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BENEDIKT SARTORIUS antifolk ■ Die Welt als verschimmelter Pfi rsich: Unerwiderte Liebe, soziale Kälte, grauer Alltag, New York als Friedhof, Yuppies, Teenage Angst in allen Schattierungen, «let‘s go to sleep…» Kurz: Die Welt ist aus den Fugen, gebt mir Crack! Nun ist es ein leichtes, diesem Themenkreis mit Holzhammertexten, mit Härte zu begegnen. Ungleich reizvoller, weil subtiler, lustiger, zugleich zwingender und desillusionierender, wirkt der dilettantische, pubertäre Ansatz der Moldy Peaches. Herbe, mit einem Lächeln vorgetragene Zeilen wie «Sucking dick for ecstasy» kollidierten mit der rumpelnden Low-Fi Instrumentierung und den Häschen-, Einhorn- und Robin Hood Verkleidungen der beiden Protagonisten Adam Green und seiner P<strong>art</strong>nerin Kimya Dawson. Sexistisch anmutende Sprüche von Green wie «Whose pussy hole needs fi lling?» werden durch Kimya Dawsons simultan geäusserte Sehnsucht nach Nächstenliebe («Whose empty he<strong>art</strong> needs fi lling?») ironisch gebrochen, so dass eine eindeutige Les<strong>art</strong> verhindert wird. Das Zwingende, das Eindringliche der ersten und einzigen Platte der Moldy Peaches liegt in diesen Widersprüchen, im teilnahmslos anmutenden Vortrag, der Desorientiertheit ausdrückt sowie in der liebenswerten Spontaneität und Intimität der Aufnahmen. Lacher oder das Klingeln eines Telefons blieben der Produktion erhalten und unterstrichen den Do It Yourself Charakter der Moldy Peaches. Durch den Vertrag mit dem wiedergeborenen, legendären Indie Label Rough Trade, das fast zeitgleich das Debüt der Strokes veröffentlichte und 2001 den Boom der neuen Rock Welle einläutete, war dem Duo die Aufmerksamkeit der Musikpresse sicher. Man dürstete nach mehr und wurde im heimischen Umfeld der New Bild: zVg. Yorker Moldy Peaches fündig, dessen Vielschichtigkeit sich unter einer Vokabel zusammenfassen lässt: Antifolk. Der Begriff wurde durch Lach, seit zwanzig Jahren Veranstalter der mittlerweile im Sidewalk Café sesshaft gewordenen Antifolk «Open Mic Sessions», geprägt. Angetreten um die reaktionären Tendenzen im Folk aufzubrechen, liess Lach Songwriter ohne stilistische Limitierungen auftreten. Prominente Namen der ersten Jahre sind etwa Suzanne Vega, Michelle Shocked sowie der junge Beck Hansen. Die Verkrustungen aber blieben. Bis zur «zweiten Generation», die den anarchistischen, dilettantischen Ansatz gegenüber gängigen Songstrukturen bevorzugte. Die Moldy Peaches brachten Blockfl öten mit, Jeffrey Lewis, vielleicht der Gross<strong>art</strong>igste unter all den zum grossen Teil nach wie vor unbekannten Gruppen und Einzelgängern, illustrierte grossformatige Comic-«Videos», erzählte seine ureigene «History of Punk on the Lower East Side» in Medley Version und legte so seine, wenn nicht gar die geistigen und musikalischen Vorläufer des Antifolks offen. Eine Geschichtslektion von fast zehn Minuten Dauer, die unter anderem von versprengten Beatniks (Harry Smith), dem Freakout-Strassenmusiker David Peel und seinem Marihuana geschwängerten Gefolge («The Pope Smokes Dope») erzählt, weiter die Anarchos der Fugs, die Velvet Underground, krude Obskuritäten (Godz), Richard Hell‘s Television und die New York Dolls präsentiert. Nun, genug der Namen: Wichtig ist, dass ein neues, sich grösstenteils selbst organisierendes Netzwerk von Gleichgesinnten entstand, das keine Dresscodes kennt, Labels gründete und so der Krise der Musikindustrie M U S I K 19 entgegentrat, weiter unermüdlich produziert, gesellschaftliche Normen hinterfragt und vielleicht am markantesten: ein Netzwerk, das aus Einzelgängern, Subjekten bestand und weiter bestehen wird, aus Künstlern und Künstlerinnen, die keine Angst vor der Blamage kennen. Künstlerinnen wie etwa Kimya Dawson. Während ihr ehemaliger Moldy Peaches P<strong>art</strong>ner Adam Green mittlerweile zum Liebling aller Klassen mutiert ist, werkelt Kimya Dawson, die Frau mit der mächtigen Tingeltangel-Bob-Frisur, weiter an ihren massenuntauglichen, weil zu intimen, von Verletzungen gezeichneten Liedern. «Nichts ist Kimya Dawsons Musik so fremd wie Coolness, Reserviertheit oder übertriebenes Selbstbewusstsein», schreibt der Kulturjournalist M<strong>art</strong>in Büsser in seinem Buch «Antifolk». Ihre Musik fällt nicht zuletzt deshalb ins Zeitlose, Posen zählen nichts: Wie naiv ihre tagebuch<strong>art</strong>igen Texte auch anmuten mögen, sie treffen mitten ins Herz. «Fröhlich und traurig und schreckhaft und tapfer, alles zusammen», beschreibt sich Dawson selbst. Fröhlich und traurig und schreckhaft und tapfer ist auch ihr mittlerweile drittes, erstmals in Bandbesetzung entstandenes Album «Hidden Vagenda» (K Records). Es erzählt vom Verlust ihrer Grossmutter, von Anthrax und damit der Befi ndlichkeit des anderen Amerikas nach dem 11. September, verhandelt sozialen Druck und Schwäche. Das vielleicht schönste Lied stellt «Singing Machine» dar. «Doesn‘t matter what you look like, doesn‘t matter what you sound like, doesn‘t matter if they like you, just remember to be kind,» singt Dawson mit heiserer Stimme in ihrer Ode an die Herzlichkeit. Dazwischen funkt der psychisch kranke, gross<strong>art</strong>ige Low-Fi Pionier und mittlerweile dem Antifolk Netz angeschlossene Daniel Johnston seine C<strong>art</strong>oon Stimme durchs Telefon und, wie blöd das nun klingen mag, die Welt scheint kurzzeitig eine andere, eine bessere, weil herzlichere zu sein. Nüchterner ausgedrückt: Die viel gepriesene Authentizität, dieses grösste und unmöglich zu erfüllende Versprechen der Popmusik, scheint bei Kimya Dawson endlich eingelöst zu sein. Konzerte: Dienstag, 15.11.05, 21h30 Herman Düne / Julie Doiron: In Paris ansässige Antifolk-Musiker, die es noch zu entdecken gibtÐ. Samstag, 19.11.05, 21h30 Kimya Dawson/ Tiger Saw/ Jason Anderson Alle Konzerte fi nden im Bad Bonn Düdingen statt. CDs: The Moldy Peaches (Rough Trade) Kimya Dawson «Hidden Vagenda» (K Records) Jeffrey Lewis «It‘s The One Who‘ve Cracked That The Light Shines Through (Rough Trade) Buch: M<strong>art</strong>in Büsser, Antifolk. Ventil Verlag. Mainz 2005 Antifolk im Internet: www.antifolkonline.com www.olivejuicemusic.com www.antifolk.net