art - Ensuite
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afrique noire 05<br />
les poupées russes<br />
25 jahre frauenhaus bern<br />
queersichtfestival<br />
bern rocks?
Es ist Zeit.<br />
Mit diesem Satz versucht man heutzutage in Bern 8.7 Millionen «Aufstockung der städtischen Kulturförderung».<br />
ensuite - kulturmagazin gehört anscheinend nicht zur fördernswürdigen Berner Kultur und<br />
wurde davon ausgeschlossen. Spätestens jetzt ist es höchste Zeit ein Abonnement zu lösen und jetzt ist es<br />
erst recht Zeit, «dass sich die Stadt Bern klar zu ihrer Kultur bekennt und die nötigen Mittel bereitstellt.»<br />
Wir brauchen dringend die fi nanzielle Unterstützung von den Menschen aus Bern - wenn wir nicht bis Ende<br />
Jahr 30‘000 Franken zusammentrommeln können, müssen wir den Betrieb einstellen und die Schulden abarbeiten.<br />
Braucht Bern ein ensuite - kulturmagazin? Wenn ja, so helft mit - wir sind nicht selbstverständlich.<br />
Jetzt.<br />
TELEFON 031 318 6050<br />
ABO@ENSUITE.CH<br />
WWW.ENSUITE.CH
Titelseite und rechts: Les Poupées Russes - Kinofi lm von Cédric Klapisch mit Romain<br />
Duris, Audrey Tautou, Cécile de France, Kelly Reilly (Seite 23)<br />
Vor allem...<br />
■ ensuite - kulturmagazin hat nach 35 Nummern zum ersten Mal 72 Seiten<br />
erhalten - ein halbes Kulturbuch - und wir haben schon wieder Seitennotstand.<br />
Die Inhaltsmenge steht im krassen Gegensatz zu unserem<br />
fi nanziellen Dilemma, doch sollte uns das Geld nicht an der Vision hindern<br />
und die kulturelle Vielfalt von Bern macht uns mächtig Dampf. Mit Verlaub:<br />
Wenn ein Stadttheater und andere Institutionen 50‘000 Franken-Beiträge<br />
an die Konkurrenz bezahlen können, so sollten wir ebenfalls mit gleichen<br />
Rudern im Boot sitzen dürfen. Sollten. Aber es scheint, dass die Politik<br />
über den Verstand siegen will. Jetzt erst recht.<br />
Ebenfalls scheint es in Bern Mode zu sein, dass Kultur erst ab 100‘000er<br />
Summen stattfi nden kann. Die Forderungen der Kulturinstitutionen übersteigen<br />
sich in den letzten Monaten und hinterlassen den Eindruck, dass<br />
man mit wenig Geld keine Kultur oder gar, dass Kultur überhaupt nur aus<br />
Geld bestehen kann. Das ist übel. Es ist ein gutes Zeichen, dass mehr und<br />
mehr VeranstalterInnen Farbe bekennen und sich aktiv an unserer unabhängigen<br />
und günstigen Medieninstitution beteiligen. Wir haben interessante<br />
Zuwachsraten zu verzeichnen und die Gespräche laufen in ganz<br />
neue Richtungen.<br />
Aber den Höhepunkt vom Oktober haben wir noch nicht geschluckt:<br />
Das Schauspiel des Stadttheaters soll aus der Stadt in die urbane Einsamkeit<br />
- obwohl der Sinn dieser Übung noch nicht einstimmig ist. Im VIDMAR-<br />
Areal in Köniz gibt‘s kein Bern-Billett und auch kein Restaurant, welches<br />
300 Personen zum Schlummertrunk halten könnte. Und von wegen urban:<br />
Das Industriehaus der Lista AG konnte nur schlecht ausgemietet werden.<br />
Auf jeden Fall kann die Abendgardarobe in Zukunft im Schrank hängen<br />
bleiben. Auf dem Velo ins Theater - notabene den Berg hoch! - wird wohl<br />
nicht zum neuen Berner Volkssport mutieren. Eine solche Provinzbühne<br />
wird uns auch kein nationales Interesse einbringen und damit eine verbesserte<br />
Finanzierung ermöglichen - im Gegenteil. Und über die zusätzlichen<br />
Transportkosten hat noch niemand ein Wort verloren. Wir sehen auch<br />
nicht darüber hinweg, dass das Ensemble die Nachrichten aus der Zeitung<br />
vernehmen musste und man eilligst für den nächsten Tag eine eine<br />
Pressekonferenz arrangierte. Warum? Warum ist Bern nicht fähig, andere<br />
Lösungen zu fi nden. Lösungen die uns längerfristig dem Theater näher<br />
bringen und das Publikum gewinnend engagieren lässt. Die Ideen wäre da,<br />
die Menschen, welche sie umsetzen könnten auch. Doch die Macht bleibt<br />
unangetastet. Das kennen wir schon, es ist eine alte Geschichte und diese<br />
ist unwürdig asozial.<br />
Lukas Vogelsang<br />
i n h a l t<br />
K U L T U R & G E S E L L S C H A F T<br />
mit der fi ngerspitze gegen die faust 6<br />
anklang#1 - stegreifkunst der frau 8<br />
queersicht auf leckere östlichkeit 8<br />
L I T E R A T U R<br />
kirsten fuchs, harold pinter, walter wittmann 9<br />
nur liebhaber können das unmögliche möglich machen 10<br />
letzte lustseite 32<br />
B Ü H N E<br />
die magie der puppen 11<br />
lebendiges eisen - ein fenster nach russland 26<br />
V E R A N S T A L T E R<br />
afrique noire 11<br />
M U S I K<br />
bern rocks? 14<br />
antifolk 19<br />
aus den taschen gekramt - le cose che ami 20<br />
cd - tipps 17<br />
K I N O / F I L M<br />
don juan im trainerjäckchen 23<br />
corpse bride 22<br />
a history of violence 22<br />
les poupées russes - wiedersehen in st. petersburg 23<br />
das andere kino 24<br />
<strong>art</strong>ensuite<br />
ich weide meine pilze aus... 30<br />
wie es ist. 31<br />
farben wie an einem wintermorgen 32<br />
willkommen in zombietown - knut åsdam 33<br />
z<strong>art</strong>e farben, bewegte strukturen 33<br />
galerien in bern 34<br />
augenspiel 35<br />
D I V E R S E S<br />
kulturnotizen 4<br />
stadtläufer 26<br />
menschen & medien/ fauser c<strong>art</strong>oon 27<br />
menschen: ...oder warum franz obrist neben einem dachs läuft 28<br />
tratschundlaber 23<br />
A G E N D A 38<br />
kulturagenda bern 37<br />
museen bern/biel/thun 65<br />
kulturagenda biel 67<br />
kulturagenda thun 70<br />
3
4<br />
K U L T U R N O T I Z E N<br />
ZOOM IM MÜNSIGEN<br />
■ Am 4. bis zum 6. November fi ndet zum zweiten<br />
Mal ein Festival für improvisierte Musik statt. Nationale<br />
und Internationale Musikgrössen versuchen<br />
sich in der improvisierten Musik. Das ist nicht nur<br />
chaotisches Geklinge, sondern hat durchaus wichtige<br />
Entdeckungen zu bieten. So meint die Sängerin<br />
Saadet Türköz (Stimme): «Wenn ich improvisiere,<br />
habe ich das Gefühl, ich selbst und gleichzeitig eine<br />
andere Person zu sein.» Und mit der heutigen Technik<br />
und Improvisationsvielfalt wird Musik in einem<br />
anderen Kontext, einem anderen Spannungsfeld,<br />
zum Experiment für alle Beteiligten. Grenzerfahrungen<br />
für die ZuhörerInnen, wie auch Wohlklang,<br />
werden zum laufenden Prozess - oder auch nicht. Wir<br />
treffen am Festival auch auf Balts Nill, der nach dem<br />
Stillen Has seine anderen Klänge vermitteln wird:<br />
«Alles was chepft und tätscht hat mich schon immer<br />
gleichzeitig fasziniert und abgeschreckt.» Und so<br />
geht es über drei Tage in Spannung und Entdeckung,<br />
Neugierde und Flucht. «Zoom» eben. (vl)<br />
Programmübersicht<br />
Freitag 4. November 2005<br />
20.30 SAADET TÜRKÖZ (Stimme)<br />
21.30 BUCHER/GLAUSER<br />
Christian Bucher (Schlagzeug), Andreas<br />
Glauser (Elektronik)<br />
22.30 BALTS NILL (Perkussion, Diverses)<br />
Samstag 5. November 2005<br />
20.30 ACTIVITY CENTER<br />
Burkhard Beins (Perkussion, Saiten), Michael<br />
Renkel (Gitarre, Perkussion)<br />
22.00 HANS KOCH<br />
(Bassklarinette, Sopransaxophon)<br />
KOCH/KOBI<br />
Hans Koch (Bassklarinette, Sopransaxophon),<br />
Christian Kobi, (Sopransaxophon)<br />
Sonntag 6. November 2005<br />
20.30 TRIO LEIMGRUBER/DEMIERRE/PHILLIPS<br />
Urs Leimgruber (Saxophone), Jacques Demierre<br />
(Klavier), Barre Phillips (Kontrabass)<br />
In Zusammenarbeit mit der Gemeinde und der<br />
Volksschule organisiert »zoom in« Münsingen zwei<br />
weitere Konzerte: BALTS NILL/SOLO (Perkussion,<br />
Diverses):<br />
Donnerstag 3. November 2005<br />
11.00 in der Aula Rebacker Münsingen<br />
13.30 in der Aula Schlossmatte Münsingen<br />
Diese zwei Konzerte sind gratis<br />
Reservationen unter info@zoominfestival.ch<br />
PHOENIX AUS DER ASCHE<br />
■ Ab dem 3. November gastiert das Ensemble Phoenix<br />
aus Basel im Zentrum Paul Klee. Die Gruppe, welche<br />
1998 von Jürg Henneberger, Christoph Bösch und<br />
Daniel Buess gegründet wurde und sich seither gezielt<br />
für zeitgenössische Musik einsetzt, ist bekannt für seine<br />
experimentell-gattungsübergreifende Projekte. Das<br />
teilweise bis zu 25 Musikern erweiterte Gespann kann<br />
auf eine weltweite Konzerttätigkeit zurückblicken und<br />
erhielt 2003 gar den europäischen «Ensemble-Preis<br />
Thies Knauf für Neue Musik». In jüngster Zeit suchten<br />
die Musiker auch vermehrt die Zusammenarbeit mit<br />
jungen, noch wenig bekannten Komponistinnen und<br />
Komponisten unserer Zeit auf regionaler und internationaler<br />
Ebene. Der Gastauftritt im Zentrum Paul Klee ist<br />
der erste in Bern. Im ersten Programm vom 3.11. werden<br />
mit Beat Furrer, Jim Grimm, Georg Friedrich Haas und<br />
Jakob Ullmann auch zwei Schweizer sowie zwei in der<br />
Schweiz lebenden Komponisten aus drei Generationen<br />
IN EIGENER SACHE<br />
■ Wir möchten uns ganz herzlich (für eine Weile) von<br />
unserem Mitschreiber Klaus Bonanomi verabschieden<br />
und bedanken uns für den unermüdlichen Einsatz der<br />
letzten drei Jahren. Er war der erste kontinuierliche<br />
Schreiber in diesem Kulturmagazin. Seine Medienspiegelseite<br />
«Von Menschen und Medien» werden wir respektvoll<br />
weiterführen - und hoffen, dass seine Wege<br />
wieder einmal bei uns kreuzen... Viel Glück mit dem<br />
Nachwuchs!<br />
und mit verschiedenen ästhetischen Stilrichtungen vorgestellt.<br />
Traditionell spielt das Ensemble auch einmal in<br />
seiner Gründerbesetzung.<br />
Sicher, gegenüber zeitgenössisch-experimenteller<br />
Musik darf man auch skeptisch sein; auf jene Musik aber,<br />
die von der NZZ als physische Erfahrung an der Grenze<br />
des Verkraftbaren bezeichnet wird, sollte im mindesten<br />
eingegangen werden; seichte und wenig fordernde<br />
Klänge hört man ja bisweilen genug.<br />
Programm:<br />
3.11. Schweizer Komponisten, 19:30<br />
13.12. Trio Bösch (Flöte), Buess (Schlagzeug), Henne<br />
berger (Klavier/Cembalo), 19:30<br />
7. 3.06 Italiener, 19:30<br />
16.5.06 Programm 4 (Grisey, Sciarrino, Treiber), 19:30<br />
jeweils im Zentrum Paul Klee.<br />
DIE ZWEITE SACHE<br />
Bild: zVg.<br />
■ ensuite - kulturmagazin hat Platzprobleme: Wir haben<br />
diese Nummer um 8 Seiten erweitert - doch schon<br />
5 Minuten nach dieser Entscheidung waren die Seiten<br />
bereits ausgebucht. Geschriebene Artikel mussten zum<br />
ersten Mal in unserer Geschichte abgelehnt oder auf die<br />
nächste Nummer verschoben werden. Noch mehr Seiten<br />
ist ein fi nanzielles Risiko, welches wir langsam angehen<br />
wollen. Wir entschuldigen uns für den Erfolg und verweisen<br />
für versprochenes auf die Dezember Ausgabe...
DAS REZEPT BRASILIEN<br />
- BRASIL A GOSTO<br />
■ Ein Fotoband mit dem sinnigen Namen «Brazil a<br />
gosto» von Alexandre Schneider und kulinarische Starkocherei<br />
von Margarida Nogueira und Teresa Corção,<br />
bilden eine weitere jährliche Verführung im Restaurant<br />
Dona Flor in Frieswil. Was hier auf den Teller und den<br />
Augen geboten werden, ist wie ein Ferienaufenthalt im<br />
warmen Süden - wir müssen dabei nur knappe 20 Minuten<br />
aus Bern raus. Und das lohnt sich! Noch bis zum<br />
5. November können wir im Schlaraffenland schwelgen.<br />
Überzeugend ist nicht nur das Essen, sondern auch die<br />
Einfachheit und familiäre Ambiente. Besonders Interessant<br />
ist der Kontakt zu den Köchinnen - wir erfahren<br />
einiges über eine andere Art zu kochen... und das inspiriert.<br />
Der Winter wird auf uns w<strong>art</strong>en müssen... (vl)<br />
last minute:<br />
vorpremiere!<br />
Habana Blues<br />
Der Regisseur Benito Zambrano (Solas) ist anwesend.<br />
Infos zum Film und Zeiten auf unserer Webseite.<br />
20 x 2 Gratistickets!<br />
30.11. - 20:30 Uhr - Kino Movie Bern<br />
Bestellen über www.ensuite.ch oder 031 318 6050!<br />
DIFFERENT MOODS<br />
IM THEATER NATIONAL<br />
■ Stephan Rigert ist wieder auf Tour. Die Kulturaustauschprojekte<br />
haben schon viele Begeisterte ZuschauerInnen<br />
miterleben können - und ein Ende ist sicherlich<br />
nicht in Sicht. Und das ist gut so. Auch diesmal haben<br />
wir eine unglaubliche Vielfalt an multikulturellen Musikern<br />
auf der Bühne vereint: Pritha Roy (Indien/ voc),<br />
Rupak Kulkarin (Indien/ fl ute), Kalinath Mishra (Indien/<br />
tabla), Gabriel Rivano (Argentinien/ bandoneon), Leon<br />
Duncan (Jamaica/ bass), Luis Ribeiro (Brasilien/ perc.),<br />
Daniel Pezzotti (CH/ cello), Sandro Schneebeli (CH/ guitar<br />
& comp.) und natürlich Staphan Rigert selber (CH/<br />
perc. & arr.). Hier vereinen sich spannende und interessante<br />
Klänge und Rhythmen - vor allem das Cello weckt<br />
zusammen mit dem Bandoneon das Interesse. Heiss<br />
wird es im Theater National werden - auch hier muss<br />
der Winter noch etwas Geduld üben. Schön auch zu<br />
wissen, dass Bern in Sachen Perkussion eine wichtige,<br />
internationale Drehscheibe ist - und dies nicht nur für<br />
Weltenbummler und Schöngeister...(vl)<br />
«TÜRKISCHER HONIG<br />
ODER FISCHBACHS ERBE»<br />
■ Seit fünfzehn Jahren bringen Antonia Limacher und<br />
Peter Freiburghaus als Lilian und Ernst Fischbach politische<br />
und gesellschaftliche Themen in Form von Alltagspossen<br />
auf die Bühne. Zeit die Lichter zu löschen, die<br />
Böden feucht aufzunehmen und in Pension zu gehen?<br />
«Mit dem Wohnwagen an einem Ort, wo man die Füsse<br />
ins warme Meer strecken kann.» Dazu müsste aber in<br />
korrekter Schweizer Manier zuerst die Nachfolge des<br />
erfolgreichen Familienunternehmens (mit «Fischbachs<br />
Hochzeit» füllten sie landesweit alle Säle, beim Zirkus<br />
Knie waren sie mehrmals im Programm) geregelt sein.<br />
Joint Ventures mit der nächsten Generation, Nischenprodukte<br />
und die Auslagerung der Senioren sollen helfen,<br />
den Firmenkarren aus dem Sumpf der «niederen<br />
Künste» zu ziehen.<br />
Zu der Türkei als Migrationsziel – immerhin, wie die<br />
Schweiz, noch immer nicht-EU-Land – könnten sich die<br />
«bodeständige» Entlebucher noch durchringen, auch<br />
wenn Ernst «im Ausland erst so richtig den Inländer in<br />
sich spürt». Auch gilt es für das Paar, das sich einst am<br />
Ländlermusigtreffen in Trubschachen kennengelernt<br />
hat, vorher noch die Scherben ihrer langen gemeinsamen<br />
Vergangenheit zu kitten - denn zu lachen hatte in<br />
all den Jahren vorwiegend ihr Publikum. Und weitere<br />
Vorlagen für Fischbachs legendäres Gezänk liefert die<br />
nicht ganz einfache (den Fischbachs aber durchaus aus<br />
dem Gesicht geschnittene) Verwandtschaft , die fi nanziell<br />
ebenfalls zufrieden gestellt sein will. So lässt sich<br />
etwa die mit musikalischem Talent und einer eher nihilistisch-abgeklärten<br />
Sicht der Dinge ausgezeichnete<br />
Schwiegertochter keinen Honig ums Maul schmieren,<br />
nicht mal türkischen:<br />
«Die Katz tut selten etwas.<br />
Meistens tut sie nichts.<br />
Sie bringt es aber auch zu nichts.<br />
Vor allem Anfang war das Nichts.<br />
Aus dem Nichts ist alles geworden.<br />
Ist alles für die Katz.»<br />
Ernst Fischbachs Motto gemäss, muss man aber ja<br />
»nicht immer alles so tragisch nehmen, wie es wirklich<br />
ist.» (jlf)<br />
Vorstellungen:<br />
22. - 26. November 2005 im National, Bern<br />
K U L T U R N O T I Z E N<br />
NIK BIERI<br />
AUF DIE<br />
BÄUME, IHR AFFEN!<br />
Winshluss: Sm<strong>art</strong> Monkey. Cmic<br />
5<br />
■ Eine dicke Nase, grosse, abstehende Ohren und<br />
die Intelligenz der ersten Stunde: Aus diesen Zutaten<br />
ist die Hauptfi gur in Winshluss‘ Comic gestrickt - ein<br />
kleiner Schimpanse, der friedlich auf einem Ast eines<br />
urzeitlichen Baumes döst. Doch diese Idylle währt<br />
nicht lange. Schliesslich tummelt sich allerlei Getier<br />
im Geäst, ständiges Fressen und Gefressenwerden<br />
dominiert die Szenerie. Glücklicherweise wurde der<br />
«Sm<strong>art</strong> Monkey» evolutionär mit etwas Intelligenz<br />
versehen und widersteht dadurch immer wieder den<br />
hungrigen Säbelzahntigern, Pterodaktylen und Tyrannosauriern<br />
und der Unbill der entfesselten Natur.<br />
Dass am Schluss doch die Kraft über die Intelligenz<br />
siegt, ist zwar tragisch, aber natürlich: Auch dies eine<br />
Spielform der Evolution. Im Epilog - Jahrmillionen<br />
später wird in der naturkundlich interessierten Gesellschaft<br />
des neunzehnten Jahrhunderts Darwins<br />
Theorie diskutiert - wird dieser Faden wieder aufgenommen.<br />
Ein befl issener Forscher versucht sich für<br />
erlittene Schmach zu rächen, in dem er stichfeste<br />
Beweise für die Evolutionstheorie fi ndet. Dazu reist<br />
er in den Dschungel Afrikas, wo sich der Kreis des<br />
«Sm<strong>art</strong> Monkey» überraschend schliesst. Die Evolution<br />
fi ndet statt, doch ist sie nicht mit dem Fortschritt<br />
zu verwechseln. Dies scheint die Hauptaussage des<br />
Autors zu sein, aus dessen Bildergeschichte der Evolutionspessimismus<br />
lacht. Die Zeichnung ist schwarzweiss<br />
und so fahrig, dynamisch und fl iessend, dass<br />
sie als natürliche Handschrift des Autors erscheint.<br />
Winshluss erzählt die Geschichte vom sm<strong>art</strong>en Affen<br />
ohne Worte, dafür mit ausgeprägtem Sinn für Details<br />
und Situationskomik. Erst im Epilog wird gesprochen,<br />
und zwar französisch: Sm<strong>art</strong> Monkey erschien beim<br />
französischen Kleinverlag Cornélius und eine deutsche<br />
Übersetzung gibt es (noch?) nicht.<br />
Winshluss: Sm<strong>art</strong> Monkey. Comic. Editions Cornélius.<br />
Paris 2004. ISBN 2-909990-91-5
6 K U L T U R & G E S E L L S C H A F T<br />
TILL HILLBRECHT<br />
mit der fingerspitze gegen die faust<br />
Das Frauenhaus in Bern feiert 25 Jahre Engagement für die Gesellschaft<br />
■ Ein Übel schafft es, sich der<strong>art</strong> fest in eine Gesellschaft<br />
einzuhocken, dass man es kaum mehr wegbringt.<br />
Das Übel setzt sich an, setzt zu, sitzt fest und wird, irgendwann,<br />
normal. Einmal alltäglich geworden, mag die<br />
Gesellschaft es nicht mehr wahr haben und lässt das<br />
Bekämpfen sein. Und so wird das Übel erst richtig gefährlich:<br />
Es verschwindet zwar aus den Gedanken, nicht<br />
aber aus der Gesellschaft.<br />
Suchen und Finden. Ich stehe auf, bedanke mich und<br />
gehe zu meinem Fahrrad. Diesem sonnigen Herbstag<br />
fehlt nichts, wir haben unser Gespräch kurzerhand auf<br />
die Terrasse des Restaurants verlegt, um dem vielleicht<br />
letzten wirklich warmen Nachmittag des Jahres das<br />
Sommergemüt abzuknöpfen und es für einen bevorstehenden<br />
tristen, regnerischen Novembertag zu sparen.<br />
Einzig der Grund des Treffens ist in der Wurzel ein Trüber<br />
und nun, nach dem Gespräch, haben sich zumindest<br />
in meinem Kopf ein paar dunkle Wolken breit gemacht<br />
– Gedanken über unsere Gesellschaft und reichlich<br />
Zweifel an ihr sind die Ursache. Sie haben mir die geheime<br />
Adresse nicht verraten, ich habe auch kein Interesse,<br />
sie zu erfahren. Aber Stephanie und Yasmin vom<br />
Frauenhaus haben mir von den h<strong>art</strong>en Schicksalen jener<br />
Frauen erzählt, welche die Adresse erfahren dürfen, um<br />
an diesem Ort Zufl ucht zu fi nden. Beide arbeiten dort<br />
– Stephanie H<strong>art</strong>ung als Leiterin, Yasmin Nüscheler-Gutiérrez<br />
als Beraterin. Und wenn diese zwei Frauen zu<br />
meinem Erstaunen mit einer gewissen – oder professionellen<br />
– Leichtigkeit von Gewalt und Bedrohung erzählen,<br />
dann nicht, weil es sie nicht berührt. Sondern weil es<br />
ihr Alltag ist, Opfern männlicher Gewalt zu helfen. Dabei<br />
dreht es sich nebst physischer oftmals auch um psychische<br />
Gewalt: Drohung, Nötigung, Erniedrigung und vor<br />
allem geistige Tortur treibt Frauen in einen Teufelskreis,<br />
aus dem der Weg hinaus, sprich hinein ins Frauenhaus<br />
kaum machbar scheint: Wenn du gehst, bring ich dich<br />
um / wirst du dein Kind nie wieder sehen / mache ich<br />
dein Leben zur Hölle / glaub ja nicht, ich werde dich<br />
nicht fi nden… Stephanie und Yasmin zählen auf. So wagen<br />
viele Frauen und Kinder den Schritt ins Frauenhaus<br />
gar nicht erst zu unternehmen. Dort versucht das Beraterinnenteam<br />
die Opfer aus der Gewaltspirale zu ziehen.<br />
Die meist traurige und schwierige Vorgeschichte macht<br />
diese Aufgabe jedoch zu einem sehr komplexen, subtilen<br />
Unterfangen, das viel Fingerspitzengefühl verlangt.<br />
Denn viele Frauen stehen in einer so enormen Abhängigkeit,<br />
dass ein rund ein Drittel bald wieder zu ihrem<br />
Peiniger zurückkehrt, bald wieder Leid erfährt und zuweilen<br />
auch bald wieder am Frauenhaus anklopft. Trotzdem<br />
– Stephanie sieht ihr Tun nicht als Sisyphosarbeit.<br />
Wer den Weg ins Frauenhaus schafft, hat bereits einen<br />
wichtigen Schritt gemacht.<br />
Theorie und Praxis. Ich sitze an unserem Tisch, nippe<br />
an meinem Glas Wasser. Es ist mir nicht ganz wohl in<br />
meiner Haut. Stephanie und Yasmin erzählen mir ganz<br />
offen über ihre Arbeit im Frauenhaus, obwohl sich mit<br />
der unbekannten Adresse doch eigentlich die schützende<br />
Hand der Anonymität über die Institution legt. Ich<br />
frage mich, was wohl die Kellnerin oder der Mann am<br />
Tisch neben mir denken, ich weiss sie hören die Schilderungen<br />
mit einem Ohr mit. Ob sie wohl auch so wenig<br />
über ein Problem wissen, von dem mehr Menschen<br />
betroffen sind, als die meisten denken? Dieser Punkt<br />
stellt eine komplexe Aufgabe an die Leitung des Frauenhauses:<br />
Den mühseligen Gang zwischen Geheimhaltung<br />
und Öffentlichkeitsarbeit zu meistern. Die Gesellschaft<br />
bestmöglich über eine Institution zu informieren, von<br />
der niemand wissen darf, wo sie ist. Den Frauen Angst<br />
nehmen, ihnen näher bringen, was sie nicht sehen dürfen.<br />
Enttabuisieren, Schweigen brechen. Unterstützen.<br />
Das Frauenhaus Bern ist eine anerkannte Opferhilfestelle<br />
und fi nanziert sich über Kantonsbeiträge, Landeskirchen,<br />
Kostgeldeinnahmen und Spenden. Der Auftrag<br />
der Häuser indes ist mit drei Schüsselbegriffen klar<br />
defi niert: Schutz, Beratung und Unterkunft für Frauen<br />
und Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt wurden. Diese<br />
Aufgabe beginnt damit, Hilfesuchenden einen ersten<br />
Moment der Sicherheit und Ruhe zu schenken, dann<br />
Grundlage des Falles zu analysieren und schlussendlich<br />
mit weiterführenden Fachstellen zu vernetzen: ÄrztInnen,<br />
SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, Polizei. Das<br />
Frauenhaus sieht sich als stationäre Einrichtung für gewaltbetroffene<br />
Frauen und Kinder, als Beratungs- nicht<br />
aber Therapiestelle. Doch so klar dieser Auftrag auf<br />
dem Papier steht, so schwierig ist er in der Praxis umzusetzen<br />
und ihn auch einzuhalten. Die prekären Vorgeschichten<br />
der Betroffenen loten die Grenzen des Beratungsauftrages<br />
oftmals aus. Hinzu kommen Faktoren,<br />
die ein standardisiertes Abwickeln der Fälle vorneweg<br />
ausschliessen: Kultur- und Sprachbarrieren, religiöse<br />
Hintergründe, kontinuierliche Gewaltandrohung, zunehmende<br />
Elterngewalt gegenüber jungen Frauen. So kann<br />
ein Aufenthalt bis zu sechs Monaten dauern und endet<br />
in einzelnen Fällen sogar mit Namen- und Ortswechsel.<br />
Im Worst Case liegen Perücken bereit.<br />
Nicht gerade mit Perücke und Schminke, aber mit<br />
einer handvoll anderer Animationen ist der einzige<br />
Mann im Hause engagiert. Seine Tätigkeit nennt sich<br />
«Kinderanimator», das junge Klientel kennt ihn allerdings<br />
unter dem Namen «Kindermann». Im Gefüge des<br />
Frauenhauses ist dem Kindermann diejenige Rolle zugeteilt,<br />
welche die untergebrachten Kinder vielleicht nur<br />
vom Hörensagen kennen: Die Person des Guten Mannes.<br />
Diese unternimmt mit den Kids kleine Ausfl üge, geht in<br />
den Tierpark oder auf die Schlittschuhbahn. Es klingt<br />
simpel, aber die Wichtigkeit dieser Figur ist für ein Kind<br />
nicht zu unterschätzen. Der Kindermann soll ihm den<br />
Eindruck schenken, dass ein Mann auch nett, lieb und<br />
vertrauenswürdig sein kann. Kann.<br />
Die Kunst des Loslassens. Gegen das Klischee, häusliche<br />
Gewalt sei vorwiegend ein Migrantinnenproblem,<br />
wehrt sich Yasmin vehement. Die betroffenen Frauen<br />
kommen aus allen Schichten, durchschnittlich sind sie<br />
32 Jahre alt. Doch die verschiedenen kulturellen Fundamente<br />
verlangen auch ein differenziertes Umgehen<br />
mit den Frauen und Kindern. Die Beraterinnen bewegen<br />
sich während dem Kontakt mit Hilfesuchenden auf dem<br />
schmalen Grat zwischen Einfühlung und Abgrenzung.<br />
Yasmin will keine Wand zwischen der Frau und ihrer Person<br />
bilden, im Gegenteil: Betroffenheit soll entstehen.<br />
Dennoch darf die Option, Abschalten zu können, nicht<br />
verloren gehen. Man refl ektiert im Team Erlebnisse,<br />
tauscht aus, was sonst aufgrund der Schweigepfl icht<br />
niemand hören darf. Psychohygiene nennen sich diese<br />
Massnahmen: Die innere Balance fi nden, den Kopf frei<br />
halten. Abschalten. Trotzdem – die Erlebnisse begleiten<br />
Yasmin oftmals über die Schwelle des Frauenhauses hinaus.<br />
Wir wollen auch mal. Der Beginn des Gespräches ist<br />
kein Einfacher bei so einem ernsten Thema. Stephanie<br />
hat kurzerhand Yasmin mitgenommen, sie kennt den<br />
Frauenhausalltag als Beraterin aus erster Hand. Reden<br />
wir erst über das 25. Jubiläum, denke ich, ein dankbarer<br />
Einstieg in ein ernstes Thema. Locker anfangen. Ich halte<br />
den farbigen Flyer des Geburtstag-Events im Progr in
der Hand. Er zeigt eine junge Frau hinter<br />
bunten Strichen. Sie aber, die Frau, ist<br />
schwarz gekleidet, ihre Augen verstecken<br />
sich hinter einer dunklen Sonnenbrille.<br />
Die Grafi k legt die K<strong>art</strong>en der Kritiker<br />
auf den Tisch: Eine ernste Sache will ein<br />
fröhliches Fest feiern. Ein Widerspruch?<br />
Eigentlich schon. Eigentlich aber auch<br />
überhaupt nicht. Das Frauenhaus, 1980<br />
als Projekt der neuen Frauenbewegung<br />
entstanden, hat Grund genug sich selbst<br />
feiern zu dürfen: Wer sich ein Vierteljahrhundert<br />
gegen Gewalt eingesetzt hat<br />
und dies auch nur aus dem Versteckten,<br />
darf den Schritt in die Öffentlichkeit tun.<br />
«Wir wollen ganz einfach auch mal feiern»,<br />
meinen Yasmin und Stephanie. Und<br />
das locker, ohne Drohfi nger. Es soll kein<br />
schwerer Anlass werden, man will niemanden<br />
belehren. Die Menschen sollen<br />
die Institution kennenlernen, aber auch<br />
einfach die Freude der Frauenhäuslerinnen<br />
teilen, es bereits so lange geschafft<br />
zu haben. 25 Jahre Frauenhaus, am 25.<br />
November 2005 im Progr. Und als ob die<br />
Zahlen 2 und 5 nicht schon Mysterium<br />
genug wären, ist an diesem Tag gleich<br />
auch noch der internationale Tag der Gewalt<br />
gegen Frauen. Ein Zeichen setzen.<br />
Oder feiern, dass man in diesen 25 Jahren<br />
schon so manches Zeichen gesetzt<br />
hat. Nur, dass kaum jemand davon etwas<br />
weiss.<br />
Ich mache mich auf zum Gespräch mit<br />
Stephanie, wir haben in einem Restaurant<br />
abgemacht. Als Fachstellenleiterin des<br />
Frauenhauses sieht sie einem grossen<br />
Anlass entgegen. Das Frauenhaus feiert<br />
Geburtstag und ich soll mit ihr darüber<br />
sprechen und was schreiben – über diese<br />
Einrichtung, aber was genau? Ich weiss<br />
nicht recht, recherchiere ein wenig im Internet,<br />
aber man fi ndet kaum was. Habe<br />
gar nicht gewusst, dass die eine geheime<br />
Adresse haben.<br />
FR 25.11. 17h<br />
25 Jahre Berner Frauenhaus<br />
Ort: Turnhalle - PROGR_Zentrum für Kulturproduktion,<br />
Eingang Innenhof Speichergasse, 3001 Bern<br />
Das Frauenhaus, die stationäre Institution für gewaltbetroffene<br />
Frauen und Kinder feiert mit einem grossen<br />
Fest ihr 25-jähriges Engagement für die Gesellschaft.<br />
Programm:<br />
17h Apéro, Kunstinstallation «sweet home» von Tina<br />
z’Rotz / Tanzeinlagen der Compagnie Afro Rhythme<br />
Danse, 18h einen Vortrag von Maja Wicki, 20h Konzert<br />
mit Lyn Leon. Anschliessend abtanzen mit DJ Anouk<br />
Amok // www.frauenhaus-schweiz.ch / www.lynleon.com<br />
7
8 G E S E L L S C H A F T<br />
ANKLANG#1 –<br />
STEGREIFKUNST DER<br />
FRAU<br />
■ Wer ist IDA? Neben all dem Knatsch um die Reitschule,<br />
dieser Austobewiese lokaler Politaktiven<br />
zwecks Ausschmückung ihres Palmarés, dringt nur<br />
noch wenig Produktives aus dem Gemäuer der Kulturstätte.<br />
Konzerte, klar. Der Dachstock dabei meist<br />
voll, der Vorplatz genau so. Dennoch schafft es die<br />
Reitschule öfter in den Politteil als in die Kultursp<strong>art</strong>e<br />
der Medien – wie auch immer. Ganz hinten in der<br />
Reitschule, am Ende des gepfl asterten Innenhofes, da<br />
fi ndet man eine Tür. Vom Raum dahinter könnte man<br />
glauben, er trotze im Stillen ein wenig diesem Seilziehen<br />
um das Gebäude. Er bleibt oft unentdeckt ausserhalb<br />
des Laternenlichtkegels liegen, und manch<br />
ein Ortskundiger kennt ihn nur vom Hörensagen.<br />
Vielleicht gerade deshalb ist es einer der schönsten<br />
Räumlichkeiten der Reitschule: Der Frauenraum. Darin<br />
waltet IDA. IDA ist ein Veranstaltungskollektiv von<br />
Frauen und organisiert kulturelle und gesellschaftspolitische<br />
Veranstaltungen, 70 an der Zahl pro Jahr.<br />
IDA sieht sich zwar als Plattform für Frauen, das Angebot<br />
richtet sich jedoch an alle Geschlechter, unabhängig<br />
von Glauben, Gesinnung oder auch sexueller<br />
Orientierung.<br />
Nun präsentiert IDA mit anKlang#1 ihren neusten<br />
Wurf. anKlang#1 ist der Schweizweit erste Zyklus<br />
improvisierter Musik, die von Musikerinnen und Tonkünstlerinnen<br />
produziert, gestaltet und präsentiert<br />
wird. Zeitgenössisches Schaffen im Bereich der Audiokunst,<br />
konstruiert von Frauen aus dem In- und benachb<strong>art</strong>en<br />
Ausland. Dabei kommen die Künstlerinnen<br />
aus ganz unterschiedlichen musikalischen Ecken.<br />
Regula Gerber aus Bern etwa, wanderte mit ihrem<br />
Kontrabass im Gepäck aus der Klassik in Richtung<br />
Freejazz und macht für ihr Spiel auch mal in Höhlen,<br />
Kirchen oder Fabriken halt. Oder Elisabeth Wandeler-<br />
Deck: Ihre Texte bilden die Grundlage für die Musik<br />
der «bunten Hörschlaufen» . Dabei geschehen Texterarbeitung<br />
und Improvisationskomposition unabhängig<br />
von einander und werden in der Aufführung<br />
zusammengeführt. Anklang dürfte auch der Improvisations-Workshop<br />
am Freitag- und Samstagnachmittag<br />
fi nden. Unter der Leitung von Katharina Weber<br />
( Hochschule der Künste Bern ) widmen sich die Teilnehmerinnen<br />
der Improvisation und werden im Vorprogramm<br />
des Samstagabends gleich selbst Teil des<br />
Festivals. (th)<br />
anKlang#1 fi ndet vom 17. bis 20 November statt.<br />
Im Frauenraum, Programmverweis: For women and<br />
men.<br />
TILL HILLBRECHT<br />
queersicht auf<br />
leckere östlichkeit<br />
■ Wenn im November jemand die Rosa Brille aufgesetzt<br />
bekommt, dann nicht als Geschenk von Amor<br />
an Frischverliebte. In diesem Fall nämlich handelt es<br />
sich vielmehr um den Filmpreis «Rosa Brille» für den<br />
besten Kurzfi lm am schwul-/lesbischen Filmfestival<br />
QUEERSICHT. Queersicht, Sicht auf nichtalltägliches<br />
oder nichtalltägliche Sicht. Die Sicht ist das Format der<br />
Leinwand eines queeren Festivals. Sicht auf Queeres<br />
aus dem In- und Ausland, auf Dokumentar-, Spiel- und<br />
Kurzfi lme. Unterhaltend, vergnügend. Erschütternd.<br />
Das älteste schwul- / lesbische Filmfestival der<br />
Schweiz steigt in diesem Jahr bereits zum neunten Mal<br />
und hat sich zu einem festen Kulturereignis in Bern gemausert.<br />
Für das Festival hat der Trägerverein Queersicht<br />
fünf Kinos und Kulturlokale eingespannt. Film<br />
und Rahmenprogramm fi ndet im Kino ABC, Kellerkino,<br />
Kunstmuseum, der Reithalle und im Gaskessel statt. 40<br />
Produktionen aus verschiedenen Ländern hat das Komitee<br />
für die diesjährige Ausgabe zusammengetragen.<br />
Was ist das Ziel eines schwul-/lesbischen Filmfestivals?<br />
Filmperlen unterschiedlichster Art den Zugang<br />
ins Kino zu ermöglichen, die sonst an den Hürden der<br />
Intoleranz und der Zensur scheitern. Oder am Finanziellen.<br />
Queersicht gräbt tief in unbekannten Filmkisten<br />
und bringt uns Low-Budget-Kino, zum Beispiel aus Asien<br />
( Yan Yan Mak: «Butterfl y») oder Argentinien: «Un<br />
año sin amor» von Anahí Bernerí zeigt auf erschütternde<br />
Weise, wie heutzutage mit Aids umgegangen wird.<br />
Berneri schildert die Leidensgeschichte eines aidskranken,<br />
schwulen Autors, der in seiner Trauer langsam tiefer<br />
in die SM-Welt hinein gerät und sich schliesslich in<br />
ihr verliert.<br />
Im Osten nichts Neues? ist Name und Pogramm des<br />
diesjährigen Festivalschwerpunktes. Der Osten im Aufbruch.<br />
Vieles mag besser werden, einiges bleibt wie es<br />
ist und manches verschlechtert sich. Die aktuelle Situation<br />
für Lesben und Schwulen indes ist verworren: So<br />
wurde in Polen zum zweiten Mal die Durchführung des<br />
Christophers Street Day verboten, während umgekehrt<br />
in Ungarn Lesben und Schwule eingetragene P<strong>art</strong>nerschaften<br />
eingehen können. Zeitgenössisches Ostkino<br />
Bild: zVg.<br />
unter anderem aus Russland und der Slowakei. ben dem<br />
aktuellen Filmschaffen wirft das Queersicht-Festival<br />
aber auch eine Retrospektive auf die Zeit vor dem Systemwechsel.<br />
«Coming Out» von Heiner Carow etwa gilt<br />
als erster bedeutender Schwulenfi lm aus der ehemaligen<br />
DDR: Ein Zeitzeuge sowohl historischer Ereignisse<br />
als auch damaliger homosexuellen Paradigmen.<br />
Um diesem schwierigen und grossen Rahmen gerecht<br />
zu werden wird unmittelbar vor dem Festival ein viertägiges<br />
Pre-Festivalprogramm in Salecina durchgeführt.<br />
«Warming-up for exchange» nennt sich das Treffen in<br />
den Schweizer Alpen, das darauf zielt, ost- und westeuropäisches<br />
Filmschaffen zusammenzubringen. Politisch<br />
und kulturell engagierte Personen aus osteuropäischen<br />
Ländern fi nden hier einen Austausch von Erfahrungen,<br />
die sie beim Realisieren von Festivals und Filmen unter<br />
widrigsten Umständen gemacht haben. Während dem<br />
Festival werden die Ergebnisse aus Salecina am «Open<br />
Forum» gezeigt und diskutiert.<br />
Neues für alle Weg von der Ostthematik und hin zur<br />
Wollust führt der Videovortrag von Manuela Kay: Wie<br />
drehen wir gute lesbische Pornos? Dabei geht es um<br />
sachliche Kriterien wie Authentizität, Schauspielkunst<br />
und den Scharfmach-Faktor. Die Berliner Filmmacherin<br />
muss es wissen: Sie ist unter vielem anderen Autorin<br />
des Werkes «Schöner kommen», das Sexbuch für Lesben.<br />
Aber auch eine ganze Reihe anderer Leckerbissen<br />
im Rahmenprogramm des Festivals verkürzen dem<br />
Cineasten die Filmpausen: Podiumsdiskussionen, die<br />
Queersichtlounge im Frauenraum, die Festivalp<strong>art</strong>y am<br />
Samstagabend. Ein Wochenende lang wird Kultur geschaffen,<br />
die Bern gut tut. Schön unkonventionell, provokativ,<br />
erweiternd. Nicht nur wie die meisten Filme, ist<br />
auch das Festival an sich eine Low-Budget-Produktion.<br />
Aber: nicht billig gemacht. Sondern gewagt, ausgewogen,<br />
mit viel Umschwung. Queer eben.
Sprachgewaltige Newcomerin<br />
Kirsten Fuchs: Die Titanic und Herr Berg. Roman.<br />
Die 1977 in Karl-Marx-Stadt geborene Kirsten Fuchs<br />
lernte zunächst Tischlerin, bevor sie sich daran machte,<br />
ihre Wahlheimat Berlin literarisch zu erobern. Dieser<br />
Feldzug lohnte sich insofern als sie 2003 den begehrten<br />
Open Mike entgegennehmen durfte und mit ihrem Romanerstling<br />
verdientermassen weit über Deutschlands<br />
Hauptstadt hinaus bekannt geworden ist.<br />
In ihrer ureigenen Sprache lässt sie den Leser Anteil<br />
haben an der Begegnung zwischen einer jungen Sozialhilfeempfängerin<br />
und deren Sachbearbeiter vom Sozialamt,<br />
mit Namen Berg. Dazu ein kleiner Auszug: «Und<br />
dann war da mein neuer Sachbearbeiter. Den wollte ich<br />
gar nicht anlügen. Den wollte ich mich mir in den Schlüpfer<br />
stecken, damit er sich aufwärmen kann.» (S. 13)<br />
Zwei Welten prallen diametral aufeinander. Sie weiss<br />
sofort: er ist der Mann, der Richtige, weil da sind noch<br />
viele andere. Er aber, Vater zweier Kinder, mit zwei Trennungen<br />
im Rücken will nicht so recht und kann sich doch<br />
nicht entziehen. Physisch können die beiden nicht voneinander<br />
lassen. Und doch scheint das Happy-End, welches<br />
der Leser unweigerlich erw<strong>art</strong>et, in immer weitere<br />
Ferne zu rücken. Sie verliert sich zusehends in Traumwelten,<br />
während er nicht weiss, wohin mit sich selbst.<br />
Es wird gefährlich für sie beide, denn schliesslich ist er<br />
Herr Berg und sie ist die Titanic.<br />
Für zusätzliche Spannung sorgt die Autorin dadurch,<br />
dass sie ihren beiden Protagonisten eine eigene Stimme<br />
verleiht und diese ihre jeweils individuellen Geschichten,<br />
welche sich immer wieder kreuzen, einzeln erzählen<br />
lässt.<br />
Allen Unkenrufen zum Trotz beweist Kirsten Fuchs einmal<br />
mehr, dass die junge deutsche Literatur lebt...und<br />
wie sie lebt!<br />
Fuchs, Kirsten: Die Titanic und Herr Berg. Roman. Rowohlt<br />
Verlag. Berlin 2005. ISBN 3 87134 531 8. S. 286.<br />
Wider die gängige Moral<br />
Harold Pinter: The Homecoming. Drama.<br />
Harold Pinter, der in den letzten Jahren vor allem aufgrund<br />
seiner kritischen Äusserungen bezüglich Tony<br />
Blairs Irakpolitik von sich reden machte, erhielt vor wenigen<br />
Tagen den diesjährigen Nobelpreis für Literatur.<br />
Ausgezeichnet wurde er insbesondere für seine Dramen<br />
wider die bürgerliche Moral der 60er und 70er Jahre,<br />
welchen er zu verdanken hat, schon zu Lebzeiten zur<br />
Erweiterung der Englischen Sprache beigetragen zu haben.<br />
Das Ajektiv «pinteresk» leitet sich von jener Welt<br />
ab, die Pinter in seinen Stücken zeichnet. Eine Welt, in<br />
welcher wenige, an sich harmlose Worte genügen, um<br />
eine Atmosphäre der Bedrohung zu schaffen.<br />
The Homecoming beschreibt nun die Rückkehr des erfolgreichen,<br />
an einer amerikanischen Universität tätigen<br />
Philosophieprofessors Teddy mit seiner Ehefrau Ruth in<br />
sein Geburtshaus in London. Hier lebt sein Vater Max<br />
gemeinsam mit seinem Bruder Sam und seinen beiden<br />
weiteren Söhnen Lenny und Joey.<br />
Scheint zunächst allseitig Freude über das Wiedersehen<br />
zu herrschen, entwickelt sich die Beziehung zwischen<br />
Ruth und den männlichen Mitgliedern der Familie schon<br />
bald auf höchst seltsame Weise. Die seit sechs Jahren<br />
verheiratete Mutter lässt sich von ihren Schwagern verführen<br />
beziehungsweise verführt diese ihrerseits. Dies<br />
alles im Beisein ihres Mannes, welcher eine der<strong>art</strong>ige<br />
Entwicklung der Ereignisse schon vorausgesehen haben<br />
musste, da er seine Angetraute möglichst schnell wieder<br />
hatte aus seinem Elternhaus wegbringen wollen.<br />
In Anbetracht dessen, was sich nun abspielt, bleibt der<br />
gehörnte Ehemann erstaunlich ruhig, er willigt sogar<br />
ein, seine Frau für eine Weile in seinem Elternhaus wohnen<br />
zu lassen, wenn das ihrem Wunsch entspreche.<br />
Ein verstörendes Drama, welches genauer zu verdeutlichen<br />
vermag, was unter dem Begriff «pinteresk» zu<br />
verstehen ist.<br />
Pinter, Harold: The Homecoming. Drama. Faber and Faber.<br />
London 1965. Neuaufl age 1999. ISBN 0-571-16080-<br />
8. S. 138.<br />
Wohin des Weges?<br />
L I T E R A T U R<br />
Walter Wittmann: Halbzeit – der Bundesrat<br />
auf dem Prüfstand.<br />
Walter Wittmann, emiritierter Wirtschaftsprofessor der<br />
Universität Freiburg, malt ein nicht eben positives Bild<br />
der Schweiz. Nüchtern stellt er fest, dass die Erfolgsgeschichte<br />
nicht erst in den 90er Jahren des letzten<br />
Jahrhunderts endet, sondern bereits 1973. Diese Trendwende<br />
in den frühen 70er Jahren führt Wittmann auf<br />
unterschiedliche Faktoren zurück: einerseits auf die<br />
fehlende Erneuerung des Produktionsapparates, andererseits<br />
auf den bis 1973 unterbewerteten Franken, was<br />
der Schweiz Exportvorteile einbrachte, wichtige Innovationen<br />
jedoch verhinderte. Den Zuzug von nicht qualifi -<br />
zierten ausländischen Arbeitskräften führt er als einen<br />
weiteren Punkt an.<br />
Wittmann stellt klar, dass über die dringend nötigen<br />
Reformen, welche das wirtschaftliche Wachstum, die Sicherung<br />
der Sozialwerke, den Anstieg der Gesundheitskosten<br />
etc. betreffen, inzwischen Konsens herrsche.<br />
Darüber hinaus bezeichnet der Autor die Bundesratswahl<br />
2003 als eine besondere, da hier erstmals seit<br />
1959 mit der Zauberformel gebrochen wird, und stellt<br />
diese im Pressespiegel dar. Darin wird deutlich, wie<br />
gross die Hoffnungen, welche man in diesen nunmehr<br />
bürgerlichen Bundesrat gesetzt hatte, zu Beginn der Legislaturperiode<br />
waren.<br />
Akribisch, wenn auch etwas trocken, untersucht Wittmann<br />
im Hauptteil des Buches die Plattformen der<br />
SVP und der FDP und deren jeweilige Umsetzung, um<br />
mit der ernüchternden Festellung abzuschliessen, dass<br />
die Reformen bis anhin auf der Strecke geblieben sind.<br />
Der Hauptgrund des bisherigen Scheiterns ist gemäss<br />
Wittmann insbesondere auf unsere direkte Demokratie<br />
zurückzuführen, welche bisher den Beitritt der Schweiz<br />
zur EU verhindert hat.<br />
Eine Trendwende erhofft sich der zuweilen etwas polemische<br />
Autor für die Legislaturperiode von 2007-2011<br />
von der «Allianz zur Revitalisierung der Schweiz» - worunter<br />
er eine Koalition von FDP, CVP und SP versteht<br />
- und damit eine Öffnung der Schweiz hin zu Europa und<br />
der restlichen Welt. Hoffen wir mit.<br />
Wittmann, Walter: Halbzeit – der Bundesrat auf dem<br />
Prüfstand. Orell Füssli verlag. Zürich 2005. ISBN 3-280-<br />
05120-7.<br />
9
10<br />
L I T E R A T U R<br />
SARAH ELENA SCHWERZMANN<br />
nur liebhaber können das<br />
unmögliche möglich machen<br />
■ Literaturübersetzer stellen sich viele Leute als poetische<br />
und romantische Menschen vor. Und es stimmt<br />
schon, dass ein literarisches Flair vorhanden sein muss.<br />
Doch der Alltag eines Literaturübersetzers ist hauptsächlich<br />
von h<strong>art</strong>en Arbeitsbedingungen geprägt: Kaum<br />
einhaltbare Deadlines, konstante Stresssituationen und<br />
eine schlechte Bezahlung. Ein Job für Liebhaber also,<br />
wie zum Beispiel Werner Schmitz.<br />
Die Liebe zum Detail Ursprünglich hatte der heute<br />
52Jährige Deutsche Volkswirtschaft studiert. Angefangen<br />
hat seine Karriere als Literaturübersetzer mit den<br />
Briefen von Hemingway. Seitdem hat er zahlreiche andere<br />
Werke von Hemingway sowie John le Carré, Henry<br />
Miller und insgesamt fünf Bücher von Philip Roth übersetzt<br />
– darunter auch dessen neustes Werk «Verschwörung<br />
gegen Amerika».<br />
Heute müssen Übersetzungen bekannter Autorinnen<br />
und Autoren beinahe zeitgleich mit dem Original<br />
erscheinen, wie dies gerade bei Michel Houllebecqs «Die<br />
Möglichkeit einer Insel» der Fall ist. Und darunter leidet<br />
oftmals die Qualität der Übersetzung. Philip Roth’ Werke<br />
machen dabei aber eine Ausnahme: Sie gelten unter<br />
einigen Übersetzungswissenschaftlern als unübersetzbar<br />
– und werden doch übersetzt. Deshalb hat Werner<br />
Schmitz ganze sechs Monate Zeit bekommen.<br />
Das Gefälle der Kulturen Doch was genau ist so<br />
speziell an diesem Autor? «Die besondere Herausforderung<br />
der Roth-Bücher sind die Detail reichen Beschreibungen»,<br />
weiss Werner Schmitz. «Das erfordert vom<br />
Übersetzer zwar viel Geduld, doch das macht diesen<br />
Autor auch interessant und seine Bücher lesenswert.»<br />
Eine besondere Herausforderung stellen dabei Kulturspezifi<br />
ka dar, das heisst die Dinge, die einer Kultur und<br />
Sprache eigen sind. Und diese verstecken sich meist in<br />
scheinbar unbedeutenden Details. Beim aktuellen Roth-<br />
Roman waren dies unter anderem die amerikanischen<br />
Briefmarken, die über Seiten hinweg beschrieben werden.<br />
«Jedes amerikanische Kind kennt diese Briefmarken.<br />
Sie sind Bestandteil der amerikanischen Kultur. Jeder<br />
weiss, wie sie aussehen. Nur: Weiss das jemand mit<br />
einem deutschen Kulturhintergrund? Wahrscheinlich<br />
nicht.»<br />
Also hat sich Werner Schmitz die Briefmarken auf<br />
dem Internet genau angesehen und versucht, sie so<br />
Detail getreu wie möglich zu beschreiben. Detaillierter<br />
als im Original versteht sich, um dem deutschen Leser<br />
zu helfen. «Ein anderes Problem waren die amerikanischen<br />
Häuser. Wissen Sie, was ein Zweieinhalb-Familienhaus<br />
ist? Ich konnte mir darunter nichts vorstellen.<br />
Also musste ich versuchen, Bilder von diesen Häusern<br />
aufzutreiben. Da aber in Amerika die Häuser nach ein<br />
paar Jahrzehnten abgerissen und neu gebaut werden,<br />
hat sich das schwierig gestaltet.»<br />
Ein weiterer Kultur spezifi scher Aspekt, der sich hier<br />
allerdings durch das ganze Buch zieht und sich nicht nur<br />
auf eine einzelne Passage beschränkt, wie es bei «Der<br />
menschliche Makel» der Fall war, ist die Problematik der<br />
Deutschen Sprache der Kriegszeit. Denn die Geschichte<br />
lebt im Original dadurch dass sie von einem amerikanischen<br />
Jungen, der in Amerika lebt im Amerikanischen<br />
erzählt wird. In der Übersetzung allerdings wird die<br />
Geschichte von einem amerikanischen Jungen, der in<br />
Amerika lebt im Deutschen, und somit in der Sprache<br />
des Feindes erzählt. Besonders auffallend ist dabei, dass<br />
der kleine Philip nicht nur, für uns «normales» Deutsch<br />
spricht, sondern Wörter wie Rasse, Volk und Heimat<br />
verwendet. Wörter, die wir mit Deutschem Kulturhintergrund<br />
ganz klar nicht mehr benutzen, weil sie von Hitler<br />
so überstrapaziert wurden und heute sehr negativ besetzt<br />
sind. Hier ist es also ein ganz klarer Verdienst des<br />
Übersetzers, dass die Geschichte mit dem Sprachenwechsel<br />
nicht an Glaubwürdigkeit verliert. Denn beim<br />
Lesen des Romans wird man sich dessen gar nicht bewusst.<br />
Erst später, wenn man über das Gelesene nachdenkt,<br />
fällt es auf.<br />
Traumjob? Alles Kleinigkeiten, mag man denken,<br />
doch gerade diese entscheiden, ob eine Übersetzung<br />
gut ist oder nicht. Deshalb war es trotz Schmitz’ Vorkenntnissen<br />
für ihn unerlässlich, etwa Reden und die<br />
Biographie von Charles Lindbergh zu lesen, dem Fliegerpionier<br />
und Herausforderer von Roosevelt bei der<br />
Präsidentschaftswahl von 1940. Dieser ist in «Verschwörung<br />
gegen Amerika» nämlich eine von Roth’ Hauptfi guren.<br />
Die Aufgabe des Literaturübersetzers besteht also<br />
darin, eine Geschichte in eine andere Mentalität, in eine<br />
andere Kultur zu übertragen. Ein sehr komplexer Prozess,<br />
der mit vielen Vorgaben und Einschränkungen verbunden<br />
ist. Trotzdem wird die Arbeit des Übersetzers<br />
von der Öffentlichkeit in den wenigsten Fällen gewür-<br />
digt, in Buchbesprechungen werden sie selten erwähnt.<br />
Dazu Werner Schmitz: «Vielleicht wäre das auch nicht<br />
klug. Man kann darauf hinweisen. Aber oftmals haben<br />
Literaturkritiker auch nicht die nötigen Kompetenzen,<br />
um das zu beurteilen.»<br />
Zur Geschichte - Was wäre wenn? Philip Roth wagt<br />
in «Verschwörung gegen Amerika» ein historisches Experiment<br />
mit Folgen. Einmal mehr brillant.<br />
1940. Charles Lindbergh, der berühmte Pilot, der<br />
aber gleichzeitig Antisemit und Faschist ist, fordert<br />
Franklin D. Roosevelt bei den Präsidentschaftswahlen<br />
heraus – und gewinnt unerw<strong>art</strong>et. Hitler lädt den neuen<br />
Präsidenten nach Deutschland ein, wo dieser einen<br />
Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland unterzeichnet.<br />
Kurz darauf kommt es in Amerika zu ersten antisemitischen<br />
Ausschreitungen, die die Juden in Angst und<br />
Schrecken versetzen.<br />
In der Summit Avenue in Newark hingegen lebt der<br />
sieben Jahre alte Philip Roth ein ganz normales Leben.<br />
Mittelpunkt ist dabei seine über alles geliebte Briefmarkensammlung,<br />
die ihn überall hin begleitet. Erst als er<br />
sich mit der Ohnmacht seines Vaters gegenüber der Bedrohung<br />
konfrontiert sieht, wird auch dem unbeschwerten<br />
Philip klar, dass hier etwas Gewaltiges im Gange ist.<br />
Die einst so glückliche Familie zerbricht langsam.<br />
«Verschwörung gegen Amerika» beginnt eigentlich mit<br />
einer ganz harmlosen Frage: Was wäre gewesen wenn?<br />
Der in Amerika geborene Jude Philip Roth spinnt aus<br />
einer anfänglich kühnen Idee eine glaubwürdige Geschichte,<br />
die, im Nachhinein betrachtet, sehr gut auch<br />
wirklich so hätte geschehen können. Dabei erzählt der<br />
72Jährige aus der kindlich-naiven Sicht seines 7-jährigen<br />
Alter-Ego, aber mit dem Vokabular und den geistigen<br />
Fähigkeiten eines Intellektuellen. Ein Kunstgriff,<br />
von dem man sich schnell einlullen lässt. Langsam und<br />
schleichend lässt hier einer der besten Erzähler Amerikas<br />
den Faschismus wirken und porträtiert gleichzeitig<br />
das Bild eines Landes, das dem heutigen Amerika unter<br />
George W. Bush gefährlich nahe kommt.<br />
Philip Roth: «Verschwörung gegen Amerika». Roman,<br />
Hanser Verlag, 431 Seiten, Fr. 44.50.
ISABELLE LÜTHY<br />
die magie<br />
der puppen<br />
■ Ein üppiges Festmahl ist im Gange. Damen und Herren<br />
sind in ihren schönsten Gewändern erschienen. Musik<br />
erklingt. Man prostet sich zu, es wird gelacht, gesungen<br />
und getanzt. Der Wein fl iesst in immer grösseren<br />
Mengen. Was mit zärtlichen Umarmungen beginnt, wird<br />
alsbald zu einem Knäuel der Wolllust. Einzig „Jedermann“<br />
ist nicht zum Feiern zu Mute. Geplagt von Visionen,<br />
sieht er seine Freunde bald im Totenhemd, bald<br />
hört er Glockenklingen und eine schauerliche Stimme<br />
seinen Namen rufen. – Der Tod tritt auf die Bühne. – Im<br />
«Theater vis à vis» sind die letzten Proben des Klassikers<br />
„Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal zugange.<br />
Darsteller: Jedermann (Frank Demenga) und die<br />
Puppenbühne Demenga / Wirth.<br />
Monika Demenga und Hans Wirth sind während des<br />
grössten Teils der Vorstellung für das Publikum sichtbar.<br />
Sie halten die Tischfi guren direkt in der Hand, an<br />
einem kurzen horizontalen Stab, der im Schulterbereich<br />
der Puppe befestigt ist. Dennoch wird ihre Anwesenheit<br />
auf der Bühne praktisch nicht wahrgenommen. Die Aufmerksamkeit<br />
des Publikums fokussiert sich auf die Figuren<br />
und ihre Bewegungen.<br />
Was auf der Bühne so leicht und graziös aussieht, ist<br />
das Ergebnis einer langen Vorbereitungszeit. Ein halbes<br />
Jahr dauert es, bis ein neues Stück steht, bis Figuren<br />
und Kostüme hergestellt, die Stimmen auf Band gesprochen,<br />
die Bewegungen einstudiert und die ganze Choreografi<br />
e mit Licht und Ton abgestimmt ist. Die Stücke<br />
stammen oft aus der eigenen Feder. Auch die Figuren<br />
kreiert Monika Demenga selbst. Die Kostüme schneidert<br />
sie gemeinsam mit Maja Beck. Für die Mechanik der Figuren<br />
ist Hans Wirth zuständig. Für jedes Stück werden<br />
neue Figuren gestaltet. «Während des Herstellungsprozesses<br />
gibt es immer wieder diesen magischen Moment,<br />
an dem die Puppen plötzlich ein Eigenleben bekommen<br />
und zu Persönlichkeiten werden», erzählt Monika Demenga.<br />
Weit über hundert Figuren hat sie bisher geschaffen,<br />
die jetzt in Koffern und Kisten schlafen oder<br />
die Wände des Ateliers zieren.<br />
Die Verbindung von schauspielerischen und bildnerischen<br />
Elementen hat Monika Demenga schon immer<br />
fasziniert. Nach der Schauspielschule absolvierte sie<br />
die Kunstgewerbeschule und nahm Kurse am Institut<br />
für Puppenspiel in Bochum. Seit 36 Jahren arbeitet sie<br />
nun schon als Puppenspielerin. Ein Beruf, den man nach<br />
einem Arbeitstag nicht einfach ablegen könne, sondern<br />
der «hundert Prozent Herzblut» erfordere. 1968 gründete<br />
sie die Puppenbühne, zu der Hans Wirth 1977 – mehr<br />
«aus Zufall und Neugierde» – als fester P<strong>art</strong>ner beitrat.<br />
Seit 1992 führen sie zusammen das «Berner Puppentheater»<br />
sowie, seit 1999, das «Theater vis à vis».<br />
Nach der Aufführung gibts Kaffee. «Auf der Bühne<br />
ist es unglaublich heiss», seufzt Monika Demenga und<br />
reibt sich die Arme. Das Spiel mit den Puppen ist an-<br />
strengend und erfordert höchste geistige und körperliche<br />
Konzentration. Anders als beim gewöhnlichen<br />
Theater wird hier die ganze physische Präsenz in die<br />
Fingerspitzen gelegt. Der Puppenspieler fungiert quasi<br />
als Übersetzer. Mit präzisen Handbewegungen überträgt<br />
er Gefühle, Stimmungen oder Charaktereigenschaften<br />
der Puppen in Bewegungen und macht sie so für die<br />
Zuschauer sichtbar. Der Unterschied zwischen Theater<br />
und Puppenspiel sei vergleichbar mit dem zwischen einem<br />
Sänger und einem Geiger, erläutert Regisseur Jiri<br />
Ruzicka. Der Sänger brauche nur seine eigene Stimme,<br />
der Geiger jedoch bringe die Geige indirekt durch die<br />
Bewegung des Bogens zum Klingen.<br />
Eine Frage brennt auf der Zunge: Welche Bedeutung<br />
kommt dem Puppentheater in unserer digitalisierten<br />
Welt zu?<br />
Für Monika Demenga beginnt das Puppentheater<br />
dort, wo das Menschentheater an seine Grenzen stösst<br />
– im Bereich des Märchenhaften und Magischen. «Das<br />
Spiel mit Figuren ist das ideale Medium, um die Magie<br />
des Irrealen darzustellen, um Steine und Tiere sprechen<br />
zu lassen, um Feen, Zauberer und Hexen zum Leben zu<br />
erwecken.» Das Puppenspiel spreche unsere urmenschliche<br />
Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen und Übernatürlichen<br />
an. Dem fügt Hans Wirth hinzu: «Gerade in der<br />
heutigen Zeit, in der alles sehr hektisch und laut zu und<br />
her geht und wir von medial vermittelten Inhalten überfl<br />
utet werden, hat die unmittelbare Art des Figurenheathers<br />
eine besondere Anziehung.» Es spreche nicht nur<br />
den Intellekt und das Gefühl, sondern auch das ästhetische<br />
Empfi nden des Zuschauenden an. Dieses Empfi nden<br />
zu fördern, sei für ihn als Puppenspieler ein sehr<br />
wichtiges Anliegen: «Puppenspiel ist auch Seelennahrung»,<br />
betont Wirth. Es sei immer wieder erstaunlich,<br />
was für eine Magie eine Figur entwickle. Vieles geschehe<br />
nicht auf der Bühne selbst, sondern in den Köpfen<br />
der Zuschauenden. Die Figuren lassen Raum für eigene<br />
Phantasien und Projektionen. Wirth erzählt, schon oft<br />
seien Kinder nach der Vorstellung zu ihm hinter die Bühne<br />
gekommen und wollten wissen, wie er die Puppe zum<br />
Weinen gebracht habe: «Kinder nehmen Solches wirklich<br />
wahr, obwohl es auf der Bühne nicht stattfi ndet.»<br />
B Ü H N E 11<br />
Das seien die magischen Moment, wenn eine Puppe in<br />
den Augen des Publikums zu weinen beginne.<br />
Für die Zukunft hat die Puppenbühne Demenga /<br />
Wirth noch einiges vor. An neuen Ideen und Projekten<br />
mangelt es nicht. Man wolle auch weiterhin gutes Theater<br />
machen und dem Publikum den Reichtum und die<br />
Vielfalt des Figurentheaters näher bringen. Es sei leider<br />
immer noch oft so, dass das Puppentheater aus Unwissenheit<br />
belächelt und als Kinderkram abgetan werde.<br />
Wer allerdings selbst einmal eine Aufführung gesehen<br />
hat, ist begeistert.<br />
Programm<br />
Jedermann (Puppenbühne Demenga/Wirth)<br />
Fr 4. Nov. 20.15 Uhr<br />
Sa 5. Nov. 20.15 Uhr<br />
Fr 11. Nov. 20.15 Uhr<br />
So 13. Nov. 17.00 Uhr<br />
Fr 18. Nov. 20.15 Uhr<br />
So 20. Nov. 17.00 Uhr<br />
Fr 25. Nov. 20.15 Uhr<br />
1 + 1 = Kofsalat (Figurentheater Lupine)<br />
Mi 2. Nov. 14.30 Uhr<br />
Sa 5. Nov. 14.30 Uhr<br />
So 6. Nov. 10.30 Uhr<br />
Zwerg Nase (Puppenbühne Demenga/Wirth)<br />
Mi 9. Nov. 14.30 Uhr<br />
Sa 12. Nov. 14.30 Uhr<br />
So 13. Nov. 10.30 Uhr<br />
Mi 16. Nov. 14.30 Uhr<br />
Sa 19. Nov. 14.30 Uhr<br />
So 20. Nov. 10.30 Uhr<br />
Mi 23. Nov. 14.30 Uhr<br />
Sa 26. Nov. 14.30 Uhr<br />
So 27. Nov. 10.30 Uhr<br />
Reservation:<br />
Telefon: 031/ 311 95 85 von Di - Sa 13.30 bis 17.30 Uhr<br />
- Tageskasse 1/2 Stunde vor Vorstellungsbeginn
«afrique noire.<br />
urbane zeitgenössische<br />
kultur aus ouagadougou,<br />
cotonou, kinshasa<br />
und jo‘burg».<br />
3. – 13. november 2005
Bild: zVg. / Nelisiwe Xaba<br />
■ Zum dritten Mal steht Bern im Zeichen zeitgenössischer<br />
Kultur made in Africa: Das Schlachthaus Theater<br />
präsentiert mit «Afrique noire III» während 11 Tagen<br />
sensible und radikale Kunstproduktionen aus afrikanischen<br />
Grossstädten. Im Zentrum stehen Theater und<br />
Tanz, doch gibt es viele Ausfl üge in die verschiedensten<br />
Sp<strong>art</strong>en. Wichtiger Bestandteil des Programms<br />
bilden Diskussionen mit den KünstlerInnen sowie drei<br />
Podiumsgespräche. Mittags bieten «Homestories» in<br />
intimer Atmosphäre die Möglichkeit des persönlichen<br />
Austauschs, jeden Abend wird gemeinsam getafelt.<br />
Theater «Omon-mi» (Mein Kind) heisst das neuste<br />
Stück von Ousmane Aledji. Thema ist die Auseinandersetzung<br />
mit der in Schwarzafrika häufi g fast uneingeschränkten<br />
elterlichen Gewalt. Entstanden ist ein tänzerisches,<br />
theatrales und musikalisches Gesamtkunstwerk,<br />
das in diesen Tagen in Cotonou Premiere feiert. Bewusst<br />
verwendet der aus der Yoruba Kultur stammende Regisseur<br />
dabei zum ersten Mal die indigenen Sprachen<br />
seines und weiterer Völker Bénins.<br />
Zum dritten Mal fanden letzten Herbst in Ouagadougou<br />
die «Récréâtrales» statt, ein Festival, das<br />
gleichzeitig auch eine Produktionsplattform bildet und<br />
sich um die Weiterbildung der Theaterschaffenden<br />
kümmert. Dabei entstand von dem aus dem Niger stammenden<br />
Autoren Alfred Dogbé eine Adaptation von<br />
Shakespeares «Richard III», in einer Inszenierung der<br />
Schweizer Regisseurin Barbara Liebster. Gespielt wird<br />
das Stück von einem gemischten Ensemble aus sieben<br />
westafrikanischen Ländern.<br />
Weiter sind zwei Solos zu sehen: Alfred Dogbé hat<br />
mit «Tiens bon, Bonkano» einen furiosen Monolog eines<br />
Bettlers verfasst. Ein Stück das sich nicht nur mit dem<br />
individuellen Betteln befasst, sondern auch mit scharfem<br />
Blick die Beziehungen zwischen dem Norden und<br />
Süden aufs Korn nimmt.<br />
Aka Simon aus der Elfenbeinküste begibt sich in «Die<br />
Legende des Santiago» nach Paulo Coelho auf Schatzsuche<br />
und erkundet die weite Welt.<br />
Tanz Er gehört unterdessen zu den gefragtesten<br />
Choreografen weltweit: der Südafrikaner Boyzie Cekwana.<br />
Wie nur wenigen anderen KünstlerInnen gelingt es<br />
ihm politisch aktuelle Fragestellungen in ästhetisch hinreissende<br />
Tanzstücke zu fassen. Dies bewies er dieses<br />
Frühjahr mit seinem neusten Werk «Cut!!».<br />
Ebenfalls aus Südafrika kommt die Choreografi n Robin<br />
Orlyn. Sie hat mit der aus Bénin stammenden Tänzerin<br />
Sophiatou Kossoko das Solo «...although I live inside...<br />
my hair will always reach towards the sun...» kreiert.<br />
Eine der herausragenden Figuren der boomenden Tanzszene<br />
West- und Zentralafrikas ist der Kongolese Faustin<br />
Linyekula. Seine radikalen Performances sorgen für<br />
heftige Kontroversen. Im Juni dieses Jahres erhielt er<br />
ein «C<strong>art</strong>e blanche» am Centre national de danse in Paris.<br />
Er konnte zehn junge afrikanische ChoregrafInnen<br />
seiner Wahl einladen. Bei «Afrique noire» stellen wir<br />
drei dieser Arbeiten vor.<br />
Nouveau Cirque Seit vier Jahren arbeitet die Basler<br />
Gruppe Cirqu’enfl ex regelmässig in Südafrika und<br />
baut mit arbeitslosen Jugendlichen die Gruppe Sirkona<br />
auf. Ziel ist es, über diesen Zeitraum die angehenden<br />
Artistinnen zu einer qualitativ hochstehenden Gruppe<br />
auszubilden. Das Resultat dieser Arbeit ist nun erstmals<br />
in Europa zu sehen: «Dreamfl yer» ist die gelungene<br />
Zusammenführung afrikanischer Tradition mit europäischer<br />
Kultur.<br />
Musik Eine grosse Stimme aus Südafrika wird den<br />
Abschluss des Festivals bestreiten: Busi Mhlongo hat<br />
die traditionsreiche Zulu-Musik ihrer Heimat in die Welt<br />
hinausgetragen, und verleiht ihr gleichzeitig einen urbanen,<br />
frischen und aufregenden Geschmack. Busi und<br />
ihre achtköpfi ge Band spielen vielfältig vibrierende<br />
Afro-Rythmen, denen es weder an Jazz noch an Funk<br />
fehlt. In einem 2. Konzert wird der Multiinstrumentalist<br />
Tim Winsé das Traditionsinstrument «l’Arc à bouche»<br />
modern interpretieren.<br />
Literatur Mit Fatou Diome ist eine junge, vielversprechende<br />
Schriftstellerin in Bern zu Gast. Ihr 2004<br />
erschienener Roman «Der Bauch des Ozeans» erzählt<br />
von den Träumen und Enttäuschungen senegalesischer<br />
Einwanderer – und brachte Fatou Diome auf Anhieb in<br />
die Champions League der erfolgreichen AutorInnen.<br />
Film In den 90er Jahren ist in Nigeria eine Filmindustrie<br />
– genannt Nollywood, in Anlehnung an andere<br />
grosse Filmmekkas – entstanden, die heute 300 000<br />
Personen beschäftigt und bis 1200 Videofi lme pro Jahr<br />
hervorbringt. Vom abgefi lmtes Wandertheater bis zum<br />
Horror-Melodrama wird alles produziert und bis weit<br />
über die Landesgrenzen hinaus verkauft. Der Nollywood<br />
Spezialist Babson Ajibade von der Universität Basel hat<br />
für «Afrique noire» eine Videoauswahl zusammen gestellt,<br />
welche er mit einer Einführung im Schlachthaus<br />
Theater vorführen wird.<br />
Specials Als Artist in residence wird der südafrikanische<br />
Designer und Herausgeber Peet Pienaar, Gründer<br />
und künstlerischer Kopf der Agentur «Daddy buy me a<br />
pony» für drei Wochen nach Bern kommen. Eine Werkausstellung<br />
mit dem Titel «How to avoid corner corner<br />
love and win good love from girls» wird im PROGR zu<br />
sehen sein.<br />
Do 3.11.<br />
19:00 Peet Pienaar Design - Vernissage im PROGR.<br />
Ausstellung vom 3.11. bis 4.12.05<br />
20:30 Theatre Agbo-N’koko «Omon-mi»<br />
Theater, Schlachthaus Theater<br />
Fr 4.11.<br />
19:30 Cie Falinga und Cie Liebster «Richard III»<br />
Theater, Dampfzentrale<br />
22:00 «norient_s african clubnight» Funmi Adewole,<br />
DJ Bro’Max Clubnight, Dampfzentrale<br />
Sa 5.11.<br />
17:30 «Zeitgenössische Dramatik in West- und Zentralafrika»<br />
Diskussion, Schlachthaus Theater<br />
20:30 Théâtre Agbo-N’koko «Omon-mi»<br />
Theater, Schlachthaus Theater<br />
22:30 Tim Winsé, Sounds, Schlachthaus Theater<br />
V E R A N S T A L T E R<br />
So 6.11.<br />
17:00 Tropic Expression «La légende de Santiago»<br />
Theater, Schlachthaus Theater<br />
19:00 Arène Théâtre «Tiens bon, Bonkano!»<br />
Theater, Schlachthaus Theater<br />
Mo 7.11.<br />
19:00 «Videos aus Nollywood»<br />
Film, Schlachthaus Theater<br />
Di 8.11.<br />
19:30 Boyzie Cekwana The Floating Outfi t Project<br />
«Cut!!»<br />
Tanz, Dampfzentrale<br />
Mi 9.11.<br />
20:00 Fatou Diome Literatur, Kornhaus Bibliothek<br />
Do 10.11.<br />
19:30 Boyzie Cekwana The Floating Outfi t Project<br />
«Cut!!»<br />
Tanz, Dampfzentrale<br />
13<br />
Fr 11.11.<br />
17:30 «Grafi k und Kommunikation im Umgang mit<br />
Afrika»<br />
Diskussion, PROGR<br />
19:30 Studios Kabako: Papy Ebotani und Djodjo Kazadi<br />
«Ya biso» / Nelisiwe Xaba «Plasticization» /<br />
Gaby Saranouffi und Cie Vahinala «Soritra»<br />
Tanz, Dampfzentrale<br />
22:00 Sophiatou Kossoko / Robyn Orlin « …although<br />
I live inside… my hair will always reach towards<br />
the sun… »<br />
Tanz, Schlachthaus Theater<br />
Sa 12.11.<br />
17:30 «Zeitgenössischer Tanz und politische Stellungnahme»<br />
Diskussion, Dampfzentrale<br />
19:30 Sirkona «Dreamfl yer» Zirkus, Dampfzentrale<br />
21:00 Studios Kabako: Papy Ebotani und Djodjo Kazadi<br />
«Ya biso» / Nelisiwe Xaba «Plasticization» /<br />
Gaby Saranouffi und Cie Vahinala «Soritra»<br />
Tanz, Dampfzentrale<br />
23:00 DJ Ben E Disco, Dampfzentrale<br />
So 13.11.<br />
17:30 Sirkona «Dreamfl yer» Zirkus, Dampfzentrale<br />
21:00 World Women Voices Busi Mhlongo<br />
Sounds, PROGR<br />
Ausserdem:<br />
«Homestories», Schlachthaus Theater<br />
Fr 4., Mo 7., Di 8., Mi 9., Do 10., Fr. 11.11. jeweils<br />
um 12:30
14 M U S I K<br />
KATHRINA VON WARTBURG<br />
bern rocks?<br />
■ P<strong>art</strong>erre, Donnerstag abend, 22:00: die kleine Bar an<br />
der Länggasse ist zum Bersten voll, man steht sich auf<br />
den Füssen, schüttet sich Wein auf die Hosen, schaut<br />
gespannt zur Bühne; dort, zum Greifen nah so klein ist<br />
der Raum, stehen drei Jungs, die gleich mit Zigeunermusik<br />
aus dem Balkan einheizen werden. In breitem<br />
Berndeutsch stellen sie sich vor - aber die meisten hier<br />
kennen sowieso im mindesten einen der drei. Lokalmatadoren,<br />
wenn auch mit jugoslawischem Einfl uss. Egal:<br />
Willkommen in der Rockstadt Bern.<br />
Bern, früher das Zentrum einheimischen Schaffens;<br />
«we‘d gross wosch usecho, de bruchsch e Bärner<br />
i r Bänd», sang Polo noch vor ein paar Jahren. Nun, im<br />
Rahmen des neuen Kulturleitbildes, stellt sich die Frage<br />
nach dem Jetzt; was wird getan; was muss getan werden.<br />
Und wo steht die Stadt in Sachen Rock? Denn - unter<br />
bewusster Ausklammerung aller Vorbehalte seitens<br />
einiger Kulturschaffenden, dass nämlich Rockmusik zu<br />
kommerziell, zu populär und folglich nicht kulturell sei<br />
- Pop/Rockmusik ist Teil der Kultur und wirkt identitätsstiftend.<br />
«Pop/Rock schafft Szenen regionaler Prägung.<br />
Berner Rock klingt anders als Basler Rock. Die Zugehörigkeit<br />
zu diesen regionalen Szenen stiftet Identität<br />
- für Musiker und Publikum» schreibt Bruno M<strong>art</strong>y, Geschäftsleiter<br />
von Action Swiss Music im Musikbericht<br />
2003.<br />
Zweifelsohne; und Bern war eine der ersten Schweizer<br />
Städte, die das erkannt hat. MItte der 1980er Jahre<br />
wurden im Kino Splendid Rocknächte organisiert. Es<br />
gab die 5-Liber-Konzerte, die es einem grossen Publikum<br />
ermöglichten, Berner Bands für wenig Geld zu<br />
sehen. Und diesen, vor einem grösseren Publikum zu<br />
spielen. Nach Klassik und Jazz wurde nun endlich auch<br />
die Rockförderung ein kulturpolitisches Thema. Davon<br />
profi tierten nicht zuletzt Bands wie Züri West, Patent<br />
Ochsner, oder Stiller Has. Sicher, dass sind klingende<br />
Namen, Musiker die - offensichtlich - den Qualitätsansprüchen<br />
der Kulturpolitik als auch dem Publikum genügen<br />
konnten und können. Allein: auch sie waren einmal<br />
unbekannt. Zu jener Zeit boten auch private Veranstalter<br />
Raum für aufstrebende, talentierte Berner Musiker.<br />
Die Rocknächte im Bierhübeli oder - noch früher - in der<br />
inneren Enge zum Beispiel. Einig sind sich die Beteiligten,<br />
von Promotern über Kulturförderer bis hin zu den<br />
Veranstaltern: früher war es einfacher. Für Veranstalter<br />
unbekannte Gruppen spielen zu lassen; für diese auch<br />
ohne kulturpolitische Unterstützung durchzukommen;<br />
für Radiomoderatoren zwischen internationalen Megastars<br />
auch ‚mal ein Demotape einer skurilen nationalen<br />
Band über den Äther laufen zu lassen. Heute wird<br />
sogar Patent Ochsner, als Live-Band ein Selbstläufer mit<br />
nationalem Bekanntheitsgrad, von den Bernern Lokalradios<br />
nur noch viermal die Woche gespielt.<br />
Das seufzendes Grossmutter-Statement im Ohr,<br />
fragt man sich: was ist passiert? Haben wir etwa keine<br />
förderungswürdigen Talente mehr? Haben die zahlrei-<br />
Bild: Liebi, Tod + Tüüfu - Patent Ochsner<br />
chen Talentshows, die importierte Rockgirlies und Boybands<br />
auch die hiesigen Gruppen der Beliebigkeit unterworfen,<br />
sie austauschbar gemacht? Peter Schranz, der<br />
seit mehr als 15 Jahren für die Förderung von Rock- und<br />
Popmusik seitens der Stadt zuständig ist, widerspricht:<br />
«Das Niveau der Gesuchsteller ist heute viel höher als<br />
noch vor 10 Jahren. Aber auch die Professionalitätsansprüche<br />
sind gestiegen, es herrscht ein knallh<strong>art</strong>er<br />
Wettbewerb».<br />
An Konzertbühnen mangelt es in Bern nicht. ISC,<br />
Bierhübeli, Wasserwerk, Mahogany Hall, Dampfzentrale,<br />
Dachstock, Gaskessel, Progr; zahlreiche Möglichkeiten<br />
also aufzutreten. Zudem zeigt das eingangs erwähnte<br />
Beispiel der Bar P<strong>art</strong>erre, dass es im Prinzip jedem<br />
Gastgewerbebetrieb möglich ist, eine Bühne aufzustellen<br />
und jemanden spielen zu lassen. Sofern die gesetzlichen<br />
Bestimmungen zu Lärmschutz und zur Schall- und<br />
Laserverordnung eingehalten werden, braucht es dazu<br />
keine Sonderbewilligung. Bern also als New Orleans der<br />
Schweiz, wo in jeder schummrigen Bar noch eine Band<br />
den Blues spielt? Mitnichten. Das P<strong>art</strong>erre bestätigt als<br />
Ausnahme eher die Regel: keine Bar-Musikspiel-Kultur<br />
hierzulande. Für jene Veranstalter, die den Konzertbetrieb<br />
als Teil ihres Programms ansehen, sind die Zeiten<br />
alles andere als rosig. «Konzerte in einem kleinen Lokal<br />
wie dem ISC sind immer Verlustgeschäfte» sagt Frank<br />
Lenggenhager vom ISC. «Nur dank der Einnahmen<br />
unserer Discoveranstaltungen können wir die Kosten
überhaupt decken.» Live-Musik wird folglich mehr als<br />
Kultursponsoring und Imagepfl ege denn als gewinnbringendes<br />
Geschäft angesehen. Zwar bietet die Stadt eine<br />
Defi zitgarantie von bis zu 2000 sFr. pro Anlass sofern<br />
mindestens zwei Berner Bands auftreten. Von den Veranstaltern<br />
werden die Kriterien allerdings als zu starr<br />
empfunden, ausserdem ziehen sie es vor, unabhängig<br />
zu bleiben. Im letzten Jahr bezogen einzig die Dampfzentrale<br />
und Appalooza (Bierhübeli) Kredite. Viele Clubs<br />
richten sich vermehrt international aus, Schweizer- bzw.<br />
Berner Bands versucht man - wenn überhaupt - als Support<br />
Act einzubinden. Aber auch das Publikum lässt sich<br />
nicht mehr auf Unbekanntes ein. Man besucht meist nur<br />
noch Konzerte von Bands, die man kennt und mag; eine<br />
Ausgehkultur der Konzertbesuche existiert kaum mehr.<br />
Früher ging man eben am Donnerstag an die Rocknacht<br />
im Bierhübeli ohne sich um den Namen der spielenden<br />
Band zu kümmern. Schwierig also, für unbekannte lokale<br />
Talente, ein grösseres Publikum auf sich aufmerksam zu<br />
machen. Schwierig - aber nicht chancenlos. Es wird natürlich<br />
versucht, auch unbekannten Gruppen Auftrittsmöglichkeiten<br />
zu bieten. Sofern die Qualität stimmt, der<br />
Musikstil zum Club passt und eine Band eine gewisse<br />
Bühnenpräsenz markieren kann, wird sie es vielleicht<br />
sogar auf eine grösserer Bühne schaffen. Arci Friede<br />
vom Wasserwerk empfi ehlt, die ersten Konzerte selber<br />
zu organisieren. «Wer ein fi nanzielles Risiko trägt, wirbt<br />
effi zienter und mehr» meint er. Dadurch schafft sich die<br />
Band eine Hörgemeinde und fällt den potentiellen Veranstaltern<br />
auf. Funktioniert durchaus wie die Beispiele<br />
von Skaladdin oder den Chocolate Rockets zeigen: Letztere<br />
organisierten ihre erstes Konzerte selbständig, im<br />
März diesen Jahres hatten sie Plattentaufe im Wasserwerk,<br />
es folgten zahlreiche Gigs in der Schweiz; derzeit<br />
touren sie in Deutschland.<br />
Seitens der Stadt versucht man, jungen Musikgruppen<br />
zusätzlich St<strong>art</strong>hilfe zu geben. Das Förderungsmodell<br />
«Musik der Jungen», welches seit 1989 von Peter<br />
Schranz geleitet wird, bietet neben einer kostenlose<br />
(aber nicht mehr viel genutzten) Beratungsstelle fi nanzielle<br />
Unterstützung bei CD-Produktionen und Tonträger<br />
zu Promotionszwecken. Ausserdem werden Projektbeiträge<br />
gesprochen und Veranstalter mit Defi zitdeckungsbeiträgen<br />
unterstützt, sofern am organisierten Anlass<br />
mindestens zwei Berner Gruppen auftreten. Der Begriff<br />
Rock/Pop ist dabei im weitesten Sinne als Abgrenzung<br />
zu Klassik, Jazz oder Volksmusik zu verstehen. Während<br />
früher vor allem Rockgruppen Gesuche stellten und Unterstützung<br />
erhielten, sind heute zahlreiche verschiedene<br />
Bereiche, von HipHop bis Elektronik vertreten. Ziel<br />
ist einerseits eine breite Berner Szene zu fördern, andererseits<br />
einzelnen herausragenden Bands wie Lunik<br />
oder - zu früheren Zeiten - Züri West zum Sprung auf<br />
nationales Niveau zu verhelfen. Die Förderung ist insofern<br />
nicht als Hitschmiede zu verstehen. «Wir unterstützen<br />
in der Regel eins bis zwei CD-Produktionen einer<br />
Gruppe, danach muss sie sich die eigenständig auf dem<br />
Markt behaupten können» sagt Peter Schranz. «Einige<br />
Bands werden dann schnell zu Selbstläufern, spielen<br />
mit ihrer Platte genug Geld ein um dann auf eigenen<br />
Füssen und ohne stadtliche Unterstützung ihren Weg zu<br />
gehen»<br />
Dennoch - wirft man eine Blick über die Kantonsgrenzen<br />
hinaus, so wird deutlich, dass andere Städte<br />
in Sachen Rockförderung aufgeholt haben. In Basel<br />
beispielsweise fungiert der Rockförderverein als zentrale<br />
Anlaufstelle für Bands, als Bindeglied zwischen<br />
Medien, Veranstaltern, Studios und Bands und als Organisator<br />
diverser Bandwettbewerbe. «Sprungbrett»,<br />
«Strampolin»,»Basler Bands goes CH» sind solche Veranstaltungen,<br />
dem Sieger winken Plattenvertrag oder<br />
fi nanzielle Unterstützung für die Tournee. Lovebugs<br />
sind die bekanntesten Gewinner. Der<strong>art</strong>ige Möglichkeiten<br />
fehlen in Bern. Für Peter Schranz sind Wettbewerbe<br />
als Förderungsmassnahme eher ungeeignet, da es jeweils<br />
nur einen Sieger gäbe und alle anderen leer ausgingen.<br />
Allerdings räumt er ein, dass dem Rock in Bern<br />
eine Trägerschaft fehlt, die systematisch Konzertreihen<br />
veranstaltet. Und innovative Konzepte seitens der Veranstalter<br />
seien auch immer seltener.<br />
Bern, beklagte der Bund vor kurzer Zeit, hätte als<br />
Rockstadt ausgedient und sei bei internationalen Bands<br />
und Labels verfemt. Mag sein. Statt über die Grenzen<br />
hinaus, werfe man den Blick aber lieber auf das regionale<br />
musikalische Schaffen Denn gerockt wird immer<br />
und an Talent mangelt es auch nicht. Vielleicht schaffen<br />
es ein paar Bars, demnächst eine Bühne aufzustellen<br />
und eine Band zwei Wochen lang spielen zu lassen.<br />
Vielleicht schafft es die Stadt, eine zentrale Anlauf- und<br />
Beratungsstelle einzurichten. Und vielleicht schafft es<br />
der Leser am nächsten Donnerstag ins P<strong>art</strong>erre und<br />
sich auf völlig Unbekanntes einzulassen. Nur so, um der<br />
Musik willen.<br />
WIE MAN‘S MACHT<br />
– SKALADDIN<br />
15<br />
■ Dass die Stadt gute Bands hat, und dass diese<br />
auch auf eigene Faust und ohne grosse Unterstützung<br />
weit kommen, beweisen die Ska-Punker Skaladdin.<br />
Am Anfang war die Idee. Eine bunt gemischte<br />
Truppe mit unterschiedlichen Qualifi kationen und<br />
Ambitionen und einem Gedanken: mit Ska-Punk die<br />
Bühne rocken. Man spielte Coverversionen ein und<br />
arbeitete hin zum ersten «grossen» Auftritt an einer<br />
Geburtstagsfete. Zwar erklangen da noch einige<br />
schiefe Töne, die Show aber kam sehr gut an und die<br />
Band wusste: das ist es. Man übte, spielte im Jugendkulturzentrum<br />
Hinterkappelen, im Gaskessel, nahm<br />
teil an einem Bandwettbewerb an dem jede Gruppe<br />
ihre Tickets selber verkaufen musste. «Jedes Konzert<br />
brachte uns wieder neue Kontakte zu anderen<br />
Ska-Bands, neues Publikum» erzählt Phillip, Saxaphonist<br />
bei Skaladdin. Als Lückenbüsser schaffte<br />
es die Band dann mit ihrem ersten eigene Song auf<br />
einen Sampler, herausgegeben von Leech-Records,<br />
dem Schweizer Ska Label. Das war nicht nur der Türöffner<br />
für ausserkantonale Konzerte sondern auch<br />
der St<strong>art</strong>schuss zu eigenem Songmaterial. Über das<br />
Label knüpfte die Band nun Kontakte zu ausländischen<br />
Bands und fi ng an, für diese Konzerte in der<br />
Schweiz zu organisieren; mit sich als Support-Act.<br />
Dennoch wollte Leech-Records die erste CD nicht<br />
produzieren, versprach aber mit Beratung zur Seite<br />
zu stehen. So produzierte die Band 2001 ihre erste<br />
Platte «Rub the Lamp» beim eigenen Label Pimp Records,<br />
fi nanzierte sie durch Konzertaufnahmen und<br />
st<strong>art</strong>ete eine Webauftritt. Die Plattentaufe im Uptown<br />
wurde ein voller Erfolg und ermöglichte 2002<br />
einen Auftritt als Opener am Gurtenfestival. Auch für<br />
die folgende Tour organisierte Skaladdin alle Konzerte<br />
selber. 2003 folgte die zweite CD «Far off from<br />
Okay», wiederum selber produziert und fi nanziert.<br />
Im Nachhinein bezeichnet die Band es als Glück, dass<br />
sie die erste Platte selber produzierten. So seien sie<br />
unabhängig und nicht angewiesen auf eine Plattenfi<br />
rma oder einen Manager der die Kontakte knüpft.<br />
Und was empfehlen sie jungen unbekannten Bands?<br />
«Nicht darauf w<strong>art</strong>en entdeckt zu werden, sondern<br />
selber was machen!» (kvw)<br />
Im nächsten Februar soll die neue Platte von Skaladdin<br />
erscheinen, danach gehen sie auf Welttournee.<br />
Wir bleiben dran.
16<br />
Nur noch wenige Vorstellungen!<br />
DAS FEST /<br />
FESTEN<br />
Nach dem Dogma-Klassiker von Thomas Vinterberg<br />
Schweizer Erstaufführung<br />
«Ebenso kluge wie beklemmende Inszenierung»<br />
(Der Bund)<br />
November Sa 12/ So 27 / Di 29<br />
STADT<br />
THEATER<br />
BERN
The Unborn Chicken Voices<br />
■ Blutrote Farbe, ein Totenschädel und ein Typ, der mit<br />
seiner Gitarre gar nicht fein umgeht. «We don’t play guitar»,<br />
der Titel. Ist das jetzt die Wiederaufstehung der<br />
Sex Pistols? (Diesmal als Hühner.......wobei, angeblich<br />
ja ungeboren). Mal halblang, es handelt sich hierbei<br />
um soliden Schweizer Rock. Laut, kräftig, schnell. Das<br />
Head-banging mit standardmässiger Luftgitarre in den<br />
eigenen vier Wänden ist vorprogrammiert. Das Album<br />
ist sehr gitarrenlastig, einfache Riffs, ein tanztreibendes<br />
Schlagzeug....klingt alles sehr ähnlich; und irgendwie<br />
sehr cool. Zwischen all dem Positiv-Rock hat es aber<br />
auch Raum für das schön-psychopatische und das Cover<br />
bestätigende «I know what you wanted to do last tuesday»;<br />
wohl eine bewusste Referenz an das Teenie-Movie<br />
mit ähnlichem Titel. Die ungeborenen Hühnerstimmen<br />
verstehen sich laut Promotext als einfache Rock’n Roll-<br />
Band, die leicht verständliche Musik spielt und das Live-<br />
Erlebnis in den Vordergrund stellt. «Was wirklich zählt,<br />
ist was unter dem Strich rauskommt». Nun, unter’m<br />
Strich war ich zwar noch nie an einem Konzert, aber<br />
nach dem Hören der CD kann ich mir vorstellen, dass es<br />
da ziemlich abgeht. Sicher lustig!<br />
The Unborn Chicken Voices – We don’t play guitars; seit<br />
15. Oktober im Handel.<br />
Es weihnachtet!<br />
■ Reverend Horton Heat, dass ist eine dreiköpfi ge, seit<br />
20 Jahren bestehende Band aus Amerika. Nun also ihr<br />
neustes Album mit ihren Christmas-Favorites. Da denkt<br />
man unweigerlich an säuselnde Stars im goldenen<br />
Schneesturm singend und die obligate Santa Claus-Kappe<br />
tragend. Wie zum Beispiel Mariah Carey, brrr! Umso<br />
freudiger die Überraschung hier: nix mit Stille, nix mit<br />
besinnlicher Adventszeit, es geht um knallh<strong>art</strong>en, fetzigen<br />
Old-School Rock’n Roll. Schon das erste Lied erinnert<br />
schwer an Jerry Lee Lewis und dabei bleibts auch.<br />
Von «Jingle Bells» bis hin zu einer kult-verdächtigen<br />
Version von «Rudolph the Red Nosed Reindeer» wird<br />
alles durchgeackert, frisch fröhlich und so ganz und gar<br />
nicht kitschig. Und das aus Amerika! Wir freuen uns darauf,<br />
Keckse zu backen, Geschenke einzupacken und den<br />
Weihnachtsbaum zu schmücken. Denn mit dieser Musik<br />
– und einem Glas Glühwein dazu – ist alles eine grosse<br />
P<strong>art</strong>y. Empfehlenswert für all jene, die den besinnlichen<br />
Adventskram nicht ausstehen können.<br />
Reverend Horton Heat – We Three Kings; jetzt im Handel<br />
THREE TRIOS<br />
■ Die CD besteht aus drei Sets zu jeweils drei mehr<br />
oder weniger berühmten Standards. Peter Frei (Bass)<br />
und Dominic Egli (Drums) bilden jeweils die «Rhythm<br />
section». Colin Vallon (Piano), Michael Zisman (Bandoneon),<br />
und Rafael Schilt (Tenor Sax) übernehmen die<br />
«Leitung» ihres jeweiligen Sets. Frei ist seit über 30<br />
Jahren aktiver Bassist in der Szene. Zisman studierte<br />
in Buenos Aires bei Nestor Marconi Bandoneon und an<br />
der Swiss Jazz School Improvisation / Komposition &<br />
Arrangement. Das «Booklet» gibt an, Dominic Egli habe<br />
die nötigen Impulse hin zur Verwirklichung dieser Aufnahmen<br />
gegeben.<br />
Man fühlt sofort eine grosse Spontanität, viel Musikalität<br />
auch im Erweitern und Ausleuchten der Möglichkeiten<br />
dieser z.T. wohlbekannten Standards. Die Musiker<br />
spielen präzise und fi nden immer auch etwas Neues mit<br />
Geschmack.<br />
Frei selbst dominiert nicht durch Lautstärke; es gelingt<br />
ihm seinen Mitmusikern die Möglichkeit einer aktiven<br />
Rolle im kreativen Prozess der Improvisation zu<br />
geben. Man spürt deutlich, dass die Solisten sich ihrer<br />
musikalischen Umgebung immer bewusst sind. Die drei<br />
Solisten reagieren auf die Herausforderung recht unterschiedlich.<br />
Vallon verfolgt im ersten Set manchmal<br />
beinahe jeden Turn. Zisman ist ein Virtuose auf dem<br />
Bandoneon und er lässt hier und da wirkliche Tiefe<br />
durchblicken. Schilt macht interessante Experimente im<br />
dritten Set.<br />
CD-Reinhör Tip: 2ND Set Nr.4 Come Rain or Come<br />
Sine (Arlen) mit einem berührenden Bandoneon Intro.<br />
Insgesamt eine gelungene, mehr als nur hörenswerte<br />
CD!<br />
Übrigens: Das Bandoneon ist ein Handzuginstrument<br />
das aus der Konzertina entwickelt wurde. 1846<br />
von C.F.Zimmermann konstruiert und später nach Heinrich<br />
Band benannt. Diese «Band Union» verbreitete sich<br />
schnell in Deutschland wurde jedoch allmählich durch<br />
das einfacher spielbare Akkordeon verdrängt. Es besitzt<br />
eine unverwechselbare, sich von den anderen Harmonikainstrumenten<br />
abhebende Klangfarbe. Interessanterweise<br />
ist das Instrument in Argentinien mit dem Tango<br />
zu einem Volksinstrument geworden. Dorthin gelangte<br />
das Bandoneon vermutlich zunächst über die USA.<br />
Später ist es mit einer neuen Spielweise und dem Tango<br />
zurück nach Europa gekommen.<br />
C D - T I P P S<br />
SARA TRAUFFER<br />
TANZENDES LAUB<br />
17<br />
■ Das ist eine Herbst-CD. Sie verströmt diese Sehnsucht<br />
nach letzten wärmenden Sonnenstrahlen, die<br />
Melancholie des fahler werdenden Lichts, der kühlen<br />
Luft, der feuchten Nebelschwaden und des schweren,<br />
erdigen Dufts in den Wäldern, aber ebenso die fast<br />
übermütige Freude am zwischendurch wieder stahlblauen<br />
Himmel mit klarer Weitsicht oder am tanzenden,<br />
wirbelnden, raschelnden rot-goldenen Laub ...<br />
Zwar ist sie bereits vor einem Jahr erschienen,<br />
also nicht mehr ganz brandneu, und ausserdem mag<br />
das äussere Erscheinungsbild eher bieder wirken,<br />
doch die CD ist einfach zu gut, und sie sollte gehört<br />
werden. Jetzt erst recht, weil die hier eingespielte<br />
Musik irgendwie so schön zum November passt.<br />
Und weil die Interpreten, das Schweizer Klaviertrio,<br />
gerade eben den ersten Preis am Internationalen Johannes-Brahms-Wettbewerb<br />
in Österreich gewonnen<br />
haben – mit der Aufführung von Daniel Schnyders<br />
«Piano Trio», das hier zum ersten Mal als Integralaufnahme<br />
zu hören ist. Ein umwerfendes Werk. Hinreissende<br />
Rhythmen und betörend schöne Klänge. Das<br />
Schweizer Klaviertrio wechselt in den fünf Sätzen<br />
virtuos zwischen unterschiedlichsten Stimmungen,<br />
mal ruhig, sanft zurückhaltend und eingebettet, wie<br />
etwa im zweiten, mal witzig-frech und tollkühn, wie<br />
im vierten Satz, der mit «Tempo di Funk» überschrieben<br />
ist und wo Schnyders enger Bezug zum Jazz<br />
deutlich wird. Die Interpretation des Trios fasziniert<br />
durch die Gleichzeitigkeit von ungeheurer Präzision<br />
und hemmungsloser Spielfreude. Das lebt. Und das<br />
gilt genauso für die zwei Werke der beiden anderen<br />
Schweizer Komponisten auf dieser CD: die Tondichtung<br />
«Litaniae» von Paul Juon, ein emotional höchst<br />
expressives Stück, und das «Trio sur des mélodies<br />
populaires irlandaises» von Frank M<strong>art</strong>in, eine klanglich<br />
duftende Komposition mit raffi nierten Rhythmen<br />
und Tempi. Stürmisches Gewirbel in neblig weiter<br />
Landschaft. Irischer November eben.<br />
Paul Juon, Frank M<strong>art</strong>in, Daniel Schnyder. Schweizer<br />
Klaviertrio. 2004 Musiques Suisses MGB CD 6215
18 K I N O<br />
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11/05
BENEDIKT SARTORIUS<br />
antifolk<br />
■ Die Welt als verschimmelter Pfi rsich: Unerwiderte<br />
Liebe, soziale Kälte, grauer Alltag, New York als Friedhof,<br />
Yuppies, Teenage Angst in allen Schattierungen,<br />
«let‘s go to sleep…» Kurz: Die Welt ist aus den Fugen,<br />
gebt mir Crack! Nun ist es ein leichtes, diesem Themenkreis<br />
mit Holzhammertexten, mit Härte zu begegnen.<br />
Ungleich reizvoller, weil subtiler, lustiger, zugleich zwingender<br />
und desillusionierender, wirkt der dilettantische,<br />
pubertäre Ansatz der Moldy Peaches. Herbe, mit einem<br />
Lächeln vorgetragene Zeilen wie «Sucking dick for ecstasy»<br />
kollidierten mit der rumpelnden Low-Fi Instrumentierung<br />
und den Häschen-, Einhorn- und Robin Hood<br />
Verkleidungen der beiden Protagonisten Adam Green<br />
und seiner P<strong>art</strong>nerin Kimya Dawson. Sexistisch anmutende<br />
Sprüche von Green wie «Whose pussy hole needs<br />
fi lling?» werden durch Kimya Dawsons simultan geäusserte<br />
Sehnsucht nach Nächstenliebe («Whose empty<br />
he<strong>art</strong> needs fi lling?») ironisch gebrochen, so dass eine<br />
eindeutige Les<strong>art</strong> verhindert wird. Das Zwingende, das<br />
Eindringliche der ersten und einzigen Platte der Moldy<br />
Peaches liegt in diesen Widersprüchen, im teilnahmslos<br />
anmutenden Vortrag, der Desorientiertheit ausdrückt<br />
sowie in der liebenswerten Spontaneität und Intimität<br />
der Aufnahmen. Lacher oder das Klingeln eines Telefons<br />
blieben der Produktion erhalten und unterstrichen<br />
den Do It Yourself Charakter der Moldy Peaches.<br />
Durch den Vertrag mit dem wiedergeborenen, legendären<br />
Indie Label Rough Trade, das fast zeitgleich das<br />
Debüt der Strokes veröffentlichte und 2001 den Boom<br />
der neuen Rock Welle einläutete, war dem Duo die<br />
Aufmerksamkeit der Musikpresse sicher. Man dürstete<br />
nach mehr und wurde im heimischen Umfeld der New<br />
Bild: zVg.<br />
Yorker Moldy Peaches fündig, dessen Vielschichtigkeit<br />
sich unter einer Vokabel zusammenfassen lässt: Antifolk.<br />
Der Begriff wurde durch Lach, seit zwanzig Jahren<br />
Veranstalter der mittlerweile im Sidewalk Café sesshaft<br />
gewordenen Antifolk «Open Mic Sessions», geprägt.<br />
Angetreten um die reaktionären Tendenzen im Folk<br />
aufzubrechen, liess Lach Songwriter ohne stilistische<br />
Limitierungen auftreten. Prominente Namen der ersten<br />
Jahre sind etwa Suzanne Vega, Michelle Shocked sowie<br />
der junge Beck Hansen.<br />
Die Verkrustungen aber blieben. Bis zur «zweiten<br />
Generation», die den anarchistischen, dilettantischen<br />
Ansatz gegenüber gängigen Songstrukturen bevorzugte.<br />
Die Moldy Peaches brachten Blockfl öten mit, Jeffrey<br />
Lewis, vielleicht der Gross<strong>art</strong>igste unter all den zum<br />
grossen Teil nach wie vor unbekannten Gruppen und<br />
Einzelgängern, illustrierte grossformatige Comic-«Videos»,<br />
erzählte seine ureigene «History of Punk on the<br />
Lower East Side» in Medley Version und legte so seine,<br />
wenn nicht gar die geistigen und musikalischen Vorläufer<br />
des Antifolks offen. Eine Geschichtslektion von fast<br />
zehn Minuten Dauer, die unter anderem von versprengten<br />
Beatniks (Harry Smith), dem Freakout-Strassenmusiker<br />
David Peel und seinem Marihuana geschwängerten<br />
Gefolge («The Pope Smokes Dope») erzählt, weiter<br />
die Anarchos der Fugs, die Velvet Underground, krude<br />
Obskuritäten (Godz), Richard Hell‘s Television und die<br />
New York Dolls präsentiert.<br />
Nun, genug der Namen: Wichtig ist, dass ein neues,<br />
sich grösstenteils selbst organisierendes Netzwerk von<br />
Gleichgesinnten entstand, das keine Dresscodes kennt,<br />
Labels gründete und so der Krise der Musikindustrie<br />
M U S I K<br />
19<br />
entgegentrat, weiter unermüdlich produziert, gesellschaftliche<br />
Normen hinterfragt und vielleicht am markantesten:<br />
ein Netzwerk, das aus Einzelgängern, Subjekten<br />
bestand und weiter bestehen wird, aus Künstlern<br />
und Künstlerinnen, die keine Angst vor der Blamage<br />
kennen. Künstlerinnen wie etwa Kimya Dawson.<br />
Während ihr ehemaliger Moldy Peaches P<strong>art</strong>ner<br />
Adam Green mittlerweile zum Liebling aller Klassen<br />
mutiert ist, werkelt Kimya Dawson, die Frau mit der<br />
mächtigen Tingeltangel-Bob-Frisur, weiter an ihren massenuntauglichen,<br />
weil zu intimen, von Verletzungen gezeichneten<br />
Liedern. «Nichts ist Kimya Dawsons Musik so<br />
fremd wie Coolness, Reserviertheit oder übertriebenes<br />
Selbstbewusstsein», schreibt der Kulturjournalist M<strong>art</strong>in<br />
Büsser in seinem Buch «Antifolk». Ihre Musik fällt<br />
nicht zuletzt deshalb ins Zeitlose, Posen zählen nichts:<br />
Wie naiv ihre tagebuch<strong>art</strong>igen Texte auch anmuten mögen,<br />
sie treffen mitten ins Herz.<br />
«Fröhlich und traurig und schreckhaft und tapfer, alles<br />
zusammen», beschreibt sich Dawson selbst. Fröhlich<br />
und traurig und schreckhaft und tapfer ist auch ihr mittlerweile<br />
drittes, erstmals in Bandbesetzung entstandenes<br />
Album «Hidden Vagenda» (K Records).<br />
Es erzählt vom Verlust ihrer Grossmutter, von Anthrax<br />
und damit der Befi ndlichkeit des anderen Amerikas<br />
nach dem 11. September, verhandelt sozialen Druck<br />
und Schwäche. Das vielleicht schönste Lied stellt «Singing<br />
Machine» dar. «Doesn‘t matter what you look like,<br />
doesn‘t matter what you sound like, doesn‘t matter if<br />
they like you, just remember to be kind,» singt Dawson<br />
mit heiserer Stimme in ihrer Ode an die Herzlichkeit.<br />
Dazwischen funkt der psychisch kranke, gross<strong>art</strong>ige<br />
Low-Fi Pionier und mittlerweile dem Antifolk Netz angeschlossene<br />
Daniel Johnston seine C<strong>art</strong>oon Stimme<br />
durchs Telefon und, wie blöd das nun klingen mag, die<br />
Welt scheint kurzzeitig eine andere, eine bessere, weil<br />
herzlichere zu sein. Nüchterner ausgedrückt: Die viel<br />
gepriesene Authentizität, dieses grösste und unmöglich<br />
zu erfüllende Versprechen der Popmusik, scheint bei Kimya<br />
Dawson endlich eingelöst zu sein.<br />
Konzerte:<br />
Dienstag, 15.11.05, 21h30<br />
Herman Düne / Julie Doiron: In Paris ansässige Antifolk-Musiker,<br />
die es noch zu entdecken gibtÐ.<br />
Samstag, 19.11.05, 21h30<br />
Kimya Dawson/ Tiger Saw/ Jason Anderson<br />
Alle Konzerte fi nden im Bad Bonn Düdingen statt.<br />
CDs: The Moldy Peaches (Rough Trade)<br />
Kimya Dawson «Hidden Vagenda» (K Records)<br />
Jeffrey Lewis «It‘s The One Who‘ve Cracked That The<br />
Light Shines Through (Rough Trade)<br />
Buch:<br />
M<strong>art</strong>in Büsser, Antifolk. Ventil Verlag. Mainz 2005<br />
Antifolk im Internet:<br />
www.antifolkonline.com<br />
www.olivejuicemusic.com<br />
www.antifolk.net
20<br />
M U S I K<br />
«AUS DEN TASCHEN GEKRAMT» ODER<br />
LE COSE CHE AMI<br />
(ITALIAN POETIC JAZZ)<br />
■ Es ist kalt an jenem Abend. Ich stecke meine Hände in meine normalerweise immer<br />
so leeren Taschen. Ein kurzes Tasten bringt diesmal eine kleine Überraschung hervor.<br />
Ein graues, klein gefalztes Papierquadrat. Fünf Sekunden später entpuppt es sich<br />
als ein kaleidoskop<strong>art</strong>ig zerquetschter Flyer. Ich bin angenehm Angetan und beginne<br />
sofort mit dem Lesen.<br />
«Le cose che ami – Italian Poetic Jazz.» können meine Augen in der Dunkelheit<br />
gerade noch entziffern. Jaja – denke ich - die wirklich wertvollen und angenehmen<br />
Dinge des Lebens drängen sich nur sehr selten auf. Doch wenn; dann sollte man die<br />
Chance nicht ungenützt lassen. Es ist wieder wärmer geworden und ich bin zu Hause<br />
angekommen. Ich braue mir einen wärmenden Kaffee, werfe meinen PC an und<br />
google sofort «le cose che ami». Das Musigbistrot Bern bringt mir dazu die nötigen,<br />
klärenden Worte:<br />
«Le cose che ami», also «die Sachen, die du liebst», sind süsse italienische Balladen.<br />
Eine Mischung aus Pop, Jazz und Poesie, ein Stil der sich kurz mit dem Begriff<br />
«Italian-Poetic-Jazz» umschreiben lässt. Die nostalgischen, herzerwärmenden Songs<br />
sind hauptsächlich im vergangenen Jahr entstanden und entspringen der «Feder»<br />
des Pianisten Thomas Reber und der italienischen Sängerin Annalisa Spagnoli. Grosses,<br />
unerschöpfl iches Thema: die Liebe. Die Canzoni erzählen Geschichten, die der<br />
Alltag schrieb Ein Ohrenschmaus für Romantiker, Nostalgiker und Liebhaber der Italienischen<br />
Sprache.<br />
Längst habe ich beschlossen mindestens eines der insgesamt drei angebotenen<br />
Konzerte (zwei davon in Bern) zu hören. Das wusste ich schon als ich diesen Flyer in<br />
der Hand hielt.<br />
«Wer sucht der fi ndet.» – Dieses so abgedroschene Sprichwort gilt vielleicht<br />
manchmal auch für die Berner Künstler-Szene und deren «Konsumenten». Doch es<br />
ist für einmal nicht nötig dieses Klischee zu bedienen. Heute nicht. Man braucht ja nur<br />
in den eigenen Taschen zu kramen. Manchmal fallen sie einem eben auch ganz von<br />
alleine zu – die wirklich angenehmen Dinge des Lebens.<br />
Konzerte Nov./Dez. «le cose che ami»<br />
Annalisa Spagnoli (v), Paco Casanovas (g), Thomas Reber (p), Daniel Brélaz (b),<br />
Beat Müller (dr)<br />
Sa. 19.11. Kirchgemeindehaus Wichtrach / 20:30<br />
(Ein Benefi zkonzert für die Arbeit mit Drogensüchtigen)<br />
Do. 24.11. Musig-Bistrot Monbijou, Mühlemattstrasse 48, Bern / 20:30<br />
Do. 22.12. Café-Bar P<strong>art</strong>erre, Hallerstrasse 1, Bern / 21:00
SARAH STÄHLI<br />
don juan im trainerjäckchen<br />
Broken Flowers von Jim Jarmusch<br />
■ Jim Jarmusch blickt immer noch als Aussenseiter<br />
auf Amerika, als tschechisches Einwandererkind, als<br />
das er sich im Innersten wohl immer noch fühlt. In seinem<br />
jüngsten Film Broken Flowers - der in Cannes mit<br />
dem grossen Jurypreis ausgezeichnet wurde - erzählt<br />
Jarmusch von einem Land mit all seinen skurrilen Auswüchsen:<br />
von White-Trash bis hin zu esoterischer »Tier-<br />
Kommunikation». Er erzählt aber auch von einem Amerika,<br />
in dem ein gelangweilter middle-class Rentner auf<br />
eine lebensvolle Afroamerikaner-Nachbarsfamilie trifft.<br />
Don Johnston heisst dieser alternde Antiheld und wird<br />
verkörpert von Bill Murray.<br />
Murray hat es mittlerweile intus, völlig unbeteiligt auf<br />
noch so bewegende Ereignisse zu reagieren. Mit Lost<br />
in Translation feierte der Schauspieler sein Comeback<br />
und in Wes Andersons verkanntem Meisterwerk The Life<br />
Aquatic verzeichnete er als Steve Zissou seinen vorläufi -<br />
gen Höhepunkt in schauspielerischem Understatement.<br />
Obwohl man sich zur Abwechslung auch einmal einen<br />
etwas anderen Murray wünschen würde, überzeugt er in<br />
Broken Flowers erneut in der immergleichen Rolle.<br />
Don Johnston ist ein angegrauter Don Juan, der seine<br />
besten Jahre offensichtlich hinter sich hat. Mit dem<br />
Sonnyboy Don Johnson aus Miami Vice wird er trotzdem<br />
mehr als einmal verwechselt, obwohl er mit ihm<br />
wirklich nur den Namen gemeinsam hat und dies auch<br />
nur beinahe. Am liebsten sitzt Don im Trainingsanzug<br />
auf der Couch und starrt ins Leere. Eines Tages erhält<br />
er, nachdem er gerade von seiner neusten Flamme verlassen<br />
wird, einen ominösen rosa Brief ohne Absender.<br />
In dem steht nichts Geringeres, als dass er vor 19 Jah-<br />
ren einen Sohn in die Welt gesetzt habe. Diese Nachricht<br />
würde Don kalt lassen und genauso an ihm abprallen wie<br />
alles andere, wäre da nicht sein enthusiastischer Nachbar<br />
Winston (brillant: Jeffrey Wright), der diesen Brief<br />
als wichtiges Zeichen deutet und Don dazu überredet,<br />
endlich einmal aktiv zu werden. Aber zuerst gilt es herauszufi<br />
nden, wer von seinen zahlreichen Freundinnen<br />
die vermeintliche Mutter und Verfasserin des Briefes<br />
sein könnte. Don begibt sich auf eine Reise quer durch<br />
Amerika, in die eigene Vergangenheit. Unterwegs trifft<br />
Murray auf eine ganze Reihe starker Schauspielerinnen<br />
in den Rollen seiner Ex-Freundinnen: unter anderem<br />
Sharon Stone, Jessica Lange, Tilda Swinton und Frances<br />
Conroy.<br />
Die relativ simple Ausgangslage inszeniert Jarmusch<br />
gewohnt lakonisch als entspanntes Roadmovie; poetisch<br />
und voller sanften Humors.<br />
Ob Don am Ende wirklich seinen Sohn fi ndet, oder nur<br />
die Möglichkeit eines Sohnes erahnt, ist gar nicht so<br />
wichtig. Wie so oft scheint der Weg das Ziel zu sein. Jarmusch<br />
schafft es, mit dem offenen Ende des Filmes eine<br />
Geschichte zu erzählen, die jenseits von Rührseligkeit<br />
und ohne je zu moralisieren, völlig unaufgeregt daherkommt<br />
und trotzdem berührt.<br />
Bleibend die Szene, in der Don auf seinen möglichen<br />
Sohn trifft und krampfhaft versucht nicht als Pädophiler<br />
zu wirken. Im Gespräch mit dem jungen Mann wird<br />
Don sogar zum Philosophen und kommt zur Erkenntnis:<br />
«Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht<br />
hier und ich kann sie nicht kontrollieren, daher gibt es<br />
nur das hier».<br />
K I N O<br />
23<br />
Bild: zVg.<br />
Auch wenn Broken Flowers im Vergleich zu anderen<br />
Jarmusch-Filmen kommerzieller ist, schafft es der Regisseur,<br />
seine unverkennbar coole Handschrift beizubehalten.<br />
Mit den langen Einstellungen und den beinahe<br />
altmodisch wirkenden Überblendungen bleibt Jarmusch<br />
seinem Stil treu, der seine Filme seit Stranger than Paradise<br />
ausmacht.<br />
Ein Jarmusch-Film beinhaltet immer auch kleine Geheimtipps<br />
des Regisseurs, die es für sich zu entdecken<br />
gilt: war es beispielsweise in Ghost Dog das Buch The<br />
Way of the Samurai, so sind es in Broken Flowers die<br />
ungewöhnlichen Klänge von äthiopischem Jazz, die<br />
Winston seinem mürrischen Nachbarn unterjubelt. Der<br />
Soundtrack agiert wie meistens bei Jarmusch wie ein<br />
weiterer Schauspieler und ist wie immer grandios.<br />
Broken Flowers mag auf den ersten Blick in seiner<br />
Leichtigkeit beinahe belanglos, wie hingeworfen scheinen,<br />
hat jedoch im Nachhinein denselben Effekt wie ein<br />
gutes Buch, eines, das man am liebsten immer und immer<br />
wieder lesen möchte.<br />
Broken Flowers von Jim Jarmusch läuft ab 10. November<br />
im Kino
22<br />
K I N O<br />
CORPSE BRIDE<br />
Bild: zVg.<br />
■ Basierend auf einem russischen Volksmärchen und<br />
zwölf Jahre nach «A Nightmare before Christmas»<br />
erzählt Tim Burton erneut eine herzerwärmende Liebesgeschichte<br />
aus der Welt der Lebenden und Toten.<br />
Der junge Victor (im Original gesprochen von<br />
Johnny Depp) soll Victoria (gesprochen von Emily<br />
Watson) heiraten um seinen Eltern den Aufstieg in<br />
die Aristokratie zu ermöglichen und ihre Eltern vor<br />
dem Abstieg ins Armenhaus zu bewahren. Doch die<br />
Probe zur Hochzeit endet aufgrund Victors Nervosität<br />
in einem Debakel und der Pastor schickt ihn weg<br />
um den Trauspruch zu üben. Alleine im Wald fi ndet<br />
Victor wieder zu sich selbst, kann den Spruch fehlerfrei<br />
aufsagen und streift aus lauter Vorfreude auf die<br />
Hochzeit den Ehering sogar an eine alte Baumwurzel.<br />
Doch welch Grauen erfasst ihn als er realisiert, dass<br />
die Wurzel der Finger einer wunderschönen, verwesenden<br />
Leiche ist, die sich vor Victor in den Fetzen<br />
eines Hochzeitskleides aus dem Grab erhebt. Seit sie<br />
in der Hochzeitsnacht ermordet wurde w<strong>art</strong>et die Leichenbraut<br />
(gesprochen von Helena Bonham C<strong>art</strong>er)<br />
auf ihren Bräutigam. Aufgrund seines Versehen muss<br />
nun Victor diese Rolle übernehmen und wird ins Reich<br />
der Toten entführt, welches jedoch um einiges lebendiger<br />
ist als die Welt der Lebenden. Mit ansteckend<br />
guter Laune erzählen ihm die Gerippe von ihrem<br />
«Leben» und was damals mit seiner neuen Braut geschah.<br />
Obwohl es ihn zurück zu seiner grossen Liebe<br />
Victoria zieht, entschliesst sich Victor, zu seinem Wort<br />
zu stehen und die unglückliche Leichenbraut zu heiraten.<br />
Bevor sich jedoch alles zum Guten wendet gilt es<br />
noch einige Aufregungen zu überstehen.<br />
Tim Burton und seinem Team ist es gelungen, die<br />
Puppen mit einer Technik zu animieren, welche kleinste<br />
Details in Mimik und Bewegung ermöglichten. Mit<br />
seiner überwältigenden Liebe zum Detail ist «Corpse<br />
Bride» eine wunderbare Geschichte über Leidenschaft,<br />
hinterhältigen Mord und die Frage, ob ein Herz<br />
noch brechen kann, wenn es nicht mehr schlägt. (sw)<br />
Der Film dauert 77 Minuten und kommt am<br />
3.11.2005 in die Kinos.<br />
SONJA WENGER<br />
a history of violence<br />
■ «A History of violence» sei ein Film gegen die Gewalt,<br />
behauptet Kult-Regisseur David Cronenberg («The Fly»,<br />
«Existenz»). Es geht um die dunkle Seite der Menschen,<br />
um die Gewalt, die in uns allen steckt. Und Hauptdarsteller<br />
Viggo Mortensen («Lord of the Rings») meint: «David<br />
Cronenberg zeigt die Ursachen und Auswirkungen<br />
der Gewalt auf, aber er stellt sie nie in den Mittelpunkt.<br />
Er zelebriert oder verherrlicht sie nie. Gewalt muss man<br />
immer ablehnen, aber er behauptet nicht, dass man sie<br />
immer vermeiden kann.»<br />
Nun ist es ja durchaus annehmbar, dass ein Filmemacher<br />
auf einfache, aber eingängige Bilder zurückgreift.<br />
Dass er eine kurze Geschichte auch kurz hält und dem<br />
Publikum die plakative Aussage mit schockierender<br />
Deutlichkeit um die Ohren schlägt. Denn genau das und<br />
nichts anderes wird im Film «A History of violence»<br />
gemacht. Wenn man also ein Thema, hier eben Gewalt,<br />
exzessiv zeigt, dann ist das automatisch als kritische<br />
Aussage zu werten? Möglich.<br />
Dieser Film bedient sich jedoch der billigsten, einfachst<br />
gestricktesten Klischees auf beiden Seiten der<br />
Extremschiene, dass man sich nur schwer nicht veräppelt<br />
fühlen kann. Gewalt wird in diesem Film tatsächlich<br />
nicht verherrlicht, sondern einfach in kurzen aber schonungslos<br />
detaillierten Szenen dargestellt. Allerdings<br />
wird die Gewalt auch nicht wirklich abgelehnt, denn<br />
sie wird nach ziemlich kurzem und lahmen Widerstand<br />
plötzlich als das einzige und effi zienteste Lösungsmittel<br />
für alle Probleme eingesetzt.<br />
So beginnt der Film mit der Vorstellung des absolut<br />
Schlechten, in dem zwei düstere Gestalten ihre Rücksichtslosigkeit<br />
beim «killen statt frühstücken» beweisen.<br />
Schnitt. Nun wird das vordergründig Gute eingeführt in<br />
dem die ganze Familie mit Mami, Papi und grossem Bruder<br />
sich um das unerträglich blonde Mädchen scharen<br />
und ihr bei der Verarbeitung eines «bösen» Traumes<br />
zur Seite stehen. Monster unterm Bett den Monstern im<br />
echten Leben gegenübergestellt also.<br />
Bilder: zVg.<br />
So weit so gut. Wie üblich in Filmen über das Leben in<br />
einer amerikanischen Kleinstadt gibt es eine verstaubte<br />
Hauptstrasse, ein paar Stadtoriginale, einen gutmeinenden<br />
Sheriff und den obligaten Dinners. Hier treffen<br />
beide Welten nun aufeinander. Die Bösen wollen wieder<br />
sinnlose Gewalt anwenden, werden aber zu ihrer Überraschung<br />
mit den eigenen Waffen blutig vernichtet. Der<br />
Gute wird zum Nationalheld und plötzlich ist in seinem<br />
Dinners Hochbetrieb. Als Folge seiner Popularität tauchen<br />
andere düstere Gestalten auf und behaupten, dass<br />
Tom gar nicht ist, wer er vorgibt zu sein und dass sie für<br />
früheres Unrecht Vergeltung verlangen. Toms ganze Familie<br />
wird in einen Strudel aus Misstrauen, emotionalen<br />
Abgründen und plötzlich hervorbrechenden Aggressionen<br />
hineingezogen.<br />
Für einen eingefl eischten Viggo Mortensen Fan ist<br />
es ein Highlight, den Schauspieler in einer solcher Bestform<br />
zu sehen. Doch genau das macht diesen Film so<br />
gefährlich. Die gesamte Besetzung, vom vermeintlichen<br />
Gutmenschen Tom Stall (Viggo Mortensen), über die Bösewichte<br />
(Ed Harris und William Hurt), die Ehefrau (Maria<br />
Bello) bis hin zum Sohn (Ashton Holmes) ist schlicht<br />
und einfach brilliant. So brilliant, dass jenes gigantische<br />
Fragezeichen bezüglich Sinn, Inhalt und Aussage des<br />
Filmes völlig in den Hintergrund gedrängt wird.<br />
Nun kann man sich fragen, ob es legitim ist, einen<br />
Film in den Himmel zu loben, weil die Schauspieler gut<br />
sind oder zu verdammen, weil die Geschichte schlecht<br />
ist. Auf jeden Fall irritiert der Film, hinterlässt Wut und<br />
Leere. Sollte der Regisseur diesen emotionalen Effekt<br />
bewusst bewirkt haben wollen, dann kann man ja vielleicht<br />
darin den Sinn dieser Geschichte erkennen. Doch<br />
die absolute und diskussionslose Abwesenheit jeglicher<br />
Konsequenzen von solch gewaltbereiten Verhaltens<br />
sollte einen misstrauisch stimmen.<br />
Der Film dauert 96 Minuten und ist seit dem 13.10.2005<br />
im Kino.
SONJA WENGER<br />
les poupées russes – wiedersehen<br />
in st. petersburg<br />
■ Vor vier Jahren drehte Regisseur und Drehbuchautor<br />
Cédric Klapisch mit kleinem Budget und relativ<br />
unbekannten Schauspielern die multikulturelle Studentenkomödie<br />
«L’Auberge Espagnole». Der internationale<br />
Erfolg um die bunte WG in Barcelona führte nun zu einer<br />
Fortsetzung mit «Les Poupées russes».<br />
Die Geschichte setzt fünf Jahre später ein und beschäftigt<br />
sich erneut mit den verworrenen Liebesmühen<br />
von Ex-Student und Protagonist Xavier. Dieser ist weit<br />
von seinem Traum, Schriftsteller zu werden entfernt<br />
und hält sich mit Gelegenheitsjobs als Reporter oder<br />
Ghost-Writer über Wasser. Sein grösster Auftrag ist ein<br />
TV-Drehbuch für eine kitschige Liebesserie. Auch sein<br />
eigenes Liebesleben ist geprägt vom Konfl ikt zwischen<br />
Traum und Realität und der verzweifelten Suche nach<br />
dem Sinn des Lebens oder der wahren Liebe. Erst als<br />
er die Gelegenheit erhält, in London an einem grossen<br />
Drehbuch zu schreiben, wendet sich das Blatt. Wendy<br />
aus der WG in Barcelona stellt sich zu seiner grossen<br />
Überraschung zudem als seine englischen Co-Autorin<br />
heraus. Ihre Zusammenarbeit entwickelt sich nicht nur<br />
in berufl icher Hinsicht gut, zumindest solange, bis sich<br />
Xavier in das Model Celia verliebt. Erst als Wendys Bruder<br />
William in St. Petersburg seine russische Freundin<br />
heiratet, führt dies noch einmal alle WG-Mitglieder zusammen<br />
und Xavier dazu, sich nicht nur die richtigen<br />
Fragen zu stellen, sondern auch die richtigen Antworten<br />
zu geben.<br />
Obwohl eine Fortsetzung, ist «Les Poupées russes» in<br />
mancher Hinsicht besser als das Original! Viele cineastische<br />
Erzählmittel wie Bildaufteilung, Rückblicke oder<br />
visuelle Collagen hat Cédric Klapisch gekonnt übernommen<br />
und weiterentwickelt. Die Musik pendelt angenehm<br />
zwischen Leichtfüssigkeit und Melancholie und der Film<br />
führt das Publikum an wunderschöne Schauplätze in<br />
Paris, London und St. Petersburg.<br />
Die Geschichte selbst ist kompakter, reicher an Details<br />
und wird den Charakteren mehr gerecht. Sie lässt<br />
dem Publikum sehr viel Raum für eigenes Gedankenspiel.<br />
Der Film konzentriert sich zwar auch hier wieder<br />
auf Xavier, doch dominieren wesentlich weniger Nebenfi<br />
guren, welches die Geschichte wohltuend entschlackt.<br />
Die Darsteller sind spürbar reifer und selbstbewusster<br />
geworden was sie in ihren Rollen auch vollumfänglich<br />
umsetzen dürfen. Romain Duris als Xavier ist<br />
umgeben von einem wunderbaren Damentrio. Audrey<br />
Tautou’s M<strong>art</strong>ine hat sich von der zwischen Melancholie<br />
und Tränendrüsen schwankenden Zicke in eine selbstständige<br />
alleinerziehende Mutter gewandelt und sorgt<br />
mit ihrer Lebenseinstellung für nachdenkliche Momente.<br />
Cécile de France als lesbische Isabelle lebt diesmal<br />
nicht nur ihre Sexualität aus, sondern sorgt unter anderem<br />
als Xaviers Alibi-Freundin und Vertraute für einige<br />
der schönsten Augenblicke des Films. Kelly Reilly durfte<br />
sich von der nur aufs Putzen fi xierten Wendy emanzipieren<br />
und besticht als gestandene Drehbuchautorin.<br />
Welch ein eindrücklicher Gegensatz zu ihrer Rolle als<br />
lustlose Schwester von Mr.Bingley in «Pride and Prejudice»,<br />
zur Zeit ebenfalls im Kino. Zudem sorgt Wendys<br />
von Kevin Bishop verkörperter Bruder William, welcher<br />
in diesem Film weniger für saloppe Sprüche als für Romantik<br />
sorgt, für zusätzliche Aufl ockerung.<br />
Als eines der beständigsten Markenzeichen des französischen<br />
Films steht auch hier der Humor mit beiden<br />
Beinen auf dem Boden. Trotz einer gnadenloser Ansammlung<br />
von Klischees entzieht sich der Film jeglicher<br />
Klischiertheit. Auch, oder gerade ohne Kenntnis von<br />
«L’Auberge Espagnole» ist «Les Poupées russes» eine<br />
unterhaltsame, feinfühlige und kurzweilige Geschichte.<br />
Der Film dauert 129 Minuten und ist seit dem 27.10.2005<br />
im Kino<br />
K I N O<br />
SONJA WENGER<br />
TRATSCHUNDLABER<br />
23<br />
■ Die Schweiz hat endlich eine Spätshow! Das Rezept?<br />
Man nehme eine Kopie des Studios der Harald<br />
Schmidt Show, stelle eine Band hin, die sich genauso<br />
verrenkt wie bei Jay Leno, gebe einem schönen Moderator<br />
(obwohl sich M<strong>art</strong>ina Hingis ja nicht entschieden<br />
konnte – und ist sie jetzt Single oder nicht?) ein<br />
kurioses Faktotum et voilà, Black’n Blond! Da sich die<br />
Programmverantwortlichen allerdings nichts trauen<br />
ist der Sendeplatz am Montagabend und zudem<br />
scheint es in der Schweiz zwei Komödianten zu brauchen<br />
um wenigstens halb so lustig zu sein wie anderswo.<br />
Abgesehen von einem schauderhaften Gefühl des<br />
Déjà Vues, war es doch ganz...nett. Provokativ, witzig,<br />
schnell, weltoffen, schonungslos, mutig...das ganze<br />
Lexikon halt!<br />
Auch gesellschaftspolitisch kritisch war’s. Neben<br />
einem unsäglichen Anwärter auf den Preis des Publikumlieblings<br />
ist nun mit dem Huhn Gaby die Vogelgrippe<br />
offi ziell auch beim Fernsehen salonfähig.<br />
Lachen soll ja übrigens das Immunsystem stärken.<br />
Obwohl: der Chef des Bundesamts für Gesundheit<br />
vermutet ja, dass in der Schweiz kaum jemand an<br />
der Vogelgrippe erkranken werde. Vielleicht weil wir<br />
mit all den Chemiekonzernen an der Quelle sitzen?<br />
Mein Apotheker erzählte mir jedoch kürzlich, dass ihn<br />
eine Dame fragte, ob sie eine Tamifl u-Packung auch<br />
mit ihrer Nachbarschaftsgruppe teilen könne. Quasi<br />
für jede eine Tablette zur Profi laxe. Das nenn ich Geschäftssinn!<br />
Apropos Geschäft: das Modellbusiness ist ja nun<br />
auch grosser Gefahr ausgesetzt. Man denke nur an<br />
all die gackernden Hühner und schnatternden Gänse<br />
welche sich inmitten einer grossen Menschenmenge<br />
bewegen, in der ganzen Welt in Scharen herumreisen<br />
und durch all den Drogenkonsum ein äusserst<br />
geschwächtes Immunsystem aufzuweisen haben.<br />
Anders als der H5N1 Virus haben diese Vögel jedoch<br />
bereits ihre destruktive Botschaft an die Menschen<br />
weitergegeben. Seid dürr, dann liebt euch die Welt.<br />
Ach die Liebe! Sie ist fürwahr eine Himmelsmacht.<br />
Anders kann man ja wohl auch nicht erklären, weshalb<br />
Tom Cruise nun plötzlich Vater wird. Ist bei der<br />
Scientology nicht Sex verboten? Wurden wir hier Zeuge<br />
einer unbefl eckten Empfängnis? Die Frage ist nur,<br />
wie die beiden dann ihr Kind taufen wollen, der Name<br />
«Google» ist ja bereits vergeben!
24 D A S A N D E R E K I N O<br />
www.cinematte.ch / Telefon 031 312 4546 www.kellerkino.ch / Telefon 031 311 38 05 www.kinokunstmuseum.ch / Telefon 031 328 09 99<br />
Wir machen weiter!<br />
Das Hochwasser vom August hat alles zerstört: Tische,<br />
Stühle, Kinosessel, Türen, Wände, Esswaren, Dokumente,<br />
Geräte - kein schöner Anblick. Nach der Räumungsaktion<br />
mit viel externer Unterstützung steht die ganze<br />
Cinématte leer und w<strong>art</strong>et darauf, renoviert zu werden.<br />
Nach dem ersten Schock wecken die leeren Räume<br />
Kreativität. Wir haben die Möglichkeit etwas Neues entstehen<br />
zu lassen. Diese (hoffentlich) einmalige Chance<br />
werden wir nutzen. Vorerst gibt es noch viel anderes zu<br />
tun: Versicherungsfragen klären, Mietverträge aushandeln,<br />
Architekturlösungen prüfen, Offerten einholen,<br />
Bestellungen aufgeben, informieren… und alles braucht<br />
seine Zeit.<br />
Die Cinématte wird Ihnen und uns also erhalten bleiben.<br />
Wir rechnen allerdings nicht damit, schon in diesem<br />
Jahr wieder öffnen zu können. Zu Beginn des neuen<br />
Jahres dürfen Sie mit uns rechnen. In alter Frische und<br />
in neuem Gewand.<br />
Sie können uns unterstützen, indem Sie uns treu bleiben.<br />
Kommen Sie wieder, alles wird gut!<br />
Herzlich<br />
Ihr Cinématte-Team<br />
PS:<br />
Vom 11. bis 14. November sind wir im Rahmen des Queersicht-Festivals<br />
zu Gast im Gaskessel. Weitere Aktionen<br />
sind im Dezember geplant. Genauere Infos fi nden Sie in<br />
der Tagespresse oder auf www.cinematte.ch.<br />
Mysterious Skin<br />
(Gregg Araki, USA 2004, 99’, Englisch/d, Spielfi lm)<br />
Brian Lackey wacht mit blutiger Nase in einer Höhle auf.<br />
Der Achtjährige hat keine Ahnung, was mit ihm passiert<br />
ist. Er kann sich gar nicht mehr an die fünf voran gegangenen<br />
Stunden erinnern. Der Zwischenfall verändert<br />
sein Leben drastisch: Angst vor der Dunkelheit, Alpträume<br />
und Ohnmachten plagen ihn. Zehn Jahre später ist<br />
Brian davon überzeugt, als Kind von Ausserirdischen<br />
entführt worden zu sein. Und er glaubt, einzig Neil Mc<br />
Cormick könnte das Rätsel seiner Kindheit lösen. Neil ist<br />
ein 18-jähriger Aussenseiter, der so gut aussieht, dass<br />
sich alle auf der Stelle in ihn verlieben. Doch der Adonis<br />
möchte sich an niemanden binden. Neils sexuelle Entdeckungsreise<br />
führt ihn nach New York, während die<br />
Suche nach der eigenen Identität Brian zu Neil führt.<br />
Bald merken die beiden, der Schlüssel für eine glückliche<br />
Zukunft liegt in der Verarbeitung ihrer dunklen Vergangenheit…<br />
(Ab 17.11.)<br />
Building the Gherkin<br />
(Mirjam von Arx, CH 2005, 89’, Englisch/d, Dokumentarfi<br />
lm, Videoprojektion)<br />
Kann ein einziges Gebäude die Karriere eines Architekten<br />
beeinfl ussen, das Image einer globalen Firma und<br />
die Skyline einer Weltstadt? Genau einen Monat und<br />
einen Tag nach dem Anschlag aufs New Yorker World<br />
Trade Center wird in London der erste Stahlträger eines<br />
neuen Wolkenkratzers in Position gehievt. Die Frage<br />
ist unvermeidlich: Ist es richtig, einen so Aufsehen<br />
erregenden Turm mitten im Londoner Finanzviertel zu<br />
bauen, auf einem Platz, wo schon einmal eine Bombe<br />
hochging? Norman Foster, einer der visionärsten zeitgenössischen<br />
Architekten, nennt sein Design des Swiss<br />
Re London Hauptqu<strong>art</strong>iers «radikal - in sozialer, technischer,<br />
architektonischer und räumlicher Hinsicht».<br />
Grösse und Form des neuen Turmes sind in der Tat so<br />
radikal, dass das Gebäude in den Medien von Beginn<br />
weg als «erotische Gurke» bezeichnet wird. (Ab 17.11.)<br />
Ouaga Saga<br />
(Dani Kouyaté, Burkina-Faso 2004, 85’, F/d, Spielfi lm)<br />
Aberwitzige Komödie mitten aus dem Leben in Afrika,<br />
das auf der Leinwand in seiner ganzen Buntheit blüht.<br />
(Ab 3.11.)<br />
Pier-Paolo-Pasolini-Tage 5.-8.11.<br />
Im Gedenken an diesen gross<strong>art</strong>igen italienischen Literaten,<br />
Intellektuellen und Regisseur, welcher vor dreissig<br />
Jahren unter tragischen Umständen ums Leben gekommen<br />
ist, zeigt das Kino Kunstmuseum eine kleine<br />
Filmreihe mit Pasolinis wohl bedeutendsten Filmwerken:<br />
«Accattone» (1961), «Mamma Roma» (1962), «Uccellacci<br />
e uccellini» (1965) und «Teorema» (1968). Höhepunkt<br />
der Pasolini-Tage ist der Besuch des deutschen Literaturkritikers<br />
Peter Hamm sowie der Regisseurin Karin<br />
Thome, welche am Sonntag, 6. November das 1969<br />
realisierte Filmporträt «Pier Paolo Pasolini» präsentieren.<br />
Die beiden Gäste erzählen über die Umstände, in<br />
denen dieses Filmdokument zu Pasolini entstanden ist,<br />
und berichten über ihre persönlichen Begegnungen mit<br />
ihm. Zur Einstimmung liest Peter Hamm einen selbst<br />
verfassten, unveröffentlichten Text zu Pasolini.<br />
QUEERSICHT 12.-13.11.<br />
Das Kino Kunstmuseum präsentiert eine Filmauswahl,<br />
welche das Alltagsleben von Lesben und Schwulen in<br />
den ehemaligen Ostblockländern zum Thema macht.<br />
Filmar en América Latina 14.-29.11.<br />
Während dreier Wochen werden im Rahmen des Festivals<br />
Filmar en América Latina in den Städten Genf,<br />
Lausanne, Biel - und neu nun auch in Bern - südamerikanische<br />
Filmproduktionen vorgestellt. Das Kino Kunstmuseum<br />
zeigt dazu ein Auswahlprogramm mit verschiedenen<br />
Schwerpunkten: eine umfassende Retrospektive<br />
über den bolivianischen Regisseur Jorge Sanjinés, eine<br />
Werkschau des jungen chilenischen Filmemachers Andrés<br />
Wood, einen Themenabend zum Filmland Peru<br />
und einen zu Migration. Als einer der bedeutendsten<br />
südamerikanischen Filmemacher hat Jorge Sanjinés<br />
in seinem Werk nicht nur die Geschichte Boliviens neu<br />
erzählt. Er hat auch der bolivianischen Kinematografi e,<br />
über die kaum etwas bekannt ist, zu einer gewichtigen<br />
Stimme verholfen. Berühmt ist Sanjinés vorwiegend<br />
wegen seiner Beiträge zu einem revolutionären, auch<br />
ästhetisch revolutionären Kino geworden. Mit seinem<br />
‚Kino der Refl exion’ leistet Sanjinés heute einen wichtigen<br />
politischen Beitrag zur Identitätsfi ndung gesellschaftlicher<br />
Minderheiten.
KI O<br />
i n d e r R e i t s c h u l e<br />
N<br />
Für das Tagesprogramm die Tageszeitung oder das Internet W W W . B E R N E R K I N O . C H<br />
LICHTSPIEL<br />
www.reitschule.ch / Telefon 031 306 69 69 www.lichtspiel.ch / Telefon 031 381 15 05 www.pasqu<strong>art</strong>.ch / Telefon 032 322 71 01<br />
Nichts schwerer, nichts leichter als das ... leben mit<br />
Behinderung<br />
«Das Vorurteil ist von der Wahrheit weiter entfernt als<br />
die Unkenntnis». Lenins Worte stehen als Leitsatz zum<br />
Zyklus über behinderte Menschen. Mit ernsten und humorvollen<br />
Spiel- und Dokumentarfi lmen über Behinderung<br />
sollen Unkenntnisse, Unwissenheit darüber umgewandelt<br />
und Ängste abgebaut werden. Die Filme werfen<br />
Fragen auf, wer über welche Menschen Entscheidungen<br />
treffen kann oder wer bestimmt, ob ein ungeborenes Leben,<br />
weil pränatal als behindert diagnostiziert, als nutzlos,<br />
von keinerlei Wert für die Gesellschaft abgestempelt<br />
und daher entweder abzutreiben ist, oder als Frühgeburt<br />
zu Forschungszwecken verwendet werden kann.<br />
Eindrücklich zeigt dies der autobiografi sche Film «Mein<br />
kleines Kind» von Katja Baumg<strong>art</strong>en. Die Regisseurin<br />
sowie betroffene Frauen und der Pränataldiagnostiker<br />
Matthias Meyer-Wittkopf werden nach dem Film am 26.<br />
November an einer Podiumsdiskussion teilnehmen.<br />
Weniger ernst geht es im Film «Verrückt nach Paris» zu:<br />
Drei Behinderte machen auf eigene Faust Urlaub vom<br />
Heim. Daraus entwickelt sich ein temporeiches Road-<br />
Movie, das an Witz und Situationskomik manch andere<br />
Komödie in den Schatten stellt und an dessen Ende die<br />
drei mit beneidenswerter Kraft und Verstand die Verwirklichung<br />
ihrer Träume vorangetrieben haben werden.<br />
(17.11.-17.12.)<br />
Neue Dokumentarfi lme aus der Schweiz,<br />
Argentinien und Brasilien<br />
«Oscar», «Bümpliz - ein Tag in der urbanen Schweiz»<br />
und «Zwischen Mauern und Favelas» sind drei Beispiele<br />
über Menschen, die sich in den sich immer schneller<br />
verändernden Gesellschaften kreativ behaupten. Der<br />
argentinische Taxichauffeur Oscar lehnt sich mit künstlerischen<br />
Aktionen gegen die Auswüchse einer Krisengesellschaft<br />
auf, die ins ärmste Qu<strong>art</strong>ier Berns abgedrängten<br />
AusländerInnen und ArbeiterInnen lassen eine<br />
farbige Subkultur aufblühen und in den brasilianischen<br />
Slums organisieren sich die FavelabewohnerInnen gegen<br />
eine ständig zunehmende brutale Polizeigewalt. (3.-<br />
5.11., 21.00h) www.reitschule.ch/reitschule/kino<br />
Queersicht: vom10. bis 14. November 2005.<br />
Dentro casa: la famiglia nel cinema italiano<br />
Unser November-Zyklus zeigt die italienische Familie<br />
in Klassikern wie, «Cronaca familiare» (1962) von Valerio<br />
Zurlini, der brillanten Verfi lmung des Romans von<br />
Pratolini in der sich zwei Brüder, die nach dem Tod ihrer<br />
Mutter getrennt wurden, nach Jahren wieder treffen<br />
(Mo 7.11., 20h) oder «La famiglia» von Ettore Scola<br />
(1986), einer hervorragend inszenierten Chronik, welche<br />
das Schicksal einer Familie und einer Nation von<br />
1906-86 spiegelt (Mo 14.11., 20h). In «La Stanza del fi -<br />
glio» (2001) erzählt Nanni Moretti berührend und präzis<br />
die Geschichte einer Familie, die einen schweren<br />
Verlust erleidet und daran beinahe zerbricht (Mo 21.11.,<br />
20h), «Ricordati di me» (2003) von Gabriele Muccino ist<br />
ein turbulentes Drama über eine mittelständische Familie,<br />
deren Welt aus den Fugen gerät, als die Tochter<br />
beschliesst, Showgirl am Fernsehen zu werden und die<br />
Hormone von Vater Carlos verrückt spielen, als er seine<br />
Jugendliebe wieder trifft (Mo 28.11., 20h)<br />
Sortie du labo<br />
Erneut zeigt das Lichtspiel sechs frisch restaurierte<br />
Kurzfi lme aus der Cinémathèque suisse, die einen Einblick<br />
in die Vielfalt des Schweizer Dokumentarfi lms von<br />
1917 bis 1938 geben. Das Spektrum reicht von der stummen<br />
Reisereportage aus Russland über das touristische<br />
Lehrstück bis hin zum avantgardistischen Industriefi lm.<br />
Präsentiert werden die Filme von den drei FilmwissenschaftlerInnen<br />
Anita Gertiser, Yvonne Zimmermann und<br />
Pierre-Emmanuel Jacques. Livebegleitung am Piano<br />
von Wieslaw Pipczynski (Mi 23.11., 20h).<br />
Frankenstein<br />
Zum Auftakt des Horror- und Gruselfi lmzyklus des StudentInnenfi<br />
lmclubs der Uni Bern im Lichtspiel gibt es<br />
einen absoluten Klassiker des Genres mit erstaunlichen<br />
Spezialeffekten und beeindruckenden Masken zu entdecken:<br />
den 1931 von James Whale gedrehten Stummfi lm<br />
«Frankenstein», in dem das Monster ins Leben gerufen<br />
wird (Mi 30.11., 20h). Musikalisch begleitet wird der Film<br />
von Andreas Bugs (Gitarre). Die ebenfalls von Whale gedrehte<br />
Fortsetzung, «The Bride of Frankenstein» (1935)<br />
folgt am 7.12. (20h).<br />
25<br />
10.11-12.12: Festival Filmar en América Latina im<br />
FILMPODIUM BIEL/BIENNE<br />
Nun bereits zum dritten Mal im FILMPODIUM BIEL/BI-<br />
ENNE: das Festival Filmar en América Latina - das einzige<br />
Filmfestival in der Schweiz, das sich ausschließlich<br />
dem Filmschaffen Lateinamerikas widmet.<br />
Die über zwanzig Filme lassen nicht nur die Herzen der<br />
LiebhaberInnen von südamerikanischem Kino höher<br />
schlagen: Vorpremieren und Reprisen, Dokumentar-,<br />
Spiel- und Kurzfi lme aus Mexiko, Kuba, Argentinien, Kolumbien,<br />
Chile und Brasilien bieten für alle einen Einblick<br />
in das jüngste und in der Schweiz kaum vertretene<br />
Filmschaffen dieser Region.<br />
Zum Beispiel:<br />
10.11: Die Vorpremiere von «Habana Blues» macht den<br />
Auftakt im FILMPODIUM. Zambranos Film («Solas») widmet<br />
sich den Problemen zweier Möchtegern- Rockstars,<br />
die gegen die Tücken des kubanischen Systems ankämpfen<br />
müssen.<br />
13.11: Oliver Stone’s Interview mit dem «Comandante»<br />
Fidel Castro höchstpersönlich: Dreißig Stunden<br />
Gesprächsmaterial hat Stone für den Film auf neunzig<br />
Minuten gekürzt – seine Fragen und Castros Antworten<br />
werden im O-Ton wiedergegeben.<br />
18.11: Pablo Traperos neuer Film «Familia Rodante»<br />
– ein vergnügliches Roadmovie, buntes Familiendrama<br />
und deftige Komödie: Die 84jährige Emilia aus Buenos<br />
Aires wird zur Hochzeit ihrer Nichte in ihren Geburtsort,<br />
im Norden des Landes, kurz vor der brasilianischen<br />
Grenze, eingeladen. Emilia mobilisiert ihren Sohn, dieser<br />
sein altes Wohnmobil Marke Chevy Wiking 1956, und<br />
die 14köpfi ge Großfamilie aus vier Generationen macht<br />
sich auf die über tausend Kilometer lange Reise...<br />
25.11: «Life and Dept» ist ein Dokumentarfi lm über die<br />
Auswirkungen der Globalisierung auf Jamaikas Industrie<br />
und Agrikultur.<br />
Vom 9.12-12.12, als Abschluss des diesjährigen Festivals,<br />
ein Film, der in die Beine fährt: «Brasileirinho» von Aki<br />
Kaurismakis Bruder Mika, ist eine liebevolle und genaue<br />
Dokumentation des Choro, der ersten urbanen, original<br />
brasilianischen Musik, die sich im Laufe der vergangenen<br />
130 Jahre zu einer faszinierenden Form moderner<br />
tropischer Klänge entwickelt hat.
26<br />
B Ü H N E<br />
ANDREA BAUMANN<br />
«lebendiges eisen» -<br />
ein fenster nach russland<br />
■ Ende November kommt das Berner Publikum im<br />
Theater Tojo in den Genuss eines russischen Theatererlebnisses,<br />
das in jeder Hinsicht unter die Haut geht:<br />
sprachlich, schauspielerisch, kulinarisch. Eine junge<br />
Theatertruppe aus St. Petersburg gastiert für vier Vorstellungen<br />
in Bern und gewährt Zuschauerinnen und<br />
Zuschauern einen Einblick in zeitgenössisches russisches<br />
Theaterschaffen. Erwähnenswert daran: Die drei<br />
Künstlerinnen und Künstler sprechen Russisch, entführen<br />
das Publikum in eine ferne, exotische Klangwelt,<br />
und gleichzeitig ermöglicht eine deutsche auf Leinwand<br />
projizierte Übersetzung Bernerinnen und Bernern, die<br />
des Russischen nicht kundig sind, der Handlung und den<br />
Dialogen auf der Bühne zu folgen.<br />
Seinen Anfang nahm dieses Gastspiel aus St. Petersburg<br />
diesen Frühling, als eine Übersetzerin aus Bern und<br />
drei junge Absolventinnen und Absolventen der Staatlichen<br />
Theaterakademie in St. Petersburg zusammentrafen<br />
und merkten, dass sie dank gemeinsamer Wünsche<br />
und Ziele wie füreinander geschaffen waren. Eine Zusammenarbeit<br />
drängte sich auf. Für Vanya, Nastya und<br />
Oleg, beseelt von der Idee, ihre Produktion «Schelesjaka»<br />
– unübersetzbar, kann in etwa jedoch mit «Lebendiges<br />
Eisen» wiedergegeben werden - ausserhalb ihres<br />
Heimatlandes zu zeigen, war die Übersetzerin aus der<br />
Schweiz ein Geschenk des Himmels. Umgekehrt waren<br />
die drei Künstlerinnen und Künstler für die Schweizerin<br />
ein Wink des Schicksals, ihren Wunsch zu verwirklichen,<br />
den Wunsch, mit einem eigenen Projekt zwischen Russland<br />
und der Schweiz kulturell zu vermitteln. Sie riefen<br />
das Projekt «Lebendiges Eisen» in die Welt, was so viel<br />
hiess wie: Ein Gastspiel der bereits bestehenden Produktion<br />
«Schelesjaka» in Bern organisieren.<br />
Worum geht es? «Schelesjaka» ist eine eigene Insze-<br />
Bild: zVg.<br />
nierung der drei russischen Künstlerinnen und Künstler,<br />
die auf dem zeitgenössischen russischen Theaterstück<br />
«You» von Olga Muchina basiert. Zwei Männer und eine<br />
Frau. Eine undefi nierbare Eisenkonstruktion, die ebenso<br />
ein Klettergerüst auf einem Kinderspielplatz sein kann,<br />
wie ein zu Metall gewordenes Symbol von Schicksalen<br />
und Wegen, die sich kreuzen. Dies ist das Ausgangsmaterial<br />
des vorliegenden Stücks; sein Grundgedanke ist<br />
schne ll erfasst: Es geht um ein Thema, das die Menschen<br />
seit jeher bewegt, den Kampf zweier Männer um<br />
eine Frau. In 18 Bildern bieten die Schauspielerinnen<br />
und Schauspieler Einblick in intime, komische, akrobatische<br />
oder nachdenklich stimmende Episoden aus dem<br />
Leben dreier Charaktere und deren Verstrickungen. Die<br />
Reihenfolge dieser Bilder ist dabei nicht starr und ein<br />
für allemal festgelegt, sondern wandelt und verändert<br />
sich ständig, eine Beweglichkeit, die das Stück lebendig<br />
erhält. Die Künstlerinnen und Künstler können das<br />
Stück somit an jeden neuen Ort anpassen und auf jedes<br />
Publikum aufs Neue eingehen. So auch an das Tojo Theater<br />
in Bern und das anwesende Publikum.<br />
Vanya, Nastya, Oleg und Barbara, alle sind sie überzeugt<br />
von der Verbindungskraft des Theaters über<br />
Staatsgrenzen hinweg und alle hoffen sie, dass ausser<br />
den Russinnen und Russen, die in und um Bern herum<br />
leben, auch ein paar Neugierige aus Bern ins Theater<br />
kommen und sich auf das interkulturelle Abenteuer einlassen.<br />
Mit russischer Originalsprache, hausgemachten<br />
Blinis und Vodka – direkt aus Russland importiert – ist<br />
ein direkter und unmittelbarer Zugang zur russischen<br />
Kultur garantiert. Der Kulturtransfer ist dabei übrigens<br />
nicht einseitig, denn auch für die Schauspielerinnen und<br />
Schauspieler aus Russland ist der Besuch in Bern ein<br />
Abenteuer. Ihrer ersten Reise in die Schweiz – für zwei<br />
von ihnen ist es sogar die erste Reise nach «Europa»<br />
- schauen sie voller Neugier und Spannung entgegen,<br />
und sie hoffen, durch ihren Besuch auch in Berührung<br />
zu kommen mit Mentalität, Sitten und Bräuche in der<br />
Schweizerischen Hauptstadt. Sie freuen sich auf Reaktionen<br />
der hiesigen Bevölkerung auf ihr Schaffen, und es<br />
wird nach der Vorstellung daher reichlich Gelegenheit<br />
geben, diese Begegnung zweier Welten zu vertiefen und<br />
persönlich werden zu lassen.<br />
Spieldaten:<br />
22., 24., 25. und 26. November 2005, jeweils<br />
um 20.30 im Theater Tojo Reitschule Bern.<br />
Abendkasse ab 19.30<br />
Reservation: Boogie Secondhand, Zytgloggelaube 4,<br />
Telefon 031 311 94 04<br />
STADTLÄUFER<br />
nr. 14 // bildschön. Was gibt es entspannenderes, als<br />
am Sonntag spät aufzustehen, noch dazu, wenn es sich<br />
um einen der letzten bildschönen Herbsttage handelt?<br />
Ein schweres, englisches Frühstück in der Laube und<br />
dann mit Schlaf in den Augen zum Verdauungsspaziergang<br />
an die Aare, wo es Ausfl ügler im Hochgefühl und<br />
Enten im Tieffl ug zu beobachten gibt.<br />
Wir versuchens an der Riviera: Alle regulären Sitzgelegenheiten<br />
(Stühle, Liegestühle, Sofas) sind ausgebucht,<br />
aber auf der Glasplatte, durch die man direkt auf<br />
die Schwelle hinab sehen kann, sind noch Plätze frei.<br />
Die Sonnenstrahlen lassen die Herbstfarben so richtig<br />
leuchten, wir wähnen uns im Paradies und rekapitulieren<br />
die Erlebnisse des Sommers. Nach zwei Stunden<br />
ergattern wird doch noch zwei Liegestühle, und nun blicken<br />
wir direkt auf die Bäume mit ihren fallenden Blättern<br />
– irgendwie freue ich mich jetzt schon auf die kalte<br />
Jahreszeit.<br />
Wir reservieren uns einen Platz im Roseng<strong>art</strong>en für<br />
den Abend und bekommen den grossen runden Tisch in<br />
der Ecke. Freunde kommen dazu, die Sonne geht irgendwo<br />
hinter dem Jura unter und färbt alles rot, die ersten<br />
Lichter der Stadt fl ackern auf.<br />
Das Essen im Dämmerlicht ist köstlich: Maispoulardenbrust<br />
mit Babyananas, Saisongemüse und Reis.<br />
Früher wäre ich wohl kaum hierher gekommen, aber in<br />
zwei Etappen wurde die alte Beiz mit Fokus auf Fritteuse<br />
und Stammtisch in ein Trendlokal mit Lounge-Charakter<br />
umgewandelt. Die Transformation ist gelungen. An alle<br />
Stadtläufer da draussen: Unbedingt den runden Tisch in<br />
der Ecke reservieren! (al)
EVA PFIRTER<br />
VON MENSCHEN UND MEDIEN<br />
Weshalb unterstützt die Universitätsleitung das Fach Medienwissenschaft nicht?<br />
■ Alles, was wir von der Welt wissen, wissen wir von den<br />
Medien. In der Interaktion mit Kultur, Wirtschaft und Politik<br />
spielen Medien eine immer wichtigere Rolle. Medienschaffende<br />
können mit ihrer Berichterstattung CEO’s zu<br />
Fall und Politiker in Erklärungsnotstände bringen. Oder<br />
aber einem «Musicstar» mit entsprechender Publicity zu<br />
kurzer Berühmtheit verhelfen.<br />
Die Medien suchen in ihrer Orientierungsfunktion die<br />
Wirklichkeit abzubilden und schaffen dadurch eine neue<br />
Wirklichkeit, die nur selten objektiv ist. Wer Zeitung liest<br />
oder die Tagesschau schaut, ist sich dessen kaum bewusst.<br />
Die immer stärkere Vernetzung der Welt macht<br />
uns glauben, jederzeit via Medien objektiv informiert zu<br />
sein. Den Tsunami in Südostasien scheinen wir ebenso<br />
hautnah miterlebt zu haben wie die Stimmung nach der<br />
Wiederwahl von George W. Bush in New York. Doch ist es<br />
nicht gerade dann nötig, sich den Spielregeln und Tücken<br />
der Medienmaschinerie bewusst zu werden, wenn diese<br />
immer stärker unsere eigene Wirklichkeit prägen?<br />
Ein Studium der Kommunikations- und Medienwissenschaft<br />
führt nicht zwingend ins Berufsfeld Journalismus<br />
oder Pressearbeit. Künftige Bundesräte, Konzerleiter<br />
und Kulturbetreiber sollten ebenso Bescheid wissen über<br />
Propaganda und Pseudo-Ereignis wie angehende Feuilletonisten.<br />
Doch leider scheinen das viele noch immer misszuverstehen:<br />
Medien sind nicht bloss interessant für Medienschaffende,<br />
sondern betreffen uns alle, durchdringen<br />
unser Leben tagtäglich - ob uns das lieb ist oder nicht.<br />
Auch die Berner Universitätsleitung scheint sich<br />
weder über Bedeutung noch Inhalt des Instituts für<br />
Kommunikations- und Medienwissenschaft im Klaren zu<br />
sein. Neben einigen medienpraktischen Kursen wird vor<br />
allem Grundlagenforschung betrieben; jene Forschung,<br />
die für die Fachhochschulen nötig ist, um Journalisten<br />
und PR-Fachkräfte seriös ausbilden zu können.<br />
Natürlich: Kommunikations- und Medienwissenschaft<br />
ist ein junges Fach. Und muss deshalb immer<br />
wieder gegen Vorurteile kämpfen. Obwohl es besser ist<br />
als sein Ruf. Während das Fach in Basel linguistisch, in<br />
Zürich publizistisch und in Lugano unternehmenskommunikativ<br />
ausgerichtet ist, zeigt das Berner Institut klar<br />
sozialwissenschaftliche Tendenzen mit Schwerpunkt<br />
Politische Kommunikation - was begründet ist durch<br />
die politische und mediale Bedeutung der Stadt Bern.<br />
Das Berner Modell ist somit keinesfalls austauschbar<br />
mit einem Kommunikations- und Medienwissenschaftsstudium<br />
in einer anderen Schweizer Stadt. Nicht zuletzt<br />
auch, weil man mit Roger Blum einen äusserst fähigen<br />
Praktiker und Vermittler an Land gezogen hat.<br />
Am Podium «Wieviel Medienwissenschaft braucht<br />
Bern?» versteckte sich Rektor Urs Würgler hinter Sparmassnahmen<br />
und fand, das «Problem Medienwissenschaft»<br />
müsse gesamtschweizerisch diskutiert werden.<br />
Konkrete Gespräche fanden bisher aber keine statt.<br />
Statt den hohen Studentenzahlen gerecht zu werden,<br />
begründet Würgler die mangelhafte Unterstützung<br />
C A R T O O N<br />
www.fauser.ch<br />
27<br />
damit, in erster Linie müssten Hauptfächer gefördert<br />
werden. Da das Fach Kommunikations- und Medienwissenschaft<br />
aber keine Ausbaumittel erhält, kann es nicht<br />
Hauptfach werden. Und weil es nicht Hauptfach ist, erhält<br />
es keine Ausbaumittel.<br />
Sieben positive externe Evaluationen, eine studentische<br />
Petition und ein offener Brief des prominenten Beirats<br />
des Fördervereins für Kommunikations- und Medienwissenschaft<br />
konnten die Verantwortlichen nicht zu einer<br />
anderen Haltung bewegen. Man schämt sich nicht, zuzuschauen,<br />
wie sich der einzige Dozent mit 80 Stunden-Wochen<br />
abrackert. Und über 900 Studierende im<br />
schlechtesten Betreuungsverhältnis des Schweiz ein<br />
Fach studieren, das zweifelsohne Zukunft hat. Medien<br />
schaffen Realitäten und haben eine Macht, die unheimlich<br />
ist. Die aktuelle Hysterie um eine allfällige Volgelgrippe-Epidemie<br />
zeigt dies auf eindrückliche Art und<br />
Weise. Der Pharmakonzern Roche hat seinen Verkauf<br />
von Tamifl u um mehr als 240 Prozent gesteigert. Ohne<br />
Medien wüssten wir nicht einmal von den Volgelgrippe-<br />
Fällen in Kroatien und Russland.<br />
Die alten, historisch begründeten Wissenschaften<br />
haben ihre Berechtigung. Aber es wäre auch an der<br />
Zeit, der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung<br />
Rechnung zu tragen und einem jungen Fach Raum zu<br />
geben. Gerade hier, in der Stadt Bern. Anstatt das Problem<br />
typisch schweizerisch den anderen Kantonen und<br />
ihren Universitäten zuzuschieben.
28<br />
M E N S C H E N<br />
EVA MOLLET<br />
christoph simon<br />
... oder warum Franz Obrist neben einem Dachs läuft<br />
n Christoph Simon spricht manchmal grossväterlich:<br />
«Ich bin geworden, der ich bin.» Und gleichzeitig blitzt in<br />
seinem Gesicht schelmische Jugendlichkeit. Das verhilft<br />
ihm dazu, eher als Schlitzohr, als mit stärkeren Ausdrücken<br />
bezeichnet zu werden, wenn er eine unliebsame<br />
Handlung vollzieht. Er kann dich angucken mit glänzenden<br />
Augen, als stünde er vor dem Weihnachstbaum mit<br />
einem Haufen Geschenke.<br />
Christoph veröffentlicht nach «Franz oder warum Antilopen<br />
nebeneinander laufen» und «Luna Llena» seinen<br />
dritten Roman mit dem Titel: «Planet Obrist».<br />
Wie gelangt ein junger Autor zu so vielem Schreiben?<br />
Christoph Simon kommt in Langnau zur Welt. Er wächst<br />
in Unterseen auf. Der Vater ist Bankier, die Mutter Arztgehilfi<br />
n. Christoph besucht die Mittelschule in Thun.<br />
Schon während dieser Zeit füllt er Notizhefte mit Texten<br />
und Zeichnungen. Er spielt Gitarre und unterbricht<br />
das Gymnasium, um sich auf die Jazzschule vorzubereiten.<br />
Es ist nicht der richtige Weg. Christoph kehrt an<br />
den Gymer zurück. Da ist der Schauplatz seines ersten<br />
Romans.<br />
Der Vater gibt Christoph dreitausend Franken, um Auto<br />
fahren zu lernen. Er kann bis heute nicht Auto fahren.<br />
Er investiert das Geld in eine grosse Reise. In Israel, Aegypten,<br />
Jordanien und Südamerika verdient er Geld mit<br />
Gelegenheitsjobs und er füllt Notizbücher mit seinen<br />
Erlebnissen. Er merkt, die innere Unzufriedenheit, die<br />
Suche nach dem Glück und Antworten auf die Frage,<br />
was das Leben lebenswert macht, lassen sich beiseite<br />
schieben. Primäres ist auf der Reise wichtig: Wohin<br />
führt mich der Weg? Auskommen mit wenig Geld, die<br />
Suche, nach dem nächsten Dach über dem Kopf, fl üchtige<br />
Bekanntschaften, manche amourös. «Man erlebt<br />
viel unterwegs, ohne einer Ordnung oder einer Richtung<br />
zu unterliegen. Reisen verdeckt innere Strukturen.» Die<br />
Notizen von diesen Unterwegs-sein-Feelings dienen als<br />
Ausgangslage für den neuen Roman «Planet Obrist».<br />
Zurück in der Schweiz beginnt Christoph in Basel das<br />
Psychologiestudium. Nach zwei Jahren bricht er ab. Das<br />
Interesse an den Menschen bleibt, aber nicht auf eine<br />
wissenschaftliche, sondern auf eine künstlerische Art.<br />
Er schreibt sein erstes Buch.<br />
Christoph zieht nach Bern. Er wohnt im Breitenrainqu<strong>art</strong>ier<br />
in verschiedenen WGs. Sein zweiter Roman<br />
«Luna Llena» ist eine Liebeserklärung an das bevorzugte<br />
Qu<strong>art</strong>ier und an die Beiz mit dem fremdländischen<br />
Namen. Mit dem Titel hofft Christoph auf lebenslänglichen<br />
Gratiskaffee im Luna Llena. Dieser Wunsch hat<br />
sich bis heute nicht erfüllt.<br />
Das Motiv für den neuen Roman ist die weite Welt. Zumindest<br />
schafft es der Protagonist Franz Obrist bis nach<br />
Slowenien. Es ist für Christoph eine literarische Herausforderung,<br />
die verschiedenen von Franz bereisten Orte<br />
zu beschreiben. Der dritte Roman knüpft an den ersten<br />
an: Franz stürzt ab. Seine Mutter stirbt und Franz macht<br />
einen Selbstmordversuch. Der Ausweg ist das Reisen -<br />
nicht alleine - zusammen mit dem Dachs. «Die verlängerte<br />
Pubertät ist das Vorrecht junger Leute, bevor sie<br />
sich in die Gesellschaft integrieren», fi ndet Christoph<br />
Simon.<br />
Christoph ist gerade Vater geworden. Vielleicht ist das<br />
Projekt Kind, die Reproduktion, abgeschlossen oder<br />
hat gerade erst angefangen. Christoph hat ein romantisches<br />
Bild von der lebenslangen Liebe. Das tönt aber<br />
auch nach lebenslänglich. Es ist sowohl Hoffnung, wie<br />
Befürchtung. Christoph bezeichnet seine Familie lieber<br />
Bild: Eva Mollet<br />
als Planwagen. Seine Vorbilder sind u.a. die Revolverhelden.<br />
Sie lösen ihre Probleme selber oder sterben dabei.<br />
Gelöst ist gelöst.<br />
Das Leben und das Umfeld sind der Rohstoff seiner Literatur.<br />
Das Schreiben ist die Raffi nerie zur Veredelung.<br />
«Es geht mir darum, die Welt schöner zu machen. Und<br />
um Heiterkeit, die immer wieder gefährdet ist. Abgründe<br />
sind Material, um darüber zu schreiben.» Auf diesem<br />
Weg will Christoph weiter gehen. Seit dem ersten Buch<br />
kann er vom Schreiben leben. Sein Stundenlohn beträgt<br />
die letzten vier Jahre sieben Franken neunzig. Das sagt<br />
er ohne Bitterkeit. Christoph fi ndet, er hat viel Glück, da<br />
er durch das Schreiben machen kann, was ihm gefällt.<br />
Gedanken festzuhalten, bedeutet Verwirklichung.<br />
Ein nächstes Buch zu schreiben ist seine einzige angestrebte<br />
Zukunft. Es gibt noch viele Geschichten zu erzählen.<br />
Seit fünf Jahren trifft sich Christoph Simon regelmässig<br />
zum literarischen Austausch mit den «Autören». Die<br />
Gruppe von vier Schreiberlingen bespricht ihre Texte.<br />
Gemeinsam suchen sie nach den Stolpersteinen. Sie verstehen<br />
das Schreiben als Prozess und distanzieren sich<br />
vom Klischee des einsamen Literaten im stillen Kämmerlein.<br />
Die «Autören» verbindet eine freundschaftliche<br />
Vertrauensbasis. Männer mögen Clubstrukturen.<br />
Christoph Simons Lieblingssatz aus dem Roman «Planet<br />
Obrist» lautet: «Ich kenne niemanden, bei dem die<br />
Oberfl ächlichkeit so tief sitzt, wie bei Ihnen.», sagt der<br />
Dachs zu Franz Obrist im gedanklichen Zwiegespräch.<br />
Warum ist es ein Dachs, der neben Franz Obrist läuft?<br />
«Weil Katzen und Hunde zu gewöhnlich sind, und ein<br />
Pferd ist zu gross.»
ensuite - kulturmagazin<br />
präsentiert die Kunst-Sonderbeilage:<br />
<strong>art</strong>ensuite<br />
meret oppenheim-brunnen<br />
ein ewiges berner<br />
diskussionsmal<br />
2927<br />
<strong>art</strong>ensuite
30<br />
<strong>art</strong>ensuite<br />
Simon Baur, lebt als Kurator<br />
und Publizist in Basel<br />
und Berlin. Er bereitet in<br />
Zusammenarbeit mit Lisa<br />
Wenger Oppenheim eine<br />
Publikation vor, die Teile des<br />
schriftlichen Nachlass von<br />
Meret Oppenheim vorstellt.<br />
Ab 1. Juni bis 15. Oktober<br />
2006 zeigt das Kunstmuseum<br />
Bern eine Retrospektive<br />
Meret Oppenheim.<br />
Ich weide meine Pilze aus...<br />
■ «Mein Vorschlag war, eine von<br />
oben an rundum mit Wasser berieselte<br />
Säule zu machen. Um die Säule sollte<br />
eine Spirale aus unterbrochenen Rinnen<br />
laufen. Von einer Rinne in die an-<br />
von Simon Baur<br />
dere sollte Wasser träufeln oder laufen.<br />
Und zwischen dieser Spirale sollte sich<br />
eine zweite mit grünen Pflanzen (Gras,<br />
Unkraut) bewachsene Spirale winden.<br />
Damit die Säule oben nicht wie abgeschnitten<br />
aussehe, hatte ich die Idee,<br />
den kleinen Rund-Pavillon darauf zu<br />
setzen.<br />
Als ganzes machte der Brunnen<br />
eher einen «romantischen» Eindruck,<br />
und ich konnte mir vorstellen, dass er<br />
sich gut in die Umgebung einpassen<br />
werde.<br />
Weil die Pflanzenspirale das vom Turm<br />
herunter fliessende Wasser zu sich herüberleitet,<br />
sollte einem, wenn man sich<br />
nahe an die Brunnensäule stellt, ein<br />
leichter Sprühregen entgegenkommen,<br />
wie in der Nähe eines Wasserfalles. (...)<br />
Darum herum, auf die dem Brunnen<br />
abgewendete Seite, sollen grössere und<br />
kleinere Felsbrocken (oder Stücke), 50<br />
– 80 cm hoch, gestellt werden, die auch<br />
als Sitze benützt werden können.»<br />
Der obenstehende Abschnitt stammt<br />
aus einem Text mit dem Titel: «Habt<br />
Geduld», gefunden im schriftlichen<br />
Nachlass von Meret Oppenheim. Es ist<br />
dieser Geduld zu verdanken, dass der<br />
Brunnen heute noch steht, denn nach<br />
wie vor scheiden sich die Geister über<br />
den Sinn und Wert dieser Arbeit. Davon<br />
soll in diesem Text aber nicht die<br />
Rede sein, da ich eine Position bereits<br />
bezogen habe: bei jedem Bernbesuch<br />
erweise ich ihm meine Referenz, und<br />
auf die Geister kommen wir vielleicht<br />
noch, sie spielen im Werk von Meret<br />
Oppenheim eine zentrale Rolle.<br />
Die Zitate scheinen mir doch einige<br />
Hinweise auf Meret Oppenheims Gedanken<br />
zu geben, die sich in veränderten<br />
Formulierungen auch in anderen<br />
Werken finden. Aus Anlass des 20.<br />
Todestages von Meret Oppenheim, am<br />
15. November, soll über dieses Wahrzeichen<br />
der Stadt Bern, das heute bekannter<br />
ist als der Bärengraben oder<br />
das Bundeshaus, nach gedacht werden.<br />
«Wildrose», «Kristall» und Wasserpavillon<br />
«Unterm Teich» heissen Brunnenmodelle,<br />
die Meret Oppenheim für<br />
eine Ausstellung in der Kunsthalle Bern<br />
1982 schuf. Bereits die Titel verweisen<br />
auf eine Vorstellung, das neben der realen<br />
noch eine weitere, verwunschene<br />
Welt existiere. E.T.A. Hoffmann hat<br />
einmal von sich behauptet er sei «ins<br />
Kristall gefallen», womit er auf seine<br />
Jugend in einer surrealen Welt anspielte.<br />
Doch auch die Wildrose lässt an<br />
Dornröschen denken, hinter deren Dickicht<br />
eine eigene Welt im Tiefschlaf<br />
ruhte und der Pavillon referiert auf eine<br />
arkadische Landschaft, der solche Gebäude<br />
eigen sind. In den Zeichnungen,<br />
die zum Brunnen in Bern erhalten sind,<br />
finden sich pflanzliche Elemente, aber<br />
auch die Spiralen und das Wasser und<br />
jeweils auch der oben drauf sitzende<br />
Pavillon.<br />
Einige Monate nach diesen Arbeiten,<br />
entsteht im August 1981 die Arbeit<br />
«Blaue Blume auf Schwarz», die als<br />
Schlüsselwerk gesehen werden kann,<br />
bei der Frage, um was es Meret Oppenheim<br />
mit ihrem Brunnen gehen könnte.<br />
Auch in einer Zeichnung, die im Herbst<br />
desselben Jahres entstand ist die Situation<br />
der Gesamtanlage zu sehen, wobei<br />
sie die Blickrichtung so gewählt hat,<br />
dass der Brunnen vor den entlaubten<br />
Bäumen im Hintergrund steht. Je nach<br />
Standort, den man vor dem Brunnen<br />
einnimmt, ändert sich auch seine<br />
Aussage: Doch immer bleibt der locus<br />
amoenus das Hauptthema, das ist kein<br />
Zufall.<br />
In der Einleitung zum Katalog, anlässlich<br />
des Legats Meret Oppenheims<br />
an das Kunstmuseum Bern, hat Christoph<br />
von Tavel die künstlerische Qualität<br />
der Künstlerin treffend charakterisiert:<br />
«Im Unterschied zu ihren meisten<br />
Zeitgenossen hat sie die Formen ihrer<br />
Aussage nicht kontinuierlich vervollkommnet,<br />
sondern hat jedes Werk aus<br />
schöpferischen Urgründen, Träumen,<br />
Assoziationen, Spielen, Gedanken neu<br />
erstehen lassen. So besteht eine wesentliche<br />
Qualität dieser Künstlerin im<br />
unerw<strong>art</strong>eten, immer wieder wechselnden<br />
Zusammenfügen und Aneinanderreihen<br />
verschiedener Materialien und<br />
Inhalte in bildnerischer und dichterischer<br />
Form.»<br />
Das obenstehende Zitat Meret Oppenheims<br />
und die eben zitierte Charakterisierung<br />
implizieren, dass der<br />
Brunnen aus verschiedenen Elementen<br />
besteht, die wie Zitate aus älteren<br />
Arbeiten in diesen einfliessen. 1939<br />
entsteht das Bild «Die Waldfrau». Ein<br />
Kind macht mit dem linken Arm eine<br />
Geste in Richtung einer gekrönten.<br />
übergrossen Figur, die mit Blättern und<br />
Blumen bedeckt, halb Mensch halb<br />
Schlange ist und zwischen den Bäumen<br />
eines Waldes hindurch geht. Gut zwanzig<br />
Jahre später entsteht der «Berggeist»,<br />
eine zylinderförmige Figur, die<br />
auf Armhöhe wie eine Bauchlade vor<br />
sich trägt und deren obere Öffnung<br />
von einer hutähnlichen Bedeckung<br />
verschlossen ist. Ummantelt ist die Figur<br />
von Steinsplittern. Oder die Arbeit<br />
«Wolken auf Brücke», die sechs asymmetrische<br />
Formen zeigt, die auf unterschiedlich<br />
gedrechselten Rohren sitzen<br />
und eher an Pilze denn an Wolken erinnern.<br />
Analogien sind nicht bloss in der<br />
äusseren Erscheinung auszumachen.<br />
Das Ambiente des Pavillons findet eine<br />
Entsprechung im «Belvedere» jenem<br />
kleinen G<strong>art</strong>enhaus neben der Kirche<br />
in Carona, in das sich Meret Oppenheim<br />
gerne zurückzog, oder auch in der<br />
Beschäftigung mit Spirale und Schlangenbewegungen,<br />
mit dem Wachsen und<br />
Vergehen, in Gedichtstrophen wie «ich<br />
weide meine Pilze aus...».<br />
Wenn Meret Oppenheim über ihren<br />
Brunnen sagt: «ich konnte mir vorstellen,<br />
dass er sich gut in die Umgebung<br />
einpassen werde», so könnte sie, wenn<br />
wir uns den Standort vergegenwärtigen,<br />
mit dem Brunnen an einen surrealen<br />
oder besser subversiven Angriff<br />
gedacht haben. Neben Polizeikaserne,<br />
einem trostlosen Platz und umgeben<br />
von Schnellstrassen wirkt dieser Brunnen,<br />
wie eine Gegenwelt, ein «Paradies-Gärtlein»<br />
im städtischen Ambiente,<br />
in dem neben bunten Blumen,<br />
Schmetterlingen und kleinen Wolken<br />
auch eine kleine Ringelnatter und ein<br />
Schar weidender Waldpilze gesehen<br />
wurden. Nun fehlen nur noch die von<br />
Meret Oppenheim vorgesehenen Steine,<br />
die zum Verweilen einladen.
Wie es ist.<br />
■ Bild, Bewegung und Sprache. Damit<br />
beschäftigt sich seit gut 60 Jahren<br />
Robert Frank - geboren 1924 in Zürich.<br />
Mit «Les Américains» (1958) wurde<br />
Robert Frank berühmt. 83 Fotografien<br />
von Dominik Imhof<br />
nahm Frank in diesen Fotoband auf,<br />
nur ein Bruchteil der über 20ʻ000 Aufnahmen,<br />
die er zwischen April 1955<br />
und Juni 1956 auf seiner Reise durch<br />
48 Staaten der USA gemacht hat. Er<br />
war nicht der erste Fotograf, der sich<br />
mit den USA des 20. Jahrhunderts<br />
beschäftigte (und schon gar nicht der<br />
letzte). Bereits in den 30er Jahren fotografierten<br />
und dokumentierten Fotografen<br />
die amerikanische Bevölkerung<br />
der Depressionszeit. Oder Walker<br />
Evans, der 1938 einen Fotoband über<br />
Amerika publizierte. Doch Frank<br />
schafft etwas ganz Neues. Unscharf,<br />
grobkörnig und kontrastarm sind die<br />
Fotografien. Nicht von Distanz und<br />
Ironie, «nobler Zurückhaltung» und<br />
«erhellender Untertreibung» (wie Susan<br />
Sontag es ausdrückt) gekennzeichnet,<br />
wie diejenigen von Evans. Sie sind<br />
lyrisch und sind zutiefst subjektiv, aber<br />
auch ungeschönt. Als der Band 1959 in<br />
den USA unter dem Titel «The Americains»<br />
erschien, musste Frank harsche<br />
Kritik entgegennehmen: Anti-amerikanisch<br />
seien seine Fotografien, dabei<br />
hielt er doch nur fest, wie es ist. Aber<br />
gerade sein subjektiver Blick zeigte<br />
ungeschönt die Leere Amerikas am<br />
Ende der 50er Jahre, die dunklen Seiten<br />
des «American way of life» wie sie<br />
vorher vielleicht nur vom «Film Noir»<br />
hervorgehoben wurden. Die Kehrseiten<br />
des «American dream». Die US-<br />
Flagge, amerikanische Statussymbole<br />
und den Patriotismus der Zeit hält<br />
er fest; assoziativ sind die einzelnen<br />
Fotografien verbunden, mehr an wiederkehrenden<br />
Themen und Motiven<br />
festhaltend, als an einer Erzählung.<br />
Kein Anfang und kein Ende. Keine<br />
erzählerische Situation, wobei ein Bild<br />
auf das nächste und das vorhergehende<br />
verweist. Vielmehr sind es Zeit-Bilder,<br />
verweisen auf etwas dazwischen, auf<br />
eine Bewegung.<br />
Diesen Moment der Bewegung<br />
thematisiert Frank 1958 in der Serie<br />
«New York Bus». Aus dem fahrenden<br />
Bus schiesst er scheinbar zufällige<br />
Schnappschüsse von New York, seinen<br />
Bewohnern, Strassen und Gebäuden.<br />
Gerade in diesem Zufälligen erscheinen<br />
die Fotografien inszeniert, in ihrer<br />
Spontaneität komponiert. Der Blick<br />
zwischen zwei Bussen hindurch, hinein<br />
in eine für New York so typische<br />
Strassenschlucht - im Gegenlicht. Und<br />
dazwischen ein einzelner Mann, über<br />
die Strasse hastend, einen unendlich<br />
langen Schatten ziehend. Poetisch und<br />
schlicht schön.<br />
Noch 1947 war Frank in New York<br />
und arbeitete als Modefotograf am<br />
renommierten Magazin Harperʻs Bazaar,<br />
was ihn kaum befriedigte: zu<br />
eingeschränkt die Möglichkeiten, zu<br />
stark gebunden an das Magazinformat.<br />
Also brach Frank aus und auf,<br />
reiste bis Mitte der 50er Jahre durch<br />
Südamerika, Europa und die USA.<br />
Er machte Fotoserien über Peru und<br />
über Paris, über die einfachen Arbeiter,<br />
Banker und spielenden Kinder<br />
im Nebel durchfluteten London, oder<br />
über Ben James, einen Minenarbeiter<br />
in Wales. Dazwischen steht aber noch<br />
eine oft ausgeblendete Fotoserie, die<br />
nun in Winterthur für einmal zu sehen<br />
ist und damit die Ausstellung wunderbar<br />
abrundet. Frank dokumentierte<br />
(wenn man dies bei Frank überhaupt<br />
so nennen will oder kann) die Appenzeller<br />
Landsgemeinde in Hundwil.<br />
Hier gibt es noch ein Anfang und ein<br />
Ende. Eine Erzählung. Eine Form, die<br />
Frank in seinen übrigen Arbeiten bewusst<br />
negiert.<br />
Und plötzlich etwas vollkommen<br />
Neues. Aber auf keinen Fall überraschend.<br />
Was Frank in Form der Fotografie<br />
bereits thematisiert hatte - Bild<br />
und Bewegung -, beschäftigt ihn ab<br />
1959 im Medium des Films. Aus Angst<br />
sich in der Fotographie zu wiederholen,<br />
wollte er etwas Neues versuchen,<br />
die erweiterten Möglichkeiten des<br />
Films kamen ihm da nur entgegen. Zur<br />
Wahl von Ausschnitt, Licht, Kontrast,<br />
kommt jetzt noch Ton und Sprache<br />
hinzu. Sein erster Film «Pull My Da-<br />
isy» von 1959 ist auch ein Dokument<br />
der Beat-Generation um Jack Kerouac<br />
(der das Vorwort zu «The Americans»<br />
schrieb) und Allen Ginsberg. Zwar im<br />
Stil eines Home-Movies gedreht - wie<br />
so viele von Franks Filmen -, doch in<br />
Tat und Wahrheit präzis inszeniert, im<br />
gut ausgeleuchteten Studio, teils mit<br />
Schauspielern. Immer wieder bricht<br />
Frank mit den Sehgewohnheiten des<br />
Mainstream-Kinos in seinen Filmen.<br />
Sie sind nicht Fiktion und nicht Dokumentarfilm,<br />
das Objektive geht ihnen<br />
ab und an seine Stelle tritt der subjektive<br />
Blick der Kamera. Halbdokumentarisch<br />
und halbautobiografisch. Die<br />
eigene Person, seine Familie und seine<br />
Schicksalsschläge (seine beiden Kinder<br />
sind früh gestorben) treten immer öfter<br />
ins Zentrum.<br />
Seit den 70er Jahren ist aber parallel<br />
zum Film auch die Fotografie wieder<br />
ein Thema, jetzt in Form des Polaroidbildes.<br />
Nicht mehr dem Einzelbild, sondern<br />
assoziativ verbundenen Bildfolgen<br />
widmet Frank seine Aufmerksamkeit.<br />
Eine ganz eigene Art der Collage entstand:<br />
Bild und Sprache. Sprache als<br />
Orts- und Zeitangaben, als Einzelwörter<br />
und Wortreihen eingeschrieben in<br />
Polariods: «Blind. Love. Faith»!<br />
Bild, Bewegung und Sprache. Das<br />
subjektive Bild eines Künstlers, der<br />
zeigt, wie es ist. Bewegung, die zwischen<br />
Einzelbildern aufflackert und in<br />
die Beschäftigung mit dem bewegten<br />
Bild des Films mündet. Sprache, die<br />
in Bilder integriert ist - als Verstärkung<br />
des Subjektiven. Robert Frank<br />
als Künstler, der nie aufgibt und nie<br />
aufhört, das Medium wechselt und sich<br />
doch treu bleibt: Ganz subjektiv.<br />
Bild: From the Bus, 1958<br />
Silbergelatine-Abzug, 11x16.1 cm<br />
(c) Robert Frank/ Courtesy<br />
Pace/ MacGill Gallery, New<br />
York<br />
Robert Frank: Storylines<br />
Fotomuseum Winterthur<br />
und Fotostiftung Schweiz,<br />
Gützenstrasse 44/45. Eine<br />
Ausstellung organisiert von<br />
der Tate Modern in Zusammenarbeit<br />
mit dem Fotomuseum<br />
Winterthur und der<br />
Fotostiftung Schweiz. Geöffnet<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
11.00-18.00 Uhr, Mittwoch<br />
11.00-20.00 Uhr. Bis 20.<br />
November 2005. Zur Ausstellung<br />
erschien das Buch<br />
«Robert Frank: Storylines»<br />
und der Essayband «Essays<br />
über Robert Frank».<br />
Buch-Tipp: Susan Sontag,<br />
«Über Fotografie». Erstmals<br />
erschienen 1977.<br />
31 27<br />
<strong>art</strong>ensuite
32<br />
<strong>art</strong>ensuite<br />
Retrospektive<br />
Arbeiten des Druckateliers/<br />
Galerie Tom Blaess<br />
1990-2005<br />
Uferweg 10, 3013 Bern<br />
Vernissage:<br />
Sonntag 6. November 11-17 h<br />
Bis am 27. November 2005<br />
Farben wie an einem Wintermorgen<br />
■ Die Galerie Tom Blaess zeigt Arbeiten,<br />
die im eigenen Druckatelier<br />
entstanden sind. Tom Blaess wird<br />
nächstes Jahr fünfzig Jahre alt und<br />
fand den Zeitpunkt geeignet die letzten<br />
fünfzehn Jahre Revue passieren zu<br />
lassen. Eine Retrospektive mit Wer-<br />
von Helen Lagger<br />
ken von mehr als zehn renommierten<br />
Kunstschaffenden.<br />
Der aus den USA kommende Tom<br />
Blaess ist gelernter Steindrucker,<br />
Künstler und Galerist. Seine Lehre<br />
absolvierte er in San Francisco bei Ernest<br />
F. de Soto. Begeistert erzählt er<br />
von den dort entstandenen Kontakten<br />
und der Ausrichtung auf südamerikanische<br />
Kunst, die ihn auch jetzt noch<br />
fasziniert. Die eigene künstlerische<br />
Arbeit hat Tom Blaess zurückgestuft.<br />
Das Wichtigste ist ihm zurzeit das<br />
Druckatelier zu führen und die Künstler<br />
beim Arbeitsprozess zu begleiten.<br />
Die Beziehung zwischen Künstler und<br />
Drucker sei sehr delikat. Der Drucker<br />
berät und schlägt vor, darf aber<br />
niemals zu direkt auf das Werk Einfluss<br />
nehmen. Es ist ein kooperativer<br />
Prozess, in welchem der Drucker das<br />
Medium so nutzt, dass dem Feingefühl<br />
der Kunstschaffenden am besten entsprochen<br />
werden kann. Der Drucker<br />
fungiert als technischer Berater und<br />
hilft Texturen, Linien und malerische<br />
Formen herauszuarbeiten.<br />
Vor fünfzehn Jahren hat Tom Blaess<br />
sein Steindruck-Atelier in Merligen im<br />
Berneroberland eröffnet. 1999 konnte<br />
er schliesslich am Uferweg in Bern die<br />
ehemalige Gassner-Brauerei beziehen.<br />
Er hat mit unzähligen Künstlerinnen<br />
und Künstlern zusammengearbeitet.<br />
Die dabei entstandenen Lithographien<br />
und Monotypien werden jetzt in einer<br />
Retrospektive präsentiert. Darunter<br />
Werke der exzellenten Zeichnerin<br />
Minna Resnick aus New York oder des<br />
vor zwei Jahren verstorbenen Künstlers<br />
Harald Studer. Dieser bevorzugte<br />
Pflanzenmotive und stellte in seinen<br />
Bildern den Mikrokosmos der Flora<br />
dar. Die Textur eines Blattes wird bei<br />
Harald Studer zu einem ornamentalen<br />
Muster.<br />
Die Arbeiten anderer Künstlerinnen<br />
und Künstler bestechen vor allem<br />
durch sensible Farbkombinationen<br />
oder Mix-Media-Technik. Einige<br />
Kunstschaffende stammen aus dem<br />
Ausland: Gustavo Rivera aus Mexiko,<br />
Patsy Payne und Minna Resnick<br />
aus den USA und Marcin Kaligowski<br />
aus Polen. Tom Blaess hat den Schwerpunkt<br />
seiner Retrospektive allerdings<br />
auf Schweizerkünstler, oft aus Bern<br />
stammend, gesetzt. So werden beispielsweise<br />
die z<strong>art</strong>-nebulösen Arbeiten<br />
Kotscha Reists zu sehen sein. Dieser<br />
benutzt Farbtöne wie man sie an<br />
einem lieblichen Wintermorgen sieht.<br />
Bilder über denen eine Art Schleier zu<br />
hängen scheint. Kotscha Reists Motive<br />
haben oft Bezug zu eigenen Erinnerungen.<br />
Dies geschieht sehr subtil. Ein<br />
Stück Parkett der elterlichen Wohnung<br />
in Muri kann ebenso zu seinem Sujet<br />
werden wie ein faszinierender Schatten,<br />
den er in einem Pressebild gefunden<br />
hat.<br />
Auch mit Babette Berger, die vor<br />
allem durch ihre mit Oelfarbe gemalten<br />
Teppiche bekannt wurde, hat Tom<br />
Blaess zusammengearbeitet. Entstanden<br />
ist unter anderem ein Bild mit Mikado-Stäbchen.<br />
Das Bild hat etwas hyperreales,<br />
als könnten wir die Stäbchen<br />
packen. Die Arbeit ist gleichzeitig ein<br />
Produkt des Zufalls und der Ordnung.<br />
Das Bild ist konstruiert, wirkt aber als<br />
hätte tatsächlich ein Spieler die Hölzer<br />
zufällig hingeworfen und bei genauerem<br />
Hinsehen entdeckt der Betrachter<br />
kleine Unvollständigkeiten, welche die<br />
Illusion des Bildes durchbrechen.<br />
Tom Blaess kam nach Bern weil<br />
es Zeit war «sein eigenes Business»<br />
zu machen. Jetzt kann er bereits fünfzehn<br />
Jahre Revue passieren lassen und<br />
hat seinen Traum, ein Druckzentrum<br />
mit internationaler Ausstrahlung zu<br />
führen, verwirklicht. Kein American<br />
Dream, sondern eine umgekehrte Immigration.<br />
Tom Blaess lebte als Kind<br />
in Europa und wollte an den Ort des<br />
Geschehens, sprich in die Alte Welt,<br />
wo das Drucken entstanden ist, zurückkehren.
Willkommen in Zombietown - Knut Åsdam<br />
■ Grossstädte mit ihren Unorten,<br />
Plätze die kalt und leer sind, auch<br />
wenn sie von Menschen nur so wimmeln.<br />
Menschen, die vorbeihasten, auf<br />
der Suche, nach was, wissen sie selbst<br />
nicht und finden werden sie es sowieso<br />
nie. Die Anonymität der Grossstadt<br />
und der Versuch des Einzelnen sich<br />
darin einen Platz zu suchen, die Wechselwirkung<br />
von Individuum, Gruppe<br />
und Raum stehen im Mittelpunkt der<br />
drei Videoarbeiten des Norwegers<br />
Knut Åsdam (1968 geboren), die Philippe<br />
Pirotte in der neuen Ausstellung<br />
in der Kunsthalle Bern präsentiert. Die<br />
Kunsthalle ist dazu zu einer einzigen<br />
grossen Installation geworden: Die<br />
Einganshalle ist leer. Der Hauptsaal zu<br />
einem nächtlichen Park umgestaltet.<br />
Töne sind bereits hier zu hören. Wer<br />
sich durch den Park wagt, gelangt zu<br />
den zwei Videoarbeiten «Blissed» und<br />
«Filter City».<br />
Die Videoarbeiten sind wenig zugänglich.<br />
Sie sind relativ lang, in englischer<br />
Sprache (ohne Untertitel). In<br />
«Blissed« - einer Arbeit, die für die<br />
Kunsthalle entstanden ist - hören wir<br />
Z<strong>art</strong>e Farben, bewegte Strukturen<br />
■ Ende November erscheint der 41. Original-Holzschnitt-Kalender<br />
des Berner<br />
Holzschneiders M<strong>art</strong>in Thönen. Alljährlich<br />
gibt der in Thun geborene Künst-<br />
von Eva Pfirter<br />
ler zusammen mit seiner Frau im Eigenverlag<br />
einen Kalender heraus, der<br />
sich durch z<strong>art</strong>e Farbtöne, feine Linien<br />
und verspielte Strukturen auszeichnet.<br />
Die Blätter, die Holzschnitt-Liebhaber<br />
ein Jahr lang begleiten, befinden sich<br />
allesamt im Spannungsfeld zwischen<br />
«Chaos und Ordnung». Die 13 hand<br />
signierten unaufdringlichen Farbholzschnitte<br />
tragen verträumte Namen,<br />
die vor allem auf die Bildstruktur<br />
aufmerksam machen: «Marmoriert»,<br />
«Kalligraphisch», «Verflüssigt». Ideen<br />
für die Struktur der Holzschnitte bietet<br />
die Natur; Muscheln, Pflanzen und<br />
Eisblumen stehen Pate für Thönens<br />
Bildwelt. Hinzu kommt das Element<br />
der Bewegung, welche die Gleichmäs-<br />
verschiedenen jungen Menschen in<br />
ihren Diskussionen über ihre Beziehungen<br />
innerhalb der Clique zu, über<br />
ihre Freundschaft, über Gruppendynamiken.<br />
Unterbrochen wird dieser «Erzählstrang»<br />
(der sehr filmisch-narrativ<br />
wirkt) von langen Einstellungen, meist<br />
langsamen Kameraschwenks, welche<br />
Ansichten einer Stadt zeigen. Damit<br />
rückt die Stadt als weiterer Protagonist<br />
ins Zentrum, ist gleichgewichtig den<br />
Menschen, die der Betrachter in ihren<br />
ganz intimen Gesprächen belauscht.<br />
Und schnell einmal wird deutlich, wie<br />
wichtig die Stadt ist: die Orte und eben<br />
Unorte, in denen sich die Protagonisten<br />
aufhalten, die sie durchschreiten. Einer<br />
dieser Unorte ist natürliche auch der<br />
nächtliche Park, tagsüber ist er der Ort<br />
zum Verweilen, wo man sich trifft und<br />
Kinder spielen. Nachts das Gegenteil,<br />
nur wer Verborgenes und Unerlaubtes<br />
tun will, hält sich im nächtlichen Park<br />
auf.<br />
Die zweite Arbeit «Filter City» ist<br />
noch intimer. Hier sind wir Zeugen von<br />
Gesprächen zweier junger Frauen. Dabei<br />
ist spannend, wie sich die beiden in<br />
sigkeit der Bildstrukturen durchbricht.<br />
Schwingungen, Spiralbewegungen und<br />
Spiegelungen geben den Bildern Tiefenwirkung<br />
und fordern das Auge des<br />
Betrachters.<br />
Was auffällt ist die Affinität des<br />
Holzschneiders zu Wasser oder zu<br />
wasserähnlichen Formen. Das häufig<br />
auftauchende Blaugrau, die sanften<br />
Wellenlinien und eiskristallähnlichen<br />
Formen ziehen sich wie ein roter Faden<br />
durch den Holzschnitt-Kalender<br />
2006. Die Farbtöne sind grundsätzlich<br />
unserer Umwelt entlehnt: grün, braun,<br />
blau-meist mit grau vermischt-erinnern<br />
an Bergseen, Moosflechten und<br />
Gestein oder Geröll.<br />
Der 1942 geborene Kunstschaffende<br />
arbeitet in drei Ateliers in Bern,<br />
Huémoz und Schmitten. Nach einer<br />
Lehre als Typograph genoss der Thuner<br />
Ausbildungen an den Schulen für<br />
Gestaltung in Bern, Vevey und Genf.<br />
Nebst diversen Stipendien unternahm<br />
Thönen Studienreisen nach Marokkko,<br />
ihren Gesprächen einbringen, wie sie<br />
Rollen übernehmen und wie auch hier<br />
ihre Umgebung - ein Spielplatz zum<br />
Beispiel - einbezogen ist. Die Videoarbeit<br />
«Abyss» (im Untergeschoss) zeigt<br />
schiesslich ein Kaleidoskop von Eindrücken:<br />
stets Stimmen, graue Leinwand,<br />
und wieder junge Menschen,<br />
jedoch aus ihrer Umgebung losgelöst,<br />
im luftleeren Raum schwebend.<br />
Ein wenig Ausdauer ist von Nöten;<br />
die Ausstellung ist sperrig; sobald man<br />
jedoch den Zu- und Eingang gefunden<br />
hat, werden sie spannend, gehen tief<br />
und lassen keinesfalls kalt. Bern ist<br />
ja nicht wirklich ein guter Boden für<br />
Gegenw<strong>art</strong>skunst - die eher dürftig<br />
spriesst - und gerade die Kunsthalle ist<br />
arg bedrängt vom Progr einerseits und<br />
wenn denn das Gegenw<strong>art</strong>skunst-Projekt<br />
am Kunstmuseum ausgereift ist,<br />
wird die Lage noch einmal schwieriger.<br />
Oder aber: die Institutionen nehmen<br />
diese neue Landschaft als Chance<br />
und gehen auch in Sachen Kooperation<br />
neue Wege.<br />
Ägypten, Perus, Indonesien und Indien.<br />
Heute erteilt er neben seiner künstlerischen<br />
Tätigkeit Holzschnittkurze<br />
im M-Arthaus, an der Hochschule<br />
der Künste in Bern und der Thuner<br />
Malschule. Nebst dem periodisch erscheinenden<br />
Holzschnittkalender gibt<br />
M<strong>art</strong>in Thönen auch bibliophile Holzschnitt-Editionen<br />
heraus und präsidiert<br />
die Xylon Schweiz.<br />
Knut Åsdam:<br />
The Care of the Self<br />
Kunsthalle Bern, Helvetiaplatz<br />
1. Geöffnet Mittwoch<br />
bis Sonntag 10.00-17.00 Uhr,<br />
Dienstag 10.00-19.00 Uhr.<br />
Bis 4. Dezember 2005.<br />
Der Original-Holzschnitt-Kalender<br />
2006 erscheint in einer<br />
Auflage von 340 Exemplaren<br />
im Format 36 auf 50 Zentimeter.<br />
Die Ausstellung von<br />
M<strong>art</strong>in Thönen «Chaos und<br />
Ordnung» in der Galerie «Art<br />
+ Vision» beginnt mit einer<br />
Vernissage am Samstag, 26.<br />
November und dauert bis zum<br />
7. Januar 2006.<br />
33<br />
<strong>art</strong>ensuite
34<br />
<strong>art</strong>ensuite<br />
GALERIEN IN BERN<br />
annex14 - Galerie für zeitgenössische Kunst<br />
Junkerngasse 14 3011 Bern // Tel 031 311 97 04<br />
Mi - Fr 13:00-18:30 / Sa 11:00-16:00<br />
Andreas Naun<br />
05.11.05 - 17.12.05<br />
Art + Vision<br />
Junkerngasse 34 3011 Bern // Tel 031 311 31 91<br />
Di - Fr 14:00-19:00 / Do 14:00-21:00 / Sa 11:00-16:00<br />
M<strong>art</strong>in Thönen<br />
Holzschnitte, bibliophile Edition<br />
26.11.05 - 07.01.06<br />
Bärtschihus Gümligen<br />
Dorfstrasse 14 3073 Gümligen<br />
Sa 19.11.05 /10:00-20:00 & So.11.05 / 10:00-17:00<br />
Kunst auf den Würfel gebracht<br />
Vernissage 18. November // 19:00<br />
Es spricht Jacqueline Keller, Kulturmanagerin<br />
18.11.05 - 20.11.05<br />
ESPACE Indigo<br />
Stauffacher Buchhandlung 3011 Bern<br />
Tel 0844 88 00 40<br />
Ladenöffnungszeiten<br />
Galerie Tom Blaess<br />
Uferweg 10 3018 Bern // Tel 079 222 46 61<br />
Retrospektive 1990 - 2005<br />
Vernissage: Sonntag 6. November / 11:00 - 17:00<br />
Do - So 12:00 - 17:00<br />
Finissage: Sonntag 27. November / 11:00 - 17:00<br />
Galerie Beatrice Brunner<br />
Nydeggstalden 26 3011 Bern // Tel. 031 312 40 12<br />
Mi und Fr 14:00-18:00/ Do 14:00-20:00/ Sa 11:00-16:00<br />
Galerie Kornfeld<br />
Laupenstrasse 41 3001 Bern // Tel 031 381 46 73<br />
www.kornfeld.ch<br />
Mo - Fr 14:00-17:00 / Sa 10:00-12:00<br />
Karl Gerstner<br />
Altes und Neues - Zwei und Dreidimensionales - Originales<br />
und Multiples<br />
19.10.05 - 12.12.05<br />
Galerie Ramseyer & Kaelin<br />
Junkerngasse 1 3011 Bern // Tel 031 311 41 72<br />
Mi - Fr 16:00-19:00 / Sa 13:00-16:00<br />
Galerieneintrag:<br />
Auf den Seiten «Galerien in Bern» werden ab<br />
November 2005 nur noch Galerien publiziert,<br />
welche unsere jährliche Publikationsgebühr bezahlt<br />
haben. Wer sich hier eintragen lassen möchte, melde<br />
sich bei der Redaktion:<br />
Telefon 031 318 6050 oder redaktion@ensuite.ch.<br />
Bendicht Friedli<br />
01.11.05 - 26.11.05<br />
Kornhausforum -<br />
Forum für Medien und Gestaltung<br />
Kornhausplatz 18 3011 Bern // Tel 031 312 91 10<br />
Das Leben bis zuletzt gestalten<br />
03.11.05 - 10.12.05<br />
Design Preis Schweiz<br />
05.11.05 - 08.01.06<br />
Künstlerhaus<br />
Postgasse 20 3009 Bern // 031 311 53 76<br />
Mi - Fr 16:00-17:00 / Sa & So 11:00-17:00<br />
Niemand weiss<br />
Alexandra Kunz malerei, maja Wagner Malerei & Hans<br />
Weiss Fotografie.<br />
Vernissage: Dienstag 15.11.05 / 19:00 Mit Musik:<br />
Niemand weiss<br />
Kunstreich<br />
Gerechtigkeitsgasse 76 3011 Bern // Tel 031 311 48 49<br />
Mo - Fr 09:00-18:30 / Do 09:00-20:00 / Sa 09:00-16:00<br />
Heidi Reich<br />
03:11.05 - 120.12.05<br />
Kunstraum Oktogon<br />
Aarstrasse 96, 3005 Bern<br />
Fr 16:00-19:00 & Sa 11:00-15:00<br />
Landʻs End<br />
Druckgrafik von jaspoer Johns, Barnett Newman, Brice<br />
Marden, Robert Rauschenberg<br />
Vernissage: Freitag 16. November / 18:00 - 20:00<br />
KunstQuelle<br />
Galerie Brunngasse 14 3011 Bern // 079 818 32 82<br />
Mi & Fr 14:30-18:00, Do 16:00-20:00 & Sa 13:00-16:00<br />
Walter Fuchs<br />
Die neue Galerie in Bern<br />
ONO Bühne Galerie Bar<br />
Gerechtigkeitsgasse 31 3011 Bern // Tel 031 312 73 10<br />
Fr und Sa 13:00-17:00 - Nachtgalerie: Mi - Sa ab 22:00<br />
Gruppenausstellung «Barbie & Ken»<br />
01.11.05 - 30.11.05<br />
PROGR Zentrum für Kulturproduktion<br />
Speichergasse 4, Bern<br />
«Bestform 05»<br />
MI-SO 14-17<br />
03.11.05 - 04.12.05 / Ausstellungszone<br />
«How to avoid corner corner love and win good love<br />
from girls»<br />
MI - SO 14-17<br />
03.11.05 - 04.12.05 / Ausstellungszone<br />
Steinbrüchel (Zürich) / Bloom (Basel)<br />
Leerraum [ ] SOUNDINSTALLATION:<br />
03.11.05 - 27.11.05<br />
Treppenhaus und Ausstellungszone<br />
R A U M<br />
Militärstrasse 60, Bern<br />
Mi-Fr 16-19 & Sa 12-16<br />
Lisa Späni & M<strong>art</strong>ina Späni<br />
21.10.05 - 11.11.05<br />
Stadtgalerie<br />
Hodlerstr. 22 + 24A 3011 Bern // Tel 031 311 43 35<br />
MI-SO 14-17<br />
Touched - Sybilla Walpen<br />
15.10.05 - 20.11.05<br />
Temporäre Ausstellungsräume<br />
Atelier Postgasse<br />
Postagsse 6 3011 Bern<br />
Di - Sa 14:30 - 17:30<br />
Roland Kocher<br />
Die Kirchen von bern<br />
27.10.05 - 19.11.05<br />
Alterszentrum Viktoria<br />
Schänzlistrasse 63 Bern<br />
Täglich 08:00-17:30<br />
Nicole Sonderer<br />
Oelmalerei<br />
Vernissage: 05.11.05 / 15:00-18:00<br />
Galerie Silvia Steiner Biel<br />
Seevorstadt 57 2502 Biel // Tel 023 46 56<br />
Mo, Do, Fr 14-18h & Sa 14-17h & So 20.Nov 14-17<br />
Alfred Wirz<br />
Gemalte Welt<br />
Vernissage: 19. November 17:00-19:00<br />
19.11.05 - 17.12.05<br />
Kunstforum Solothurn<br />
Schaalgasse 9 4500 Solothurn // Tel. 032 621 38 58<br />
Do & Fr 15:00 - 19:00 / Sa 14:00 - 17:00<br />
Sybille Onnen<br />
Leiber - figürliche Plastik und Zeichnung<br />
10.09.05 - 29.01.06<br />
Westrich<br />
Bahnstrasse 22 3008 Bern<br />
10.11.05, 17–22 Uhr, 11.11.05, 15–22 Uhr,<br />
12.11.05, 10–20 Uhr, 13.11.05, 10–17 Uhr<br />
Angst<br />
Die Gaf 5.6 (Gruppe autodidaktischer FotografInnen<br />
– Bern) lädt ein zu sieben fotografischen Arbeiten zum<br />
Thema ANGST.
«Angst» von der GAF 5.6 im Westrich, Bahnstrasse 22, 3008 Bern - Bild: zVg.<br />
Andreas Naun in der Galerie annex14 - Bild: zVg.<br />
Dominik Imhof<br />
Augenspiel<br />
■ An dieser Stelle soll von nun an eine Kolumne entstehen,<br />
in der Augenspielereien im Zentrum stehen: Natürlich<br />
Kunst, und alles was in ihrer Umgebung und im<br />
Zusammenspiel mit ihr entsteht, sich entwickelt, verstaubt<br />
und zu Recht auch wieder vergeht und vergessen<br />
wird. Der Titel «Augenspiel» verweist auf Elias Canettis<br />
gleichnamiges Buch, worin er seine Wiener Jahre<br />
beschreibt, ein Bild des Lebens im damaligen Wien<br />
malt und schildert, was in Künstler- und Intellektuellenkreisen<br />
geschah. In diesem Sinne sollen hier - ganz<br />
bescheiden - «Kunstgeschichten» aufgegriffen werden,<br />
die Bern und Berns Kunstszene (wenn es sie denn gibt)<br />
bewegten und bewegen oder eben gerade nicht.<br />
Fürs Erste der Blick zurück, auf den Berner Kunstsommer:<br />
Einiges ist geschehen und neu entstanden.<br />
Nach mehr als einem Jahr blüht der Progr immer noch,<br />
ist zum Magneten geworden, wo Kreativität zuhause<br />
ist. Hoffen wir er bleibt etwas abseitig und wird nicht<br />
in den institutionalisierten Betrieb aufgesogen. Im Monument<br />
im Fruchtland konnte bereits vor einiger Zeit<br />
der 100ʻ000 Besucher begrüsst werden, aber wie lange<br />
dauert der Besucherstrom wohl an? Und das Kunstmuseum<br />
Bern hat mit «Mahjong» dem ZPK die Stirn geboten,<br />
auch hier war das Interesse gross. Die nächsten<br />
Monate wird es an diesem Ort wohl wieder etwas stiller<br />
werden. Die ehemaligen Konkurrenten - die Streitigkeiten<br />
des letzten Jahres sind noch nicht ganz vergessen -<br />
scheinen sich zusammengerauft zu haben, Kooperation<br />
ist angesagt. Gut so!<br />
Und wenn wir gerade beim Kunstmuseum sind, da<br />
war doch was. Natürlich die Kontroverse um «Ruan».<br />
Dieses Ereignis hat einige Fragen aufgeworfen: Was<br />
darf man zeigen und was nicht? Oder: Was darf ein<br />
Künstler produzieren und was nicht? Oder: Was wollen<br />
wir sehen und was nicht? Muss ein Museum oder ein<br />
Ausstellungsmacher Kunstinteressierten gewisse Dinge<br />
vorenthalten, weil sie jemanden verletzen könnten oder<br />
darf er mit der Mündigkeit der Besucher rechnen, die<br />
selbst entscheiden, was sie sehen wollen? (Sicher sollten<br />
die Verantwortlichen vor Ausstellungsbeginn ausreichend<br />
über ihre Exponate informiert sein!) Jetzt ist die<br />
Ausstellung beendet, der Fötus nicht wie von gewisser<br />
Seite erwünscht begraben, und die Fragen bleiben aktuell:<br />
Nach Hirschhorn und «Ruan» war es im Oktober<br />
Pipilotti Rists Biennale-Beitrag, der für Aufruhr sorgte<br />
(und geschlossen wurde).<br />
35<br />
<strong>art</strong>ensuite
36<br />
L E T Z T E L U S T S E I T E<br />
■ wenn ich an dich denke, dann kommt mir vielleicht<br />
ganz als erstes der geruch des gechlorten wassers in<br />
den sinn. die tiefe blauheit und die lichtrefl exe im wasser.<br />
ich schwimme unter und über und neben dir, mal<br />
ganz nah, dann wieder weiter entfernt. unsere haut<br />
berührt sich nicht, nie, aber das nebeinander-gleiten<br />
ist wie eine vorwegnahme späterer berührungen. wie<br />
ein geträumtes zusammensein, ein schwereloses, sorgenloses.<br />
am rand des beckens dann sehen wir uns<br />
zum ersten mal richtig an. sehen unsere körper mit den<br />
wassertröpfchen als versprechen, dass wir zusammen<br />
nackt sein werden und dass die glitzernde feuchtigkeit<br />
eine andere sein wird. dass wir uns ausziehen werden,<br />
dass wir inmitten von anderem licht in einem bett liegen<br />
werden. unser summen und das leise lächeln mit<br />
geschlossenen augen wird unsere neue begleitmelodie.<br />
wir erzählen und fragen, sehen uns an, entdecken uns<br />
vorsichtig, geniessen die sonnenstunde, wie wenn sie<br />
ein nicht endender tag wäre. wochen später liegen wir<br />
nackt auf einem bett, scheu und doch hemmungslos. beschnuppern<br />
uns, trinken einander und lecken die salzige,<br />
warme sommerhaut. unsere feuchten körper bewegen<br />
sich wieder wie im wasser, unter, über und nebeneinander.<br />
und danach dann schwimmen wir im fl uss und du<br />
versprichst, mich zu retten, falls ich ertrinken möchte.<br />
wir lassen uns treiben und berühren uns manchmal.<br />
■ interwerk gmbh<br />
kulturconsulting kulturmanagement kulturvermittlung.<br />
www.interwerk.ch<br />
sandrainstrasse 3 3007 bern +41 (0)31 318 6050<br />
und plötzlich ist rund um uns herum herbst. klare, blaue<br />
himmel, morgennebel und auch kälte; schon jetzt, überraschend.<br />
und dein körper glitzert nicht mehr. die lust<br />
kommt mit in den herbst, verlässt das unbeschwerte,<br />
leichte und sommerliche. ich sehe dich, wirklich dich,<br />
im h<strong>art</strong>en tageslicht. kein weichzeichner, keine abendsonne.<br />
es ist zeit, genau hinzuschauen und präzise zu<br />
werden. kein um-dich-herum-tauchen und spielen mehr,<br />
kein lautes lachen und summen, eher ein feines lächeln<br />
in den mundwinkeln und eine beginnende melancholie.<br />
dich verlieren, ohne dich je zu besitzen? die lust wird<br />
fordernd, will dich noch vor dem winter in besitz nehmen.<br />
deinen körper, ganz, jetzt, schnell, ohne vorspiel,<br />
ohne erkunden, ohne rücksichtnahme. ich will dich in<br />
mir, will dein gewicht auf mir. sofort und ohne vorher.<br />
und ich will, dass du dir nimmst, was dir eh gehört, und<br />
ich will mir auch nehmen, was meines ist. und das bist<br />
du, du als ganzes. ich imprägniere dich mit mir und du<br />
mich mit dir. du gehörst mir und ich will dich besitzen.<br />
jeden zentimeter von dir und jedes härchen, jeden speicheltropfen,<br />
jede pore, jeden atemzug und gedanken,<br />
jeden blick aus deinen augen und jedes wort. das alles<br />
gehört mir jetzt und für immer – ich gebe nichts mehr<br />
her und teile auch nicht. kein kuschelfest ist das, es ist<br />
rohe und unverfälschte gier. du presst mich mit deinem<br />
körper einen kurzen, gefährlich geheimen augenblick<br />
Hinweis: Die Texte auf der letzten Lustseite sind nicht<br />
ganz jugendfrei. Wir bitten die LeserInnen unter 18 Jahren,<br />
diese Texte aufzubewahren und erst bei bei voller<br />
Reife zu lesen.<br />
an eine wand: deine herbsthände auf meiner nackten<br />
brust, dein geschlecht an meines gedrückt, kein raum<br />
auszuweichen, wildes tasten und küssen. in einem park,<br />
im wald, oder auf einer toilette: überall, wo wir ein paar<br />
minuten zusammen sein können, nehmen wir uns soviel<br />
wie möglich. deine hand ist dauergast auf und in mir,<br />
unsere körper sind wund vor sehnsucht, unsere nerven<br />
liegen bloss und w<strong>art</strong>en auf segnendes streicheln. wir<br />
schreien, wir schwitzen, wir atmen schnell und laut. die<br />
lust taucht in sekundenschnelle auf und kühlt sich nie<br />
ganz ab. angst. einsamkeit. ein tiefes misstrauen und<br />
ebensolche geilheit. in verzweifelter umarmung w<strong>art</strong>en<br />
wir auf den winter. (vonfrau)<br />
impressum<br />
ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich als Gratis- und Abonnentzeitung.<br />
Aufl age: 10‘000 / davon 1‘300 Aboversand Adresse:<br />
ensuite – kulturmagazin; Sandrainstrasse 3; 3007 Bern; Telefon<br />
031 318 6050; mail: redaktion@ensuite.ch Herausgeber: Verein WE<br />
ARE, Bern Redaktion: Lukas Vogelsang (vl); Stephan Fuchs (sf) //<br />
Helen Lagger, Isabelle Lüthy (il), Till Hillbrecht (th), Dominik Imhof (di),<br />
Andy Limacher (al), M<strong>art</strong>a Nawrocka (mn), Eva Mollet, Eva Pfi rter, Nicolas<br />
Richard (nr), Sarah Stähli (ss), Sara Trauffer, Simone Wahli (sw),<br />
Sarah Elena Schwerzmann (ses); Kathrina von W<strong>art</strong>burg (kvw), Sonja<br />
Wenger (sjw), Vonfrau (Redaktion) C<strong>art</strong>oon: Bruno Fauser, Bern; Telefon<br />
031 312 64 76 Agenda: bewegungsmelder, Bern, allevents, Biel;<br />
ensuite - kulturmagazin<br />
Abonnemente: 45 Franken für ein Jahr/ 11 Ausgaben. Abodienst:<br />
031 318 6050 Web: interwerk gmbh Anzeigenverkauf: interwerk gmbh,<br />
031 318 6050 - www.ensuite.ch Gestaltung: interwerk gmbh; Lukas Vogelsang<br />
Produktion & Druckvorstufe: interwerk gmbh, Bern Druck:<br />
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