert hat.<br />

Eine Trendwende erhofft sich der zuweilen etwas polemische<br />

Autor für die Legislaturperiode von 2007-2011<br />

von der «Allianz zur Revitalisierung der Schweiz» - worunter<br />

er eine Koalition von FDP, CVP und SP versteht<br />

- und damit eine Öffnung der Schweiz hin zu Europa und<br />

der restlichen Welt. Hoffen wir mit.<br />

Wittmann, Walter: Halbzeit – der Bundesrat auf dem<br />

Prüfstand. Orell Füssli verlag. Zürich 2005. ISBN 3-280-<br />

05120-7.<br />

9


10<br />

L I T E R A T U R<br />

SARAH ELENA SCHWERZMANN<br />

nur liebhaber können das<br />

unmögliche möglich machen<br />

■ Literaturübersetzer stellen sich viele Leute als poetische<br />

und romantische Menschen vor. Und es stimmt<br />

schon, dass ein literarisches Flair vorhanden sein muss.<br />

Doch der Alltag eines Literaturübersetzers ist hauptsächlich<br />

von h<strong>art</strong>en Arbeitsbedingungen geprägt: Kaum<br />

einhaltbare Deadlines, konstante Stresssituationen und<br />

eine schlechte Bezahlung. Ein Job für Liebhaber also,<br />

wie zum Beispiel Werner Schmitz.<br />

Die Liebe zum Detail Ursprünglich hatte der heute<br />

52Jährige Deutsche Volkswirtschaft studiert. Angefangen<br />

hat seine Karriere als Literaturübersetzer mit den<br />

Briefen von Hemingway. Seitdem hat er zahlreiche andere<br />

Werke von Hemingway sowie John le Carré, Henry<br />

Miller und insgesamt fünf Bücher von Philip Roth übersetzt<br />

– darunter auch dessen neustes Werk «Verschwörung<br />

gegen Amerika».<br />

Heute müssen Übersetzungen bekannter Autorinnen<br />

und Autoren beinahe zeitgleich mit dem Original<br />

erscheinen, wie dies gerade bei Michel Houllebecqs «Die<br />

Möglichkeit einer Insel» der Fall ist. Und darunter leidet<br />

oftmals die Qualität der Übersetzung. Philip Roth’ Werke<br />

machen dabei aber eine Ausnahme: Sie gelten unter<br />

einigen Übersetzungswissenschaftlern als unübersetzbar<br />

– und werden doch übersetzt. Deshalb hat Werner<br />

Schmitz ganze sechs Monate Zeit bekommen.<br />

Das Gefälle der Kulturen Doch was genau ist so<br />

speziell an diesem Autor? «Die besondere Herausforderung<br />

der Roth-Bücher sind die Detail reichen Beschreibungen»,<br />

weiss Werner Schmitz. «Das erfordert vom<br />

Übersetzer zwar viel Geduld, doch das macht diesen<br />

Autor auch interessant und seine Bücher lesenswert.»<br />

Eine besondere Herausforderung stellen dabei Kulturspezifi<br />

ka dar, das heisst die Dinge, die einer Kultur und<br />

Sprache eigen sind. Und diese verstecken sich meist in<br />

scheinbar unbedeutenden Details. Beim aktuellen Roth-<br />

Roman waren dies unter anderem die amerikanischen<br />

Briefmarken, die über Seiten hinweg beschrieben werden.<br />

«Jedes amerikanische Kind kennt diese Briefmarken.<br />

Sie sind Bestandteil der amerikanischen Kultur. Jeder<br />

weiss, wie sie aussehen. Nur: Weiss das jemand mit<br />

einem deutschen Kulturhintergrund? Wahrscheinlich<br />

nicht.»<br />

Also hat sich Werner Schmitz die Briefmarken auf<br />

dem Internet genau angesehen und versucht, sie so<br />

Detail getreu wie möglich zu beschreiben. Detaillierter<br />

als im Original versteht sich, um dem deutschen Leser<br />

zu helfen. «Ein anderes Problem waren die amerikanischen<br />

Häuser. Wissen Sie, was ein Zweieinhalb-Familienhaus<br />

ist? Ich konnte mir darunter nichts vorstellen.<br />

Also musste ich versuchen, Bilder von diesen Häusern<br />

aufzutreiben. Da aber in Amerika die Häuser nach ein<br />

paar Jahrzehnten abgerissen und neu gebaut werden,<br />

hat sich das schwierig gestaltet.»<br />

Ein weiterer Kultur spezifi scher Aspekt, der sich hier<br />

allerdings durch das ganze Buch zieht und sich nicht nur<br />

auf eine einzelne Passage beschränkt, wie es bei «Der<br />

menschliche Makel» der Fall war, ist die Problematik der<br />

Deutschen Sprache der Kriegszeit. Denn die Geschichte<br />

lebt im Original dadurch dass sie von einem amerikanischen<br />

Jungen, der in Amerika lebt im Amerikanischen<br />

erzählt wird. In der Übersetzung allerdings wird die<br />

Geschichte von einem amerikanischen Jungen, der in<br />

Amerika lebt im Deutschen, und somit in der Sprache<br />

des Feindes erzählt. Besonders auffallend ist dabei, dass<br />

der kleine Philip nicht nur, für uns «normales» Deutsch<br />

spricht, sondern Wörter wie Rasse, Volk und Heimat<br />

verwendet. Wörter, die wir mit Deutschem Kulturhintergrund<br />

ganz klar nicht mehr benutzen, weil sie von Hitler<br />

so überstrapaziert wurden und heute sehr negativ besetzt<br />

sind. Hier ist es also ein ganz klarer Verdienst des<br />

Übersetzers, dass die Geschichte mit dem Sprachenwechsel<br />

nicht an Glaubwürdigkeit verliert. Denn beim<br />

Lesen des Romans wird man sich dessen gar nicht bewusst.<br />

Erst später, wenn man über das Gelesene nachdenkt,<br />

fällt es auf.<br />

Traumjob? Alles Kleinigkeiten, mag man denken,<br />

doch gerade diese entscheiden, ob eine Übersetzung<br />

gut ist oder nicht. Deshalb war es trotz Schmitz’ Vorkenntnissen<br />

für ihn unerlässlich, etwa Reden und die<br />

Biographie von Charles Lindbergh zu lesen, dem Fliegerpionier<br />

und Herausforderer von Roosevelt bei der<br />

Präsidentschaftswahl von 1940. Dieser ist in «Verschwörung<br />

gegen Amerika» nämlich eine von Roth’ Hauptfi guren.<br />

Die Aufgabe des Literaturübersetzers besteht also<br />

darin, eine Geschichte in eine andere Mentalität, in eine<br />

andere Kultur zu übertragen. Ein sehr komplexer Prozess,<br />

der mit vielen Vorgaben und Einschränkungen verbunden<br />

ist. Trotzdem wird die Arbeit des Übersetzers<br />

von der Öffentlichkeit in den wenigsten Fällen gewür-<br />

digt, in Buchbesprechungen werden sie selten erwähnt.<br />

Dazu Werner Schmitz: «Vielleicht wäre das auch nicht<br />

klug. Man kann darauf hinweisen. Aber oftmals haben<br />

Literaturkritiker auch nicht die nötigen Kompetenzen,<br />

um das zu beurteilen.»<br />

Zur Geschichte - Was wäre wenn? Philip Roth wagt<br />

in «Verschwörung gegen Amerika» ein historisches Experiment<br />

mit Folgen. Einmal mehr brillant.<br />

1940. Charles Lindbergh, der berühmte Pilot, der<br />

aber gleichzeitig Antisemit und Faschist ist, fordert<br />

Franklin D. Roosevelt bei den Präsidentschaftswahlen<br />

heraus – und gewinnt unerw<strong>art</strong>et. Hitler lädt den neuen<br />

Präsidenten nach Deutschland ein, wo dieser einen<br />

Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland unterzeichnet.<br />

Kurz darauf kommt es in Amerika zu ersten antisemitischen<br />

Ausschreitungen, die die Juden in Angst und<br />

Schrecken versetzen.<br />

In der Summit Avenue in Newark hingegen lebt der<br />

sieben Jahre alte Philip Roth ein ganz normales Leben.<br />

Mittelpunkt ist dabei seine über alles geliebte Briefmarkensammlung,<br />

die ihn überall hin begleitet. Erst als er<br />

sich mit der Ohnmacht seines Vaters gegenüber der Bedrohung<br />

konfrontiert sieht, wird auch dem unbeschwerten<br />

Philip klar, dass hier etwas Gewaltiges im Gange ist.<br />

Die einst so glückliche Familie zerbricht langsam.<br />

«Verschwörung gegen Amerika» beginnt eigentlich mit<br />

einer ganz harmlosen Frage: Was wäre gewesen wenn?<br />

Der in Amerika geborene Jude Philip Roth spinnt aus<br />

einer anfänglich kühnen Idee eine glaubwürdige Geschichte,<br />

die, im Nachhinein betrachtet, sehr gut auch<br />

wirklich so hätte geschehen können. Dabei erzählt der<br />

72Jährige aus der kindlich-naiven Sicht seines 7-jährigen<br />

Alter-Ego, aber mit dem Vokabular und den geistigen<br />

Fähigkeiten eines Intellektuellen. Ein Kunstgriff,<br />

von dem man sich schnell einlullen lässt. Langsam und<br />

schleichend lässt hier einer der besten Erzähler Amerikas<br />

den Faschismus wirken und porträtiert gleichzeitig<br />

das Bild eines Landes, das dem heutigen Amerika unter<br />

George W. Bush gefährlich nahe kommt.<br />

Philip Roth: «Verschwörung gegen Amerika». Roman,<br />

Hanser Verlag, 431 Seiten, Fr. 44.50.


ISABELLE LÜTHY<br />

die magie<br />

der puppen<br />

■ Ein üppiges Festmahl ist im Gange. Damen und Herren<br />

sind in ihren schönsten Gewändern erschienen. Musik<br />

erklingt. Man prostet sich zu, es wird gelacht, gesungen<br />

und getanzt. Der Wein fl iesst in immer grösseren<br />

Mengen. Was mit zärtlichen Umarmungen beginnt, wird<br />

alsbald zu einem Knäuel der Wolllust. Einzig „Jedermann“<br />

ist nicht zum Feiern zu Mute. Geplagt von Visionen,<br />

sieht er seine Freunde bald im Totenhemd, bald<br />

hört er Glockenklingen und eine schauerliche Stimme<br />

seinen Namen rufen. – Der Tod tritt auf die Bühne. – Im<br />

«Theater vis à vis» sind die letzten Proben des Klassikers<br />

„Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal zugange.<br />

Darsteller: Jedermann (Frank Demenga) und die<br />

Puppenbühne Demenga / Wirth.<br />

Monika Demenga und Hans Wirth sind während des<br />

grössten Teils der Vorstellung für das Publikum sichtbar.<br />

Sie halten die Tischfi guren direkt in der Hand, an<br />

einem kurzen horizontalen Stab, der im Schulterbereich<br />

der Puppe befestigt ist. Dennoch wird ihre Anwesenheit<br />

auf der Bühne praktisch nicht wahrgenommen. Die Aufmerksamkeit<br />

des Publikums fokussiert sich auf die Figuren<br />

und ihre Bewegungen.<br />

Was auf der Bühne so leicht und graziös aussieht, ist<br />

das Ergebnis einer langen Vorbereitungszeit. Ein halbes<br />

Jahr dauert es, bis ein neues Stück steht, bis Figuren<br />

und Kostüme hergestellt, die Stimmen auf Band gesprochen,<br />

die Bewegungen einstudiert und die ganze Choreografi<br />

e mit Licht und Ton abgestimmt ist. Die Stücke<br />

stammen oft aus der eigenen Feder. Auch die Figuren<br />

kreiert Monika Demenga selbst. Die Kostüme schneidert<br />

sie gemeinsam mit Maja Beck. Für die Mechanik der Figuren<br />

ist Hans Wirth zuständig. Für jedes Stück werden<br />

neue Figuren gestaltet. «Während des Herstellungsprozesses<br />

gibt es immer wieder diesen magischen Moment,<br />

an dem die Puppen plötzlich ein Eigenleben bekommen<br />

und zu Persönlichkeiten werden», erzählt Monika Demenga.<br />

Weit über hundert Figuren hat sie bisher geschaffen,<br />

die jetzt in Koffern und Kisten schlafen oder<br />

die Wände des Ateliers zieren.<br />

Die Verbindung von schauspielerischen und bildnerischen<br />

Elementen hat Monika Demenga schon immer<br />

fasziniert. Nach der Schauspielschule absolvierte sie<br />

die Kunstgewerbeschule und nahm Kurse am Institut<br />

für Puppenspiel in Bochum. Seit 36 Jahren arbeitet sie<br />

nun schon als Puppenspielerin. Ein Beruf, den man nach<br />

einem Arbeitstag nicht einfach ablegen könne, sondern<br />

der «hundert Prozent Herzblut» erfordere. 1968 gründete<br />

sie die Puppenbühne, zu der Hans Wirth 1977 – mehr<br />

«aus Zufall und Neugierde» – als fester P<strong>art</strong>ner beitrat.<br />

Seit 1992 führen sie zusammen das «Berner Puppentheater»<br />

sowie, seit 1999, das «Theater vis à vis».<br />

Nach der Aufführung gibts Kaffee. «Auf der Bühne<br />

ist es unglaublich heiss», seufzt Monika Demenga und<br />

reibt sich die Arme. Das Spiel mit den Puppen ist an-<br />

strengend und erfordert höchste geistige und körperliche<br />

Konzentration. Anders als beim gewöhnlichen<br />

Theater wird hier die ganze physische Präsenz in die<br />

Fingerspitzen gelegt. Der Puppenspieler fungiert quasi<br />

als Übersetzer. Mit präzisen Handbewegungen überträgt<br />

er Gefühle, Stimmungen oder Charaktereigenschaften<br />

der Puppen in Bewegungen und macht sie so für die<br />

Zuschauer sichtbar. Der Unterschied zwischen Theater<br />

und Puppenspiel sei vergleichbar mit dem zwischen einem<br />

Sänger und einem Geiger, erläutert Regisseur Jiri<br />

Ruzicka. Der Sänger brauche nur seine eigene Stimme,<br />

der Geiger jedoch bringe die Geige indirekt durch die<br />

Bewegung des Bogens zum Klingen.<br />

Eine Frage brennt auf der Zunge: Welche Bedeutung<br />

kommt dem Puppentheater in unserer digitalisierten<br />

Welt zu?<br />

Für Monika Demenga beginnt das Puppentheater<br />

dort, wo das Menschentheater an seine Grenzen stösst<br />

– im Bereich des Märchenhaften und Magischen. «Das<br />

Spiel mit Figuren ist das ideale Medium, um die Magie<br />

des Irrealen darzustellen, um Steine und Tiere sprechen<br />

zu lassen, um Feen, Zauberer und Hexen zum Leben zu<br />

erwecken.» Das Puppenspiel spreche unsere urmenschliche<br />

Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen und Übernatürlichen<br />

an. Dem fügt Hans Wirth hinzu: «Gerade in der<br />

heutigen Zeit, in der alles sehr hektisch und laut zu und<br />

her geht und wir von medial vermittelten Inhalten überfl<br />

utet werden, hat die unmittelbare Art des Figurenheathers<br />

eine besondere Anziehung.» Es spreche nicht nur<br />

den Intellekt und das Gefühl, sondern auch das ästhetische<br />

Empfi nden des Zuschauenden an. Dieses Empfi nden<br />

zu fördern, sei für ihn als Puppenspieler ein sehr<br />

wichtiges Anliegen: «Puppenspiel ist auch Seelennahrung»,<br />

betont Wirth. Es sei immer wieder erstaunlich,<br />

was für eine Magie eine Figur entwickle. Vieles geschehe<br />

nicht auf der Bühne selbst, sondern in den Köpfen<br />

der Zuschauenden. Die Figuren lassen Raum für eigene<br />

Phantasien und Projektionen. Wirth erzählt, schon oft<br />

seien Kinder nach der Vorstellung zu ihm hinter die Bühne<br />

gekommen und wollten wissen, wie er die Puppe zum<br />

Weinen gebracht habe: «Kinder nehmen Solches wirklich<br />

wahr, obwohl es auf der Bühne nicht stattfi ndet.»<br />

B Ü H N E 11<br />

Das seien die magischen Moment, wenn eine Puppe in<br />

den Augen des Publikums zu weinen beginne.<br />

Für die Zukunft hat die Puppenbühne Demenga /<br />

Wirth noch einiges vor. An neuen Ideen und Projekten<br />

mangelt es nicht. Man wolle auch weiterhin gutes Theater<br />

machen und dem Publikum den Reichtum und die<br />

Vielfalt des Figurentheaters näher bringen. Es sei leider<br />

immer noch oft so, dass das Puppentheater aus Unwissenheit<br />

belächelt und als Kinderkram abgetan werde.<br />

Wer allerdings selbst einmal eine Aufführung gesehen<br />

hat, ist begeistert.<br />

Programm<br />

Jedermann (Puppenbühne Demenga/Wirth)<br />

Fr 4. Nov. 20.15 Uhr<br />

Sa 5. Nov. 20.15 Uhr<br />

Fr 11. Nov. 20.15 Uhr<br />

So 13. Nov. 17.00 Uhr<br />

Fr 18. Nov. 20.15 Uhr<br />

So 20. Nov. 17.00 Uhr<br />

Fr 25. Nov. 20.15 Uhr<br />

1 + 1 = Kofsalat (Figurentheater Lupine)<br />

Mi 2. Nov. 14.30 Uhr<br />

Sa 5. Nov. 14.30 Uhr<br />

So 6. Nov. 10.30 Uhr<br />

Zwerg Nase (Puppenbühne Demenga/Wirth)<br />

Mi 9. Nov. 14.30 Uhr<br />

Sa 12. Nov. 14.30 Uhr<br />

So 13. Nov. 10.30 Uhr<br />

Mi 16. Nov. 14.30 Uhr<br />

Sa 19. Nov. 14.30 Uhr<br />

So 20. Nov. 10.30 Uhr<br />

Mi 23. Nov. 14.30 Uhr<br />

Sa 26. Nov. 14.30 Uhr<br />

So 27. Nov. 10.30 Uhr<br />

Reservation:<br />

Telefon: 031/ 311 95 85 von Di - Sa 13.30 bis 17.30 Uhr<br />

- Tageskasse 1/2 Stunde vor Vorstellungsbeginn


«afrique noire.<br />

urbane zeitgenössische<br />

kultur aus ouagadougou,<br />

cotonou, kinshasa<br />

und jo‘burg».<br />

3. – 13. november 2005


Bild: zVg. / Nelisiwe Xaba<br />

■ Zum dritten Mal steht Bern im Zeichen zeitgenössischer<br />

Kultur made in Africa: Das Schlachthaus Theater<br />

präsentiert mit «Afrique noire III» während 11 Tagen<br />

sensible und radikale Kunstproduktionen aus afrikanischen<br />

Grossstädten. Im Zentrum stehen Theater und<br />

Tanz, doch gibt es viele Ausfl üge in die verschiedensten<br />

Sp<strong>art</strong>en. Wichtiger Bestandteil des Programms<br />

bilden Diskussionen mit den KünstlerInnen sowie drei<br />

Podiumsgespräche. Mittags bieten «Homestories» in<br />

intimer Atmosphäre die Möglichkeit des persönlichen<br />

Austauschs, jeden Abend wird gemeinsam getafelt.<br />

Theater «Omon-mi» (Mein Kind) heisst das neuste<br />

Stück von Ousmane Aledji. Thema ist die Auseinandersetzung<br />

mit der in Schwarzafrika häufi g fast uneingeschränkten<br />

elterlichen Gewalt. Entstanden ist ein tänzerisches,<br />

theatrales und musikalisches Gesamtkunstwerk,<br />

das in diesen Tagen in Cotonou Premiere feiert. Bewusst<br />

verwendet der aus der Yoruba Kultur stammende Regisseur<br />

dabei zum ersten Mal die indigenen Sprachen<br />

seines und weiterer Völker Bénins.<br />

Zum dritten Mal fanden letzten Herbst in Ouagadougou<br />

die «Récréâtrales» statt, ein Festival, das<br />

gleichzeitig auch eine Produktionsplattform bildet und<br />

sich um die Weiterbildung der Theaterschaffenden<br />

kümmert. Dabei entstand von dem aus dem Niger stammenden<br />

Autoren Alfred Dogbé eine Adaptation von<br />

Shakespeares «Richard III», in einer Inszenierung der<br />

Schweizer Regisseurin Barbara Liebster. Gespielt wird<br />

das Stück von einem gemischten Ensemble aus sieben<br />

westafrikanischen Ländern.<br />

Weiter sind zwei Solos zu sehen: Alfred Dogbé hat<br />

mit «Tiens bon, Bonkano» einen furiosen Monolog eines<br />

Bettlers verfasst. Ein Stück das sich nicht nur mit dem<br />

individuellen Betteln befasst, sondern auch mit scharfem<br />

Blick die Beziehungen zwischen dem Norden und<br />

Süden aufs Korn nimmt.<br />

Aka Simon aus der Elfenbeinküste begibt sich in «Die<br />

Legende des Santiago» nach Paulo Coelho auf Schatzsuche<br />

und erkundet die weite Welt.<br />

Tanz Er gehört unterdessen zu den gefragtesten<br />

Choreografen weltweit: der Südafrikaner Boyzie Cekwana.<br />

Wie nur wenigen anderen KünstlerInnen gelingt es<br />

ihm politisch aktuelle Fragestellungen in ästhetisch hinreissende<br />

Tanzstücke zu fassen. Dies bewies er dieses<br />

Frühjahr mit seinem neusten Werk «Cut!!».<br />

Ebenfalls aus Südafrika kommt die Choreografi n Robin<br />

Orlyn. Sie hat mit der aus Bénin stammenden Tänzerin<br />

Sophiatou Kossoko das Solo «...although I live inside...<br />

my hair will always reach towards the sun...» kreiert.<br />

Eine der herausragenden Figuren der boomenden Tanzszene<br />

West- und Zentralafrikas ist der Kongolese Faustin<br />

Linyekula. Seine radikalen Performances sorgen für<br />

heftige Kontroversen. Im Juni dieses Jahres erhielt er<br />

ein «C<strong>art</strong>e blanche» am Centre national de danse in Paris.<br />

Er konnte zehn junge afrikanische ChoregrafInnen<br />

seiner Wahl einladen. Bei «Afrique noire» stellen wir<br />

drei dieser Arbeiten vor.<br />

Nouveau Cirque Seit vier Jahren arbeitet die Basler<br />

Gruppe Cirqu’enfl ex regelmässig in Südafrika und<br />

baut mit arbeitslosen Jugendlichen die Gruppe Sirkona<br />

auf. Ziel ist es, über diesen Zeitraum die angehenden<br />

Artistinnen zu einer qualitativ hochstehenden Gruppe<br />

auszubilden. Das Resultat dieser Arbeit ist nun erstmals<br />

in Europa zu sehen: «Dreamfl yer» ist die gelungene<br />

Zusammenführung afrikanischer Tradition mit europäischer<br />

Kultur.<br />

Musik Eine grosse Stimme aus Südafrika wird den<br />

Abschluss des Festivals bestreiten: Busi Mhlongo hat<br />

die traditionsreiche Zulu-Musik ihrer Heimat in die Welt<br />

hinausgetragen, und verleiht ihr gleichzeitig einen urbanen,<br />

frischen und aufregenden Geschmack. Busi und<br />

ihre achtköpfi ge Band spielen vielfältig vibrierende<br />

Afro-Rythmen, denen es weder an Jazz noch an Funk<br />

fehlt. In einem 2. Konzert wird der Multiinstrumentalist<br />

Tim Winsé das Traditionsinstrument «l’Arc à bouche»<br />

modern interpretieren.<br />

Literatur Mit Fatou Diome ist eine junge, vielversprechende<br />

Schriftstellerin in Bern zu Gast. Ihr 2004<br />

erschienener Roman «Der Bauch des Ozeans» erzählt<br />

von den Träumen und Enttäuschungen senegalesischer<br />

Einwanderer – und brachte Fatou Diome auf Anhieb in<br />

die Champions League der erfolgreichen AutorInnen.<br />

Film In den 90er Jahren ist in Nigeria eine Filmindustrie<br />

– genannt Nollywood, in Anlehnung an andere<br />

grosse Filmmekkas – entstanden, die heute 300 000<br />

Personen beschäftigt und bis 1200 Videofi lme pro Jahr<br />

hervorbringt. Vom abgefi lmtes Wandertheater bis zum<br />

Horror-Melodrama wird alles produziert und bis weit<br />

über die Landesgrenzen hinaus verkauft. Der Nollywood<br />

Spezialist Babson Ajibade von der Universität Basel hat<br />

für «Afrique noire» eine Videoauswahl zusammen gestellt,<br />

welche er mit einer Einführung im Schlachthaus<br />

Theater vorführen wird.<br />

Specials Als Artist in residence wird der südafrikanische<br />

Designer und Herausgeber Peet Pienaar, Gründer<br />

und künstlerischer Kopf der Agentur «Daddy buy me a<br />

pony» für drei Wochen nach Bern kommen. Eine Werkausstellung<br />

mit dem Titel «How to avoid corner corner<br />

love and win good love from girls» wird im PROGR zu<br />

sehen sein.<br />

Do 3.11.<br />

19:00 Peet Pienaar Design - Vernissage im PROGR.<br />

Ausstellung vom 3.11. bis 4.12.05<br />

20:30 Theatre Agbo-N’koko «Omon-mi»<br />

Theater, Schlachthaus Theater<br />

Fr 4.11.<br />

19:30 Cie Falinga und Cie Liebster «Richard III»<br />

Theater, Dampfzentrale<br />

22:00 «norient_s african clubnight» Funmi Adewole,<br />

DJ Bro’Max Clubnight, Dampfzentrale<br />

Sa 5.11.<br />

17:30 «Zeitgenössische Dramatik in West- und Zentralafrika»<br />

Diskussion, Schlachthaus Theater<br />

20:30 Théâtre Agbo-N’koko «Omon-mi»<br />

Theater, Schlachthaus Theater<br />

22:30 Tim Winsé, Sounds, Schlachthaus Theater<br />

V E R A N S T A L T E R<br />

So 6.11.<br />

17:00 Tropic Expression «La légende de Santiago»<br />

Theater, Schlachthaus Theater<br />

19:00 Arène Théâtre «Tiens bon, Bonkano!»<br />

Theater, Schlachthaus Theater<br />

Mo 7.11.<br />

19:00 «Videos aus Nollywood»<br />

Film, Schlachthaus Theater<br />

Di 8.11.<br />

19:30 Boyzie Cekwana The Floating Outfi t Project<br />

«Cut!!»<br />

Tanz, Dampfzentrale<br />

Mi 9.11.<br />

20:00 Fatou Diome Literatur, Kornhaus Bibliothek<br />

Do 10.11.<br />

19:30 Boyzie Cekwana The Floating Outfi t Project<br />

«Cut!!»<br />

Tanz, Dampfzentrale<br />

13<br />

Fr 11.11.<br />

17:30 «Grafi k und Kommunikation im Umgang mit<br />

Afrika»<br />

Diskussion, PROGR<br />

19:30 Studios Kabako: Papy Ebotani und Djodjo Kazadi<br />

«Ya biso» / Nelisiwe Xaba «Plasticization» /<br />

Gaby Saranouffi und Cie Vahinala «Soritra»<br />

Tanz, Dampfzentrale<br />

22:00 Sophiatou Kossoko / Robyn Orlin « …although<br />

I live inside… my hair will always reach towards<br />

the sun… »<br />

Tanz, Schlachthaus Theater<br />

Sa 12.11.<br />

17:30 «Zeitgenössischer Tanz und politische Stellungnahme»<br />

Diskussion, Dampfzentrale<br />

19:30 Sirkona «Dreamfl yer» Zirkus, Dampfzentrale<br />

21:00 Studios Kabako: Papy Ebotani und Djodjo Kazadi<br />

«Ya biso» / Nelisiwe Xaba «Plasticization» /<br />

Gaby Saranouffi und Cie Vahinala «Soritra»<br />

Tanz, Dampfzentrale<br />

23:00 DJ Ben E Disco, Dampfzentrale<br />

So 13.11.<br />

17:30 Sirkona «Dreamfl yer» Zirkus, Dampfzentrale<br />

21:00 World Women Voices Busi Mhlongo<br />

Sounds, PROGR<br />

Ausserdem:<br />

«Homestories», Schlachthaus Theater<br />

Fr 4., Mo 7., Di 8., Mi 9., Do 10., Fr. 11.11. jeweils<br />

um 12:30


14 M U S I K<br />

KATHRINA VON WARTBURG<br />

bern rocks?<br />

■ P<strong>art</strong>erre, Donnerstag abend, 22:00: die kleine Bar an<br />

der Länggasse ist zum Bersten voll, man steht sich auf<br />

den Füssen, schüttet sich Wein auf die Hosen, schaut<br />

gespannt zur Bühne; dort, zum Greifen nah so klein ist<br />

der Raum, stehen drei Jungs, die gleich mit Zigeunermusik<br />

aus dem Balkan einheizen werden. In breitem<br />

Berndeutsch stellen sie sich vor - aber die meisten hier<br />

kennen sowieso im mindesten einen der drei. Lokalmatadoren,<br />

wenn auch mit jugoslawischem Einfl uss. Egal:<br />

Willkommen in der Rockstadt Bern.<br />

Bern, früher das Zentrum einheimischen Schaffens;<br />

«we‘d gross wosch usecho, de bruchsch e Bärner<br />

i r Bänd», sang Polo noch vor ein paar Jahren. Nun, im<br />

Rahmen des neuen Kulturleitbildes, stellt sich die Frage<br />

nach dem Jetzt; was wird getan; was muss getan werden.<br />

Und wo steht die Stadt in Sachen Rock? Denn - unter<br />

bewusster Ausklammerung aller Vorbehalte seitens<br />

einiger Kulturschaffenden, dass nämlich Rockmusik zu<br />

kommerziell, zu populär und folglich nicht kulturell sei<br />

- Pop/Rockmusik ist Teil der Kultur und wirkt identitätsstiftend.<br />

«Pop/Rock schafft Szenen regionaler Prägung.<br />

Berner Rock klingt anders als Basler Rock. Die Zugehörigkeit<br />

zu diesen regionalen Szenen stiftet Identität<br />

- für Musiker und Publikum» schreibt Bruno M<strong>art</strong>y, Geschäftsleiter<br />

von Action Swiss Music im Musikbericht<br />

2003.<br />

Zweifelsohne; und Bern war eine der ersten Schweizer<br />

Städte, die das erkannt hat. MItte der 1980er Jahre<br />

wurden im Kino Splendid Rocknächte organisiert. Es<br />

gab die 5-Liber-Konzerte, die es einem grossen Publikum<br />

ermöglichten, Berner Bands für wenig Geld zu<br />

sehen. Und diesen, vor einem grösseren Publikum zu<br />

spielen. Nach Klassik und Jazz wurde nun endlich auch<br />

die Rockförderung ein kulturpolitisches Thema. Davon<br />

profi tierten nicht zuletzt Bands wie Züri West, Patent<br />

Ochsner, oder Stiller Has. Sicher, dass sind klingende<br />

Namen, Musiker die - offensichtlich - den Qualitätsansprüchen<br />

der Kulturpolitik als auch dem Publikum genügen<br />

konnten und können. Allein: auch sie waren einmal<br />

unbekannt. Zu jener Zeit boten auch private Veranstalter<br />

Raum für aufstrebende, talentierte Berner Musiker.<br />

Die Rocknächte im Bierhübeli oder - noch früher - in der<br />

inneren Enge zum Beispiel. Einig sind sich die Beteiligten,<br />

von Promotern über Kulturförderer bis hin zu den<br />

Veranstaltern: früher war es einfacher. Für Veranstalter<br />

unbekannte Gruppen spielen zu lassen; für diese auch<br />

ohne kulturpolitische Unterstützung durchzukommen;<br />

für Radiomoderatoren zwischen internationalen Megastars<br />

auch ‚mal ein Demotape einer skurilen nationalen<br />

Band über den Äther laufen zu lassen. Heute wird<br />

sogar Patent Ochsner, als Live-Band ein Selbstläufer mit<br />

nationalem Bekanntheitsgrad, von den Bernern Lokalradios<br />

nur noch viermal die Woche gespielt.<br />

Das seufzendes Grossmutter-Statement im Ohr,<br />

fragt man sich: was ist passiert? Haben wir etwa keine<br />

förderungswürdigen Talente mehr? Haben die zahlrei-<br />

Bild: Liebi, Tod + Tüüfu - Patent Ochsner<br />

chen Talentshows, die importierte Rockgirlies und Boybands<br />

auch die hiesigen Gruppen der Beliebigkeit unterworfen,<br />

sie austauschbar gemacht? Peter Schranz, der<br />

seit mehr als 15 Jahren für die Förderung von Rock- und<br />

Popmusik seitens der Stadt zuständig ist, widerspricht:<br />

«Das Niveau der Gesuchsteller ist heute viel höher als<br />

noch vor 10 Jahren. Aber auch die Professionalitätsansprüche<br />

sind gestiegen, es herrscht ein knallh<strong>art</strong>er<br />

Wettbewerb».<br />

An Konzertbühnen mangelt es in Bern nicht. ISC,<br />

Bierhübeli, Wasserwerk, Mahogany Hall, Dampfzentrale,<br />

Dachstock, Gaskessel, Progr; zahlreiche Möglichkeiten<br />

also aufzutreten. Zudem zeigt das eingangs erwähnte<br />

Beispiel der Bar P<strong>art</strong>erre, dass es im Prinzip jedem<br />

Gastgewerbebetrieb möglich ist, eine Bühne aufzustellen<br />

und jemanden spielen zu lassen. Sofern die gesetzlichen<br />

Bestimmungen zu Lärmschutz und zur Schall- und<br />

Laserverordnung eingehalten werden, braucht es dazu<br />

keine Sonderbewilligung. Bern also als New Orleans der<br />

Schweiz, wo in jeder schummrigen Bar noch eine Band<br />

den Blues spielt? Mitnichten. Das P<strong>art</strong>erre bestätigt als<br />

Ausnahme eher die Regel: keine Bar-Musikspiel-Kultur<br />

hierzulande. Für jene Veranstalter, die den Konzertbetrieb<br />

als Teil ihres Programms ansehen, sind die Zeiten<br />

alles andere als rosig. «Konzerte in einem kleinen Lokal<br />

wie dem ISC sind immer Verlustgeschäfte» sagt Frank<br />

Lenggenhager vom ISC. «Nur dank der Einnahmen<br />

unserer Discoveranstaltungen können wir die Kosten


überhaupt decken.» Live-Musik wird folglich mehr als<br />

Kultursponsoring und Imagepfl ege denn als gewinnbringendes<br />

Geschäft angesehen. Zwar bietet die Stadt eine<br />

Defi zitgarantie von bis zu 2000 sFr. pro Anlass sofern<br />

mindestens zwei Berner Bands auftreten. Von den Veranstaltern<br />

werden die Kriterien allerdings als zu starr<br />

empfunden, ausserdem ziehen sie es vor, unabhängig<br />

zu bleiben. Im letzten Jahr bezogen einzig die Dampfzentrale<br />

und Appalooza (Bierhübeli) Kredite. Viele Clubs<br />

richten sich vermehrt international aus, Schweizer- bzw.<br />

Berner Bands versucht man - wenn überhaupt - als Support<br />

Act einzubinden. Aber auch das Publikum lässt sich<br />

nicht mehr auf Unbekanntes ein. Man besucht meist nur<br />

noch Konzerte von Bands, die man kennt und mag; eine<br />

Ausgehkultur der Konzertbesuche existiert kaum mehr.<br />

Früher ging man eben am Donnerstag an die Rocknacht<br />

im Bierhübeli ohne sich um den Namen der spielenden<br />

Band zu kümmern. Schwierig also, für unbekannte lokale<br />

Talente, ein grösseres Publikum auf sich aufmerksam zu<br />

machen. Schwierig - aber nicht chancenlos. Es wird natürlich<br />

versucht, auch unbekannten Gruppen Auftrittsmöglichkeiten<br />

zu bieten. Sofern die Qualität stimmt, der<br />

Musikstil zum Club passt und eine Band eine gewisse<br />

Bühnenpräsenz markieren kann, wird sie es vielleicht<br />

sogar auf eine grösserer Bühne schaffen. Arci Friede<br />

vom Wasserwerk empfi ehlt, die ersten Konzerte selber<br />

zu organisieren. «Wer ein fi nanzielles Risiko trägt, wirbt<br />

effi zienter und mehr» meint er. Dadurch schafft sich die<br />

Band eine Hörgemeinde und fällt den potentiellen Veranstaltern<br />

auf. Funktioniert durchaus wie die Beispiele<br />

von Skaladdin oder den Chocolate Rockets zeigen: Letztere<br />

organisierten ihre erstes Konzerte selbständig, im<br />

März diesen Jahres hatten sie Plattentaufe im Wasserwerk,<br />

es folgten zahlreiche Gigs in der Schweiz; derzeit<br />

touren sie in Deutschland.<br />

Seitens der Stadt versucht man, jungen Musikgruppen<br />

zusätzlich St<strong>art</strong>hilfe zu geben. Das Förderungsmodell<br />

«Musik der Jungen», welches seit 1989 von Peter<br />

Schranz geleitet wird, bietet neben einer kostenlose<br />

(aber nicht mehr viel genutzten) Beratungsstelle fi nanzielle<br />

Unterstützung bei CD-Produktionen und Tonträger<br />

zu Promotionszwecken. Ausserdem werden Projektbeiträge<br />

gesprochen und Veranstalter mit Defi zitdeckungsbeiträgen<br />

unterstützt, sofern am organisierten Anlass<br />

mindestens zwei Berner Gruppen auftreten. Der Begriff<br />

Rock/Pop ist dabei im weitesten Sinne als Abgrenzung<br />

zu Klassik, Jazz oder Volksmusik zu verstehen. Während<br />

früher vor allem Rockgruppen Gesuche stellten und Unterstützung<br />

erhielten, sind heute zahlreiche verschiedene<br />

Bereiche, von HipHop bis Elektronik vertreten. Ziel<br />

ist einerseits eine breite Berner Szene zu fördern, andererseits<br />

einzelnen herausragenden Bands wie Lunik<br />

oder - zu früheren Zeiten - Züri West zum Sprung auf<br />

nationales Niveau zu verhelfen. Die Förderung ist insofern<br />

nicht als Hitschmiede zu verstehen. «Wir unterstützen<br />

in der Regel eins bis zwei CD-Produktionen einer<br />

Gruppe, danach muss sie sich die eigenständig auf dem<br />

Markt behaupten können» sagt Peter Schranz. «Einige<br />

Bands werden dann schnell zu Selbstläufern, spielen<br />

mit ihrer Platte genug Geld ein um dann auf eigenen<br />

Füssen und ohne stadtliche Unterstützung ihren Weg zu<br />

gehen»<br />

Dennoch - wirft man eine Blick über die Kantonsgrenzen<br />

hinaus, so wird deutlich, dass andere Städte<br />

in Sachen Rockförderung aufgeholt haben. In Basel<br />

beispielsweise fungiert der Rockförderverein als zentrale<br />

Anlaufstelle für Bands, als Bindeglied zwischen<br />

Medien, Veranstaltern, Studios und Bands und als Organisator<br />

diverser Bandwettbewerbe. «Sprungbrett»,<br />

«Strampolin»,»Basler Bands goes CH» sind solche Veranstaltungen,<br />

dem Sieger winken Plattenvertrag oder<br />

fi nanzielle Unterstützung für die Tournee. Lovebugs<br />

sind die bekanntesten Gewinner. Der<strong>art</strong>ige Möglichkeiten<br />

fehlen in Bern. Für Peter Schranz sind Wettbewerbe<br />

als Förderungsmassnahme eher ungeeignet, da es jeweils<br />

nur einen Sieger gäbe und alle anderen leer ausgingen.<br />

Allerdings räumt er ein, dass dem Rock in Bern<br />

eine Trägerschaft fehlt, die systematisch Konzertreihen<br />

veranstaltet. Und innovative Konzepte seitens der Veranstalter<br />

seien auch immer seltener.<br />

Bern, beklagte der Bund vor kurzer Zeit, hätte als<br />

Rockstadt ausgedient und sei bei internationalen Bands<br />

und Labels verfemt. Mag sein. Statt über die Grenzen<br />

hinaus, werfe man den Blick aber lieber auf das regionale<br />

musikalische Schaffen Denn gerockt wird immer<br />

und an Talent mangelt es auch nicht. Vielleicht schaffen<br />

es ein paar Bars, demnächst eine Bühne aufzustellen<br />

und eine Band zwei Wochen lang spielen zu lassen.<br />

Vielleicht schafft es die Stadt, eine zentrale Anlauf- und<br />

Beratungsstelle einzurichten. Und vielleicht schafft es<br />

der Leser am nächsten Donnerstag ins P<strong>art</strong>erre und<br />

sich auf völlig Unbekanntes einzulassen. Nur so, um der<br />

Musik willen.<br />

WIE MAN‘S MACHT<br />

– SKALADDIN<br />

15<br />

■ Dass die Stadt gute Bands hat, und dass diese<br />

auch auf eigene Faust und ohne grosse Unterstützung<br />

weit kommen, beweisen die Ska-Punker Skaladdin.<br />

Am Anfang war die Idee. Eine bunt gemischte<br />

Truppe mit unterschiedlichen Qualifi kationen und<br />

Ambitionen und einem Gedanken: mit Ska-Punk die<br />

Bühne rocken. Man spielte Coverversionen ein und<br />

arbeitete hin zum ersten «grossen» Auftritt an einer<br />

Geburtstagsfete. Zwar erklangen da noch einige<br />

schiefe Töne, die Show aber kam sehr gut an und die<br />

Band wusste: das ist es. Man übte, spielte im Jugendkulturzentrum<br />

Hinterkappelen, im Gaskessel, nahm<br />

teil an einem Bandwettbewerb an dem jede Gruppe<br />

ihre Tickets selber verkaufen musste. «Jedes Konzert<br />

brachte uns wieder neue Kontakte zu anderen<br />

Ska-Bands, neues Publikum» erzählt Phillip, Saxaphonist<br />

bei Skaladdin. Als Lückenbüsser schaffte<br />

es die Band dann mit ihrem ersten eigene Song auf<br />

einen Sampler, herausgegeben von Leech-Records,<br />

dem Schweizer Ska Label. Das war nicht nur der Türöffner<br />

für ausserkantonale Konzerte sondern auch<br />

der St<strong>art</strong>schuss zu eigenem Songmaterial. Über das<br />

Label knüpfte die Band nun Kontakte zu ausländischen<br />

Bands und fi ng an, für diese Konzerte in der<br />

Schweiz zu organisieren; mit sich als Support-Act.<br />

Dennoch wollte Leech-Records die erste CD nicht<br />

produzieren, versprach aber mit Beratung zur Seite<br />

zu stehen. So produzierte die Band 2001 ihre erste<br />

Platte «Rub the Lamp» beim eigenen Label Pimp Records,<br />

fi nanzierte sie durch Konzertaufnahmen und<br />

st<strong>art</strong>ete eine Webauftritt. Die Plattentaufe im Uptown<br />

wurde ein voller Erfolg und ermöglichte 2002<br />

einen Auftritt als Opener am Gurtenfestival. Auch für<br />

die folgende Tour organisierte Skaladdin alle Konzerte<br />

selber. 2003 folgte die zweite CD «Far off from<br />

Okay», wiederum selber produziert und fi nanziert.<br />

Im Nachhinein bezeichnet die Band es als Glück, dass<br />

sie die erste Platte selber produzierten. So seien sie<br />

unabhängig und nicht angewiesen auf eine Plattenfi<br />

rma oder einen Manager der die Kontakte knüpft.<br />

Und was empfehlen sie jungen unbekannten Bands?<br />

«Nicht darauf w<strong>art</strong>en entdeckt zu werden, sondern<br />

selber was machen!» (kvw)<br />

Im nächsten Februar soll die neue Platte von Skaladdin<br />

erscheinen, danach gehen sie auf Welttournee.<br />

Wir bleiben dran.


16<br />

Nur noch wenige Vorstellungen!<br />

DAS FEST /<br />

FESTEN<br />

Nach dem Dogma-Klassiker von Thomas Vinterberg<br />

Schweizer Erstaufführung<br />

«Ebenso kluge wie beklemmende Inszenierung»<br />

(Der Bund)<br />

November Sa 12/ So 27 / Di 29<br />

STADT<br />

THEATER<br />

BERN


The Unborn Chicken Voices<br />

■ Blutrote Farbe, ein Totenschädel und ein Typ, der mit<br />

seiner Gitarre gar nicht fein umgeht. «We don’t play guitar»,<br />

der Titel. Ist das jetzt die Wiederaufstehung der<br />

Sex Pistols? (Diesmal als Hühner.......wobei, angeblich<br />

ja ungeboren). Mal halblang, es handelt sich hierbei<br />

um soliden Schweizer Rock. Laut, kräftig, schnell. Das<br />

Head-banging mit standardmässiger Luftgitarre in den<br />

eigenen vier Wänden ist vorprogrammiert. Das Album<br />

ist sehr gitarrenlastig, einfache Riffs, ein tanztreibendes<br />

Schlagzeug....klingt alles sehr ähnlich; und irgendwie<br />

sehr cool. Zwischen all dem Positiv-Rock hat es aber<br />

auch Raum für das schön-psychopatische und das Cover<br />

bestätigende «I know what you wanted to do last tuesday»;<br />

wohl eine bewusste Referenz an das Teenie-Movie<br />

mit ähnlichem Titel. Die ungeborenen Hühnerstimmen<br />

verstehen sich laut Promotext als einfache Rock’n Roll-<br />

Band, die leicht verständliche Musik spielt und das Live-<br />

Erlebnis in den Vordergrund stellt. «Was wirklich zählt,<br />

ist was unter dem Strich rauskommt». Nun, unter’m<br />

Strich war ich zwar noch nie an einem Konzert, aber<br />

nach dem Hören der CD kann ich mir vorstellen, dass es<br />

da ziemlich abgeht. Sicher lustig!<br />

The Unborn Chicken Voices – We don’t play guitars; seit<br />

15. Oktober im Handel.<br />

Es weihnachtet!<br />

■ Reverend Horton Heat, dass ist eine dreiköpfi ge, seit<br />

20 Jahren bestehende Band aus Amerika. Nun also ihr<br />

neustes Album mit ihren Christmas-Favorites. Da denkt<br />

man unweigerlich an säuselnde Stars im goldenen<br />

Schneesturm singend und die obligate Santa Claus-Kappe<br />

tragend. Wie zum Beispiel Mariah Carey, brrr! Umso<br />

freudiger die Überraschung hier: nix mit Stille, nix mit<br />

besinnlicher Adventszeit, es geht um knallh<strong>art</strong>en, fetzigen<br />

Old-School Rock’n Roll. Schon das erste Lied erinnert<br />

schwer an Jerry Lee Lewis und dabei bleibts auch.<br />

Von «Jingle Bells» bis hin zu einer kult-verdächtigen<br />

Version von «Rudolph the Red Nosed Reindeer» wird<br />

alles durchgeackert, frisch fröhlich und so ganz und gar<br />

nicht kitschig. Und das aus Amerika! Wir freuen uns darauf,<br />

Keckse zu backen, Geschenke einzupacken und den<br />

Weihnachtsbaum zu schmücken. Denn mit dieser Musik<br />

– und einem Glas Glühwein dazu – ist alles eine grosse<br />

P<strong>art</strong>y. Empfehlenswert für all jene, die den besinnlichen<br />

Adventskram nicht ausstehen können.<br />

Reverend Horton Heat – We Three Kings; jetzt im Handel<br />

THREE TRIOS<br />

■ Die CD besteht aus drei Sets zu jeweils drei mehr<br />

oder weniger berühmten Standards. Peter Frei (Bass)<br />

und Dominic Egli (Drums) bilden jeweils die «Rhythm<br />

section». Colin Vallon (Piano), Michael Zisman (Bandoneon),<br />

und Rafael Schilt (Tenor Sax) übernehmen die<br />

«Leitung» ihres jeweiligen Sets. Frei ist seit über 30<br />

Jahren aktiver Bassist in der Szene. Zisman studierte<br />

in Buenos Aires bei Nestor Marconi Bandoneon und an<br />

der Swiss Jazz School Improvisation / Komposition &<br />

Arrangement. Das «Booklet» gibt an, Dominic Egli habe<br />

die nötigen Impulse hin zur Verwirklichung dieser Aufnahmen<br />

gegeben.<br />

Man fühlt sofort eine grosse Spontanität, viel Musikalität<br />

auch im Erweitern und Ausleuchten der Möglichkeiten<br />

dieser z.T. wohlbekannten Standards. Die Musiker<br />

spielen präzise und fi nden immer auch etwas Neues mit<br />

Geschmack.<br />

Frei selbst dominiert nicht durch Lautstärke; es gelingt<br />

ihm seinen Mitmusikern die Möglichkeit einer aktiven<br />

Rolle im kreativen Prozess der Improvisation zu<br />

geben. Man spürt deutlich, dass die Solisten sich ihrer<br />

musikalischen Umgebung immer bewusst sind. Die drei<br />

Solisten reagieren auf die Herausforderung recht unterschiedlich.<br />

Vallon verfolgt im ersten Set manchmal<br />

beinahe jeden Turn. Zisman ist ein Virtuose auf dem<br />

Bandoneon und er lässt hier und da wirkliche Tiefe<br />

durchblicken. Schilt macht interessante Experimente im<br />

dritten Set.<br />

CD-Reinhör Tip: 2ND Set Nr.4 Come Rain or Come<br />

Sine (Arlen) mit einem berührenden Bandoneon Intro.<br />

Insgesamt eine gelungene, mehr als nur hörenswerte<br />

CD!<br />

Übrigens: Das Bandoneon ist ein Handzuginstrument<br />

das aus der Konzertina entwickelt wurde. 1846<br />

von C.F.Zimmermann konstruiert und später nach Heinrich<br />

Band benannt. Diese «Band Union» verbreitete sich<br />

schnell in Deutschland wurde jedoch allmählich durch<br />

das einfacher spielbare Akkordeon verdrängt. Es besitzt<br />

eine unverwechselbare, sich von den anderen Harmonikainstrumenten<br />

abhebende Klangfarbe. Interessanterweise<br />

ist das Instrument in Argentinien mit dem Tango<br />

zu einem Volksinstrument geworden. Dorthin gelangte<br />

das Bandoneon vermutlich zunächst über die USA.<br />

Später ist es mit einer neuen Spielweise und dem Tango<br />

zurück nach Europa gekommen.<br />

C D - T I P P S<br />

SARA TRAUFFER<br />

TANZENDES LAUB<br />

17<br />

■ Das ist eine Herbst-CD. Sie verströmt diese Sehnsucht<br />

nach letzten wärmenden Sonnenstrahlen, die<br />

Melancholie des fahler werdenden Lichts, der kühlen<br />

Luft, der feuchten Nebelschwaden und des schweren,<br />

erdigen Dufts in den Wäldern, aber ebenso die fast<br />

übermütige Freude am zwischendurch wieder stahlblauen<br />

Himmel mit klarer Weitsicht oder am tanzenden,<br />

wirbelnden, raschelnden rot-goldenen Laub ...<br />

Zwar ist sie bereits vor einem Jahr erschienen,<br />

also nicht mehr ganz brandneu, und ausserdem mag<br />

das äussere Erscheinungsbild eher bieder wirken,<br />

doch die CD ist einfach zu gut, und sie sollte gehört<br />

werden. Jetzt erst recht, weil die hier eingespielte<br />

Musik irgendwie so schön zum November passt.<br />

Und weil die Interpreten, das Schweizer Klaviertrio,<br />

gerade eben den ersten Preis am Internationalen Johannes-Brahms-Wettbewerb<br />

in Österreich gewonnen<br />

haben – mit der Aufführung von Daniel Schnyders<br />

«Piano Trio», das hier zum ersten Mal als Integralaufnahme<br />

zu hören ist. Ein umwerfendes Werk. Hinreissende<br />

Rhythmen und betörend schöne Klänge. Das<br />

Schweizer Klaviertrio wechselt in den fünf Sätzen<br />

virtuos zwischen unterschiedlichsten Stimmungen,<br />

mal ruhig, sanft zurückhaltend und eingebettet, wie<br />

etwa im zweiten, mal witzig-frech und tollkühn, wie<br />

im vierten Satz, der mit «Tempo di Funk» überschrieben<br />

ist und wo Schnyders enger Bezug zum Jazz<br />

deutlich wird. Die Interpretation des Trios fasziniert<br />

durch die Gleichzeitigkeit von ungeheurer Präzision<br />

und hemmungsloser Spielfreude. Das lebt. Und das<br />

gilt genauso für die zwei Werke der beiden anderen<br />

Schweizer Komponisten auf dieser CD: die Tondichtung<br />

«Litaniae» von Paul Juon, ein emotional höchst<br />

expressives Stück, und das «Trio sur des mélodies<br />

populaires irlandaises» von Frank M<strong>art</strong>in, eine klanglich<br />

duftende Komposition mit raffi nierten Rhythmen<br />

und Tempi. Stürmisches Gewirbel in neblig weiter<br />

Landschaft. Irischer November eben.<br />

Paul Juon, Frank M<strong>art</strong>in, Daniel Schnyder. Schweizer<br />

Klaviertrio. 2004 Musiques Suisses MGB CD 6215


18 K I N O<br />

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11/05


BENEDIKT SARTORIUS<br />

antifolk<br />

■ Die Welt als verschimmelter Pfi rsich: Unerwiderte<br />

Liebe, soziale Kälte, grauer Alltag, New York als Friedhof,<br />

Yuppies, Teenage Angst in allen Schattierungen,<br />

«let‘s go to sleep…» Kurz: Die Welt ist aus den Fugen,<br />

gebt mir Crack! Nun ist es ein leichtes, diesem Themenkreis<br />

mit Holzhammertexten, mit Härte zu begegnen.<br />

Ungleich reizvoller, weil subtiler, lustiger, zugleich zwingender<br />

und desillusionierender, wirkt der dilettantische,<br />

pubertäre Ansatz der Moldy Peaches. Herbe, mit einem<br />

Lächeln vorgetragene Zeilen wie «Sucking dick for ecstasy»<br />

kollidierten mit der rumpelnden Low-Fi Instrumentierung<br />

und den Häschen-, Einhorn- und Robin Hood<br />

Verkleidungen der beiden Protagonisten Adam Green<br />

und seiner P<strong>art</strong>nerin Kimya Dawson. Sexistisch anmutende<br />

Sprüche von Green wie «Whose pussy hole needs<br />

fi lling?» werden durch Kimya Dawsons simultan geäusserte<br />

Sehnsucht nach Nächstenliebe («Whose empty<br />

he<strong>art</strong> needs fi lling?») ironisch gebrochen, so dass eine<br />

eindeutige Les<strong>art</strong> verhindert wird. Das Zwingende, das<br />

Eindringliche der ersten und einzigen Platte der Moldy<br />

Peaches liegt in diesen Widersprüchen, im teilnahmslos<br />

anmutenden Vortrag, der Desorientiertheit ausdrückt<br />

sowie in der liebenswerten Spontaneität und Intimität<br />

der Aufnahmen. Lacher oder das Klingeln eines Telefons<br />

blieben der Produktion erhalten und unterstrichen<br />

den Do It Yourself Charakter der Moldy Peaches.<br />

Durch den Vertrag mit dem wiedergeborenen, legendären<br />

Indie Label Rough Trade, das fast zeitgleich das<br />

Debüt der Strokes veröffentlichte und 2001 den Boom<br />

der neuen Rock Welle einläutete, war dem Duo die<br />

Aufmerksamkeit der Musikpresse sicher. Man dürstete<br />

nach mehr und wurde im heimischen Umfeld der New<br />

Bild: zVg.<br />

Yorker Moldy Peaches fündig, dessen Vielschichtigkeit<br />

sich unter einer Vokabel zusammenfassen lässt: Antifolk.<br />

Der Begriff wurde durch Lach, seit zwanzig Jahren<br />

Veranstalter der mittlerweile im Sidewalk Café sesshaft<br />

gewordenen Antifolk «Open Mic Sessions», geprägt.<br />

Angetreten um die reaktionären Tendenzen im Folk<br />

aufzubrechen, liess Lach Songwriter ohne stilistische<br />

Limitierungen auftreten. Prominente Namen der ersten<br />

Jahre sind etwa Suzanne Vega, Michelle Shocked sowie<br />

der junge Beck Hansen.<br />

Die Verkrustungen aber blieben. Bis zur «zweiten<br />

Generation», die den anarchistischen, dilettantischen<br />

Ansatz gegenüber gängigen Songstrukturen bevorzugte.<br />

Die Moldy Peaches brachten Blockfl öten mit, Jeffrey<br />

Lewis, vielleicht der Gross<strong>art</strong>igste unter all den zum<br />

grossen Teil nach wie vor unbekannten Gruppen und<br />

Einzelgängern, illustrierte grossformatige Comic-«Videos»,<br />

erzählte seine ureigene «History of Punk on the<br />

Lower East Side» in Medley Version und legte so seine,<br />

wenn nicht gar die geistigen und musikalischen Vorläufer<br />

des Antifolks offen. Eine Geschichtslektion von fast<br />

zehn Minuten Dauer, die unter anderem von versprengten<br />

Beatniks (Harry Smith), dem Freakout-Strassenmusiker<br />

David Peel und seinem Marihuana geschwängerten<br />

Gefolge («The Pope Smokes Dope») erzählt, weiter<br />

die Anarchos der Fugs, die Velvet Underground, krude<br />

Obskuritäten (Godz), Richard Hell‘s Television und die<br />

New York Dolls präsentiert.<br />

Nun, genug der Namen: Wichtig ist, dass ein neues,<br />

sich grösstenteils selbst organisierendes Netzwerk von<br />

Gleichgesinnten entstand, das keine Dresscodes kennt,<br />

Labels gründete und so der Krise der Musikindustrie<br />

M U S I K<br />

19<br />

entgegentrat, weiter unermüdlich produziert, gesellschaftliche<br />

Normen hinterfragt und vielleicht am markantesten:<br />

ein Netzwerk, das aus Einzelgängern, Subjekten<br />

bestand und weiter bestehen wird, aus Künstlern<br />

und Künstlerinnen, die keine Angst vor der Blamage<br />

kennen. Künstlerinnen wie etwa Kimya Dawson.<br />

Während ihr ehemaliger Moldy Peaches P<strong>art</strong>ner<br />

Adam Green mittlerweile zum Liebling aller Klassen<br />

mutiert ist, werkelt Kimya Dawson, die Frau mit der<br />

mächtigen Tingeltangel-Bob-Frisur, weiter an ihren massenuntauglichen,<br />

weil zu intimen, von Verletzungen gezeichneten<br />

Liedern. «Nichts ist Kimya Dawsons Musik so<br />

fremd wie Coolness, Reserviertheit oder übertriebenes<br />

Selbstbewusstsein», schreibt der Kulturjournalist M<strong>art</strong>in<br />

Büsser in seinem Buch «Antifolk». Ihre Musik fällt<br />

nicht zuletzt deshalb ins Zeitlose, Posen zählen nichts:<br />

Wie naiv ihre tagebuch<strong>art</strong>igen Texte auch anmuten mögen,<br />

sie treffen mitten ins Herz.<br />

«Fröhlich und traurig und schreckhaft und tapfer, alles<br />

zusammen», beschreibt sich Dawson selbst. Fröhlich<br />

und traurig und schreckhaft und tapfer ist auch ihr mittlerweile<br />

drittes, erstmals in Bandbesetzung entstandenes<br />

Album «Hidden Vagenda» (K Records).<br />

Es erzählt vom Verlust ihrer Grossmutter, von Anthrax<br />

und damit der Befi ndlichkeit des anderen Amerikas<br />

nach dem 11. September, verhandelt sozialen Druck<br />

und Schwäche. Das vielleicht schönste Lied stellt «Singing<br />

Machine» dar. «Doesn‘t matter what you look like,<br />

doesn‘t matter what you sound like, doesn‘t matter if<br />

they like you, just remember to be kind,» singt Dawson<br />

mit heiserer Stimme in ihrer Ode an die Herzlichkeit.<br />

Dazwischen funkt der psychisch kranke, gross<strong>art</strong>ige<br />

Low-Fi Pionier und mittlerweile dem Antifolk Netz angeschlossene<br />

Daniel Johnston seine C<strong>art</strong>oon Stimme<br />

durchs Telefon und, wie blöd das nun klingen mag, die<br />

Welt scheint kurzzeitig eine andere, eine bessere, weil<br />

herzlichere zu sein. Nüchterner ausgedrückt: Die viel<br />

gepriesene Authentizität, dieses grösste und unmöglich<br />

zu erfüllende Versprechen der Popmusik, scheint bei Kimya<br />

Dawson endlich eingelöst zu sein.<br />

Konzerte:<br />

Dienstag, 15.11.05, 21h30<br />

Herman Düne / Julie Doiron: In Paris ansässige Antifolk-Musiker,<br />

die es noch zu entdecken gibtÐ.<br />

Samstag, 19.11.05, 21h30<br />

Kimya Dawson/ Tiger Saw/ Jason Anderson<br />

Alle Konzerte fi nden im Bad Bonn Düdingen statt.<br />

CDs: The Moldy Peaches (Rough Trade)<br />

Kimya Dawson «Hidden Vagenda» (K Records)<br />

Jeffrey Lewis «It‘s The One Who‘ve Cracked That The<br />

Light Shines Through (Rough Trade)<br />

Buch:<br />

M<strong>art</strong>in Büsser, Antifolk. Ventil Verlag. Mainz 2005<br />

Antifolk im Internet:<br />

www.antifolkonline.com<br />

www.olivejuicemusic.com<br />

www.antifolk.net


20<br />

M U S I K<br />

«AUS DEN TASCHEN GEKRAMT» ODER<br />

LE COSE CHE AMI<br />

(ITALIAN POETIC JAZZ)<br />

■ Es ist kalt an jenem Abend. Ich stecke meine Hände in meine normalerweise immer<br />

so leeren Taschen. Ein kurzes Tasten bringt diesmal eine kleine Überraschung hervor.<br />

Ein graues, klein gefalztes Papierquadrat. Fünf Sekunden später entpuppt es sich<br />

als ein kaleidoskop<strong>art</strong>ig zerquetschter Flyer. Ich bin angenehm Angetan und beginne<br />

sofort mit dem Lesen.<br />

«Le cose che ami – Italian Poetic Jazz.» können meine Augen in der Dunkelheit<br />

gerade noch entziffern. Jaja – denke ich - die wirklich wertvollen und angenehmen<br />

Dinge des Lebens drängen sich nur sehr selten auf. Doch wenn; dann sollte man die<br />

Chance nicht ungenützt lassen. Es ist wieder wärmer geworden und ich bin zu Hause<br />

angekommen. Ich braue mir einen wärmenden Kaffee, werfe meinen PC an und<br />

google sofort «le cose che ami». Das Musigbistrot Bern bringt mir dazu die nötigen,<br />

klärenden Worte:<br />

«Le cose che ami», also «die Sachen, die du liebst», sind süsse italienische Balladen.<br />

Eine Mischung aus Pop, Jazz und Poesie, ein Stil der sich kurz mit dem Begriff<br />

«Italian-Poetic-Jazz» umschreiben lässt. Die nostalgischen, herzerwärmenden Songs<br />

sind hauptsächlich im vergangenen Jahr entstanden und entspringen der «Feder»<br />

des Pianisten Thomas Reber und der italienischen Sängerin Annalisa Spagnoli. Grosses,<br />

unerschöpfl iches Thema: die Liebe. Die Canzoni erzählen Geschichten, die der<br />

Alltag schrieb Ein Ohrenschmaus für Romantiker, Nostalgiker und Liebhaber der Italienischen<br />

Sprache.<br />

Längst habe ich beschlossen mindestens eines der insgesamt drei angebotenen<br />

Konzerte (zwei davon in Bern) zu hören. Das wusste ich schon als ich diesen Flyer in<br />

der Hand hielt.<br />

«Wer sucht der fi ndet.» – Dieses so abgedroschene Sprichwort gilt vielleicht<br />

manchmal auch für die Berner Künstler-Szene und deren «Konsumenten». Doch es<br />

ist für einmal nicht nötig dieses Klischee zu bedienen. Heute nicht. Man braucht ja nur<br />

in den eigenen Taschen zu kramen. Manchmal fallen sie einem eben auch ganz von<br />

alleine zu – die wirklich angenehmen Dinge des Lebens.<br />

Konzerte Nov./Dez. «le cose che ami»<br />

Annalisa Spagnoli (v), Paco Casanovas (g), Thomas Reber (p), Daniel Brélaz (b),<br />

Beat Müller (dr)<br />

Sa. 19.11. Kirchgemeindehaus Wichtrach / 20:30<br />

(Ein Benefi zkonzert für die Arbeit mit Drogensüchtigen)<br />

Do. 24.11. Musig-Bistrot Monbijou, Mühlemattstrasse 48, Bern / 20:30<br />

Do. 22.12. Café-Bar P<strong>art</strong>erre, Hallerstrasse 1, Bern / 21:00


SARAH STÄHLI<br />

don juan im trainerjäckchen<br />

Broken Flowers von Jim Jarmusch<br />

■ Jim Jarmusch blickt immer noch als Aussenseiter<br />

auf Amerika, als tschechisches Einwandererkind, als<br />

das er sich im Innersten wohl immer noch fühlt. In seinem<br />

jüngsten Film Broken Flowers - der in Cannes mit<br />

dem grossen Jurypreis ausgezeichnet wurde - erzählt<br />

Jarmusch von einem Land mit all seinen skurrilen Auswüchsen:<br />

von White-Trash bis hin zu esoterischer »Tier-<br />

Kommunikation». Er erzählt aber auch von einem Amerika,<br />

in dem ein gelangweilter middle-class Rentner auf<br />

eine lebensvolle Afroamerikaner-Nachbarsfamilie trifft.<br />

Don Johnston heisst dieser alternde Antiheld und wird<br />

verkörpert von Bill Murray.<br />

Murray hat es mittlerweile intus, völlig unbeteiligt auf<br />

noch so bewegende Ereignisse zu reagieren. Mit Lost<br />

in Translation feierte der Schauspieler sein Comeback<br />

und in Wes Andersons verkanntem Meisterwerk The Life<br />

Aquatic verzeichnete er als Steve Zissou seinen vorläufi -<br />

gen Höhepunkt in schauspielerischem Understatement.<br />

Obwohl man sich zur Abwechslung auch einmal einen<br />

etwas anderen Murray wünschen würde, überzeugt er in<br />

Broken Flowers erneut in der immergleichen Rolle.<br />

Don Johnston ist ein angegrauter Don Juan, der seine<br />

besten Jahre offensichtlich hinter sich hat. Mit dem<br />

Sonnyboy Don Johnson aus Miami Vice wird er trotzdem<br />

mehr als einmal verwechselt, obwohl er mit ihm<br />

wirklich nur den Namen gemeinsam hat und dies auch<br />

nur beinahe. Am liebsten sitzt Don im Trainingsanzug<br />

auf der Couch und starrt ins Leere. Eines Tages erhält<br />

er, nachdem er gerade von seiner neusten Flamme verlassen<br />

wird, einen ominösen rosa Brief ohne Absender.<br />

In dem steht nichts Geringeres, als dass er vor 19 Jah-<br />

ren einen Sohn in die Welt gesetzt habe. Diese Nachricht<br />

würde Don kalt lassen und genauso an ihm abprallen wie<br />

alles andere, wäre da nicht sein enthusiastischer Nachbar<br />

Winston (brillant: Jeffrey Wright), der diesen Brief<br />

als wichtiges Zeichen deutet und Don dazu überredet,<br />

endlich einmal aktiv zu werden. Aber zuerst gilt es herauszufi<br />

nden, wer von seinen zahlreichen Freundinnen<br />

die vermeintliche Mutter und Verfasserin des Briefes<br />

sein könnte. Don begibt sich auf eine Reise quer durch<br />

Amerika, in die eigene Vergangenheit. Unterwegs trifft<br />

Murray auf eine ganze Reihe starker Schauspielerinnen<br />

in den Rollen seiner Ex-Freundinnen: unter anderem<br />

Sharon Stone, Jessica Lange, Tilda Swinton und Frances<br />

Conroy.<br />

Die relativ simple Ausgangslage inszeniert Jarmusch<br />

gewohnt lakonisch als entspanntes Roadmovie; poetisch<br />

und voller sanften Humors.<br />

Ob Don am Ende wirklich seinen Sohn fi ndet, oder nur<br />

die Möglichkeit eines Sohnes erahnt, ist gar nicht so<br />

wichtig. Wie so oft scheint der Weg das Ziel zu sein. Jarmusch<br />

schafft es, mit dem offenen Ende des Filmes eine<br />

Geschichte zu erzählen, die jenseits von Rührseligkeit<br />

und ohne je zu moralisieren, völlig unaufgeregt daherkommt<br />

und trotzdem berührt.<br />

Bleibend die Szene, in der Don auf seinen möglichen<br />

Sohn trifft und krampfhaft versucht nicht als Pädophiler<br />

zu wirken. Im Gespräch mit dem jungen Mann wird<br />

Don sogar zum Philosophen und kommt zur Erkenntnis:<br />

«Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht<br />

hier und ich kann sie nicht kontrollieren, daher gibt es<br />

nur das hier».<br />

K I N O<br />

23<br />

Bild: zVg.<br />

Auch wenn Broken Flowers im Vergleich zu anderen<br />

Jarmusch-Filmen kommerzieller ist, schafft es der Regisseur,<br />

seine unverkennbar coole Handschrift beizubehalten.<br />

Mit den langen Einstellungen und den beinahe<br />

altmodisch wirkenden Überblendungen bleibt Jarmusch<br />

seinem Stil treu, der seine Filme seit Stranger than Paradise<br />

ausmacht.<br />

Ein Jarmusch-Film beinhaltet immer auch kleine Geheimtipps<br />

des Regisseurs, die es für sich zu entdecken<br />

gilt: war es beispielsweise in Ghost Dog das Buch The<br />

Way of the Samurai, so sind es in Broken Flowers die<br />

ungewöhnlichen Klänge von äthiopischem Jazz, die<br />

Winston seinem mürrischen Nachbarn unterjubelt. Der<br />

Soundtrack agiert wie meistens bei Jarmusch wie ein<br />

weiterer Schauspieler und ist wie immer grandios.<br />

Broken Flowers mag auf den ersten Blick in seiner<br />

Leichtigkeit beinahe belanglos, wie hingeworfen scheinen,<br />

hat jedoch im Nachhinein denselben Effekt wie ein<br />

gutes Buch, eines, das man am liebsten immer und immer<br />

wieder lesen möchte.<br />

Broken Flowers von Jim Jarmusch läuft ab 10. November<br />

im Kino


22<br />

K I N O<br />

CORPSE BRIDE<br />

Bild: zVg.<br />

■ Basierend auf einem russischen Volksmärchen und<br />

zwölf Jahre nach «A Nightmare before Christmas»<br />

erzählt Tim Burton erneut eine herzerwärmende Liebesgeschichte<br />

aus der Welt der Lebenden und Toten.<br />

Der junge Victor (im Original gesprochen von<br />

Johnny Depp) soll Victoria (gesprochen von Emily<br />

Watson) heiraten um seinen Eltern den Aufstieg in<br />

die Aristokratie zu ermöglichen und ihre Eltern vor<br />

dem Abstieg ins Armenhaus zu bewahren. Doch die<br />

Probe zur Hochzeit endet aufgrund Victors Nervosität<br />

in einem Debakel und der Pastor schickt ihn weg<br />

um den Trauspruch zu üben. Alleine im Wald fi ndet<br />

Victor wieder zu sich selbst, kann den Spruch fehlerfrei<br />

aufsagen und streift aus lauter Vorfreude auf die<br />

Hochzeit den Ehering sogar an eine alte Baumwurzel.<br />

Doch welch Grauen erfasst ihn als er realisiert, dass<br />

die Wurzel der Finger einer wunderschönen, verwesenden<br />

Leiche ist, die sich vor Victor in den Fetzen<br />

eines Hochzeitskleides aus dem Grab erhebt. Seit sie<br />

in der Hochzeitsnacht ermordet wurde w<strong>art</strong>et die Leichenbraut<br />

(gesprochen von Helena Bonham C<strong>art</strong>er)<br />

auf ihren Bräutigam. Aufgrund seines Versehen muss<br />

nun Victor diese Rolle übernehmen und wird ins Reich<br />

der Toten entführt, welches jedoch um einiges lebendiger<br />

ist als die Welt der Lebenden. Mit ansteckend<br />

guter Laune erzählen ihm die Gerippe von ihrem<br />

«Leben» und was damals mit seiner neuen Braut geschah.<br />

Obwohl es ihn zurück zu seiner grossen Liebe<br />

Victoria zieht, entschliesst sich Victor, zu seinem Wort<br />

zu stehen und die unglückliche Leichenbraut zu heiraten.<br />

Bevor sich jedoch alles zum Guten wendet gilt es<br />

noch einige Aufregungen zu überstehen.<br />

Tim Burton und seinem Team ist es gelungen, die<br />

Puppen mit einer Technik zu animieren, welche kleinste<br />

Details in Mimik und Bewegung ermöglichten. Mit<br />

seiner überwältigenden Liebe zum Detail ist «Corpse<br />

Bride» eine wunderbare Geschichte über Leidenschaft,<br />

hinterhältigen Mord und die Frage, ob ein Herz<br />

noch brechen kann, wenn es nicht mehr schlägt. (sw)<br />

Der Film dauert 77 Minuten und kommt am<br />

3.11.2005 in die Kinos.<br />

SONJA WENGER<br />

a history of violence<br />

■ «A History of violence» sei ein Film gegen die Gewalt,<br />

behauptet Kult-Regisseur David Cronenberg («The Fly»,<br />

«Existenz»). Es geht um die dunkle Seite der Menschen,<br />

um die Gewalt, die in uns allen steckt. Und Hauptdarsteller<br />

Viggo Mortensen («Lord of the Rings») meint: «David<br />

Cronenberg zeigt die Ursachen und Auswirkungen<br />

der Gewalt auf, aber er stellt sie nie in den Mittelpunkt.<br />

Er zelebriert oder verherrlicht sie nie. Gewalt muss man<br />

immer ablehnen, aber er behauptet nicht, dass man sie<br />

immer vermeiden kann.»<br />

Nun ist es ja durchaus annehmbar, dass ein Filmemacher<br />

auf einfache, aber eingängige Bilder zurückgreift.<br />

Dass er eine kurze Geschichte auch kurz hält und dem<br />

Publikum die plakative Aussage mit schockierender<br />

Deutlichkeit um die Ohren schlägt. Denn genau das und<br />

nichts anderes wird im Film «A History of violence»<br />

gemacht. Wenn man also ein Thema, hier eben Gewalt,<br />

exzessiv zeigt, dann ist das automatisch als kritische<br />

Aussage zu werten? Möglich.<br />

Dieser Film bedient sich jedoch der billigsten, einfachst<br />

gestricktesten Klischees auf beiden Seiten der<br />

Extremschiene, dass man sich nur schwer nicht veräppelt<br />

fühlen kann. Gewalt wird in diesem Film tatsächlich<br />

nicht verherrlicht, sondern einfach in kurzen aber schonungslos<br />

detaillierten Szenen dargestellt. Allerdings<br />

wird die Gewalt auch nicht wirklich abgelehnt, denn<br />

sie wird nach ziemlich kurzem und lahmen Widerstand<br />

plötzlich als das einzige und effi zienteste Lösungsmittel<br />

für alle Probleme eingesetzt.<br />

So beginnt der Film mit der Vorstellung des absolut<br />

Schlechten, in dem zwei düstere Gestalten ihre Rücksichtslosigkeit<br />

beim «killen statt frühstücken» beweisen.<br />

Schnitt. Nun wird das vordergründig Gute eingeführt in<br />

dem die ganze Familie mit Mami, Papi und grossem Bruder<br />

sich um das unerträglich blonde Mädchen scharen<br />

und ihr bei der Verarbeitung eines «bösen» Traumes<br />

zur Seite stehen. Monster unterm Bett den Monstern im<br />

echten Leben gegenübergestellt also.<br />

Bilder: zVg.<br />

So weit so gut. Wie üblich in Filmen über das Leben in<br />

einer amerikanischen Kleinstadt gibt es eine verstaubte<br />

Hauptstrasse, ein paar Stadtoriginale, einen gutmeinenden<br />

Sheriff und den obligaten Dinners. Hier treffen<br />

beide Welten nun aufeinander. Die Bösen wollen wieder<br />

sinnlose Gewalt anwenden, werden aber zu ihrer Überraschung<br />

mit den eigenen Waffen blutig vernichtet. Der<br />

Gute wird zum Nationalheld und plötzlich ist in seinem<br />

Dinners Hochbetrieb. Als Folge seiner Popularität tauchen<br />

andere düstere Gestalten auf und behaupten, dass<br />

Tom gar nicht ist, wer er vorgibt zu sein und dass sie für<br />

früheres Unrecht Vergeltung verlangen. Toms ganze Familie<br />

wird in einen Strudel aus Misstrauen, emotionalen<br />

Abgründen und plötzlich hervorbrechenden Aggressionen<br />

hineingezogen.<br />

Für einen eingefl eischten Viggo Mortensen Fan ist<br />

es ein Highlight, den Schauspieler in einer solcher Bestform<br />

zu sehen. Doch genau das macht diesen Film so<br />

gefährlich. Die gesamte Besetzung, vom vermeintlichen<br />

Gutmenschen Tom Stall (Viggo Mortensen), über die Bösewichte<br />

(Ed Harris und William Hurt), die Ehefrau (Maria<br />

Bello) bis hin zum Sohn (Ashton Holmes) ist schlicht<br />

und einfach brilliant. So brilliant, dass jenes gigantische<br />

Fragezeichen bezüglich Sinn, Inhalt und Aussage des<br />

Filmes völlig in den Hintergrund gedrängt wird.<br />

Nun kann man sich fragen, ob es legitim ist, einen<br />

Film in den Himmel zu loben, weil die Schauspieler gut<br />

sind oder zu verdammen, weil die Geschichte schlecht<br />

ist. Auf jeden Fall irritiert der Film, hinterlässt Wut und<br />

Leere. Sollte der Regisseur diesen emotionalen Effekt<br />

bewusst bewirkt haben wollen, dann kann man ja vielleicht<br />

darin den Sinn dieser Geschichte erkennen. Doch<br />

die absolute und diskussionslose Abwesenheit jeglicher<br />

Konsequenzen von solch gewaltbereiten Verhaltens<br />

sollte einen misstrauisch stimmen.<br />

Der Film dauert 96 Minuten und ist seit dem 13.10.2005<br />

im Kino.


SONJA WENGER<br />

les poupées russes – wiedersehen<br />

in st. petersburg<br />

■ Vor vier Jahren drehte Regisseur und Drehbuchautor<br />

Cédric Klapisch mit kleinem Budget und relativ<br />

unbekannten Schauspielern die multikulturelle Studentenkomödie<br />

«L’Auberge Espagnole». Der internationale<br />

Erfolg um die bunte WG in Barcelona führte nun zu einer<br />

Fortsetzung mit «Les Poupées russes».<br />

Die Geschichte setzt fünf Jahre später ein und beschäftigt<br />

sich erneut mit den verworrenen Liebesmühen<br />

von Ex-Student und Protagonist Xavier. Dieser ist weit<br />

von seinem Traum, Schriftsteller zu werden entfernt<br />

und hält sich mit Gelegenheitsjobs als Reporter oder<br />

Ghost-Writer über Wasser. Sein grösster Auftrag ist ein<br />

TV-Drehbuch für eine kitschige Liebesserie. Auch sein<br />

eigenes Liebesleben ist geprägt vom Konfl ikt zwischen<br />

Traum und Realität und der verzweifelten Suche nach<br />

dem Sinn des Lebens oder der wahren Liebe. Erst als<br />

er die Gelegenheit erhält, in London an einem grossen<br />

Drehbuch zu schreiben, wendet sich das Blatt. Wendy<br />

aus der WG in Barcelona stellt sich zu seiner grossen<br />

Überraschung zudem als seine englischen Co-Autorin<br />

heraus. Ihre Zusammenarbeit entwickelt sich nicht nur<br />

in berufl icher Hinsicht gut, zumindest solange, bis sich<br />

Xavier in das Model Celia verliebt. Erst als Wendys Bruder<br />

William in St. Petersburg seine russische Freundin<br />

heiratet, führt dies noch einmal alle WG-Mitglieder zusammen<br />

und Xavier dazu, sich nicht nur die richtigen<br />

Fragen zu stellen, sondern auch die richtigen Antworten<br />

zu geben.<br />

Obwohl eine Fortsetzung, ist «Les Poupées russes» in<br />

mancher Hinsicht besser als das Original! Viele cineastische<br />

Erzählmittel wie Bildaufteilung, Rückblicke oder<br />

visuelle Collagen hat Cédric Klapisch gekonnt übernommen<br />

und weiterentwickelt. Die Musik pendelt angenehm<br />

zwischen Leichtfüssigkeit und Melancholie und der Film<br />

führt das Publikum an wunderschöne Schauplätze in<br />

Paris, London und St. Petersburg.<br />

Die Geschichte selbst ist kompakter, reicher an Details<br />

und wird den Charakteren mehr gerecht. Sie lässt<br />

dem Publikum sehr viel Raum für eigenes Gedankenspiel.<br />

Der Film konzentriert sich zwar auch hier wieder<br />

auf Xavier, doch dominieren wesentlich weniger Nebenfi<br />

guren, welches die Geschichte wohltuend entschlackt.<br />

Die Darsteller sind spürbar reifer und selbstbewusster<br />

geworden was sie in ihren Rollen auch vollumfänglich<br />

umsetzen dürfen. Romain Duris als Xavier ist<br />

umgeben von einem wunderbaren Damentrio. Audrey<br />

Tautou’s M<strong>art</strong>ine hat sich von der zwischen Melancholie<br />

und Tränendrüsen schwankenden Zicke in eine selbstständige<br />

alleinerziehende Mutter gewandelt und sorgt<br />

mit ihrer Lebenseinstellung für nachdenkliche Momente.<br />

Cécile de France als lesbische Isabelle lebt diesmal<br />

nicht nur ihre Sexualität aus, sondern sorgt unter anderem<br />

als Xaviers Alibi-Freundin und Vertraute für einige<br />

der schönsten Augenblicke des Films. Kelly Reilly durfte<br />

sich von der nur aufs Putzen fi xierten Wendy emanzipieren<br />

und besticht als gestandene Drehbuchautorin.<br />

Welch ein eindrücklicher Gegensatz zu ihrer Rolle als<br />

lustlose Schwester von Mr.Bingley in «Pride and Prejudice»,<br />

zur Zeit ebenfalls im Kino. Zudem sorgt Wendys<br />

von Kevin Bishop verkörperter Bruder William, welcher<br />

in diesem Film weniger für saloppe Sprüche als für Romantik<br />

sorgt, für zusätzliche Aufl ockerung.<br />

Als eines der beständigsten Markenzeichen des französischen<br />

Films steht auch hier der Humor mit beiden<br />

Beinen auf dem Boden. Trotz einer gnadenloser Ansammlung<br />

von Klischees entzieht sich der Film jeglicher<br />

Klischiertheit. Auch, oder gerade ohne Kenntnis von<br />

«L’Auberge Espagnole» ist «Les Poupées russes» eine<br />

unterhaltsame, feinfühlige und kurzweilige Geschichte.<br />

Der Film dauert 129 Minuten und ist seit dem 27.10.2005<br />

im Kino<br />

K I N O<br />

SONJA WENGER<br />

TRATSCHUNDLABER<br />

23<br />

■ Die Schweiz hat endlich eine Spätshow! Das Rezept?<br />

Man nehme eine Kopie des Studios der Harald<br />

Schmidt Show, stelle eine Band hin, die sich genauso<br />

verrenkt wie bei Jay Leno, gebe einem schönen Moderator<br />

(obwohl sich M<strong>art</strong>ina Hingis ja nicht entschieden<br />

konnte – und ist sie jetzt Single oder nicht?) ein<br />

kurioses Faktotum et voilà, Black’n Blond! Da sich die<br />

Programmverantwortlichen allerdings nichts trauen<br />

ist der Sendeplatz am Montagabend und zudem<br />

scheint es in der Schweiz zwei Komödianten zu brauchen<br />

um wenigstens halb so lustig zu sein wie anderswo.<br />

Abgesehen von einem schauderhaften Gefühl des<br />

Déjà Vues, war es doch ganz...nett. Provokativ, witzig,<br />

schnell, weltoffen, schonungslos, mutig...das ganze<br />

Lexikon halt!<br />

Auch gesellschaftspolitisch kritisch war’s. Neben<br />

einem unsäglichen Anwärter auf den Preis des Publikumlieblings<br />

ist nun mit dem Huhn Gaby die Vogelgrippe<br />

offi ziell auch beim Fernsehen salonfähig.<br />

Lachen soll ja übrigens das Immunsystem stärken.<br />

Obwohl: der Chef des Bundesamts für Gesundheit<br />

vermutet ja, dass in der Schweiz kaum jemand an<br />

der Vogelgrippe erkranken werde. Vielleicht weil wir<br />

mit all den Chemiekonzernen an der Quelle sitzen?<br />

Mein Apotheker erzählte mir jedoch kürzlich, dass ihn<br />

eine Dame fragte, ob sie eine Tamifl u-Packung auch<br />

mit ihrer Nachbarschaftsgruppe teilen könne. Quasi<br />

für jede eine Tablette zur Profi laxe. Das nenn ich Geschäftssinn!<br />

Apropos Geschäft: das Modellbusiness ist ja nun<br />

auch grosser Gefahr ausgesetzt. Man denke nur an<br />

all die gackernden Hühner und schnatternden Gänse<br />

welche sich inmitten einer grossen Menschenmenge<br />

bewegen, in der ganzen Welt in Scharen herumreisen<br />

und durch all den Drogenkonsum ein äusserst<br />

geschwächtes Immunsystem aufzuweisen haben.<br />

Anders als der H5N1 Virus haben diese Vögel jedoch<br />

bereits ihre destruktive Botschaft an die Menschen<br />

weitergegeben. Seid dürr, dann liebt euch die Welt.<br />

Ach die Liebe! Sie ist fürwahr eine Himmelsmacht.<br />

Anders kann man ja wohl auch nicht erklären, weshalb<br />

Tom Cruise nun plötzlich Vater wird. Ist bei der<br />

Scientology nicht Sex verboten? Wurden wir hier Zeuge<br />

einer unbefl eckten Empfängnis? Die Frage ist nur,<br />

wie die beiden dann ihr Kind taufen wollen, der Name<br />

«Google» ist ja bereits vergeben!


24 D A S A N D E R E K I N O<br />

www.cinematte.ch / Telefon 031 312 4546 www.kellerkino.ch / Telefon 031 311 38 05 www.kinokunstmuseum.ch / Telefon 031 328 09 99<br />

Wir machen weiter!<br />

Das Hochwasser vom August hat alles zerstört: Tische,<br />

Stühle, Kinosessel, Türen, Wände, Esswaren, Dokumente,<br />

Geräte - kein schöner Anblick. Nach der Räumungsaktion<br />

mit viel externer Unterstützung steht die ganze<br />

Cinématte leer und w<strong>art</strong>et darauf, renoviert zu werden.<br />

Nach dem ersten Schock wecken die leeren Räume<br />

Kreativität. Wir haben die Möglichkeit etwas Neues entstehen<br />

zu lassen. Diese (hoffentlich) einmalige Chance<br />

werden wir nutzen. Vorerst gibt es noch viel anderes zu<br />

tun: Versicherungsfragen klären, Mietverträge aushandeln,<br />

Architekturlösungen prüfen, Offerten einholen,<br />

Bestellungen aufgeben, informieren… und alles braucht<br />

seine Zeit.<br />

Die Cinématte wird Ihnen und uns also erhalten bleiben.<br />

Wir rechnen allerdings nicht damit, schon in diesem<br />

Jahr wieder öffnen zu können. Zu Beginn des neuen<br />

Jahres dürfen Sie mit uns rechnen. In alter Frische und<br />

in neuem Gewand.<br />

Sie können uns unterstützen, indem Sie uns treu bleiben.<br />

Kommen Sie wieder, alles wird gut!<br />

Herzlich<br />

Ihr Cinématte-Team<br />

PS:<br />

Vom 11. bis 14. November sind wir im Rahmen des Queersicht-Festivals<br />

zu Gast im Gaskessel. Weitere Aktionen<br />

sind im Dezember geplant. Genauere Infos fi nden Sie in<br />

der Tagespresse oder auf www.cinematte.ch.<br />

Mysterious Skin<br />

(Gregg Araki, USA 2004, 99’, Englisch/d, Spielfi lm)<br />

Brian Lackey wacht mit blutiger Nase in einer Höhle auf.<br />

Der Achtjährige hat keine Ahnung, was mit ihm passiert<br />

ist. Er kann sich gar nicht mehr an die fünf voran gegangenen<br />

Stunden erinnern. Der Zwischenfall verändert<br />

sein Leben drastisch: Angst vor der Dunkelheit, Alpträume<br />

und Ohnmachten plagen ihn. Zehn Jahre später ist<br />

Brian davon überzeugt, als Kind von Ausserirdischen<br />

entführt worden zu sein. Und er glaubt, einzig Neil Mc<br />

Cormick könnte das Rätsel seiner Kindheit lösen. Neil ist<br />

ein 18-jähriger Aussenseiter, der so gut aussieht, dass<br />

sich alle auf der Stelle in ihn verlieben. Doch der Adonis<br />

möchte sich an niemanden binden. Neils sexuelle Entdeckungsreise<br />

führt ihn nach New York, während die<br />

Suche nach der eigenen Identität Brian zu Neil führt.<br />

Bald merken die beiden, der Schlüssel für eine glückliche<br />

Zukunft liegt in der Verarbeitung ihrer dunklen Vergangenheit…<br />

(Ab 17.11.)<br />

Building the Gherkin<br />

(Mirjam von Arx, CH 2005, 89’, Englisch/d, Dokumentarfi<br />

lm, Videoprojektion)<br />

Kann ein einziges Gebäude die Karriere eines Architekten<br />

beeinfl ussen, das Image einer globalen Firma und<br />

die Skyline einer Weltstadt? Genau einen Monat und<br />

einen Tag nach dem Anschlag aufs New Yorker World<br />

Trade Center wird in London der erste Stahlträger eines<br />

neuen Wolkenkratzers in Position gehievt. Die Frage<br />

ist unvermeidlich: Ist es richtig, einen so Aufsehen<br />

erregenden Turm mitten im Londoner Finanzviertel zu<br />

bauen, auf einem Platz, wo schon einmal eine Bombe<br />

hochging? Norman Foster, einer der visionärsten zeitgenössischen<br />

Architekten, nennt sein Design des Swiss<br />

Re London Hauptqu<strong>art</strong>iers «radikal - in sozialer, technischer,<br />

architektonischer und räumlicher Hinsicht».<br />

Grösse und Form des neuen Turmes sind in der Tat so<br />

radikal, dass das Gebäude in den Medien von Beginn<br />

weg als «erotische Gurke» bezeichnet wird. (Ab 17.11.)<br />

Ouaga Saga<br />

(Dani Kouyaté, Burkina-Faso 2004, 85’, F/d, Spielfi lm)<br />

Aberwitzige Komödie mitten aus dem Leben in Afrika,<br />

das auf der Leinwand in seiner ganzen Buntheit blüht.<br />

(Ab 3.11.)<br />

Pier-Paolo-Pasolini-Tage 5.-8.11.<br />

Im Gedenken an diesen gross<strong>art</strong>igen italienischen Literaten,<br />

Intellektuellen und Regisseur, welcher vor dreissig<br />

Jahren unter tragischen Umständen ums Leben gekommen<br />

ist, zeigt das Kino Kunstmuseum eine kleine<br />

Filmreihe mit Pasolinis wohl bedeutendsten Filmwerken:<br />

«Accattone» (1961), «Mamma Roma» (1962), «Uccellacci<br />

e uccellini» (1965) und «Teorema» (1968). Höhepunkt<br />

der Pasolini-Tage ist der Besuch des deutschen Literaturkritikers<br />

Peter Hamm sowie der Regisseurin Karin<br />

Thome, welche am Sonntag, 6. November das 1969<br />

realisierte Filmporträt «Pier Paolo Pasolini» präsentieren.<br />

Die beiden Gäste erzählen über die Umstände, in<br />

denen dieses Filmdokument zu Pasolini entstanden ist,<br />

und berichten über ihre persönlichen Begegnungen mit<br />

ihm. Zur Einstimmung liest Peter Hamm einen selbst<br />

verfassten, unveröffentlichten Text zu Pasolini.<br />

QUEERSICHT 12.-13.11.<br />

Das Kino Kunstmuseum präsentiert eine Filmauswahl,<br />

welche das Alltagsleben von Lesben und Schwulen in<br />

den ehemaligen Ostblockländern zum Thema macht.<br />

Filmar en América Latina 14.-29.11.<br />

Während dreier Wochen werden im Rahmen des Festivals<br />

Filmar en América Latina in den Städten Genf,<br />

Lausanne, Biel - und neu nun auch in Bern - südamerikanische<br />

Filmproduktionen vorgestellt. Das Kino Kunstmuseum<br />

zeigt dazu ein Auswahlprogramm mit verschiedenen<br />

Schwerpunkten: eine umfassende Retrospektive<br />

über den bolivianischen Regisseur Jorge Sanjinés, eine<br />

Werkschau des jungen chilenischen Filmemachers Andrés<br />

Wood, einen Themenabend zum Filmland Peru<br />

und einen zu Migration. Als einer der bedeutendsten<br />

südamerikanischen Filmemacher hat Jorge Sanjinés<br />

in seinem Werk nicht nur die Geschichte Boliviens neu<br />

erzählt. Er hat auch der bolivianischen Kinematografi e,<br />

über die kaum etwas bekannt ist, zu einer gewichtigen<br />

Stimme verholfen. Berühmt ist Sanjinés vorwiegend<br />

wegen seiner Beiträge zu einem revolutionären, auch<br />

ästhetisch revolutionären Kino geworden. Mit seinem<br />

‚Kino der Refl exion’ leistet Sanjinés heute einen wichtigen<br />

politischen Beitrag zur Identitätsfi ndung gesellschaftlicher<br />

Minderheiten.


KI O<br />

i n d e r R e i t s c h u l e<br />

N<br />

Für das Tagesprogramm die Tageszeitung oder das Internet W W W . B E R N E R K I N O . C H<br />

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Nichts schwerer, nichts leichter als das ... leben mit<br />

Behinderung<br />

«Das Vorurteil ist von der Wahrheit weiter entfernt als<br />

die Unkenntnis». Lenins Worte stehen als Leitsatz zum<br />

Zyklus über behinderte Menschen. Mit ernsten und humorvollen<br />

Spiel- und Dokumentarfi lmen über Behinderung<br />

sollen Unkenntnisse, Unwissenheit darüber umgewandelt<br />

und Ängste abgebaut werden. Die Filme werfen<br />

Fragen auf, wer über welche Menschen Entscheidungen<br />

treffen kann oder wer bestimmt, ob ein ungeborenes Leben,<br />

weil pränatal als behindert diagnostiziert, als nutzlos,<br />

von keinerlei Wert für die Gesellschaft abgestempelt<br />

und daher entweder abzutreiben ist, oder als Frühgeburt<br />

zu Forschungszwecken verwendet werden kann.<br />

Eindrücklich zeigt dies der autobiografi sche Film «Mein<br />

kleines Kind» von Katja Baumg<strong>art</strong>en. Die Regisseurin<br />

sowie betroffene Frauen und der Pränataldiagnostiker<br />

Matthias Meyer-Wittkopf werden nach dem Film am 26.<br />

November an einer Podiumsdiskussion teilnehmen.<br />

Weniger ernst geht es im Film «Verrückt nach Paris» zu:<br />

Drei Behinderte machen auf eigene Faust Urlaub vom<br />

Heim. Daraus entwickelt sich ein temporeiches Road-<br />

Movie, das an Witz und Situationskomik manch andere<br />

Komödie in den Schatten stellt und an dessen Ende die<br />

drei mit beneidenswerter Kraft und Verstand die Verwirklichung<br />

ihrer Träume vorangetrieben haben werden.<br />

(17.11.-17.12.)<br />

Neue Dokumentarfi lme aus der Schweiz,<br />

Argentinien und Brasilien<br />

«Oscar», «Bümpliz - ein Tag in der urbanen Schweiz»<br />

und «Zwischen Mauern und Favelas» sind drei Beispiele<br />

über Menschen, die sich in den sich immer schneller<br />

verändernden Gesellschaften kreativ behaupten. Der<br />

argentinische Taxichauffeur Oscar lehnt sich mit künstlerischen<br />

Aktionen gegen die Auswüchse einer Krisengesellschaft<br />

auf, die ins ärmste Qu<strong>art</strong>ier Berns abgedrängten<br />

AusländerInnen und ArbeiterInnen lassen eine<br />

farbige Subkultur aufblühen und in den brasilianischen<br />

Slums organisieren sich die FavelabewohnerInnen gegen<br />

eine ständig zunehmende brutale Polizeigewalt. (3.-<br />

5.11., 21.00h) www.reitschule.ch/reitschule/kino<br />

Queersicht: vom10. bis 14. November 2005.<br />

Dentro casa: la famiglia nel cinema italiano<br />

Unser November-Zyklus zeigt die italienische Familie<br />

in Klassikern wie, «Cronaca familiare» (1962) von Valerio<br />

Zurlini, der brillanten Verfi lmung des Romans von<br />

Pratolini in der sich zwei Brüder, die nach dem Tod ihrer<br />

Mutter getrennt wurden, nach Jahren wieder treffen<br />

(Mo 7.11., 20h) oder «La famiglia» von Ettore Scola<br />

(1986), einer hervorragend inszenierten Chronik, welche<br />

das Schicksal einer Familie und einer Nation von<br />

1906-86 spiegelt (Mo 14.11., 20h). In «La Stanza del fi -<br />

glio» (2001) erzählt Nanni Moretti berührend und präzis<br />

die Geschichte einer Familie, die einen schweren<br />

Verlust erleidet und daran beinahe zerbricht (Mo 21.11.,<br />

20h), «Ricordati di me» (2003) von Gabriele Muccino ist<br />

ein turbulentes Drama über eine mittelständische Familie,<br />

deren Welt aus den Fugen gerät, als die Tochter<br />

beschliesst, Showgirl am Fernsehen zu werden und die<br />

Hormone von Vater Carlos verrückt spielen, als er seine<br />

Jugendliebe wieder trifft (Mo 28.11., 20h)<br />

Sortie du labo<br />

Erneut zeigt das Lichtspiel sechs frisch restaurierte<br />

Kurzfi lme aus der Cinémathèque suisse, die einen Einblick<br />

in die Vielfalt des Schweizer Dokumentarfi lms von<br />

1917 bis 1938 geben. Das Spektrum reicht von der stummen<br />

Reisereportage aus Russland über das touristische<br />

Lehrstück bis hin zum avantgardistischen Industriefi lm.<br />

Präsentiert werden die Filme von den drei FilmwissenschaftlerInnen<br />

Anita Gertiser, Yvonne Zimmermann und<br />

Pierre-Emmanuel Jacques. Livebegleitung am Piano<br />

von Wieslaw Pipczynski (Mi 23.11., 20h).<br />

Frankenstein<br />

Zum Auftakt des Horror- und Gruselfi lmzyklus des StudentInnenfi<br />

lmclubs der Uni Bern im Lichtspiel gibt es<br />

einen absoluten Klassiker des Genres mit erstaunlichen<br />

Spezialeffekten und beeindruckenden Masken zu entdecken:<br />

den 1931 von James Whale gedrehten Stummfi lm<br />

«Frankenstein», in dem das Monster ins Leben gerufen<br />

wird (Mi 30.11., 20h). Musikalisch begleitet wird der Film<br />

von Andreas Bugs (Gitarre). Die ebenfalls von Whale gedrehte<br />

Fortsetzung, «The Bride of Frankenstein» (1935)<br />

folgt am 7.12. (20h).<br />

25<br />

10.11-12.12: Festival Filmar en América Latina im<br />

FILMPODIUM BIEL/BIENNE<br />

Nun bereits zum dritten Mal im FILMPODIUM BIEL/BI-<br />

ENNE: das Festival Filmar en América Latina - das einzige<br />

Filmfestival in der Schweiz, das sich ausschließlich<br />

dem Filmschaffen Lateinamerikas widmet.<br />

Die über zwanzig Filme lassen nicht nur die Herzen der<br />

LiebhaberInnen von südamerikanischem Kino höher<br />

schlagen: Vorpremieren und Reprisen, Dokumentar-,<br />

Spiel- und Kurzfi lme aus Mexiko, Kuba, Argentinien, Kolumbien,<br />

Chile und Brasilien bieten für alle einen Einblick<br />

in das jüngste und in der Schweiz kaum vertretene<br />

Filmschaffen dieser Region.<br />

Zum Beispiel:<br />

10.11: Die Vorpremiere von «Habana Blues» macht den<br />

Auftakt im FILMPODIUM. Zambranos Film («Solas») widmet<br />

sich den Problemen zweier Möchtegern- Rockstars,<br />

die gegen die Tücken des kubanischen Systems ankämpfen<br />

müssen.<br />

13.11: Oliver Stone’s Interview mit dem «Comandante»<br />

Fidel Castro höchstpersönlich: Dreißig Stunden<br />

Gesprächsmaterial hat Stone für den Film auf neunzig<br />

Minuten gekürzt – seine Fragen und Castros Antworten<br />

werden im O-Ton wiedergegeben.<br />

18.11: Pablo Traperos neuer Film «Familia Rodante»<br />

– ein vergnügliches Roadmovie, buntes Familiendrama<br />

und deftige Komödie: Die 84jährige Emilia aus Buenos<br />

Aires wird zur Hochzeit ihrer Nichte in ihren Geburtsort,<br />

im Norden des Landes, kurz vor der brasilianischen<br />

Grenze, eingeladen. Emilia mobilisiert ihren Sohn, dieser<br />

sein altes Wohnmobil Marke Chevy Wiking 1956, und<br />

die 14köpfi ge Großfamilie aus vier Generationen macht<br />

sich auf die über tausend Kilometer lange Reise...<br />

25.11: «Life and Dept» ist ein Dokumentarfi lm über die<br />

Auswirkungen der Globalisierung auf Jamaikas Industrie<br />

und Agrikultur.<br />

Vom 9.12-12.12, als Abschluss des diesjährigen Festivals,<br />

ein Film, der in die Beine fährt: «Brasileirinho» von Aki<br />

Kaurismakis Bruder Mika, ist eine liebevolle und genaue<br />

Dokumentation des Choro, der ersten urbanen, original<br />

brasilianischen Musik, die sich im Laufe der vergangenen<br />

130 Jahre zu einer faszinierenden Form moderner<br />

tropischer Klänge entwickelt hat.


26<br />

B Ü H N E<br />

ANDREA BAUMANN<br />

«lebendiges eisen» -<br />

ein fenster nach russland<br />

■ Ende November kommt das Berner Publikum im<br />

Theater Tojo in den Genuss eines russischen Theatererlebnisses,<br />

das in jeder Hinsicht unter die Haut geht:<br />

sprachlich, schauspielerisch, kulinarisch. Eine junge<br />

Theatertruppe aus St. Petersburg gastiert für vier Vorstellungen<br />

in Bern und gewährt Zuschauerinnen und<br />

Zuschauern einen Einblick in zeitgenössisches russisches<br />

Theaterschaffen. Erwähnenswert daran: Die drei<br />

Künstlerinnen und Künstler sprechen Russisch, entführen<br />

das Publikum in eine ferne, exotische Klangwelt,<br />

und gleichzeitig ermöglicht eine deutsche auf Leinwand<br />

projizierte Übersetzung Bernerinnen und Bernern, die<br />

des Russischen nicht kundig sind, der Handlung und den<br />

Dialogen auf der Bühne zu folgen.<br />

Seinen Anfang nahm dieses Gastspiel aus St. Petersburg<br />

diesen Frühling, als eine Übersetzerin aus Bern und<br />

drei junge Absolventinnen und Absolventen der Staatlichen<br />

Theaterakademie in St. Petersburg zusammentrafen<br />

und merkten, dass sie dank gemeinsamer Wünsche<br />

und Ziele wie füreinander geschaffen waren. Eine Zusammenarbeit<br />

drängte sich auf. Für Vanya, Nastya und<br />

Oleg, beseelt von der Idee, ihre Produktion «Schelesjaka»<br />

– unübersetzbar, kann in etwa jedoch mit «Lebendiges<br />

Eisen» wiedergegeben werden - ausserhalb ihres<br />

Heimatlandes zu zeigen, war die Übersetzerin aus der<br />

Schweiz ein Geschenk des Himmels. Umgekehrt waren<br />

die drei Künstlerinnen und Künstler für die Schweizerin<br />

ein Wink des Schicksals, ihren Wunsch zu verwirklichen,<br />

den Wunsch, mit einem eigenen Projekt zwischen Russland<br />

und der Schweiz kulturell zu vermitteln. Sie riefen<br />

das Projekt «Lebendiges Eisen» in die Welt, was so viel<br />

hiess wie: Ein Gastspiel der bereits bestehenden Produktion<br />

«Schelesjaka» in Bern organisieren.<br />

Worum geht es? «Schelesjaka» ist eine eigene Insze-<br />

Bild: zVg.<br />

nierung der drei russischen Künstlerinnen und Künstler,<br />

die auf dem zeitgenössischen russischen Theaterstück<br />

«You» von Olga Muchina basiert. Zwei Männer und eine<br />

Frau. Eine undefi nierbare Eisenkonstruktion, die ebenso<br />

ein Klettergerüst auf einem Kinderspielplatz sein kann,<br />

wie ein zu Metall gewordenes Symbol von Schicksalen<br />

und Wegen, die sich kreuzen. Dies ist das Ausgangsmaterial<br />

des vorliegenden Stücks; sein Grundgedanke ist<br />

schne ll erfasst: Es geht um ein Thema, das die Menschen<br />

seit jeher bewegt, den Kampf zweier Männer um<br />

eine Frau. In 18 Bildern bieten die Schauspielerinnen<br />

und Schauspieler Einblick in intime, komische, akrobatische<br />

oder nachdenklich stimmende Episoden aus dem<br />

Leben dreier Charaktere und deren Verstrickungen. Die<br />

Reihenfolge dieser Bilder ist dabei nicht starr und ein<br />

für allemal festgelegt, sondern wandelt und verändert<br />

sich ständig, eine Beweglichkeit, die das Stück lebendig<br />

erhält. Die Künstlerinnen und Künstler können das<br />

Stück somit an jeden neuen Ort anpassen und auf jedes<br />

Publikum aufs Neue eingehen. So auch an das Tojo Theater<br />

in Bern und das anwesende Publikum.<br />

Vanya, Nastya, Oleg und Barbara, alle sind sie überzeugt<br />

von der Verbindungskraft des Theaters über<br />

Staatsgrenzen hinweg und alle hoffen sie, dass ausser<br />

den Russinnen und Russen, die in und um Bern herum<br />

leben, auch ein paar Neugierige aus Bern ins Theater<br />

kommen und sich auf das interkulturelle Abenteuer einlassen.<br />

Mit russischer Originalsprache, hausgemachten<br />

Blinis und Vodka – direkt aus Russland importiert – ist<br />

ein direkter und unmittelbarer Zugang zur russischen<br />

Kultur garantiert. Der Kulturtransfer ist dabei übrigens<br />

nicht einseitig, denn auch für die Schauspielerinnen und<br />

Schauspieler aus Russland ist der Besuch in Bern ein<br />

Abenteuer. Ihrer ersten Reise in die Schweiz – für zwei<br />

von ihnen ist es sogar die erste Reise nach «Europa»<br />

- schauen sie voller Neugier und Spannung entgegen,<br />

und sie hoffen, durch ihren Besuch auch in Berührung<br />

zu kommen mit Mentalität, Sitten und Bräuche in der<br />

Schweizerischen Hauptstadt. Sie freuen sich auf Reaktionen<br />

der hiesigen Bevölkerung auf ihr Schaffen, und es<br />

wird nach der Vorstellung daher reichlich Gelegenheit<br />

geben, diese Begegnung zweier Welten zu vertiefen und<br />

persönlich werden zu lassen.<br />

Spieldaten:<br />

22., 24., 25. und 26. November 2005, jeweils<br />

um 20.30 im Theater Tojo Reitschule Bern.<br />

Abendkasse ab 19.30<br />

Reservation: Boogie Secondhand, Zytgloggelaube 4,<br />

Telefon 031 311 94 04<br />

STADTLÄUFER<br />

nr. 14 // bildschön. Was gibt es entspannenderes, als<br />

am Sonntag spät aufzustehen, noch dazu, wenn es sich<br />

um einen der letzten bildschönen Herbsttage handelt?<br />

Ein schweres, englisches Frühstück in der Laube und<br />

dann mit Schlaf in den Augen zum Verdauungsspaziergang<br />

an die Aare, wo es Ausfl ügler im Hochgefühl und<br />

Enten im Tieffl ug zu beobachten gibt.<br />

Wir versuchens an der Riviera: Alle regulären Sitzgelegenheiten<br />

(Stühle, Liegestühle, Sofas) sind ausgebucht,<br />

aber auf der Glasplatte, durch die man direkt auf<br />

die Schwelle hinab sehen kann, sind noch Plätze frei.<br />

Die Sonnenstrahlen lassen die Herbstfarben so richtig<br />

leuchten, wir wähnen uns im Paradies und rekapitulieren<br />

die Erlebnisse des Sommers. Nach zwei Stunden<br />

ergattern wird doch noch zwei Liegestühle, und nun blicken<br />

wir direkt auf die Bäume mit ihren fallenden Blättern<br />

– irgendwie freue ich mich jetzt schon auf die kalte<br />

Jahreszeit.<br />

Wir reservieren uns einen Platz im Roseng<strong>art</strong>en für<br />

den Abend und bekommen den grossen runden Tisch in<br />

der Ecke. Freunde kommen dazu, die Sonne geht irgendwo<br />

hinter dem Jura unter und färbt alles rot, die ersten<br />

Lichter der Stadt fl ackern auf.<br />

Das Essen im Dämmerlicht ist köstlich: Maispoulardenbrust<br />

mit Babyananas, Saisongemüse und Reis.<br />

Früher wäre ich wohl kaum hierher gekommen, aber in<br />

zwei Etappen wurde die alte Beiz mit Fokus auf Fritteuse<br />

und Stammtisch in ein Trendlokal mit Lounge-Charakter<br />

umgewandelt. Die Transformation ist gelungen. An alle<br />

Stadtläufer da draussen: Unbedingt den runden Tisch in<br />

der Ecke reservieren! (al)


EVA PFIRTER<br />

VON MENSCHEN UND MEDIEN<br />

Weshalb unterstützt die Universitätsleitung das Fach Medienwissenschaft nicht?<br />

■ Alles, was wir von der Welt wissen, wissen wir von den<br />

Medien. In der Interaktion mit Kultur, Wirtschaft und Politik<br />

spielen Medien eine immer wichtigere Rolle. Medienschaffende<br />

können mit ihrer Berichterstattung CEO’s zu<br />

Fall und Politiker in Erklärungsnotstände bringen. Oder<br />

aber einem «Musicstar» mit entsprechender Publicity zu<br />

kurzer Berühmtheit verhelfen.<br />

Die Medien suchen in ihrer Orientierungsfunktion die<br />

Wirklichkeit abzubilden und schaffen dadurch eine neue<br />

Wirklichkeit, die nur selten objektiv ist. Wer Zeitung liest<br />

oder die Tagesschau schaut, ist sich dessen kaum bewusst.<br />

Die immer stärkere Vernetzung der Welt macht<br />

uns glauben, jederzeit via Medien objektiv informiert zu<br />

sein. Den Tsunami in Südostasien scheinen wir ebenso<br />

hautnah miterlebt zu haben wie die Stimmung nach der<br />

Wiederwahl von George W. Bush in New York. Doch ist es<br />

nicht gerade dann nötig, sich den Spielregeln und Tücken<br />

der Medienmaschinerie bewusst zu werden, wenn diese<br />

immer stärker unsere eigene Wirklichkeit prägen?<br />

Ein Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft<br />

führt nicht zwingend ins Berufsfeld Journalismus<br />

oder Pressearbeit. Künftige Bundesräte, Konzerleiter<br />

und Kulturbetreiber sollten ebenso Bescheid wissen über<br />

Propaganda und Pseudo-Ereignis wie angehende Feuilletonisten.<br />

Doch leider scheinen das viele noch immer misszuverstehen:<br />

Medien sind nicht bloss interessant für Medienschaffende,<br />

sondern betreffen uns alle, durchdringen<br />

unser Leben tagtäglich - ob uns das lieb ist oder nicht.<br />

Auch die Berner Universitätsleitung scheint sich<br />

weder über Bedeutung noch Inhalt des Instituts für<br />

Kommunikations- und Medienwissenschaft im Klaren zu<br />

sein. Neben einigen medienpraktischen Kursen wird vor<br />

allem Grundlagenforschung betrieben; jene Forschung,<br />

die für die Fachhochschulen nötig ist, um Journalisten<br />

und PR-Fachkräfte seriös ausbilden zu können.<br />

Natürlich: Kommunikations- und Medienwissenschaft<br />

ist ein junges Fach. Und muss deshalb immer<br />

wieder gegen Vorurteile kämpfen. Obwohl es besser ist<br />

als sein Ruf. Während das Fach in Basel linguistisch, in<br />

Zürich publizistisch und in Lugano unternehmenskommunikativ<br />

ausgerichtet ist, zeigt das Berner Institut klar<br />

sozialwissenschaftliche Tendenzen mit Schwerpunkt<br />

Politische Kommunikation - was begründet ist durch<br />

die politische und mediale Bedeutung der Stadt Bern.<br />

Das Berner Modell ist somit keinesfalls austauschbar<br />

mit einem Kommunikations- und Medienwissenschaftsstudium<br />

in einer anderen Schweizer Stadt. Nicht zuletzt<br />

auch, weil man mit Roger Blum einen äusserst fähigen<br />

Praktiker und Vermittler an Land gezogen hat.<br />

Am Podium «Wieviel Medienwissenschaft braucht<br />

Bern?» versteckte sich Rektor Urs Würgler hinter Sparmassnahmen<br />

und fand, das «Problem Medienwissenschaft»<br />

müsse gesamtschweizerisch diskutiert werden.<br />

Konkrete Gespräche fanden bisher aber keine statt.<br />

Statt den hohen Studentenzahlen gerecht zu werden,<br />

begründet Würgler die mangelhafte Unterstützung<br />

C A R T O O N<br />

www.fauser.ch<br />

27<br />

damit, in erster Linie müssten Hauptfächer gefördert<br />

werden. Da das Fach Kommunikations- und Medienwissenschaft<br />

aber keine Ausbaumittel erhält, kann es nicht<br />

Hauptfach werden. Und weil es nicht Hauptfach ist, erhält<br />

es keine Ausbaumittel.<br />

Sieben positive externe Evaluationen, eine studentische<br />

Petition und ein offener Brief des prominenten Beirats<br />

des Fördervereins für Kommunikations- und Medienwissenschaft<br />

konnten die Verantwortlichen nicht zu einer<br />

anderen Haltung bewegen. Man schämt sich nicht, zuzuschauen,<br />

wie sich der einzige Dozent mit 80 Stunden-Wochen<br />

abrackert. Und über 900 Studierende im<br />

schlechtesten Betreuungsverhältnis des Schweiz ein<br />

Fach studieren, das zweifelsohne Zukunft hat. Medien<br />

schaffen Realitäten und haben eine Macht, die unheimlich<br />

ist. Die aktuelle Hysterie um eine allfällige Volgelgrippe-Epidemie<br />

zeigt dies auf eindrückliche Art und<br />

Weise. Der Pharmakonzern Roche hat seinen Verkauf<br />

von Tamifl u um mehr als 240 Prozent gesteigert. Ohne<br />

Medien wüssten wir nicht einmal von den Volgelgrippe-<br />

Fällen in Kroatien und Russland.<br />

Die alten, historisch begründeten Wissenschaften<br />

haben ihre Berechtigung. Aber es wäre auch an der<br />

Zeit, der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung<br />

Rechnung zu tragen und einem jungen Fach Raum zu<br />

geben. Gerade hier, in der Stadt Bern. Anstatt das Problem<br />

typisch schweizerisch den anderen Kantonen und<br />

ihren Universitäten zuzuschieben.


28<br />

M E N S C H E N<br />

EVA MOLLET<br />

christoph simon<br />

... oder warum Franz Obrist neben einem Dachs läuft<br />

n Christoph Simon spricht manchmal grossväterlich:<br />

«Ich bin geworden, der ich bin.» Und gleichzeitig blitzt in<br />

seinem Gesicht schelmische Jugendlichkeit. Das verhilft<br />

ihm dazu, eher als Schlitzohr, als mit stärkeren Ausdrücken<br />

bezeichnet zu werden, wenn er eine unliebsame<br />

Handlung vollzieht. Er kann dich angucken mit glänzenden<br />

Augen, als stünde er vor dem Weihnachstbaum mit<br />

einem Haufen Geschenke.<br />

Christoph veröffentlicht nach «Franz oder warum Antilopen<br />

nebeneinander laufen» und «Luna Llena» seinen<br />

dritten Roman mit dem Titel: «Planet Obrist».<br />

Wie gelangt ein junger Autor zu so vielem Schreiben?<br />

Christoph Simon kommt in Langnau zur Welt. Er wächst<br />

in Unterseen auf. Der Vater ist Bankier, die Mutter Arztgehilfi<br />

n. Christoph besucht die Mittelschule in Thun.<br />

Schon während dieser Zeit füllt er Notizhefte mit Texten<br />

und Zeichnungen. Er spielt Gitarre und unterbricht<br />

das Gymnasium, um sich auf die Jazzschule vorzubereiten.<br />

Es ist nicht der richtige Weg. Christoph kehrt an<br />

den Gymer zurück. Da ist der Schauplatz seines ersten<br />

Romans.<br />

Der Vater gibt Christoph dreitausend Franken, um Auto<br />

fahren zu lernen. Er kann bis heute nicht Auto fahren.<br />

Er investiert das Geld in eine grosse Reise. In Israel, Aegypten,<br />

Jordanien und Südamerika verdient er Geld mit<br />

Gelegenheitsjobs und er füllt Notizbücher mit seinen<br />

Erlebnissen. Er merkt, die innere Unzufriedenheit, die<br />

Suche nach dem Glück und Antworten auf die Frage,<br />

was das Leben lebenswert macht, lassen sich beiseite<br />

schieben. Primäres ist auf der Reise wichtig: Wohin<br />

führt mich der Weg? Auskommen mit wenig Geld, die<br />

Suche, nach dem nächsten Dach über dem Kopf, fl üchtige<br />

Bekanntschaften, manche amourös. «Man erlebt<br />

viel unterwegs, ohne einer Ordnung oder einer Richtung<br />

zu unterliegen. Reisen verdeckt innere Strukturen.» Die<br />

Notizen von diesen Unterwegs-sein-Feelings dienen als<br />

Ausgangslage für den neuen Roman «Planet Obrist».<br />

Zurück in der Schweiz beginnt Christoph in Basel das<br />

Psychologiestudium. Nach zwei Jahren bricht er ab. Das<br />

Interesse an den Menschen bleibt, aber nicht auf eine<br />

wissenschaftliche, sondern auf eine künstlerische Art.<br />

Er schreibt sein erstes Buch.<br />

Christoph zieht nach Bern. Er wohnt im Breitenrainqu<strong>art</strong>ier<br />

in verschiedenen WGs. Sein zweiter Roman<br />

«Luna Llena» ist eine Liebeserklärung an das bevorzugte<br />

Qu<strong>art</strong>ier und an die Beiz mit dem fremdländischen<br />

Namen. Mit dem Titel hofft Christoph auf lebenslänglichen<br />

Gratiskaffee im Luna Llena. Dieser Wunsch hat<br />

sich bis heute nicht erfüllt.<br />

Das Motiv für den neuen Roman ist die weite Welt. Zumindest<br />

schafft es der Protagonist Franz Obrist bis nach<br />

Slowenien. Es ist für Christoph eine literarische Herausforderung,<br />

die verschiedenen von Franz bereisten Orte<br />

zu beschreiben. Der dritte Roman knüpft an den ersten<br />

an: Franz stürzt ab. Seine Mutter stirbt und Franz macht<br />

einen Selbstmordversuch. Der Ausweg ist das Reisen -<br />

nicht alleine - zusammen mit dem Dachs. «Die verlängerte<br />

Pubertät ist das Vorrecht junger Leute, bevor sie<br />

sich in die Gesellschaft integrieren», fi ndet Christoph<br />

Simon.<br />

Christoph ist gerade Vater geworden. Vielleicht ist das<br />

Projekt Kind, die Reproduktion, abgeschlossen oder<br />

hat gerade erst angefangen. Christoph hat ein romantisches<br />

Bild von der lebenslangen Liebe. Das tönt aber<br />

auch nach lebenslänglich. Es ist sowohl Hoffnung, wie<br />

Befürchtung. Christoph bezeichnet seine Familie lieber<br />

Bild: Eva Mollet<br />

als Planwagen. Seine Vorbilder sind u.a. die Revolverhelden.<br />

Sie lösen ihre Probleme selber oder sterben dabei.<br />

Gelöst ist gelöst.<br />

Das Leben und das Umfeld sind der Rohstoff seiner Literatur.<br />

Das Schreiben ist die Raffi nerie zur Veredelung.<br />

«Es geht mir darum, die Welt schöner zu machen. Und<br />

um Heiterkeit, die immer wieder gefährdet ist. Abgründe<br />

sind Material, um darüber zu schreiben.» Auf diesem<br />

Weg will Christoph weiter gehen. Seit dem ersten Buch<br />

kann er vom Schreiben leben. Sein Stundenlohn beträgt<br />

die letzten vier Jahre sieben Franken neunzig. Das sagt<br />

er ohne Bitterkeit. Christoph fi ndet, er hat viel Glück, da<br />

er durch das Schreiben machen kann, was ihm gefällt.<br />

Gedanken festzuhalten, bedeutet Verwirklichung.<br />

Ein nächstes Buch zu schreiben ist seine einzige angestrebte<br />

Zukunft. Es gibt noch viele Geschichten zu erzählen.<br />

Seit fünf Jahren trifft sich Christoph Simon regelmässig<br />

zum literarischen Austausch mit den «Autören». Die<br />

Gruppe von vier Schreiberlingen bespricht ihre Texte.<br />

Gemeinsam suchen sie nach den Stolpersteinen. Sie verstehen<br />

das Schreiben als Prozess und distanzieren sich<br />

vom Klischee des einsamen Literaten im stillen Kämmerlein.<br />

Die «Autören» verbindet eine freundschaftliche<br />

Vertrauensbasis. Männer mögen Clubstrukturen.<br />

Christoph Simons Lieblingssatz aus dem Roman «Planet<br />

Obrist» lautet: «Ich kenne niemanden, bei dem die<br />

Oberfl ächlichkeit so tief sitzt, wie bei Ihnen.», sagt der<br />

Dachs zu Franz Obrist im gedanklichen Zwiegespräch.<br />

Warum ist es ein Dachs, der neben Franz Obrist läuft?<br />

«Weil Katzen und Hunde zu gewöhnlich sind, und ein<br />

Pferd ist zu gross.»


ensuite - kulturmagazin<br />

präsentiert die Kunst-Sonderbeilage:<br />

<strong>art</strong>ensuite<br />

meret oppenheim-brunnen<br />

ein ewiges berner<br />

diskussionsmal<br />

2927<br />

<strong>art</strong>ensuite


30<br />

<strong>art</strong>ensuite<br />

Simon Baur, lebt als Kurator<br />

und Publizist in Basel<br />

und Berlin. Er bereitet in<br />

Zusammenarbeit mit Lisa<br />

Wenger Oppenheim eine<br />

Publikation vor, die Teile des<br />

schriftlichen Nachlass von<br />

Meret Oppenheim vorstellt.<br />

Ab 1. Juni bis 15. Oktober<br />

2006 zeigt das Kunstmuseum<br />

Bern eine Retrospektive<br />

Meret Oppenheim.<br />

Ich weide meine Pilze aus...<br />

■ «Mein Vorschlag war, eine von<br />

oben an rundum mit Wasser berieselte<br />

Säule zu machen. Um die Säule sollte<br />

eine Spirale aus unterbrochenen Rinnen<br />

laufen. Von einer Rinne in die an-<br />

von Simon Baur<br />

dere sollte Wasser träufeln oder laufen.<br />

Und zwischen dieser Spirale sollte sich<br />

eine zweite mit grünen Pflanzen (Gras,<br />

Unkraut) bewachsene Spirale winden.<br />

Damit die Säule oben nicht wie abgeschnitten<br />

aussehe, hatte ich die Idee,<br />

den kleinen Rund-Pavillon darauf zu<br />

setzen.<br />

Als ganzes machte der Brunnen<br />

eher einen «romantischen» Eindruck,<br />

und ich konnte mir vorstellen, dass er<br />

sich gut in die Umgebung einpassen<br />

werde.<br />

Weil die Pflanzenspirale das vom Turm<br />

herunter fliessende Wasser zu sich herüberleitet,<br />

sollte einem, wenn man sich<br />

nahe an die Brunnensäule stellt, ein<br />

leichter Sprühregen entgegenkommen,<br />

wie in der Nähe eines Wasserfalles. (...)<br />

Darum herum, auf die dem Brunnen<br />

abgewendete Seite, sollen grössere und<br />

kleinere Felsbrocken (oder Stücke), 50<br />

– 80 cm hoch, gestellt werden, die auch<br />

als Sitze benützt werden können.»<br />

Der obenstehende Abschnitt stammt<br />

aus einem Text mit dem Titel: «Habt<br />

Geduld», gefunden im schriftlichen<br />

Nachlass von Meret Oppenheim. Es ist<br />

dieser Geduld zu verdanken, dass der<br />

Brunnen heute noch steht, denn nach<br />

wie vor scheiden sich die Geister über<br />

den Sinn und Wert dieser Arbeit. Davon<br />

soll in diesem Text aber nicht die<br />

Rede sein, da ich eine Position bereits<br />

bezogen habe: bei jedem Bernbesuch<br />

erweise ich ihm meine Referenz, und<br />

auf die Geister kommen wir vielleicht<br />

noch, sie spielen im Werk von Meret<br />

Oppenheim eine zentrale Rolle.<br />

Die Zitate scheinen mir doch einige<br />

Hinweise auf Meret Oppenheims Gedanken<br />

zu geben, die sich in veränderten<br />

Formulierungen auch in anderen<br />

Werken finden. Aus Anlass des 20.<br />

Todestages von Meret Oppenheim, am<br />

15. November, soll über dieses Wahrzeichen<br />

der Stadt Bern, das heute bekannter<br />

ist als der Bärengraben oder<br />

das Bundeshaus, nach gedacht werden.<br />

«Wildrose», «Kristall» und Wasserpavillon<br />

«Unterm Teich» heissen Brunnenmodelle,<br />

die Meret Oppenheim für<br />

eine Ausstellung in der Kunsthalle Bern<br />

1982 schuf. Bereits die Titel verweisen<br />

auf eine Vorstellung, das neben der realen<br />

noch eine weitere, verwunschene<br />

Welt existiere. E.T.A. Hoffmann hat<br />

einmal von sich behauptet er sei «ins<br />

Kristall gefallen», womit er auf seine<br />

Jugend in einer surrealen Welt anspielte.<br />

Doch auch die Wildrose lässt an<br />

Dornröschen denken, hinter deren Dickicht<br />

eine eigene Welt im Tiefschlaf<br />

ruhte und der Pavillon referiert auf eine<br />

arkadische Landschaft, der solche Gebäude<br />

eigen sind. In den Zeichnungen,<br />

die zum Brunnen in Bern erhalten sind,<br />

finden sich pflanzliche Elemente, aber<br />

auch die Spiralen und das Wasser und<br />

jeweils auch der oben drauf sitzende<br />

Pavillon.<br />

Einige Monate nach diesen Arbeiten,<br />

entsteht im August 1981 die Arbeit<br />

«Blaue Blume auf Schwarz», die als<br />

Schlüsselwerk gesehen werden kann,<br />

bei der Frage, um was es Meret Oppenheim<br />

mit ihrem Brunnen gehen könnte.<br />

Auch in einer Zeichnung, die im Herbst<br />

desselben Jahres entstand ist die Situation<br />

der Gesamtanlage zu sehen, wobei<br />

sie die Blickrichtung so gewählt hat,<br />

dass der Brunnen vor den entlaubten<br />

Bäumen im Hintergrund steht. Je nach<br />

Standort, den man vor dem Brunnen<br />

einnimmt, ändert sich auch seine<br />

Aussage: Doch immer bleibt der locus<br />

amoenus das Hauptthema, das ist kein<br />

Zufall.<br />

In der Einleitung zum Katalog, anlässlich<br />

des Legats Meret Oppenheims<br />

an das Kunstmuseum Bern, hat Christoph<br />

von Tavel die künstlerische Qualität<br />

der Künstlerin treffend charakterisiert:<br />

«Im Unterschied zu ihren meisten<br />

Zeitgenossen hat sie die Formen ihrer<br />

Aussage nicht kontinuierlich vervollkommnet,<br />

sondern hat jedes Werk aus<br />

schöpferischen Urgründen, Träumen,<br />

Assoziationen, Spielen, Gedanken neu<br />

erstehen lassen. So besteht eine wesentliche<br />

Qualität dieser Künstlerin im<br />

unerw<strong>art</strong>eten, immer wieder wechselnden<br />

Zusammenfügen und Aneinanderreihen<br />

verschiedener Materialien und<br />

Inhalte in bildnerischer und dichterischer<br />

Form.»<br />

Das obenstehende Zitat Meret Oppenheims<br />

und die eben zitierte Charakterisierung<br />

implizieren, dass der<br />

Brunnen aus verschiedenen Elementen<br />

besteht, die wie Zitate aus älteren<br />

Arbeiten in diesen einfliessen. 1939<br />

entsteht das Bild «Die Waldfrau». Ein<br />

Kind macht mit dem linken Arm eine<br />

Geste in Richtung einer gekrönten.<br />

übergrossen Figur, die mit Blättern und<br />

Blumen bedeckt, halb Mensch halb<br />

Schlange ist und zwischen den Bäumen<br />

eines Waldes hindurch geht. Gut zwanzig<br />

Jahre später entsteht der «Berggeist»,<br />

eine zylinderförmige Figur, die<br />

auf Armhöhe wie eine Bauchlade vor<br />

sich trägt und deren obere Öffnung<br />

von einer hutähnlichen Bedeckung<br />

verschlossen ist. Ummantelt ist die Figur<br />

von Steinsplittern. Oder die Arbeit<br />

«Wolken auf Brücke», die sechs asymmetrische<br />

Formen zeigt, die auf unterschiedlich<br />

gedrechselten Rohren sitzen<br />

und eher an Pilze denn an Wolken erinnern.<br />

Analogien sind nicht bloss in der<br />

äusseren Erscheinung auszumachen.<br />

Das Ambiente des Pavillons findet eine<br />

Entsprechung im «Belvedere» jenem<br />

kleinen G<strong>art</strong>enhaus neben der Kirche<br />

in Carona, in das sich Meret Oppenheim<br />

gerne zurückzog, oder auch in der<br />

Beschäftigung mit Spirale und Schlangenbewegungen,<br />

mit dem Wachsen und<br />

Vergehen, in Gedichtstrophen wie «ich<br />

weide meine Pilze aus...».<br />

Wenn Meret Oppenheim über ihren<br />

Brunnen sagt: «ich konnte mir vorstellen,<br />

dass er sich gut in die Umgebung<br />

einpassen werde», so könnte sie, wenn<br />

wir uns den Standort vergegenwärtigen,<br />

mit dem Brunnen an einen surrealen<br />

oder besser subversiven Angriff<br />

gedacht haben. Neben Polizeikaserne,<br />

einem trostlosen Platz und umgeben<br />

von Schnellstrassen wirkt dieser Brunnen,<br />

wie eine Gegenwelt, ein «Paradies-Gärtlein»<br />

im städtischen Ambiente,<br />

in dem neben bunten Blumen,<br />

Schmetterlingen und kleinen Wolken<br />

auch eine kleine Ringelnatter und ein<br />

Schar weidender Waldpilze gesehen<br />

wurden. Nun fehlen nur noch die von<br />

Meret Oppenheim vorgesehenen Steine,<br />

die zum Verweilen einladen.


Wie es ist.<br />

■ Bild, Bewegung und Sprache. Damit<br />

beschäftigt sich seit gut 60 Jahren<br />

Robert Frank - geboren 1924 in Zürich.<br />

Mit «Les Américains» (1958) wurde<br />

Robert Frank berühmt. 83 Fotografien<br />

von Dominik Imhof<br />

nahm Frank in diesen Fotoband auf,<br />

nur ein Bruchteil der über 20ʻ000 Aufnahmen,<br />

die er zwischen April 1955<br />

und Juni 1956 auf seiner Reise durch<br />

48 Staaten der USA gemacht hat. Er<br />

war nicht der erste Fotograf, der sich<br />

mit den USA des 20. Jahrhunderts<br />

beschäftigte (und schon gar nicht der<br />

letzte). Bereits in den 30er Jahren fotografierten<br />

und dokumentierten Fotografen<br />

die amerikanische Bevölkerung<br />

der Depressionszeit. Oder Walker<br />

Evans, der 1938 einen Fotoband über<br />

Amerika publizierte. Doch Frank<br />

schafft etwas ganz Neues. Unscharf,<br />

grobkörnig und kontrastarm sind die<br />

Fotografien. Nicht von Distanz und<br />

Ironie, «nobler Zurückhaltung» und<br />

«erhellender Untertreibung» (wie Susan<br />

Sontag es ausdrückt) gekennzeichnet,<br />

wie diejenigen von Evans. Sie sind<br />

lyrisch und sind zutiefst subjektiv, aber<br />

auch ungeschönt. Als der Band 1959 in<br />

den USA unter dem Titel «The Americains»<br />

erschien, musste Frank harsche<br />

Kritik entgegennehmen: Anti-amerikanisch<br />

seien seine Fotografien, dabei<br />

hielt er doch nur fest, wie es ist. Aber<br />

gerade sein subjektiver Blick zeigte<br />

ungeschönt die Leere Amerikas am<br />

Ende der 50er Jahre, die dunklen Seiten<br />

des «American way of life» wie sie<br />

vorher vielleicht nur vom «Film Noir»<br />

hervorgehoben wurden. Die Kehrseiten<br />

des «American dream». Die US-<br />

Flagge, amerikanische Statussymbole<br />

und den Patriotismus der Zeit hält<br />

er fest; assoziativ sind die einzelnen<br />

Fotografien verbunden, mehr an wiederkehrenden<br />

Themen und Motiven<br />

festhaltend, als an einer Erzählung.<br />

Kein Anfang und kein Ende. Keine<br />

erzählerische Situation, wobei ein Bild<br />

auf das nächste und das vorhergehende<br />

verweist. Vielmehr sind es Zeit-Bilder,<br />

verweisen auf etwas dazwischen, auf<br />

eine Bewegung.<br />

Diesen Moment der Bewegung<br />

thematisiert Frank 1958 in der Serie<br />

«New York Bus». Aus dem fahrenden<br />

Bus schiesst er scheinbar zufällige<br />

Schnappschüsse von New York, seinen<br />

Bewohnern, Strassen und Gebäuden.<br />

Gerade in diesem Zufälligen erscheinen<br />

die Fotografien inszeniert, in ihrer<br />

Spontaneität komponiert. Der Blick<br />

zwischen zwei Bussen hindurch, hinein<br />

in eine für New York so typische<br />

Strassenschlucht - im Gegenlicht. Und<br />

dazwischen ein einzelner Mann, über<br />

die Strasse hastend, einen unendlich<br />

langen Schatten ziehend. Poetisch und<br />

schlicht schön.<br />

Noch 1947 war Frank in New York<br />

und arbeitete als Modefotograf am<br />

renommierten Magazin Harperʻs Bazaar,<br />

was ihn kaum befriedigte: zu<br />

eingeschränkt die Möglichkeiten, zu<br />

stark gebunden an das Magazinformat.<br />

Also brach Frank aus und auf,<br />

reiste bis Mitte der 50er Jahre durch<br />

Südamerika, Europa und die USA.<br />

Er machte Fotoserien über Peru und<br />

über Paris, über die einfachen Arbeiter,<br />

Banker und spielenden Kinder<br />

im Nebel durchfluteten London, oder<br />

über Ben James, einen Minenarbeiter<br />

in Wales. Dazwischen steht aber noch<br />

eine oft ausgeblendete Fotoserie, die<br />

nun in Winterthur für einmal zu sehen<br />

ist und damit die Ausstellung wunderbar<br />

abrundet. Frank dokumentierte<br />

(wenn man dies bei Frank überhaupt<br />

so nennen will oder kann) die Appenzeller<br />

Landsgemeinde in Hundwil.<br />

Hier gibt es noch ein Anfang und ein<br />

Ende. Eine Erzählung. Eine Form, die<br />

Frank in seinen übrigen Arbeiten bewusst<br />

negiert.<br />

Und plötzlich etwas vollkommen<br />

Neues. Aber auf keinen Fall überraschend.<br />

Was Frank in Form der Fotografie<br />

bereits thematisiert hatte - Bild<br />

und Bewegung -, beschäftigt ihn ab<br />

1959 im Medium des Films. Aus Angst<br />

sich in der Fotographie zu wiederholen,<br />

wollte er etwas Neues versuchen,<br />

die erweiterten Möglichkeiten des<br />

Films kamen ihm da nur entgegen. Zur<br />

Wahl von Ausschnitt, Licht, Kontrast,<br />

kommt jetzt noch Ton und Sprache<br />

hinzu. Sein erster Film «Pull My Da-<br />

isy» von 1959 ist auch ein Dokument<br />

der Beat-Generation um Jack Kerouac<br />

(der das Vorwort zu «The Americans»<br />

schrieb) und Allen Ginsberg. Zwar im<br />

Stil eines Home-Movies gedreht - wie<br />

so viele von Franks Filmen -, doch in<br />

Tat und Wahrheit präzis inszeniert, im<br />

gut ausgeleuchteten Studio, teils mit<br />

Schauspielern. Immer wieder bricht<br />

Frank mit den Sehgewohnheiten des<br />

Mainstream-Kinos in seinen Filmen.<br />

Sie sind nicht Fiktion und nicht Dokumentarfilm,<br />

das Objektive geht ihnen<br />

ab und an seine Stelle tritt der subjektive<br />

Blick der Kamera. Halbdokumentarisch<br />

und halbautobiografisch. Die<br />

eigene Person, seine Familie und seine<br />

Schicksalsschläge (seine beiden Kinder<br />

sind früh gestorben) treten immer öfter<br />

ins Zentrum.<br />

Seit den 70er Jahren ist aber parallel<br />

zum Film auch die Fotografie wieder<br />

ein Thema, jetzt in Form des Polaroidbildes.<br />

Nicht mehr dem Einzelbild, sondern<br />

assoziativ verbundenen Bildfolgen<br />

widmet Frank seine Aufmerksamkeit.<br />

Eine ganz eigene Art der Collage entstand:<br />

Bild und Sprache. Sprache als<br />

Orts- und Zeitangaben, als Einzelwörter<br />

und Wortreihen eingeschrieben in<br />

Polariods: «Blind. Love. Faith»!<br />

Bild, Bewegung und Sprache. Das<br />

subjektive Bild eines Künstlers, der<br />

zeigt, wie es ist. Bewegung, die zwischen<br />

Einzelbildern aufflackert und in<br />

die Beschäftigung mit dem bewegten<br />

Bild des Films mündet. Sprache, die<br />

in Bilder integriert ist - als Verstärkung<br />

des Subjektiven. Robert Frank<br />

als Künstler, der nie aufgibt und nie<br />

aufhört, das Medium wechselt und sich<br />

doch treu bleibt: Ganz subjektiv.<br />

Bild: From the Bus, 1958<br />

Silbergelatine-Abzug, 11x16.1 cm<br />

(c) Robert Frank/ Courtesy<br />

Pace/ MacGill Gallery, New<br />

York<br />

Robert Frank: Storylines<br />

Fotomuseum Winterthur<br />

und Fotostiftung Schweiz,<br />

Gützenstrasse 44/45. Eine<br />

Ausstellung organisiert von<br />

der Tate Modern in Zusammenarbeit<br />

mit dem Fotomuseum<br />

Winterthur und der<br />

Fotostiftung Schweiz. Geöffnet<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

11.00-18.00 Uhr, Mittwoch<br />

11.00-20.00 Uhr. Bis 20.<br />

November 2005. Zur Ausstellung<br />

erschien das Buch<br />

«Robert Frank: Storylines»<br />

und der Essayband «Essays<br />

über Robert Frank».<br />

Buch-Tipp: Susan Sontag,<br />

«Über Fotografie». Erstmals<br />

erschienen 1977.<br />

31 27<br />

<strong>art</strong>ensuite


32<br />

<strong>art</strong>ensuite<br />

Retrospektive<br />

Arbeiten des Druckateliers/<br />

Galerie Tom Blaess<br />

1990-2005<br />

Uferweg 10, 3013 Bern<br />

Vernissage:<br />

Sonntag 6. November 11-17 h<br />

Bis am 27. November 2005<br />

Farben wie an einem Wintermorgen<br />

■ Die Galerie Tom Blaess zeigt Arbeiten,<br />

die im eigenen Druckatelier<br />

entstanden sind. Tom Blaess wird<br />

nächstes Jahr fünfzig Jahre alt und<br />

fand den Zeitpunkt geeignet die letzten<br />

fünfzehn Jahre Revue passieren zu<br />

lassen. Eine Retrospektive mit Wer-<br />

von Helen Lagger<br />

ken von mehr als zehn renommierten<br />

Kunstschaffenden.<br />

Der aus den USA kommende Tom<br />

Blaess ist gelernter Steindrucker,<br />

Künstler und Galerist. Seine Lehre<br />

absolvierte er in San Francisco bei Ernest<br />

F. de Soto. Begeistert erzählt er<br />

von den dort entstandenen Kontakten<br />

und der Ausrichtung auf südamerikanische<br />

Kunst, die ihn auch jetzt noch<br />

fasziniert. Die eigene künstlerische<br />

Arbeit hat Tom Blaess zurückgestuft.<br />

Das Wichtigste ist ihm zurzeit das<br />

Druckatelier zu führen und die Künstler<br />

beim Arbeitsprozess zu begleiten.<br />

Die Beziehung zwischen Künstler und<br />

Drucker sei sehr delikat. Der Drucker<br />

berät und schlägt vor, darf aber<br />

niemals zu direkt auf das Werk Einfluss<br />

nehmen. Es ist ein kooperativer<br />

Prozess, in welchem der Drucker das<br />

Medium so nutzt, dass dem Feingefühl<br />

der Kunstschaffenden am besten entsprochen<br />

werden kann. Der Drucker<br />

fungiert als technischer Berater und<br />

hilft Texturen, Linien und malerische<br />

Formen herauszuarbeiten.<br />

Vor fünfzehn Jahren hat Tom Blaess<br />

sein Steindruck-Atelier in Merligen im<br />

Berneroberland eröffnet. 1999 konnte<br />

er schliesslich am Uferweg in Bern die<br />

ehemalige Gassner-Brauerei beziehen.<br />

Er hat mit unzähligen Künstlerinnen<br />

und Künstlern zusammengearbeitet.<br />

Die dabei entstandenen Lithographien<br />

und Monotypien werden jetzt in einer<br />

Retrospektive präsentiert. Darunter<br />

Werke der exzellenten Zeichnerin<br />

Minna Resnick aus New York oder des<br />

vor zwei Jahren verstorbenen Künstlers<br />

Harald Studer. Dieser bevorzugte<br />

Pflanzenmotive und stellte in seinen<br />

Bildern den Mikrokosmos der Flora<br />

dar. Die Textur eines Blattes wird bei<br />

Harald Studer zu einem ornamentalen<br />

Muster.<br />

Die Arbeiten anderer Künstlerinnen<br />

und Künstler bestechen vor allem<br />

durch sensible Farbkombinationen<br />

oder Mix-Media-Technik. Einige<br />

Kunstschaffende stammen aus dem<br />

Ausland: Gustavo Rivera aus Mexiko,<br />

Patsy Payne und Minna Resnick<br />

aus den USA und Marcin Kaligowski<br />

aus Polen. Tom Blaess hat den Schwerpunkt<br />

seiner Retrospektive allerdings<br />

auf Schweizerkünstler, oft aus Bern<br />

stammend, gesetzt. So werden beispielsweise<br />

die z<strong>art</strong>-nebulösen Arbeiten<br />

Kotscha Reists zu sehen sein. Dieser<br />

benutzt Farbtöne wie man sie an<br />

einem lieblichen Wintermorgen sieht.<br />

Bilder über denen eine Art Schleier zu<br />

hängen scheint. Kotscha Reists Motive<br />

haben oft Bezug zu eigenen Erinnerungen.<br />

Dies geschieht sehr subtil. Ein<br />

Stück Parkett der elterlichen Wohnung<br />

in Muri kann ebenso zu seinem Sujet<br />

werden wie ein faszinierender Schatten,<br />

den er in einem Pressebild gefunden<br />

hat.<br />

Auch mit Babette Berger, die vor<br />

allem durch ihre mit Oelfarbe gemalten<br />

Teppiche bekannt wurde, hat Tom<br />

Blaess zusammengearbeitet. Entstanden<br />

ist unter anderem ein Bild mit Mikado-Stäbchen.<br />

Das Bild hat etwas hyperreales,<br />

als könnten wir die Stäbchen<br />

packen. Die Arbeit ist gleichzeitig ein<br />

Produkt des Zufalls und der Ordnung.<br />

Das Bild ist konstruiert, wirkt aber als<br />

hätte tatsächlich ein Spieler die Hölzer<br />

zufällig hingeworfen und bei genauerem<br />

Hinsehen entdeckt der Betrachter<br />

kleine Unvollständigkeiten, welche die<br />

Illusion des Bildes durchbrechen.<br />

Tom Blaess kam nach Bern weil<br />

es Zeit war «sein eigenes Business»<br />

zu machen. Jetzt kann er bereits fünfzehn<br />

Jahre Revue passieren lassen und<br />

hat seinen Traum, ein Druckzentrum<br />

mit internationaler Ausstrahlung zu<br />

führen, verwirklicht. Kein American<br />

Dream, sondern eine umgekehrte Immigration.<br />

Tom Blaess lebte als Kind<br />

in Europa und wollte an den Ort des<br />

Geschehens, sprich in die Alte Welt,<br />

wo das Drucken entstanden ist, zurückkehren.


Willkommen in Zombietown - Knut Åsdam<br />

■ Grossstädte mit ihren Unorten,<br />

Plätze die kalt und leer sind, auch<br />

wenn sie von Menschen nur so wimmeln.<br />

Menschen, die vorbeihasten, auf<br />

der Suche, nach was, wissen sie selbst<br />

nicht und finden werden sie es sowieso<br />

nie. Die Anonymität der Grossstadt<br />

und der Versuch des Einzelnen sich<br />

darin einen Platz zu suchen, die Wechselwirkung<br />

von Individuum, Gruppe<br />

und Raum stehen im Mittelpunkt der<br />

drei Videoarbeiten des Norwegers<br />

Knut Åsdam (1968 geboren), die Philippe<br />

Pirotte in der neuen Ausstellung<br />

in der Kunsthalle Bern präsentiert. Die<br />

Kunsthalle ist dazu zu einer einzigen<br />

grossen Installation geworden: Die<br />

Einganshalle ist leer. Der Hauptsaal zu<br />

einem nächtlichen Park umgestaltet.<br />

Töne sind bereits hier zu hören. Wer<br />

sich durch den Park wagt, gelangt zu<br />

den zwei Videoarbeiten «Blissed» und<br />

«Filter City».<br />

Die Videoarbeiten sind wenig zugänglich.<br />

Sie sind relativ lang, in englischer<br />

Sprache (ohne Untertitel). In<br />

«Blissed« - einer Arbeit, die für die<br />

Kunsthalle entstanden ist - hören wir<br />

Z<strong>art</strong>e Farben, bewegte Strukturen<br />

■ Ende November erscheint der 41. Original-Holzschnitt-Kalender<br />

des Berner<br />

Holzschneiders M<strong>art</strong>in Thönen. Alljährlich<br />

gibt der in Thun geborene Künst-<br />

von Eva Pfirter<br />

ler zusammen mit seiner Frau im Eigenverlag<br />

einen Kalender heraus, der<br />

sich durch z<strong>art</strong>e Farbtöne, feine Linien<br />

und verspielte Strukturen auszeichnet.<br />

Die Blätter, die Holzschnitt-Liebhaber<br />

ein Jahr lang begleiten, befinden sich<br />

allesamt im Spannungsfeld zwischen<br />

«Chaos und Ordnung». Die 13 hand<br />

signierten unaufdringlichen Farbholzschnitte<br />

tragen verträumte Namen,<br />

die vor allem auf die Bildstruktur<br />

aufmerksam machen: «Marmoriert»,<br />

«Kalligraphisch», «Verflüssigt». Ideen<br />

für die Struktur der Holzschnitte bietet<br />

die Natur; Muscheln, Pflanzen und<br />

Eisblumen stehen Pate für Thönens<br />

Bildwelt. Hinzu kommt das Element<br />

der Bewegung, welche die Gleichmäs-<br />

verschiedenen jungen Menschen in<br />

ihren Diskussionen über ihre Beziehungen<br />

innerhalb der Clique zu, über<br />

ihre Freundschaft, über Gruppendynamiken.<br />

Unterbrochen wird dieser «Erzählstrang»<br />

(der sehr filmisch-narrativ<br />

wirkt) von langen Einstellungen, meist<br />

langsamen Kameraschwenks, welche<br />

Ansichten einer Stadt zeigen. Damit<br />

rückt die Stadt als weiterer Protagonist<br />

ins Zentrum, ist gleichgewichtig den<br />

Menschen, die der Betrachter in ihren<br />

ganz intimen Gesprächen belauscht.<br />

Und schnell einmal wird deutlich, wie<br />

wichtig die Stadt ist: die Orte und eben<br />

Unorte, in denen sich die Protagonisten<br />

aufhalten, die sie durchschreiten. Einer<br />

dieser Unorte ist natürliche auch der<br />

nächtliche Park, tagsüber ist er der Ort<br />

zum Verweilen, wo man sich trifft und<br />

Kinder spielen. Nachts das Gegenteil,<br />

nur wer Verborgenes und Unerlaubtes<br />

tun will, hält sich im nächtlichen Park<br />

auf.<br />

Die zweite Arbeit «Filter City» ist<br />

noch intimer. Hier sind wir Zeugen von<br />

Gesprächen zweier junger Frauen. Dabei<br />

ist spannend, wie sich die beiden in<br />

sigkeit der Bildstrukturen durchbricht.<br />

Schwingungen, Spiralbewegungen und<br />

Spiegelungen geben den Bildern Tiefenwirkung<br />

und fordern das Auge des<br />

Betrachters.<br />

Was auffällt ist die Affinität des<br />

Holzschneiders zu Wasser oder zu<br />

wasserähnlichen Formen. Das häufig<br />

auftauchende Blaugrau, die sanften<br />

Wellenlinien und eiskristallähnlichen<br />

Formen ziehen sich wie ein roter Faden<br />

durch den Holzschnitt-Kalender<br />

2006. Die Farbtöne sind grundsätzlich<br />

unserer Umwelt entlehnt: grün, braun,<br />

blau-meist mit grau vermischt-erinnern<br />

an Bergseen, Moosflechten und<br />

Gestein oder Geröll.<br />

Der 1942 geborene Kunstschaffende<br />

arbeitet in drei Ateliers in Bern,<br />

Huémoz und Schmitten. Nach einer<br />

Lehre als Typograph genoss der Thuner<br />

Ausbildungen an den Schulen für<br />

Gestaltung in Bern, Vevey und Genf.<br />

Nebst diversen Stipendien unternahm<br />

Thönen Studienreisen nach Marokkko,<br />

ihren Gesprächen einbringen, wie sie<br />

Rollen übernehmen und wie auch hier<br />

ihre Umgebung - ein Spielplatz zum<br />

Beispiel - einbezogen ist. Die Videoarbeit<br />

«Abyss» (im Untergeschoss) zeigt<br />

schiesslich ein Kaleidoskop von Eindrücken:<br />

stets Stimmen, graue Leinwand,<br />

und wieder junge Menschen,<br />

jedoch aus ihrer Umgebung losgelöst,<br />

im luftleeren Raum schwebend.<br />

Ein wenig Ausdauer ist von Nöten;<br />

die Ausstellung ist sperrig; sobald man<br />

jedoch den Zu- und Eingang gefunden<br />

hat, werden sie spannend, gehen tief<br />

und lassen keinesfalls kalt. Bern ist<br />

ja nicht wirklich ein guter Boden für<br />

Gegenw<strong>art</strong>skunst - die eher dürftig<br />

spriesst - und gerade die Kunsthalle ist<br />

arg bedrängt vom Progr einerseits und<br />

wenn denn das Gegenw<strong>art</strong>skunst-Projekt<br />

am Kunstmuseum ausgereift ist,<br />

wird die Lage noch einmal schwieriger.<br />

Oder aber: die Institutionen nehmen<br />

diese neue Landschaft als Chance<br />

und gehen auch in Sachen Kooperation<br />

neue Wege.<br />

Ägypten, Perus, Indonesien und Indien.<br />

Heute erteilt er neben seiner künstlerischen<br />

Tätigkeit Holzschnittkurze<br />

im M-Arthaus, an der Hochschule<br />

der Künste in Bern und der Thuner<br />

Malschule. Nebst dem periodisch erscheinenden<br />

Holzschnittkalender gibt<br />

M<strong>art</strong>in Thönen auch bibliophile Holzschnitt-Editionen<br />

heraus und präsidiert<br />

die Xylon Schweiz.<br />

Knut Åsdam:<br />

The Care of the Self<br />

Kunsthalle Bern, Helvetiaplatz<br />

1. Geöffnet Mittwoch<br />

bis Sonntag 10.00-17.00 Uhr,<br />

Dienstag 10.00-19.00 Uhr.<br />

Bis 4. Dezember 2005.<br />

Der Original-Holzschnitt-Kalender<br />

2006 erscheint in einer<br />

Auflage von 340 Exemplaren<br />

im Format 36 auf 50 Zentimeter.<br />

Die Ausstellung von<br />

M<strong>art</strong>in Thönen «Chaos und<br />

Ordnung» in der Galerie «Art<br />

+ Vision» beginnt mit einer<br />

Vernissage am Samstag, 26.<br />

November und dauert bis zum<br />

7. Januar 2006.<br />

33<br />

<strong>art</strong>ensuite


34<br />

<strong>art</strong>ensuite<br />

GALERIEN IN BERN<br />

annex14 - Galerie für zeitgenössische Kunst<br />

Junkerngasse 14 3011 Bern // Tel 031 311 97 04<br />

Mi - Fr 13:00-18:30 / Sa 11:00-16:00<br />

Andreas Naun<br />

05.11.05 - 17.12.05<br />

Art + Vision<br />

Junkerngasse 34 3011 Bern // Tel 031 311 31 91<br />

Di - Fr 14:00-19:00 / Do 14:00-21:00 / Sa 11:00-16:00<br />

M<strong>art</strong>in Thönen<br />

Holzschnitte, bibliophile Edition<br />

26.11.05 - 07.01.06<br />

Bärtschihus Gümligen<br />

Dorfstrasse 14 3073 Gümligen<br />

Sa 19.11.05 /10:00-20:00 & So.11.05 / 10:00-17:00<br />

Kunst auf den Würfel gebracht<br />

Vernissage 18. November // 19:00<br />

Es spricht Jacqueline Keller, Kulturmanagerin<br />

18.11.05 - 20.11.05<br />

ESPACE Indigo<br />

Stauffacher Buchhandlung 3011 Bern<br />

Tel 0844 88 00 40<br />

Ladenöffnungszeiten<br />

Galerie Tom Blaess<br />

Uferweg 10 3018 Bern // Tel 079 222 46 61<br />

Retrospektive 1990 - 2005<br />

Vernissage: Sonntag 6. November / 11:00 - 17:00<br />

Do - So 12:00 - 17:00<br />

Finissage: Sonntag 27. November / 11:00 - 17:00<br />

Galerie Beatrice Brunner<br />

Nydeggstalden 26 3011 Bern // Tel. 031 312 40 12<br />

Mi und Fr 14:00-18:00/ Do 14:00-20:00/ Sa 11:00-16:00<br />

Galerie Kornfeld<br />

Laupenstrasse 41 3001 Bern // Tel 031 381 46 73<br />

www.kornfeld.ch<br />

Mo - Fr 14:00-17:00 / Sa 10:00-12:00<br />

Karl Gerstner<br />

Altes und Neues - Zwei und Dreidimensionales - Originales<br />

und Multiples<br />

19.10.05 - 12.12.05<br />

Galerie Ramseyer & Kaelin<br />

Junkerngasse 1 3011 Bern // Tel 031 311 41 72<br />

Mi - Fr 16:00-19:00 / Sa 13:00-16:00<br />

Galerieneintrag:<br />

Auf den Seiten «Galerien in Bern» werden ab<br />

November 2005 nur noch Galerien publiziert,<br />

welche unsere jährliche Publikationsgebühr bezahlt<br />

haben. Wer sich hier eintragen lassen möchte, melde<br />

sich bei der Redaktion:<br />

Telefon 031 318 6050 oder redaktion@ensuite.ch.<br />

Bendicht Friedli<br />

01.11.05 - 26.11.05<br />

Kornhausforum -<br />

Forum für Medien und Gestaltung<br />

Kornhausplatz 18 3011 Bern // Tel 031 312 91 10<br />

Das Leben bis zuletzt gestalten<br />

03.11.05 - 10.12.05<br />

Design Preis Schweiz<br />

05.11.05 - 08.01.06<br />

Künstlerhaus<br />

Postgasse 20 3009 Bern // 031 311 53 76<br />

Mi - Fr 16:00-17:00 / Sa & So 11:00-17:00<br />

Niemand weiss<br />

Alexandra Kunz malerei, maja Wagner Malerei & Hans<br />

Weiss Fotografie.<br />

Vernissage: Dienstag 15.11.05 / 19:00 Mit Musik:<br />

Niemand weiss<br />

Kunstreich<br />

Gerechtigkeitsgasse 76 3011 Bern // Tel 031 311 48 49<br />

Mo - Fr 09:00-18:30 / Do 09:00-20:00 / Sa 09:00-16:00<br />

Heidi Reich<br />

03:11.05 - 120.12.05<br />

Kunstraum Oktogon<br />

Aarstrasse 96, 3005 Bern<br />

Fr 16:00-19:00 & Sa 11:00-15:00<br />

Landʻs End<br />

Druckgrafik von jaspoer Johns, Barnett Newman, Brice<br />

Marden, Robert Rauschenberg<br />

Vernissage: Freitag 16. November / 18:00 - 20:00<br />

KunstQuelle<br />

Galerie Brunngasse 14 3011 Bern // 079 818 32 82<br />

Mi & Fr 14:30-18:00, Do 16:00-20:00 & Sa 13:00-16:00<br />

Walter Fuchs<br />

Die neue Galerie in Bern<br />

ONO Bühne Galerie Bar<br />

Gerechtigkeitsgasse 31 3011 Bern // Tel 031 312 73 10<br />

Fr und Sa 13:00-17:00 - Nachtgalerie: Mi - Sa ab 22:00<br />

Gruppenausstellung «Barbie & Ken»<br />

01.11.05 - 30.11.05<br />

PROGR Zentrum für Kulturproduktion<br />

Speichergasse 4, Bern<br />

«Bestform 05»<br />

MI-SO 14-17<br />

03.11.05 - 04.12.05 / Ausstellungszone<br />

«How to avoid corner corner love and win good love<br />

from girls»<br />

MI - SO 14-17<br />

03.11.05 - 04.12.05 / Ausstellungszone<br />

Steinbrüchel (Zürich) / Bloom (Basel)<br />

Leerraum [ ] SOUNDINSTALLATION:<br />

03.11.05 - 27.11.05<br />

Treppenhaus und Ausstellungszone<br />

R A U M<br />

Militärstrasse 60, Bern<br />

Mi-Fr 16-19 & Sa 12-16<br />

Lisa Späni & M<strong>art</strong>ina Späni<br />

21.10.05 - 11.11.05<br />

Stadtgalerie<br />

Hodlerstr. 22 + 24A 3011 Bern // Tel 031 311 43 35<br />

MI-SO 14-17<br />

Touched - Sybilla Walpen<br />

15.10.05 - 20.11.05<br />

Temporäre Ausstellungsräume<br />

Atelier Postgasse<br />

Postagsse 6 3011 Bern<br />

Di - Sa 14:30 - 17:30<br />

Roland Kocher<br />

Die Kirchen von bern<br />

27.10.05 - 19.11.05<br />

Alterszentrum Viktoria<br />

Schänzlistrasse 63 Bern<br />

Täglich 08:00-17:30<br />

Nicole Sonderer<br />

Oelmalerei<br />

Vernissage: 05.11.05 / 15:00-18:00<br />

Galerie Silvia Steiner Biel<br />

Seevorstadt 57 2502 Biel // Tel 023 46 56<br />

Mo, Do, Fr 14-18h & Sa 14-17h & So 20.Nov 14-17<br />

Alfred Wirz<br />

Gemalte Welt<br />

Vernissage: 19. November 17:00-19:00<br />

19.11.05 - 17.12.05<br />

Kunstforum Solothurn<br />

Schaalgasse 9 4500 Solothurn // Tel. 032 621 38 58<br />

Do & Fr 15:00 - 19:00 / Sa 14:00 - 17:00<br />

Sybille Onnen<br />

Leiber - figürliche Plastik und Zeichnung<br />

10.09.05 - 29.01.06<br />

Westrich<br />

Bahnstrasse 22 3008 Bern<br />

10.11.05, 17–22 Uhr, 11.11.05, 15–22 Uhr,<br />

12.11.05, 10–20 Uhr, 13.11.05, 10–17 Uhr<br />

Angst<br />

Die Gaf 5.6 (Gruppe autodidaktischer FotografInnen<br />

– Bern) lädt ein zu sieben fotografischen Arbeiten zum<br />

Thema ANGST.


«Angst» von der GAF 5.6 im Westrich, Bahnstrasse 22, 3008 Bern - Bild: zVg.<br />

Andreas Naun in der Galerie annex14 - Bild: zVg.<br />

Dominik Imhof<br />

Augenspiel<br />

■ An dieser Stelle soll von nun an eine Kolumne entstehen,<br />

in der Augenspielereien im Zentrum stehen: Natürlich<br />

Kunst, und alles was in ihrer Umgebung und im<br />

Zusammenspiel mit ihr entsteht, sich entwickelt, verstaubt<br />

und zu Recht auch wieder vergeht und vergessen<br />

wird. Der Titel «Augenspiel» verweist auf Elias Canettis<br />

gleichnamiges Buch, worin er seine Wiener Jahre<br />

beschreibt, ein Bild des Lebens im damaligen Wien<br />

malt und schildert, was in Künstler- und Intellektuellenkreisen<br />

geschah. In diesem Sinne sollen hier - ganz<br />

bescheiden - «Kunstgeschichten» aufgegriffen werden,<br />

die Bern und Berns Kunstszene (wenn es sie denn gibt)<br />

bewegten und bewegen oder eben gerade nicht.<br />

Fürs Erste der Blick zurück, auf den Berner Kunstsommer:<br />

Einiges ist geschehen und neu entstanden.<br />

Nach mehr als einem Jahr blüht der Progr immer noch,<br />

ist zum Magneten geworden, wo Kreativität zuhause<br />

ist. Hoffen wir er bleibt etwas abseitig und wird nicht<br />

in den institutionalisierten Betrieb aufgesogen. Im Monument<br />

im Fruchtland konnte bereits vor einiger Zeit<br />

der 100ʻ000 Besucher begrüsst werden, aber wie lange<br />

dauert der Besucherstrom wohl an? Und das Kunstmuseum<br />

Bern hat mit «Mahjong» dem ZPK die Stirn geboten,<br />

auch hier war das Interesse gross. Die nächsten<br />

Monate wird es an diesem Ort wohl wieder etwas stiller<br />

werden. Die ehemaligen Konkurrenten - die Streitigkeiten<br />

des letzten Jahres sind noch nicht ganz vergessen -<br />

scheinen sich zusammengerauft zu haben, Kooperation<br />

ist angesagt. Gut so!<br />

Und wenn wir gerade beim Kunstmuseum sind, da<br />

war doch was. Natürlich die Kontroverse um «Ruan».<br />

Dieses Ereignis hat einige Fragen aufgeworfen: Was<br />

darf man zeigen und was nicht? Oder: Was darf ein<br />

Künstler produzieren und was nicht? Oder: Was wollen<br />

wir sehen und was nicht? Muss ein Museum oder ein<br />

Ausstellungsmacher Kunstinteressierten gewisse Dinge<br />

vorenthalten, weil sie jemanden verletzen könnten oder<br />

darf er mit der Mündigkeit der Besucher rechnen, die<br />

selbst entscheiden, was sie sehen wollen? (Sicher sollten<br />

die Verantwortlichen vor Ausstellungsbeginn ausreichend<br />

über ihre Exponate informiert sein!) Jetzt ist die<br />

Ausstellung beendet, der Fötus nicht wie von gewisser<br />

Seite erwünscht begraben, und die Fragen bleiben aktuell:<br />

Nach Hirschhorn und «Ruan» war es im Oktober<br />

Pipilotti Rists Biennale-Beitrag, der für Aufruhr sorgte<br />

(und geschlossen wurde).<br />

35<br />

<strong>art</strong>ensuite


36<br />

L E T Z T E L U S T S E I T E<br />

■ wenn ich an dich denke, dann kommt mir vielleicht<br />

ganz als erstes der geruch des gechlorten wassers in<br />

den sinn. die tiefe blauheit und die lichtrefl exe im wasser.<br />

ich schwimme unter und über und neben dir, mal<br />

ganz nah, dann wieder weiter entfernt. unsere haut<br />

berührt sich nicht, nie, aber das nebeinander-gleiten<br />

ist wie eine vorwegnahme späterer berührungen. wie<br />

ein geträumtes zusammensein, ein schwereloses, sorgenloses.<br />

am rand des beckens dann sehen wir uns<br />

zum ersten mal richtig an. sehen unsere körper mit den<br />

wassertröpfchen als versprechen, dass wir zusammen<br />

nackt sein werden und dass die glitzernde feuchtigkeit<br />

eine andere sein wird. dass wir uns ausziehen werden,<br />

dass wir inmitten von anderem licht in einem bett liegen<br />

werden. unser summen und das leise lächeln mit<br />

geschlossenen augen wird unsere neue begleitmelodie.<br />

wir erzählen und fragen, sehen uns an, entdecken uns<br />

vorsichtig, geniessen die sonnenstunde, wie wenn sie<br />

ein nicht endender tag wäre. wochen später liegen wir<br />

nackt auf einem bett, scheu und doch hemmungslos. beschnuppern<br />

uns, trinken einander und lecken die salzige,<br />

warme sommerhaut. unsere feuchten körper bewegen<br />

sich wieder wie im wasser, unter, über und nebeneinander.<br />

und danach dann schwimmen wir im fl uss und du<br />

versprichst, mich zu retten, falls ich ertrinken möchte.<br />

wir lassen uns treiben und berühren uns manchmal.<br />

■ interwerk gmbh<br />

kulturconsulting kulturmanagement kulturvermittlung.<br />

www.interwerk.ch<br />

sandrainstrasse 3 3007 bern +41 (0)31 318 6050<br />

und plötzlich ist rund um uns herum herbst. klare, blaue<br />

himmel, morgennebel und auch kälte; schon jetzt, überraschend.<br />

und dein körper glitzert nicht mehr. die lust<br />

kommt mit in den herbst, verlässt das unbeschwerte,<br />

leichte und sommerliche. ich sehe dich, wirklich dich,<br />

im h<strong>art</strong>en tageslicht. kein weichzeichner, keine abendsonne.<br />

es ist zeit, genau hinzuschauen und präzise zu<br />

werden. kein um-dich-herum-tauchen und spielen mehr,<br />

kein lautes lachen und summen, eher ein feines lächeln<br />

in den mundwinkeln und eine beginnende melancholie.<br />

dich verlieren, ohne dich je zu besitzen? die lust wird<br />

fordernd, will dich noch vor dem winter in besitz nehmen.<br />

deinen körper, ganz, jetzt, schnell, ohne vorspiel,<br />

ohne erkunden, ohne rücksichtnahme. ich will dich in<br />

mir, will dein gewicht auf mir. sofort und ohne vorher.<br />

und ich will, dass du dir nimmst, was dir eh gehört, und<br />

ich will mir auch nehmen, was meines ist. und das bist<br />

du, du als ganzes. ich imprägniere dich mit mir und du<br />

mich mit dir. du gehörst mir und ich will dich besitzen.<br />

jeden zentimeter von dir und jedes härchen, jeden speicheltropfen,<br />

jede pore, jeden atemzug und gedanken,<br />

jeden blick aus deinen augen und jedes wort. das alles<br />

gehört mir jetzt und für immer – ich gebe nichts mehr<br />

her und teile auch nicht. kein kuschelfest ist das, es ist<br />

rohe und unverfälschte gier. du presst mich mit deinem<br />

körper einen kurzen, gefährlich geheimen augenblick<br />

Hinweis: Die Texte auf der letzten Lustseite sind nicht<br />

ganz jugendfrei. Wir bitten die LeserInnen unter 18 Jahren,<br />

diese Texte aufzubewahren und erst bei bei voller<br />

Reife zu lesen.<br />

an eine wand: deine herbsthände auf meiner nackten<br />

brust, dein geschlecht an meines gedrückt, kein raum<br />

auszuweichen, wildes tasten und küssen. in einem park,<br />

im wald, oder auf einer toilette: überall, wo wir ein paar<br />

minuten zusammen sein können, nehmen wir uns soviel<br />

wie möglich. deine hand ist dauergast auf und in mir,<br />

unsere körper sind wund vor sehnsucht, unsere nerven<br />

liegen bloss und w<strong>art</strong>en auf segnendes streicheln. wir<br />

schreien, wir schwitzen, wir atmen schnell und laut. die<br />

lust taucht in sekundenschnelle auf und kühlt sich nie<br />

ganz ab. angst. einsamkeit. ein tiefes misstrauen und<br />

ebensolche geilheit. in verzweifelter umarmung w<strong>art</strong>en<br />

wir auf den winter. (vonfrau)<br />

impressum<br />

ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich als Gratis- und Abonnentzeitung.<br />

Aufl age: 10‘000 / davon 1‘300 Aboversand Adresse:<br />

ensuite – kulturmagazin; Sandrainstrasse 3; 3007 Bern; Telefon<br />

031 318 6050; mail: redaktion@ensuite.ch Herausgeber: Verein WE<br />

ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogelsang (vl); Stephan Fuchs (sf) //<br />

Helen Lagger, Isabelle Lüthy (il), Till Hillbrecht (th), Dominik Imhof (di),<br />

Andy Limacher (al), M<strong>art</strong>a Nawrocka (mn), Eva Mollet, Eva Pfi rter, Nicolas<br />

Richard (nr), Sarah Stähli (ss), Sara Trauffer, Simone Wahli (sw),<br />

Sarah Elena Schwerzmann (ses); Kathrina von W<strong>art</strong>burg (kvw), Sonja<br />

Wenger (sjw), Vonfrau (Redaktion) C<strong>art</strong>oon: Bruno Fauser, Bern; Telefon<br />

031 312 64 76 Agenda: bewegungsmelder, Bern, allevents, Biel;<br />

ensuite - kulturmagazin<br />

Abonnemente: 45 Franken für ein Jahr/ 11 Ausgaben. Abodienst:<br />

031 318 6050 Web: interwerk gmbh Anzeigenverkauf: interwerk gmbh,<br />

031 318 6050 - www.ensuite.ch Gestaltung: interwerk gmbh; Lukas Vogelsang<br />

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