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Friedrich Kümmel Josef König. Versuch einer Würdigung seines ...

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<strong>Friedrich</strong> <strong>Kümmel</strong><br />

<strong>Josef</strong> <strong>König</strong>. <strong>Versuch</strong> <strong>einer</strong> <strong>Würdigung</strong> <strong>seines</strong> Werkes *<br />

Inhalt<br />

1. Die Legitimationskrise der Philosophie 1<br />

2. Der zeitgeschichtliche Hintergrund 2<br />

3. Der Rückgang auf Goethe und die in ihm lebendige metaphysische Tradition 3<br />

4. Die Auseinandersetzung mit Kant und Hegel 5<br />

5. Die Herausarbeitung formaler Unterschiede als spezifisches Können der Philoso- phie<br />

8<br />

6. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie 12<br />

7. Von der Ontologie zur Logik 17<br />

8. Der Zwischenstatus des Begrifflich-Theoretischeni 23<br />

9. Der Mensch als der geistige Vater s<strong>einer</strong> selbst und s<strong>einer</strong> Welt 30<br />

1. Die Legitimationskrise der Philosophie<br />

<strong>Josef</strong> <strong>König</strong> stellt in s<strong>einer</strong> Habilitationsthese die Frage nach dem spezifischen Können der<br />

Philosophie, nachdem diese als vorkritische Philosophie, als idealistische Wissenschaftslehre<br />

und als logisch-empirische bzw. hermeneutisch-dialektische Wissenschaftstheorie mit sich<br />

selbst an ein Ende gekommen ist und ihre theoretische Funktion überhaupt zu verlieren droht.<br />

Die These selbst: „Das spezifische Können der Philosophie als eâ lšgein 1 bindet die Legiti-<br />

*<br />

Der Aufsatz erschien im Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Band<br />

7/1990-91, S. 166-208. Die Seitenwechsel sind in den fortlaufenden Text eingefügt worden.<br />

1<br />

<strong>König</strong>s Schriften werden im Text mit den folgenden Abkürzungen zitiert:<br />

BdI Der Begriff der Intuition. Max Niemeyer Verlag Halle a.d. Saale 1926<br />

SuD Sein und Denken. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie (1937). Max Niemeyer<br />

Verlag Tübingen 2., unveränderte Auflage 1969<br />

SpKöPh Das spezifische Können der Philosophie als eâ lšgein (1937).In: Vorträge und Aufsätze. Hrsg. v. Günther<br />

Patzig, Verlag Karl Alber Freiburg/München 1978, S. 15 - 26. Zuerst erschienen in: „Blätter für deutsche<br />

Philosophie“ 10 (1937) S. 129-136.<br />

SaNoGe Über einen neuen ontologischen Beweis des Satzes von der Notwendigkeit alles Geschehens (1948).<br />

In: Vorträge und Aufsätze, .a. a. O., S. 62-121. Zuerst erschienen in: „Archiv für Philosophie“ 2 (1948) S. 5-43.<br />

BeUrs Bemerkungen über den Begriff der Ursache (1949). In: Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 122-255. Zuerst<br />

erschienen in: „Das Problem der Gesetzlichkeit“, hrsg. v. der Jungius-Gesellschaft in Hamburg, Band I<br />

(Geisteswissenschaften), R. M<strong>einer</strong>, Hamburg 1949, S. 25 - 120.<br />

NäW Die Natur der ästhetischen Wirkung (1957). In: Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 256-337. Zuerst erschienen<br />

in: „Wesen und Wirklichkeit des Menschen“ (Festschrift für H. Plessner), hrsg. v. K. Ziegler, Vandenhoeck<br />

& Ruprecht, Göttingen 1957, S.283-332.<br />

DiE Einige Bemerkungen über den formalen Charakter des Unterschieds von Ding und Eigenschaft (1967).In:<br />

Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 338-367. Zuerst erschienen in: „Philosophie und ihre Geschichte“ (Festschrift<br />

für <strong>Josef</strong> Klein zum 70. Geburtstag), hrsg. v. E. Fries, Vandenberg & Ruprecht, Göttingen 1967, S. 11-22.<br />

MiPh Georg Misch als Philosoph (1967). In: Abhandlungen der Göttinger Akademie der Wissenschaften, vorge-


2<br />

mität der Philosophie zurück an die Möglichkeit eines spezifischen Redenkönnens, für das,<br />

wie die Anfnahme des alten rhetorischen Topos zeigt, die Sprache sich ihrer Sachhaltigkeit<br />

und Wirkungskraft nicht ohne weiteres versichern kann. Für die Rhetorik, aber auch im Sinne<br />

<strong>einer</strong> radikalisierten Sprachkritik gilt [166/167] dies für jeden Sprachgebrauch. Im besonderen<br />

jedoch kennzeichnet es die Philosophie, daß die ihrem Reden korrespondierende Erfahrung<br />

selbst in Frage steht und auch die herkömmliche Gepflogenheit, Philosophie von ihren Gegenstandsbereichen:<br />

Ontologie bzw. Metaphysik, Anthropologie und Ethik, Wissenschaftstheorie<br />

und Sprachphilosophie her zu definieren, auf Begründungs- und Geltungsfragen keine<br />

zureichende Antwort mehr gibt.<br />

Wenn in dieser Situation auch die reduktiven und lediglich rekonstruierenden Ansätze: Philosophie<br />

als Sprachanalyse oder formale Metatheorie, nicht befriedigen können, wird die Frage<br />

nach dem spezifischen Können der Philosophie zu <strong>einer</strong> schwierigen Gratwanderung. Was in<br />

den kategorial vordefinierten, von den einzelnen Wissenschaften besetzten Feldern nicht mehr<br />

als ein philosophisches Thema bewußt wird, läßt sich nur noch durch „Studien im Grenzgebiet<br />

von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie“ (so der Untertitel der Habilitationsschrift<br />

über „Sein und Denken“ mittels Abgrenzungen und Grenzüberschreitungen in den Blick rükken.<br />

Um im Durchmessen der Grenzen das Menschenmögliche zu versuchen, muß, wie der<br />

großangelegte Aufriß von <strong>König</strong>s Dissertation „Der Begriff der Intuition“ zeigt, die durch<br />

Kant inaugurierte kritische Philosophie radikalisiert und bis zu dem Punkt weitergeführt werden,<br />

an dem auch noch der letzte dogmatische Schlummer durchbrochen wird und für den<br />

Erwachten ein rein geistiger Gehalt vor den Blick rückt. [167/168] Dieser im philosophischen<br />

Sinne eigentlich relevante Gehalt weist aber paradoxerweise wiederum zurück in die metaphysische<br />

Tradition, der sich <strong>König</strong> mit Goethe und Hegel, auch und gerade nach Kant, verpflichtet<br />

weiß.<br />

2. Der zeitgeschichtliche Hintergrund<br />

Was sich als Legitimationskrise der Philosophie darstellt und <strong>einer</strong> gleichzeitigen Sprachkrise<br />

der Dichter entspricht, erweist sich als eine Krise des vergegenständlichenden Bewußtseins<br />

und der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation überhaupt, die um ihrer eigenen Menschlichkeit<br />

willen den Bezug zur anderen, geistigen Seite ihrer selbst aufnehmen muß, ohne in<br />

ihrer gegenständlich-materiellen Praxis dadurch überhaupt in Frage gestellt zu sein. <strong>König</strong>s<br />

Rückfrage hinter das gegenständliche Weltverhältnis und Denken nimmt in diesem Sinne die<br />

Konstitutionsproblematik noch einmal in anderer Weise auf, als die Transzendentalphilosophie,<br />

der Idealismus und die Lebensphilosophie dies getan hatten. Den Hintergrund dafür bilden<br />

die 20er Jahre, in denen <strong>König</strong>s Werk seinen zeitgeschichtlichen Ausgang nimmt. Sie<br />

sind gekennzeichnet durch den Abbruch eines Philosophierens, das an der Letztbegründung<br />

legt in der Sitzung vom 12. 5. 1967 (7./1967), S. 150-243. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967<br />

LU Der logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze und seine philosophische Bedeutung (1947).<br />

Die Abhandlung war gedacht für eine Festschrift für Georg Misch zum 70. Geburtstag (1948), die jedoch aus<br />

Zeitgründen nicht erscheinen konnte. Zitiert wird aus den von <strong>Josef</strong> <strong>König</strong> bereits korrigierten Druckfahnen.<br />

Die Schriften Georg Mischs wird mit den folgenden Abkürzungen zitiert:<br />

LuPh Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der diltheyschen Richtung mit Heidegger<br />

und Husserl. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1967. Unveränderter Nachdruck der 2. Auflage,<br />

Verlag B. G.Teubner Leipzig und Berlin 1931<br />

Fibel Der Weg in die Philosophie. Eine philosophische Fibel. 1. Auflage Verlag B.G. Teubner Leipzig und Berlin<br />

1926<br />

Fibel I 2., stark erweiterte Auflage, Erster Teil. Verlag Leo Lehnen München 1950<br />

Wo nur eine Seitenzahl angegeben ist, bezieht sich diese auf das jeweils zuletzt angegebene Werk.


3<br />

menschlicher Erkenntnis und am Anspruch <strong>einer</strong> umfassenden Beschreibung und Deutung der<br />

Wirklichkeit festgehalten hat. Mit der Preisgabe der Totalbeschreibungsansprüche verbindet<br />

sich der Zweifel an den großen Systemen und Synthesen, seien diese hegelisch oder neukantianisch<br />

gedacht. Wo alles entweder als ein bereits Vergangenes oder als ein noch ausstehendes<br />

Zukünftiges erscheint, verschärft sich die Spaltung von Faktizität und Sinn, an der die<br />

Kritik des Bestehenden einsetzt und die Einheit der Welt zerbricht. Was ‘ist’, ist nicht mehr<br />

‘wahr’ und ‘wirklich’, was ‘funktioniert’ scheint bar jeden ‘Sinns’. Die vergegenständlichenden<br />

und begrifflich voll bestimmbar erscheinenden Denk- und Beziehungsformen, wie sie<br />

wissenschaftlich praktiziert und den rationalen Rekonstruktionen des Erkenntnisproblems<br />

zugrundegelegt werden, erlauben keinen Zugang mehr zur Wirklichkeit. Bubers kategoriale<br />

Trennung von Ich-Du und Ich-Es oder Jaspers Unterscheidung von gegenständlicher Weltorientierung<br />

und existentieller Kommunikation sind zeitgenössische <strong>Versuch</strong>e, in betont dichotomer<br />

Schematisierung aus der negativ gewordenen Totalität des Vermittlungszusammenhanges<br />

auszubrechen und die darauf bezogene Dialektik zu sistieren.<br />

In dieser Situation stellt sich die Frage nach den Bedingungen und Formen wirklichkeitshaltigen<br />

Redens erneut und radikaler:<br />

Was ist die Wirklichkeit, wenn nicht das System, und wie lassen sich die Phänomene retten?<br />

Wie sind [168/169] Erscheinungen als wahre möglich ohne Kants Kategorien und Anschauungsformen?<br />

Was ist ihre Form und ihr lebendiger Gehalt, bevor das semantisch-begriffliche<br />

Netzwerk <strong>einer</strong> rationalen Kultur sie einordnet und einem „tötenden Allgemeinen“ (Goethe)<br />

unterwirft.<br />

3. Der Rückgang auf Goethe und die in ihm lebendige metaphysische Tradition<br />

<strong>Josef</strong> <strong>König</strong> geht mit Goethe davon aus, daß eine Neufassung des Erkenntnisproblems nur im<br />

ausdrücklichen Rückgang auf die spekulative Tradition und das in ihr hinterlegte kategoriales<br />

Rüstzeug gewonnen werden kann. Er stellt fest, daß „diese Goethesche Methode wesentlich<br />

Spekulation ist und nur aus der Dynamik spekulativen Denkens beurteilt werden kann.“ (BdI,<br />

121) „In dieser Hinsicht erscheint die genaue Grenzlage, die er ihnen (scil. Goethe den Urphänomenen)<br />

zwischen empirischer Naturforschung und philosophischer Durchdringung anweist,<br />

entscheidend.“ (S. 194). Wenngleich sich die Urphänomene für den Betrachter als „ein<br />

Letztes“, 2 nicht weiter Zurückführbares darstellen, lassen sie sich kategorial als Einschränkungen<br />

eines Ganzen verstehen (vgl. BdI, 121f.) und verweisen somit auf die spekulative<br />

Grundkategorie des Ganzen und der Teile als Leitlinie ihrer Interpretation.<br />

In ihrer Ausformulierung erweist sich diese Kategorie bekanntlich als ein sehr dialektischer,<br />

ja höchst paradoxer Sachverhalt. Was Einschränkung eines Ganzen ist, strebt damit auch<br />

schon über sich hinaus und ist in unaufhörlicher Bewegung begriffen. Damit verbinden sich<br />

für Goethe die Begriffe der Polarität und der Steigerung. Das dem lebendigen Ganzen innewohnende<br />

Bildungsgesetz unterscheidet sich aber auch dadurch von determinierender Gesetzmäßigkeit,<br />

daß alle organischen Naturen innerhalb ihrer Grenzen einen Spielraum der<br />

Freiheit haben und Willkür, Abweichung, ja Gegensätzlichkeit darin ein- und nicht ausgeschlossen<br />

ist. 3 Für das bewegliche, den Widerspruch in sich enthaltende Grundverhältnis des<br />

Ganzen und s<strong>einer</strong> Teile gilt somit gleichgewichtig: „das Besondere unterliegt ewig dem Allgemeinen;<br />

das Allgemeine hat ewig sich dem Besonderen zu fügen.“ 4 Dies ist mit ein Grund<br />

dafür, daß besondere Erscheinungen zu einem objektiv Letzten, [169/170] nicht weiter Zu-<br />

2<br />

J.W. v. Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil § 720.<br />

3<br />

Vgl. dazu Goethes Ersten Entwurf <strong>einer</strong> allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend<br />

von der Osteologie (1795).<br />

4<br />

J.W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen, Nr. 199.


4<br />

rückführbaren werden. Es gibt für sie ein inneres Bildungsgesetz, mitbestimmende Elemente<br />

und äußere Umstände, aber keine determinierenden allgemeinen Bezugsrahmen mehr. Man<br />

muß einsehen, „daß die Achtung Goethes vor der einzelnen Erscheinung als solcher und seine<br />

vorzüglich parataktische Anordnung der Phänomene notwendiger Ausdruck s<strong>einer</strong> unsystematischen<br />

Lehre ist.“ (BdI, 206) „Natürlich System, ein widersprechender Ausdruck. Die Natur<br />

hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum zu <strong>einer</strong><br />

nicht erkennbaren Grenze.“ 5<br />

Um das lebendige Ganze zu erfassen, bedarf es der lebendigen Teilnahme in Form eines<br />

höchst beweglichen Anschauens und frei-gesetzlichen Denkens, das sich in seinem schöpferischen<br />

Vermögen als ursprünglich eins mit seinem Gegenstand erfährt. In <strong>König</strong>s Ausdrucksweise<br />

führt dies zu einem eigentümlichen Verhältnis der Verschränkung, in der der Gegenstand<br />

nur durch das ihm entgegenkommende Anschauen und Denken hindurch erfaßbar ist,<br />

ohne jedoch einseitig dadurch hervorgebracht zu sein. <strong>König</strong>s Formel dafür lautet: „Faktisch<br />

ist es so: der Sehende und das Gesehene sind Ein Zusammen. Das Gesehene entsteht nicht<br />

durch das Sehen; aber faktisch ist es nicht ‘ohne’ es, nicht ‘ohne’ den Sehenden.“ (BdI, 4)<br />

Wissenschaftliche und künstlerische Produktivität rücken unter diesem Gesichtspunkt eng zusammen.<br />

Wo mit <strong>einer</strong> Denkweise ernst gemacht wird, die das Ewige im Vorübergehen<br />

schauen läßt, ist die Stimmigkeit der jeweiligen Aussage maßgeblich: „Soll ich nun über jene<br />

Zustände mit Bewußtsein deutlich werden, so denke man mich als einen gebornen Dichter,<br />

der seine Worte, seine Ausdrücke unmittelbar an den jedesmaligen Gegenständen zu bilden<br />

trachtet, um ihnen einigermaßen genugzutun.“ 6 Es ist deutlich, daß eine solcher Zugang nicht<br />

mit rationaler Erkenntnis gleichgesetzt werden kann und <strong>einer</strong> besonderen Wahrnehmungsweise<br />

bedarf, für die im Menschen das organische Fundament erst noch geschaffen werden<br />

muß. Erscheinungen wollen in ihrer Lebendigkeit erhalten werden vermöge der eigenen Lebendigkeit<br />

des Organs und verschließen sich einem Denken, das sie, wie Goethe es drastisch<br />

ausdrückt, in ein tötendes Allgemeines zusammenreißt. 7<br />

Man muß aber auch einsehen, daß die wirklichen Phänomene nur so dem Zugriff der Erkenntnis<br />

standhalten können. Sie tun dies nicht vermöge <strong>einer</strong> zur rationalen Erfaßbarkeit<br />

hinzugefügten bloßen Existenzbehauptung. Gerade weil sie als besondere Erscheinungen <strong>einer</strong><br />

transzendentalen Begründung [170/171] und kulturellen Formung nicht bedürfen, bleibt<br />

ihre Welthaftigkeit und Wirklichkeitshaltigkeit diesseits der Zugriffe des Menschen gewahrt.<br />

4. Die Auseinandersetzung mit Kant und Hegel<br />

Mit Goethes Geisteshaltung ist die Distanz zu Kant und zum Idealismus bereits ausgedrückt,<br />

wobei die Gemeinsamkeit über weite Strecken nicht übersehen werden darf. Die bei Kant wie<br />

im idealistischen Denken aus der von Goethe beschriebenen Sachlage gezogene Folgerung,<br />

daß das So-Sein der Phänomene, die wirklichen Sachverhalte und Qualitäten sich grundsätzlich<br />

nicht im Sinne von inhaerenten, determinierenden Eigenschaften an den Dingen festmachen<br />

oder aber in subjektiven Bezügen und formalen Funktionen verrechnen lassen, ist auch<br />

für <strong>König</strong> verbindlich. Die wirklichen Phänomene lassen sich weder subjektivieren noch objektivieren<br />

und behalten vielmehr einen Subjekt und Objekt übergreifenden Ort, dessen Maß<br />

und Bewegtheit, in <strong>König</strong>s Ausdrucksweise, nur in Form modifizierender Prädikate angemessen<br />

beschrieben werden kann (vgl. „Sein und Denken“). Es handelt sich hier um Begegnungs-<br />

und Wirkungsverhältnisse, die sich nicht auf ‘Ich’, ‘Ding’ und darauf bezogene Urteilsformen<br />

5 Von Goethe in „Problem und Erwiderung“ an Ernst Meyer gerichtet und mit dessen Erwiderung 1823 zum<br />

Abdruck gebracht; bei <strong>König</strong> zit. in: Der Begriff der Intuition, S. 206.<br />

6 J.W. v. Goethe, Der Verfasser teilt die Geschichte s<strong>einer</strong> botanischen Studien mit (1831).<br />

7 J.W. v. Goethe, Bildung und Umbildung organischer Naturen, 1. Abschnitt


5<br />

zurückführen lassen.<br />

Aber auch wenn für <strong>König</strong> Kants Gedanke der ‘Synthesis’ und Hegels Gedanke der ‘Vermittlung’<br />

philosophisch unhintergehbar ist, gibt er beidem doch eine andere Betonung und einen<br />

neuen Richtungssinn. Für ihn ist die Synthesis als „Ursprungsbewegung“ und „Ursprungseinheit“<br />

nicht bereits durch eine Kategorientafel und feste Anschauungsformen bestimmt. Mit<br />

der spekulativen Philosophie hebt er stärker ab auf die „immanente Synthesis“ und deren „unendlichen<br />

Gegenstand“ (BdI 43), wobei der Gedanke <strong>einer</strong> sich schöpferisch gestaltenden Beziehung<br />

den Leitfaden bildet (vgl. S. 49 f.). In diesem Sinne kann <strong>König</strong> sagen: „Die Theorie<br />

Goethes ist kein gegenständlicher Satz, sondern ein unendlicher schöpferischer Zustand. Der<br />

oberste Satz s<strong>einer</strong> Deduktion ist das Unbekannte; dessen primäre Deduktion ist aber die<br />

schöpferische Darstellung.“ (S. 205).<br />

Was <strong>König</strong> zu leisten unternimmt ist somit eine Neuinterpretation der absoluten Beziehung,<br />

deren „immanent logische Struktur“ (S. 16) herauszuarbeiten ist. Dies ist im Sinne Hegels<br />

und nimmt doch eine ganz andere, für <strong>König</strong> charakteristische Wendung an. Während Hegel<br />

die absolute Beziehung mit der gegenständlichen Beziehung vermittelt und der an sich selbst<br />

negative Begriff in dieser sein Feld findet, denkt <strong>König</strong> in umgekehrter Richtung die „begrenzte<br />

Einheit“ auf die „überall und nirgends“ seiende [171/172] „pure Einheit“ (S. 60) hin.<br />

Hegel tut dies natürlich auch, doch führt bei ihm der im „Zirkel des Geistes“ (S. 89) als negative<br />

Einheit verstandene Begriff im Sinne <strong>einer</strong> sich aufhebenden Vermittlung zur abgeleiteten<br />

Einseitigkeit und Einfachheit des Gegebenen, während <strong>König</strong> in der sich aufhebenden<br />

Vermittlung einen „Zerfall der Ursprungseinheit“ selbst sieht (vgl. S. 13 ff.), so daß die Sphären<br />

gerade durch ihre Vermittlung sich scheiden und getrennt sind. Absolute Vermittlung ist<br />

somit zugleich „der absolute Verlust der Vermittelung und damit jeweils auch des einen oder<br />

des anderen der zu Vermittelnden“ (S. 7). Als höchstes Resultat der Vermittlung taucht hier<br />

ein „oder“ auf, das die vermittelten Sphären des Absoluten und des Relativen wiederum abgrundtief<br />

scheidet. Zwar anerkennt auch Hegel eine bleibende Differenz zwischen dem Unendlichen<br />

und dem Endlichen, insofern beide sich gegenseitig negieren, doch zieht er daraus<br />

nicht die von <strong>König</strong> gezogene Konsequenz: „eine objektiv gültige Vermittelung der Sphären<br />

scheint also wesentlich unmöglich zu sein, denn jede von ihnen hat ihre Vermittelung an sich<br />

selbst ... das Endliche erweist sich als das Endliche, das Unendliche als das Unendliche.“ (S.<br />

372)<br />

<strong>König</strong> löst somit die absolute Beziehung wiederum ganz heraus aus der gegenständlichen Beziehung,<br />

entgegen Hegels Intention auf deren gegenseitige Durchdringung im System. Wo es<br />

sich im pointierten Sinne um ein gedoppeltes Ganzes handelt, tritt an die Stelle der logischen<br />

Kategorie der Vermittlung die paradoxe Kategorie der Verschränkung, in der der aufgehobene<br />

Gegensatz in zugespitzter Weise erhalten bleibt und zum „Sprung“ nötigt. „Die fragliche<br />

Vermittelung kann offenbar auch nur eine solche widerspruchsvolle sein: soll sie doch das in<br />

sich Vermittelungslose, den ‘Sprung’ vermitteln.“ (S. 373) Für „das Nichts dieser Ursprungseinheit<br />

der Verschränkung“ (S. 414) gilt, daß „ein einheitlicher Gesichtspunkt fehlt, unter<br />

welchem die Sphären, sie sondernd und verbindend zugleich, subsumiert werden könnten.“<br />

(S. 384) Der Punkt der Verschränkung ist ein Nullpunkt, der keine übergreifende Sphäre im<br />

Sinne eines „dritten Reiches“ (S. 418) der Vermittlung zu schaffen erlaubt.<br />

Damit ist im dimensionalen Verhältnis jeder bestimmten Vergleichung der Boden entzogen.<br />

Wo zwischen den Sphären ein Sprung liegt, ist eine Vermittlung des Absoluten im Bestimmten,<br />

von Etwas zu anderem Etwas, nicht mehr möglich. Es ist vielmehr eine Beziehung wie<br />

zwischen „Nichts“ und „Totalität“, deren Mitte „absolut leer“ bleibt (S. 418; gesp. v. Verf.),<br />

ein „Sprung vom absoluten Nichts zu einem ... absolut nahe Gekommenen.“ (S. 417) <strong>König</strong><br />

spitzt den in dieser Beziehung von ‘Nichts’ und ‘Nähe’ liegenden Widerspruch in s<strong>einer</strong> ganzen<br />

Paradoxie und existentiellen Spannung zu, nicht um der Erkenntnis den Boden zu entzie-


6<br />

hen, sondern um ihr gerade umgekehrt das volle Gewicht ihrer Welthaltigkeit zu sichern.<br />

[172/173]<br />

Was auf paradoxe Weise verschränkt ist und nicht mehr gegenständlich vermittelt werden<br />

kann und von <strong>König</strong> hinsichtlich des Urphänomens „verknüpfender Punkt“ (S. 191) und „genaue<br />

Grenzlage“ (S. 194) genannt wurde, löst das Problem des dimensionalen Verhältnisses<br />

grundsätzlich ab von Vorstellungen des gegenständlichen Bezugs und weist der Konstitutionsproblematik<br />

einen von diesem getrennten Ort an. Was im dimensionalen Verhältnis spielt,<br />

wird durch räumliche oder an gegenständlichen Beziehungen orientierte Vorstellungen eher<br />

verdeckt als aufgehellt. Was räumlicher Übergang von <strong>einer</strong> Sphäre bzw. Dimension zur anderen<br />

zu sein scheint, in Wirklichkeit jedoch auf einen „verknüpfenden Punkt“ oder eine „genaue<br />

Grenzlage“ konzentriert ist, kann nur im Sprung erreicht und entweder ganz genau oder<br />

gar nicht getroffen werden. Wo in dieser Weise ein Sprung nötig ist, ist kein Weg vorhanden<br />

und auch keine von außen her bzw. nach außen hin geschehende Vermittlung mehr möglich.<br />

Andererseits aber verbürgt dieses Fehlen von äußeren Zugängen allererst ein vollkommenes<br />

Resultat, das nur im Sprung zu erreichen ist: „Die Welt der Vernunft und des aktual Unendlichen<br />

ist für den Verstand paradox, kann von ihm nicht betreten und durchschritten werden.<br />

Aber muß nicht gerade, weil ein qualitativer Sprung zwischen beiden liegt, ein vollkommenes<br />

Resultat die Folge sein?“ (S. 211) Was im Sprung als ein vollkommenes Resultat immer nur<br />

je faktisch erreicht wird, läßt sich dann aber grundsätzlich nicht ins gegenständliche Verhältnis<br />

übersetzen und in ihm weiterbestimmen. Erkenntnis, die an den Zerfall der Ursprungseinheit<br />

gebunden ist, erlaubt keine überdauernden Synthesen.<br />

Das Erkenntnisproblem wird damit gänzlich aus allen Systemzusammenhängen herausgelöst:<br />

„Wenn also die Synthesis als das Ursprüngliche gesetzt wird, aus der heraus erst Ich und Gegenstand<br />

durch Zerfall resultieren, so heißt das, daß Erkenntnis uns nicht selber wieder aus<br />

Erkenntnis entspringt daß Erkenntnis also einen rein tatsächlichen und in sich selbst uneinsichtigen<br />

Anfang hat. In die Sphäre der Erkenntnis führt kein überschaubarer Weg, und erst<br />

nach dem Sprung kann das Ersprungene, Erreichte betrachtet und gewertet werden.“ (S. 14)<br />

Das Anfangsproblem löst sich vom Gedanken eines rational-diskursiven Begründungszusammenhanges<br />

aus einsichtigen Prämissen. <strong>König</strong> spricht von einem „Fehlen des Anfangs<br />

überhaupt“ (S. 17), denn zugrunde liegen stets diskrete „Ganzheiten.., deren wir uns intuitiv<br />

bemächtigen“ (a. a. O.). Dem entspricht der Begriff der Intuition als eines rational unerklärlichen<br />

„Einfalls“, der in dem Sinne grundlos und unvermittelt ist, daß „die Prämissen der plötzlich<br />

entspringenden Sinneinheit grundsätzlich ungebbar sind“ (S. 24) und der konstituierende<br />

Vorgang selbst undurchschaubar bleibt. <strong>König</strong> spricht von der Synthesis als einem „Werden<br />

zum Sinn“, hinter die nicht zurückgegangen werden kann, weil sie selbst schon im Rücken<br />

liegt [173/174] (a. a. O.). Die plötzlich entspringende Sinneinheit kann jeweils nur faktisch erreicht<br />

werden und überwindet gleichzeitig die Faktizität (vgl. S. 25 ff.)<br />

Wiederum mit Goethe gegen Hegel gesprochen: Der die spekulative und die empirische<br />

Wahrheit trennende wie vereinigende „grundlose Sprung in das innerste Leben des Ganzen“<br />

(S. 211) hebt die unendliche Kluft zwischen den Sphären nicht auf und verlangt vielmehr das<br />

‘Unmögliche’: das Absolute in der flüchtigen Erscheinung zu sehen und, anspielend auf den<br />

Begriff der Ironie, das Relative „absolut zu leben ... und trotzdem das Gelebte als relativ zu<br />

bewerten“ (S. 212)<br />

Deutlich ist bei einem solchen mit Hegel konzipierten, jedoch gegen dessen Systemgedanken<br />

gewendeten Verschränkungsbegriff, daß <strong>König</strong> das Geistige nun nicht mehr wie Hegel mit<br />

dem Bestehenden gleichen, im geschichtlichen Zusammenhang suchen oder <strong>einer</strong> spekulativen<br />

Bewegung des Begriffs überantwortet will. Näher liegen hier die platonischen Motive.<br />

Wenn Geistiges als ein dem Leben sich Entreißendes nur im Sprung zu fassen ist und kein<br />

„drittes Reich“ bildet, kann sich dies mit der Einsicht verbinden, daß es nur in der Form eines


7<br />

rein Qualitativen, Diskreten befruchtend und verlebendigend auf das Leben zurückwirkt,<br />

während das herrschende begriffliche Allgemeine, an dem Hegel festhält, nach wie vor nur<br />

dessen Todesseite repräsentiert.<br />

Für ein sich an das Gegebene haltendes und positivistisch gebärdendes Zeitalter klingt dies<br />

hinsichtlich s<strong>einer</strong> geistigen Ambitionen nicht sehr einladend. Es taucht hier, wie zuvor schon<br />

bei Kierkegaard, auf der Spitze spekulativen Denkens als eine vorderhand noch verschlossene<br />

Tür ein großes Entweder/Oder auf, das die universale Vermittlung nicht leugnet, sondern sich<br />

gerade umgekehrt als deren höchstes Resultat weiß. Nicht ohne Grund hält sich <strong>König</strong> wie<br />

auch Kierkegaard in der Folge wieder an die ‘alte’ Logik, die den Satz vom Widerspruch gelten<br />

läßt und die Sphären reinlich unterscheidet. Über die formale Unterscheidung hinaus kann<br />

die Logik aber auch dazu dienen, die Paradoxie herauszutreiben und zum irritierenden wie<br />

stimulierenden Moment des Absprungs oder auch nur des Loslassens zu machen.<br />

5. Die Herausarbeitung formaler Unterschiedeals spezifisches Können der Philosophie<br />

Was <strong>König</strong> in s<strong>einer</strong> Dissertation „Der Begriff der Intuition“ als Kluft zwischen den Sphären<br />

ontologisch bezeichnet hat, wird von ihm in der Folge als formaler Unterschied logisch gekennzeichnet<br />

und dazu verwendet, gänzlich [174/175] unterschiedliche Konstitutionsmodi<br />

aufzusuchen und gegeneinander zu kontrastieren. Die Verbindung <strong>einer</strong> ontologischen Differenz<br />

mit einem formallogischen Unterschied hat einen tieferen Grund. Was in verschiedenen<br />

Dimensionen liegt und radikal, d. h. von der Wurzel her toto genere unterschieden ist, hat mit<br />

dem Fehlen des gleichen genus auch keinen gemeinsamen Vergleichshorizont mehr. Die darin<br />

zum Ausdruck kommende qualitative Differenz läßt sich dann aber nur noch formal nachweisen,<br />

indem der andere logische Status bestimmter Phänomene und Sprachformen aufgewiesen<br />

wird. Die qualitative Differenz wird gewahrt, gerade weil der besondere Inhalt für die formale<br />

Analyse keine Rolle mehr spielt.<br />

Da es sich jedoch nach wie vor um qualitative und nicht nur um rein formale Differenzen<br />

handelt, ergeben sich für das Verständnis des Gemeinten die größten Schwierigkeiten. Wo die<br />

Vergleichsgesichtspunkte zwischen den Bezogenen fehlen und die fragliche Differenz äußerlich<br />

gar nicht sichtbar wird, muß auch das Verstehenkönnen eine andere Grundlage finden.<br />

Wer eine qualitative Differenz wahrnehmen will, darf sich grundsätzlich nicht an die vertrauten<br />

Vorstellungen und vorgefaßte Bedeutungen von Wörtern halten. Man könnte das Entsprechungsverhältnis<br />

zwischen qualitativ bzw. formal unterschiedenen Sachverhalten am ehesten<br />

mit den beiden Seiten <strong>einer</strong> Münze vergleichen. Auch wenn hier der Gehalt der einen Seite<br />

irgendwie in die Prägung der anderen mit eingeht, ist eine direkte Abbildbarkeit der einen<br />

Seite auf die andere nicht gegeben, so daß das Ganze notwendig in gedoppelter und durchgängig<br />

unterschiedener Form auftreten muß.<br />

Hat in diesem Sinne jede Sphäre „ihre Vermittelung an sich selbst“ (BdI 372) und darin einen<br />

eigenen, toto genere verschiedenen Konstitutionsmodus, so wird die für das Sein wie für die<br />

Erkenntnis wesentliche Bezogenheit der Sphären aufeinander zu einem eigens zu untersuchenden<br />

Problem. Erkenntnis geschieht <strong>einer</strong>seits im „Sprung“ in die Ursprungseinheit oder<br />

Ursprungsbewegung hinein, andererseits aber will sie das Ersprungene in die Aussagemöglichkeit<br />

herüberretten, wenn und indem die Ursprungseinheit wieder zerfällt. Doch wie ist<br />

dieser Brückenschlag möglich, wo die Sphären doch getrennt sind und, wie der Vergleich mit<br />

der doppelseitigen Münze zeigt, gerade in ihrer Verschränkung und durch sie geschieden<br />

bleiben, auch wenn sie sich unterschwellig allenthalben tangieren und, der Möglichkeit nach,<br />

an jedem Punkt der Funke überspringen kann?<br />

Das damit gestellte Problem läßt sich am Beispiel von Rilkes Gedicht „Archaischer Torso<br />

Apollos“ schematisch vorzeichnen, das <strong>König</strong> zur Verdeutlichung der Natur der ästhetischen


8<br />

Wirkung anführt (vgl. NäW 256 ff.). Die von Rilke bei der Betrachtung des archaischen Torso<br />

Apolls empfangene ästhetische Wirkung konzentriert sich <strong>König</strong> zufolge in dem Eindruck:<br />

„denn da ist [175/176] keine Stelle, die dich nicht sieht.“ In dem so beschriebenen Augen-<br />

Blick ist der Bild-Rahmen distanzierter Betrachtung zerbrochen und damit auch das gegenständliche<br />

Subjekt-Objekt-Verhältnis von Betrachter und Betrachtetem aufgehoben. Es ist,<br />

wie wenn plötzlich eine Tür aufgeht und auf der Schwelle alles zurückbleibt, was zuvor die<br />

gegenständliche Wahrnehmung bestimmt hatte. Aug’ in Auge tritt etwas ein, was sich in Rilkes<br />

Eindruck faßt und ausspricht. Was sich ineins sehend und gesehen weiß, übersetzt sich als<br />

eine das Innerste berührende, rein geistige Anmutung in das dichterische Wort.<br />

Deutlich wird an diesem Beispiel, daß der Torso selbst als solcher nicht mit s<strong>einer</strong> ästhetischen<br />

Wirkung gleichgesetzt werden kann und auch Rilkes Gedicht, nachdem der Augen-<br />

Blick vorüber ist, diese nur noch der Möglichkeit nach enthält. Die im Zerfall der Ursprungseinheit<br />

wiederum hervorgekehrte gegenständliche resp. sprachliche Seite folgt, wie zuvor, den<br />

je eigenen Material- und Formgesetzen, so daß die ästhetische Wirkung darin für eine erneute<br />

Aktualisierung lediglich hinterlegt ist. Keinem Gegenstand und k<strong>einer</strong> Aussage ist es von außen<br />

anzusehen, ob sich eine ästhetische Wirkung damit verbunden hat und erneut verbinden<br />

kann, denn es gibt dafür kein äußeres Kriterium. Und doch gehört die von Rilke empfangene<br />

ästhetische Wirkung dem archaischen Torso Apolls und s<strong>einer</strong> dichterischen Beschreibung<br />

wesentlich an, so daß sie auch in der beiderseitigen Formgebung modifizierend zum Ausdruck<br />

kommt.<br />

Eine Einnivellierung des Eindrucks und s<strong>einer</strong> Beschreibung bleibt indes auch beim großen<br />

Kunstwerk jederzeit möglich. Jede Übertragung des rein Qualitativen in eine materielle Form<br />

ist bereits eine Verfälschung, auch wenn das Bildwerk so-wirkend und die Worte genau und<br />

treffend sind. Was in der Verschränkung der Sphären im Punkt koinzidiert, nimmt in s<strong>einer</strong><br />

Ausdehnung den Stoff der Umgebung als Material der Gestaltung und damit ein fremdes<br />

Element in sich auf. Nur der Punkt und nicht die ausgedehnte Sphäre kann deshalb der Ort der<br />

absoluten Einheit sein. Und weil es sich um einen Übergang im Punkt handelt, geht der<br />

Sprung auch nicht anderswohin, man findet sich vielmehr im Selben, jedoch anders, wieder.<br />

Daß der von <strong>König</strong> aufgewiesene Unterschied überhaupt wahrgenommen wird, ist somit keineswegs<br />

selbstverständlich. Wenn aber nicht vorausgesetzt werden kann, daß der Blick für<br />

ihn geöffnet ist, kann nur die formale Unterscheidung ihn verdeutlichen.<br />

Die Philosophie weist auf die Sprünge hin, springt selbst aber nicht. Das Grenzgängertum<br />

Goethes und der Kunst im allgemeinen ist eines ihrer vorzüglichen Themen, nicht aber ihr eigenes<br />

Forschungsfeld. Die von <strong>König</strong> geübte Kunst der formalen Unterscheidung will als das<br />

verstanden werden, was sie im Sinne <strong>einer</strong> logischen Formalanalyse sein kann, nicht mehr<br />

und [176/177] nicht weniger. Auch wenn Goethe das Vorbild ist, geht es ihr nicht in erster<br />

Linie darum, die eigenen Denk, Sprach- und Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen und<br />

neue Erfahrungsmöglichkeiten zu gewinnen. Selbst wenn dieses Ziel damit verbunden würde,<br />

könnte es sich in philosophischer Rede immer nur um einen Hinweis handeln, wie die nichtgegenständlichen<br />

Beziehungsmodi ‘schalten’; der Sprung in sie hinein wird dadurch nicht abgenommen.<br />

Was sich in philosophischer Rede gleichsam nur spiegelt und indirekt zur Geltung<br />

bringt, will ergriffen sein und kann nur so für das eigene Sehen und Sprechen produktiv<br />

werden. Dennoch ist mit dieser Selbstbeschränkung philosophischer Aussage der Sache selbst<br />

gedient. Indem der formale Unterschied nachgewiesen und damit auch die qualitative Differenz<br />

gewahrt wird, ist die geistig-weltbildende Funktion des Kunstwerks allererst ausdrücklich<br />

anerkannt und dieses legitimiert.<br />

Beispiele selbst können aus den genannten Gründen die philosophische Verständigung nicht<br />

tragen und im Gegenteil den in Frage stehenden Sachverhalt durch ihre einnivellierbare Konkretion<br />

auch wiederum verstellen. Sie enthalten zwar irgendwie das Gemeinte, liefern aber


9<br />

den Skopus für dessen Wahrnehmung nicht bereits mit. Eine ganz abstrakte Charakterisitik,<br />

wie sie in der Struktur mehrdimensionaler Verschränkung oder im Spiegelverhältnis angesprochen<br />

ist, hat demgegenüber den Vorteil, daß der formale Unterschied hier auf ebenso<br />

formale Weise gekennzeichnet wird. Gleichwohl ist die Schwierigkeit philosophischen Denkens<br />

damit nicht beseitigt, denn auch wenn dieses formal bleibt und der Inhalt der angeführten<br />

Beispiele insofern nicht zu interessieren braucht (vgl. NäW 262 u.ö.), kann es doch keine<br />

logische Abstraktion vornehmen und sich auch nicht in gegenständliche Distanz zu den von<br />

ihm thematisierten Sachverhalten setzen. Für die philosophischen Gegenstände gilt nach wie<br />

vor: „Denn sie sind in sich sowohl Sachen als auch Gedanken; sie sind beides zugleich, und<br />

zwar ursprünglich.“ (SpKöPh 21) Es „bleibt auch hier möglich, eine Unterscheidung durchzuhalten<br />

zwischen ihnen selber und unseren Gedanken, zwischen z. B. der Seele selber und<br />

dem Gedanken ‘Seele’“ (a. a. O.). Während die Einzelwissenschaften Sachen und Gedanken<br />

bzw. Aussagen strikt trennen, ist hier beides wesentlich verbunden und verliert doch nicht<br />

seine Unterscheidbarkeit. Die spezifische Problematik des philosophischen Sprechens stellt<br />

sich dann so dar: „Auch die Philosophie ist selbstverständlich sachbezogen; aber ihre Bezogenheit<br />

auf die Sache ist gleichsam in sich gespalten und geht nun teils zwar auf diese, teils<br />

aber und zugleich auf den Ausdruck oder auf den Logos der Sache, und er richtet sich auf jene<br />

in philosophisch relevanter Welse nur, insofern er sich auch auf diesen richtet.“ (S. 20)<br />

[177/178]<br />

Der in sich gespaltene Blick meint noch nicht den Reflexionsmodus, auch wenn dieser davon<br />

abkünftig ist. <strong>König</strong> vergleicht die angesprochene Sachlage mit der Aufgabe, den Unterschied<br />

von Vase und Blumen auszumachen, wenn dieser in einen Spiegel „hineingespiegelt“ und als<br />

gegenständlicher Unterschied aufgehoben, aber gleichwohl nicht überhaupt verschwunden ist<br />

(vgl. S. 21). Der ‘hineingespiegelte’ Unterschied wäre gründlich mißverstanden, wenn man<br />

das im Spiegel erscheinende Bild im physikalischen Sinne als ein getreues, wenngleich imaginäres<br />

Doppel der vor ihn gerückten Dinge auffassen würde. Das Gegenständliche wäre dann<br />

im Spiegelbild eben nur wiedergegeben in Form <strong>einer</strong> virtuellen Abbildung, nicht aber die<br />

ganze Sachlage in eine andere Frage- und Beziehungsebene transformiert, in der der Spiegel-<br />

Unterschied als ein innerer Selbst-Unterschied ganz unabhängig von allen inhaltlichen Füllungen<br />

allererst zum Tragen kommen kann. Auch wenn der Unterschied von Vase und Blumen<br />

in einem Sinne lediglich von außen in den Spiegel hineingespiegelt und in ihm selbst gar<br />

nicht angelegt ist, hat dieser ihn in anderem Sinne „dennoch irgendwie auch in sich“ (a. a.<br />

O.).<br />

Das spezifische Können der Philosophie zielt darauf ab, das Wie derartiger Unterschiede herauszuarbeiten<br />

und den Blick für die vom gewöhnlichen Verstand abweichenden Beziehungsverhältnisse<br />

zu schulen. Im nivellierten Sprachgebrauch bleiben Unterschiede, wie sie sich im<br />

Spiegel zeigen, verdeckt. Würde man etwa, indem man vor den Spiegel tritt, das eigene Spiegelbild<br />

nicht gegenständlich neutralisieren, dann wäre die Frage, ob das ‘wirkliche’ Selbst<br />

nun ‘vor’ den Spiegel tritt oder ‘in’ ihm erscheint oder vielleicht ‘nichts als das’ ist, was diese<br />

Differenz markiert, nicht mehr so leicht und scheinbar eindeutig zu beantworten. Wie Tschuang-tses<br />

Traumgeschichte8 und die sich anschließende verwirrende Frage: Bin ich nun<br />

Mensch oder Schmetterling? verdeutlicht, verhindert der in beiden Richtungen mögliche<br />

8<br />

Tschuang Tse, Glückliche Wanderung. Neu bearbeitet von Gia-Fu Feng & Jane English. Irisiana Verlag Haldenwang<br />

1978.<br />

Die Geschichte lautet: Ich, Tschuang Tse, träumte einmal, ich sei ein Schmetterling, der glücklich hin und her<br />

flatterte, der sich am Leben erfreute, ohne zu wissen, wer ich war. Plötzlich erwachte ich, und wirklich war ich<br />

wieder Tschuang Tse. Trräumte nun Tschuang Tse, daß er ein Schmetterling, ein Schmetterling, daß er Tschuang<br />

Tse sei? Irgendeine Unterscheidung zwischen Tschuang Tse und dem Schmetterling muß es ja geben. Es<br />

handelt sich wohl um einen Fall von Verwandlung.


10<br />

Sprung zwischen verschiedenen Manifestationsebenen, die sich nicht mehr zur Deckung bringen<br />

lassen, eine Entscheidung über die ‘wahre’ Ansicht der Sache. Tschuang-tse Frage zielt<br />

gar nicht darauf ab, welche Seite ‘real’ ist und welche nicht, denn im Spiegelverhältnis bricht<br />

sich auch das Wirklichsein [179/180] selbst und kann grundsätzlich nicht mehr der einen oder<br />

anderen Seite zugeordnet werden.<br />

Was dem Auge im Spiegel als sein eigener Selbst-Unterschied des Sehenund-gesehen-<br />

Werdens zurückgespiegelt wird, entspricht dem Phänomen der selektiven Resonanz im Gehör,<br />

von dem <strong>König</strong> im Zusammenhang mit der Natur der ästhetischen Wirkung an anderer<br />

Stelle spricht (vgl. NäW 303 ff.). In beiden Fällen ist eine ganz individuelle Verständnisgrundlage<br />

angesprochen, denn wie jeden nur die von ihm selbst miterzeugte Rückspiegelung<br />

eigentlich betrifft, so hat auch jeder seine ihm eigene Resonanzmöglichkeit, der entsprechend<br />

er etwas aufnimmt und beantworten kann.<br />

Daß eine analoge Problematik auch in anderen philosophischen Kontexten gegeben ist, zeigt<br />

hinsichtlich des Dingbegriffs das unvermeidliche Pendeln zwischen Substanzdenken und<br />

Phänomenalismus, das eine Entscheidung über ‘Schein’ oder ‘Sein’ auf beiden Seiten gegenstandslos<br />

macht (vgl. DiE 340 ff., 352 ff.). In anderer Weise macht die prädikatenlogische<br />

Unterscheidung von Prädikation und Existenzbelegung deutlich, daß eine Satzfunktion wie ‘-<br />

ist wirklich’ grundsätzlich nicht wie ein Prädikat behandelt werden kann, weil beides dem logischen<br />

Status nach formal unterschieden werden muß. Die Logik grenzt hier etwas ab bzw.<br />

aus, was, auch wenn es sich sprachlich bzw.semantisch nicht unterscheiden läßt, in anderer<br />

Dimensionalität verbleibt.<br />

<strong>König</strong> zieht aus diesen Überlegungen die Konsequenz, daß die das philosophische Seh- und<br />

Sprechvermögen schulende Logik nur eine formal unterscheidende und keine vermittelnde<br />

oder explikative Funktion haben kann. Er meint deshalb mit Logik stets die formale Logik<br />

und schließt die Rede von <strong>einer</strong> dialektisch-vermittelnden oder hermeneutisch-explizierenden<br />

Logik für sich selbst aus. Mit der Formalität ist dem sachlichen Anliegen Rechnung getragen.<br />

Die Phänomene lassen sich in der Tat nur retten, wenn man sie keinem subsumierenden Allgemeinen<br />

mehr unterwirft und auch das Vermittelnwollen von allem und jedem aufgegeben<br />

hat.<br />

6. Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie<br />

Studien im Grenzgebiet von Logik, Ontologie und Sprachphilosophie müssen von vornherein<br />

der <strong>Versuch</strong>ung widerstehen, die schwebenden Ursprungsverhältnisse von Sein und Denken,<br />

Sprache und Wirklichkeit zu verfestigen und in einseitiger Weise auf objektiv Selbstgegebenes<br />

oder subjektiv Zurechtgelegtes zu reduzieren. In der Konstitution der Phänomene kann<br />

weder der [179/180] subjektiven noch der objektiven Seite ein prinzipieller Vorrang eingeräumt<br />

werden. Idealistische und nachidealistische Theoreme, die einseitig den Begriff und die<br />

Sprache als universellen Bezugsrahmen und letztlich bestimmende Macht hervorheben, gehen<br />

ebenso fehl wie die einem kritischen Bewußtsein naiv erscheinende Vergegenständlichung<br />

von Formen und Inhalten des Denkens. Weder das bereits im Wort Liegende noch das vermeintlich<br />

am Gegenstand selbst Ablesbare kann der wahre Sachverhalt sein. Die damit verlangte<br />

Gratwanderung ist nicht leicht durchzuhalten. So lassen sich die Thesen <strong>einer</strong> radikalisierten<br />

Sprachkritik, wie wir sie von W. v. Humboldt, Nietzsche, Hoffmannsthal, Whorf und<br />

anderen her kennen, bei <strong>König</strong> durchaus wiederfinden und verfehlen doch dessen Intention.<br />

Geistig erfüllte, wirklichkeitshaltige Sprachkonzeptionen passen nicht in die Alternative von<br />

gegenständlicher Abbildung und/oder hypostasierendem Übergriff. Was im Wort als ein rein<br />

Bedeutendes faßbar wird, muß in s<strong>einer</strong> qualitativen Differenz und ontologischen Seinsselbständigkeit<br />

belassen werden und kann nur so in seinem sprachlichen Gewand zu eigentlicher<br />

Wirkungsmächtigkeit gelangen.


11<br />

Die Ursprungsphänomene gehören somit weder der einen noch der anderen Seite an, sie entstehen<br />

vielmehr erst in deren konstitutiver Verschränkung. Die hier geltende ontologische<br />

Differenz und Diskontinuität macht es prinzipiell unmöglich, das so Gefaßte wie ein immanent<br />

Gegebenes aufzufassen, wissenschaftlich zu untersuchen und im Sinne philosophischer<br />

Analyse kategorial zu bestimmen. Nur die atomar verdichtete Prägung des dichterischen Wortes<br />

hat die Kraft, gleichsam einen Funken aus der Seinsmaterie herauszuschlagen und als ein<br />

rein Bedeutendes überspringen zu lassen - ein je aktualer Gehalt, der, auch wo er zum Ereignis<br />

wird, sich grundsätzlich nicht in die immanenten Vermittlungszusammenhänge einbeziehen<br />

und ihren begrifflichen und gegenständlichen Formen angleichen läßt. Gleichwohl bleibt<br />

das qualitativ Verschiedene unterschwellig verbunden und nimmt darin im modifizierenden<br />

Sinne die Färbung der je anderen Seite an.<br />

<strong>König</strong>s ganzes Bemühen konzentriert sich darauf, den darin liegenden Unterschied und Zusammenhang<br />

zum klaren Bewußtsein zu bringen. Er grenzt mit den Mitteln formaler Analyse<br />

verschiedene Sprachmodi ab, wobei jedoch das verschieden qualifizierte Reden immer noch<br />

im gleichen Sprachfeld liegt und der Unterschied sich weder syntaktisch noch semantisch<br />

identifizieren läßt. Weil auch eine gegenständliche oder transzendentale Bestimmung die<br />

fragliche Differenz nicht trifft, läßt sich ein solches qualitativ verschiedenes Sprechenkönnen<br />

in philosophischer Analyse grundsätzlich nur formal unterscheiden.<br />

Das auf ein eâ lšgein. ein Gut-sprechen-können-wollen zielende spezifische [180/181] Können<br />

der Philosophie rückt somit eine außerordentliche, jeden gegenständlich bzw. kategorial<br />

und semantisch bestimmten Rahmen sprengende Möglichkeit des Sprechens in den Blick. In<br />

dessen eigentümlichem Beziehungsmodus sind die erkenntnistheoretischen Alternativen<br />

schon im ersten Ansatz überwunden, ohne daß die ihren einseitigen Reduktionen entsprechende<br />

Möglichkeit, das in ganz verschiedenem Sinne Gemeinte sprachlich und gegenständlich<br />

wiederum einzunivellieren, dadurch in Abrede gestellt wäre. Weder die hypostasierende<br />

Trennung noch eine reduzierende Gleichsetzung oder Vermittlung verschlägt, wo ein qualitativ<br />

Verschiedenes im Sein und in den darauf bezogenen Modi des Denkens und Sprechens gefaßt<br />

bzw. gewahrt werden soll. Die an keinem bestimmten Inhalt zweifelsfrei festzumachenden,<br />

jedoch formal abgrenzbaren Modalitäten bilden „Ein Zusammen“ (BdI 4) und bleiben<br />

doch heterogen und begrifflich unvermittelbar.<br />

Im Sinne eines Verständnisses von Dualität, das die Alternativität von Monismus und Dualismus<br />

bestreitet und mit guten Gründen weder die einen noch die andere Konsequenz ziehen<br />

möchte, wird ein derartiger Beziehungsmodus auf die Formel gebracht: Nicht Zwei, nicht Eines!<br />

<strong>König</strong> drückt denselben Tatbestand am Beispiel der ästhetischen Wirkung und ihrer Beschreibung<br />

so aus: „Eine ästhetische Wirkung ist also nicht einfach dasselbe Ding wie ihre<br />

essentielle dichterische Beschreibung; aber ebensowenig gilt, daß sie und ihre Beschreibung<br />

zwei verschiedene Dinge wären, wie dies für eine nichtästhetische Wirkung und deren Beschreibung<br />

zutrifft.“ (NäW 280; gesp. v. Verf.) Seine eigene Formel für derartig verschränkte<br />

Sachverhalte lautet „nicht durch ..., nicht ohne ...“ oder in anderer, das „Nichts“ dieser „Ursprungseinheit<br />

der Verschränkung“ (BdI 414) betonenden Wendung: „nichts als das, was ...<br />

möglich macht“. In den ontologischen Kontext zurückgespiegelt heißt dies: „Nun ist aber jede<br />

Sphäre zwar eine sich affirmierende, aber eine sich durch Negation affirmierende, oder: jede<br />

ist unbedingt und zugleich von der anderen Sphäre, genauer, von dem absoluten Moment der<br />

Gegensphäre, bedingt. Und eben dieses Bedingen oder Konstituieren oder Scheinen des unbedingten<br />

Moments der einen Sphäre in dem eben deshalb bedingten Moment der anderen<br />

Sphäre ist die Erfüllung des offen bleibenden „wenn“. Das die Sphären zu ihrer Wirklichkeit<br />

Emportreibende ist also letzhin ihr Ineinanderverschränktsein selbst.“ (BdI 414)<br />

Die <strong>König</strong>s Untersuchungen über Sein und Denken leitende Unterscheidung von modifizierenden<br />

und determinierenden Prädikaten betrifft eine formale Differenz im Prädikatsein als


12<br />

solchem, in der entsprechenden Art und Weise des Gegebenseins und in den dazugehörigen<br />

Bedingungen und Formen des Sagen- und Verstehenkönnens. Beispiele allein können diesen<br />

Unterschied nicht belegen, denn modifizierende Prädikate sind auch determinierende<br />

[181/182] Prädikate, so daß die Möglichkeit der Einnivellierung es im Einzelfall zweifelhaft<br />

erscheinen läßt, ob die eine oder andere Form des Prädizierens vorliegt.<br />

Determinierende Prädikate bezeichnen ihren Gegenstand erschöpfend in dem Sinne, daß der<br />

Verständniskontakt durch die sprachliche Benennung unmittelbar und problemlos hergestellt<br />

wird, wenn immer man das Wort kennt und sich über seine Bedeutung verständigen kann.<br />

Hingegen sind Prädikate wie ‘gerecht’, ‘gütig’ usw. nicht erschöpfend aussagbar, und jeder<br />

wird etwas anderes damit verbinden, wenn er das Wort nicht eben nur vom Hörensagen kennt,<br />

sondern sich in seinen Gehalt hineingefühlt und hineingedacht hat. Auch wenn es möglich ist<br />

aus zweiter Hand so zu sagen, muß doch dem, der von Güte reden können will, das „Wovon“<br />

des gütigen Eindrucks in echter Weise „einwohnen“. 9 Das Lernen und korrekte Anwenden<br />

sprachlicher Konventionen genügt dazu nicht, es muß vielmehr die Sache selbst vor den Blick<br />

gerückt und innerlich erschlossen sein.<br />

Was sich am Beispiel zeigt, läßt sich in formaler Analyse näher kennzeichnen. Zu verstehen<br />

ist, in welchem Sinne das „Wovon“ des Eindrucks von Güte diesem selbst „in echter Weise<br />

einwohnt“ (SuD 4). Dies meint nicht, daß einem gütigen Eindruck die Eigenschaft der Güte in<br />

gleicher Weise inhäriert, wie ‘Rot’ eine Eigenschaft des Blütenblattes sein kann, auch wenn<br />

damit „ein Moment der ganzen Wahrheit“ (SuD 9) getroffen ist. Gleichwohl kann man sagen,<br />

daß der „Eindruck von Güte“ ein „gütiger Eindruck“ ist, wogegen der Eindruck-von-rot selber<br />

kein roter Eindruck ist; die Eigenschaft ‘rot’ bestimmt hier den Gegenstand, nicht aber seine<br />

subjektive Repräsentation. Daß das „Wovon“ des „Eindrucks von Güte“ diesem selbst „in<br />

echter Weise einwohnt“, läßt sich statt mit <strong>einer</strong> Eigenschaft besser so ausdrücken, daß dieser<br />

Eindruck „sein Wovon ursprünglich vermittelt und offenbart.“ (SuD 16)<br />

Die Differenz betrifft die Vermittlungsweise als solche, die hier keine gegenständliche<br />

und/oder vorstellbare Form annimmt. Eine solche nicht von außen her erschließbaren Beziehung<br />

ist nichts als sie selbst und ihr Gehalt deshalb entweder gar nicht oder aber in echter<br />

Vergegenwärtigung (präsentatio) „ursprünglich vermittelt und offenbart“ (S. 16). Ich kann<br />

mich über sie nicht täuschen, wie dies bei <strong>einer</strong> Vorstellung (repräsentatio) der Fall sein mag,<br />

denn sie trägt ihren Qualitäts- und Existenzbeweis in sich selbst. Dieses sichere Wissen verträgt<br />

sich durchaus damit, daß die Auffassungs- und Ausstrahlungskraft für derartige Qualitäten<br />

und Wirkungen sehr verschieden entwickelt sein kann.<br />

Das „Einwohnen“ als Beziehungsmodus modifizierender Prädikate unterscheidet sich somit<br />

vom „Eigenschaften haben“ ebenso wie von bloß bildhafter oder zeichenhafter „Repräsentation“,<br />

die nicht originär gibt und an eine verknüpfende Vorstellung gebunden ist. Beim determinierenden<br />

Sprechen [182/183] läßt sich jedenfalls im Prinzip der sprachunabhängige Zugang<br />

in der äußeren Wahrnehmung von der hinzukommenden sprachliche Wiedergabe tren-<br />

9 Ohne auf die Geschichte des Terminus „Einwohnen“ hier eingehen zu können, mag in diesem Zusammenhang<br />

von Interesse sein, wie die in der altägyptischen Religion häufig anzutreffende Vereinigung von Göttern gedacht<br />

wurde. Es handelt sich dabei keineswegs um eine synkretistische Vermischung und Verschmelzung, denn die<br />

vereinigten Götter gehen nicht einfach ineinander auf, sie bleiben selbständig gegeneinander und können sich<br />

jederzeit wieder aus ihrer Beziehung lösen. In diesem Sinne bezeichnet Hans Bonnet die Kompositbildung<br />

Amun-Re als ein Verhältnis der „Einwohnung“ und umschreibt diese folgendermaßen: „Die Formel Amun-Re<br />

besagt nicht, daß Amun in Re oder Re in Amun ‘aufgegangen’ sei. Sie begründet auch keine Identität. Amun ist<br />

nicht gleich Re. Sie stellt fest, daß Re in Amun ist, aber nur so, daß er sich nicht in Amun verliert, sondern ebenso<br />

wie dieser er selber bleibt, so daß beide Götter wieder selbständig oder in anderen Einigungen erscheinen<br />

können.“ Hans Bonnet, Reallexikon der ägyptischen Religionsgeschichte. Berlin 1952, S. 239; vgl. dazu Erik<br />

Hornung, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen. Wissenschaftlichee Buchgesellschaft<br />

Darmstadt 1971, S. 83.


13<br />

nen. Ein Eindruck von Güte ist demgegenüber ohne ein darauf bezogenes Sprechenkönnen<br />

wie nicht gegeben, aber auch nicht im Wort als solchem und den daran geknüpften Vorstellungen<br />

bereits sprachlich hinterlegt. Der Eindruck ist vielmehr nur durch die modifizierende<br />

Rede hindurch faßbar, darin aber weder durch diese allererst entstehend noch ohne sie faktisch<br />

seiend. Es mag ein „schlafender“ Eindruck schon vorhanden sein, der jedoch erst, indem<br />

ich ihn ausspreche, mir zum „sprechenden“ Eindruck wird; nicht geweckt oder erinnert ist er<br />

aber für mich wie nicht. Anders gesagt ist hier „das ‘Erkennen und Erklären’ des Eindrucks<br />

...essentiell eines mit dem Haben des Eindrucks.“ (S. 134) Er wird nur insofern gekannt, als er<br />

auch erkannt ist. Dazu muß eine neue, mit dem Vorgang des Weckens verbundene Art von<br />

Bewußtsein hinzukommen, die im Gebrauch der konventionalisierten Sprache nicht verlangt<br />

ist. Hier wohnt die Bedeutung eines Wortes diesem nicht in echter Weise ein, so daß das Auffassen<br />

des Wortes ineins das Verstehen s<strong>einer</strong> Bedeutung wäre. Die Bedeutung kommt hier<br />

vielmehr zum Wort als ein Zweites hinzu und muß deshalb im Zusammenhang mit ihm auch<br />

ausdrücklich gelernt werden (vgl. S. 11 f.). Gleiches gilt für körperliche Eindrücke im wörtlichen<br />

Sinn wie Fingereindrücke, Fußstapfen oder Hasenspuren, deren Bedeutung in ihnen<br />

nicht bereits mitgegeben ist und hinzugelernt werden muß (vgl. S. 14 f.).<br />

Die Rede von einem „Einwohnen“ in ursprünglicher Vergegenwärtigung weist auf die platonische<br />

Tradition zurück, der <strong>König</strong> eine weitere Unterscheidung entnimmt. Das Einwohnen<br />

im „aktuellen Eindruck“ jetzt und hier [183/184] unterscheidet sich vom „ursprünglichen<br />

Einwohnen“ „von Anfang an“, wie sich ein „geweckter“ bzw. zu sich erwachter Eindruck von<br />

einem „schlafenden Eindruck“ unterscheidet (vgl. SuD 21 ff.). Das Einwohnen bezeichnet so<br />

ineins das „Hineinkommen“ und das „schon Drinsein“, es umschreibt gleichzeitig eine zuvor<br />

wie nicht gegebene Voraussetzung und einen nun erst je faktisch zustandekommenden Entstehungsprozeß.<br />

Während <strong>einer</strong>seits die Voraussetzungen als solche noch „schlafen“, handelt<br />

es sich beim aktuellen Vorgang der weckenden Verschränkung um eine Doppelbewegung von<br />

zwei Seiten her, die sich erst im Resultat selber faßbar wird. „Das die Sphären zu ihrer Wirklichkeit<br />

Emportreibende ist also letzthin ihr Ineinanderverschränktsein selbst“ (BdI 414), wobei<br />

das Wirklichwerden vom „wenn“ des Weckens abhängig bleibt.<br />

Das aktive Moment im Fassen und Aussprechen des Eindrucks wird von <strong>König</strong> so zwar betont,<br />

aber weder als das auslösende noch als ein wesentlich bestimmendes Moment angesehen.<br />

Soll der Verschränkungsvorgang aktuell eintreten, so muß dazu der sich im Eindruck<br />

fassende Gehalt „ursprünglich vermittelt und offenbart“ sein (SuD 16), was wiederum das<br />

Wachwerden für ihn zur Bedingung hat. Gleichwohl ist damit aber auch ein aktives Moment<br />

verbunden: Ich muß sagen, was der Eindruck mir kündet, damit er in Wahrheit mir etwas sagen<br />

kann. „Wenn wir ihn haben, gibt er sein Wovon.“ (SuD 21). Redeweisen dieser Art sind<br />

„in einem merkwürdig eigentlichen Sinne wahr“ (SuD 20), wenn auch nur in „mittlerer Eigentlichkeit“<br />

(S. 21), in der nicht bereits die eine Seite zum Subjekt und die andere zum Objekt<br />

gemacht ist.<br />

Damit ist ein ganz eigenartiger Erkenntnistypus angesprochen, der von zeichenhafter Erkenntnis<br />

im Bild oder Wort unterschieden werden muß, aber auch nicht als voraussetzungslose<br />

Offenbarung verstanden werden kann. Man könnte hier an Hegels doppelschleifig verschränktes<br />

Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung denken, in dem die Vermittlung<br />

das Unmittelbare nicht nur aufhebt, sondern als sich selber aufhebende Vermittlung wiederum<br />

in Unmittelbarkeit übergeht. Jede Einseitigkeit ist hier abgeleitet, Resultat (vgl. BdI 7). In<br />

gleicher Weise scheint auch der sprachlich gefaßte modifizierende Eindruck gleichsam in sich<br />

selbst zurück und kann sich so weder in s<strong>einer</strong> vermittelnden Fassung noch in sich selbst verlieren.<br />

<strong>König</strong> geht jedoch nicht so weit wie Hegel, der auf diese Weise alle sinnliche Unmittelbarkeit<br />

überhaupt in die begriffliche Form aufheben und aus ihr wiederum versöhnt und bereichert<br />

entlassen will. Näher liegen bei ihm platonische Denkfiguren, in denen das individualisierende<br />

Moment nicht unterdrückt worden ist und in der Beziehung von noesis und noema


14<br />

weder der objektiv-geistige Gehalt dem Denken unterworfen noch dieses in eine unselbständige<br />

Rolle gedrängt worden ist. Das Paradigma der Subjekt-Subjekt- [184/185] Beziehung:<br />

„Dinge dieser Art sehen uns von sich aus an ...“ (SuD 5), hat in diesem unvordenklichen Zusammenkommenkönnen<br />

seinen Lebensnerv und Wurzelgrund. Damit ist das ‘absolute’ Moment<br />

verbunden, daß jede derartige Beziehung in ihrem Zustandekommen und in ihrer qualitativen<br />

Bestimmtheit „nichts als sie selbst“ ist und keinem herrschenden Allgemeinen unterworfen<br />

werden kann.<br />

Was über den Unterschied modifizierender und determinierender Redeweisen gesagt ist, kann<br />

zum Schlüssel eines vertieften Sprachverständnisses werden. Wäre die Sprache lediglich eine<br />

zeichenhafte Abbildung von Gegenständen, so müßte die Bedeutung eines Wortes sich entweder<br />

aus <strong>einer</strong> Ähnlichkeit mit dem Gegenstand ableiten oder auf eine konventionelle Festlegung<br />

zurückführen lassen (vgl. Platons Kratylos). Beides bleibt gleich unbefriedigend. Anders<br />

jedoch ist es, wenn sich die Bedeutung nicht lediglich als eine mehr oder weniger äußerliche<br />

Eigenschaft von Sprachzeichen, sondern als ursprüngliches Sich-zur-Sprache-bringen<br />

verstehen läßt. In diesem Falle geht der bedeutete Sachverhalt in die Bedeutung des Ausdrucks<br />

auf eine Weise ein, von der man mit <strong>König</strong> sagen könnte, daß das „Wovon“ der<br />

Sprachbedeutung dieser „in echter Weise einwohnt“ und in ihr „ursprünglich vermittelt und<br />

offenbart wird“. Weder eignet die so verstandene Bedeutung dem Gegenstand, noch muß der<br />

Mensch sie selbst erfinden und einem willkürlichen Bedeutungsträger aufladen. Sie liegt nun<br />

vielmehr in <strong>einer</strong> wechselseitigen inneren Erschlossenheit, die sich von k<strong>einer</strong> Seite herleiten<br />

läßt und vielmehr in „mittlerer Eigentlichkeit“ ein Licht auf beide wirft. Ein solcher Vorgang<br />

des aus innerer Mitte nach zwei Seiten hin bedeutungsverleihenden Sprechens kann nicht<br />

mehr willkürlich sein, es muß darin vielmehr ein modifizierender Eindruck im Aussprechen<br />

selbst zur Welt gebracht werden. Die modifizierende Rede hängt notwendig am modifizierenden<br />

Eindruck und umgekehrt, und nur wenn beides zusammenkommt ist eine Bedeutungsdimension<br />

der Sprache erschlossen, die sich nicht auf objektive Eigenschaften oder subjektive<br />

Benennungen zurückführen läßt.<br />

Eine konventionalisierte Sprache muß den Zeichen wie ihren Gegenständen notwendig ein<br />

normierendes Allgemeines als verbindendes Zwischenglied unterlegen und lebt insofern nicht<br />

aus „mittlerer Eigentlichkeit“, sondern von „mittleren Allgemeinheiten“, um so zu sagen.<br />

Demgegenüber muß die von <strong>König</strong> angesprochene Ebene qualifizierten Redens den Rückgang<br />

auf ein derartiges Allgemeines geradezu ausschließen, um in ihr Eigenes kommen zu<br />

können. So wie der modifizierende Eindruck nichts als das ist, was über ihn treffend gesagt<br />

wird, so ist auch die modifizierende Rede nichts als sie selbst und bleibt in ihrer unverwechselbaren<br />

Charakteristik eine geistige Individualität. Abzuheben davon sind nicht nur die äußerlichen<br />

Benennungen, sondern [185/186] auch alle mit ihren Gegenständen verbundenen<br />

abstrakten Vergleichsbegriffe. Eine derartig reduzierte Sprache stellt in <strong>König</strong>s Augen lediglich<br />

ein verkürztes Handlungsschema dar, das im Gegensatz von vorgestellter bzw. gedachter<br />

Allgemeinheit und seiender Einzelheit befangen bleibt und in dieser Zweiteilung seine eigentliche<br />

Erkenntnisfunktion verliert.<br />

Es ist jedoch wichtig zu betonen, daß die menschliche Sprache stets beide Seiten an sich hat<br />

und ihre ursprüngliche Bedeutungsdimension mit der einnivellierten, materiell und zeichenhaft<br />

repräsentierten Gegegenheit verknüpfen muß, ohne darauf reduzierbar zu sein. Der von<br />

<strong>König</strong> geltend gemachte formale Unterschied in den Weisen des Sprechens und Denkens wird<br />

in der Nivellierung der Sprachbedeutung auf eine bloße Zeichenfunktion verdeckt, aber nicht<br />

aufgehoben. Nur die doppelt qualifizierte Sprache vermittelt ineins Erkenntnis und Wirklichkeit,<br />

beides als qualitativ Bestimmtes und nicht lediglich als faktisch Vorhandenes und/oder<br />

normativ Geltendes.


7. Von der Ontologie zur Logik<br />

15<br />

An dieser Stelle ist es angebracht, auf das Verhältnis <strong>König</strong>s zu seinem Lehrer und späteren<br />

Kollegen Georg Misch einzugehen. <strong>König</strong> hat sich zu Misch bei zwei Gelegenheiten explizit<br />

geäußert: Zuerst in seinem Beitrag Der logische Unterschied theoretischer und praktischer<br />

Sätze und seine philosophische Bedeutung für eine Festschrift zu Mischs 70. Geburtstag<br />

1948, die dann aber aus Zeitgründen nicht erscheinen konnte, und wiederum in <strong>einer</strong> größeren<br />

Abhandlung über Georg Misch als Philosoph, die auf eine am 10. Juni 1966, dem 1. Jahrestag<br />

des Todes von Georg Misch, in Göttingen gehaltene Gedenkrede zurückgeht.<br />

Sucht man für beide Denker einen gemeinsamen Nenner, so ist es einmal der betont metaphysische<br />

Einschlag und in eigenartiger Verbindung damit ein Interesse an logischer Analyse.<br />

Die Frage, was diese beiden nur auf den ersten Blick einander fremd erscheinenden Intentionen<br />

miteinander zu tun haben, kann dazu dienen, die Gemeinsamkeit wie auch die Differenz<br />

der beiden Positionen zu beleuchten.<br />

Misch will bekanntlich den von ihm stark empfundenen Gegensatz zwischen den Formen eines<br />

vortheoretischen, in praktischer Einstellung befangenen Lebensverhaltens und der eigentlich<br />

theoretischen Sphäre wissenschaftlichen Forschens und philosophischer Besinnung überbrücken<br />

in Form <strong>einer</strong> umfassenden Theorie des Wissens, das von ihm insgesamt als Selbstaufklärung<br />

des Lebens verstanden wird. Theorie und Praxis, Logik der Wissenschaft und<br />

Ethik des Handelns müssen in ein und dieselbe Verantwortung genom [186/187] men werden,<br />

wobei das verbindende Glied nicht lediglich in <strong>einer</strong> ethischen Verpflichtung liegen kann.<br />

Misch stellt die Verbindung auf verschiedene Weise her, indem er einmal die Genese der logisch-begrifflichen<br />

Formen im praktischen Lebensverhalten selbst untersucht, zum anderen<br />

die Aufklärungstendenz auf rationale Durchdringung und Kritik der Lebenswelt hervorhebt<br />

und schließlich im „Durchbruch durch die natürliche Einstellung“ das Geistige als ein Metaphysisches<br />

hervorgehen sieht, das wiederum befruchtend und formgebend auf das geschichtliche<br />

Leben zurückwirkt. In diesem Sinne würdigt er Husserls Bemühung, die das praktische<br />

Lebensverhalten und auch die objektivierende wissenschaftliche Einstellung noch bestimmende<br />

naiv-natürliche Geradehineinstellung zu überwinden.<br />

Der „Durchbruch durch die natürliche Einstellung“ verlangt für Misch indes noch etwas anderes<br />

als den Rückgang auf vorwissenschaftliche Sinnkonstitutionen und einen Hinweis auf das<br />

Programm der Aufklärung. Eine Beschränkung auf praktische Sinnkonstitution in Verbindung<br />

mit den Formen rational-begrifflichen Denkens würde den Schnitt zwischen Wert und Wirklichkeit<br />

nicht beheben und im Gegenteil noch vertiefen, den zu überwinden die Aufklärung<br />

doch angetreten ist. Eine „Erkenntnis, die befreit“ (Fibel, S. 30) kann deshalb vom rationalen<br />

„Aufklärungszug im Lebensverhalten“ (LuPh 285) allein nicht erwartet werden, sie bedarf<br />

vielmehr <strong>einer</strong> Freilegung und Vertiefung des „metaphysischen Zuges im Leben“ selbst (Fibel,<br />

S. 34 ff.), in dem allein dessen geistige Dimension zugänglich ist. „Theorie“ und „Wissen“<br />

hat hat für Misch ursprünglich eine metaphysische und keine lebenspraktische Wurzel,<br />

auch wenn sich beides in der Folge geschichtlich verbunden hat.<br />

Will man die „Vereinigung des Heterogenen“ (LuPh 188) im Wissen selbst finden, das eben<br />

nicht nur rationaler Art ist, so verlangt dies die Unterscheidung wie die Verbindung der verschiedenen<br />

Modi des Denkens auf eine Weise, die weder dem kantischen Dualismus verfällt<br />

noch sich in einen subjektiven oder objektiven Idealismus retten will. Die von Misch getroffene<br />

Unterscheidung <strong>einer</strong> hermeneutischen, rückwendig-produktiven Selbstauslegung des<br />

Lebens vom Logismus des rein-gegenständlichen Bestimmens liegt quer zu den hier gegebenen<br />

Alternativen und läßt sich fundieren im Rückgang auf eine „Ursprungsbewegung“, die<br />

Misch, wie auch <strong>König</strong>, als eine bewegliche Struktur und immanente Synthesis von Heterogenem<br />

begreift. Die hermeneutischen Intentionen schneiden dieses Grundverhältnis nicht ab


16<br />

und lassen sich vielmehr nur von ihm her affirmieren.<br />

An dieser Stelle verbindet sich für Misch mit dem metaphysischen Impuls ein logisches Problem.<br />

Mit Husserl wendet er sich gegen ein abstraktes Verständnis der Logik, das diese aus<br />

allen traditionell mit ihr verbundenen Problemperspektiven auf Welt, Wahrheit, Sein hin herausnimmt.<br />

Anderer [187/188] seits aber verbietet er sich jede falsche Ontologisierung des<br />

Logischen im Sinne idealer Voraussetzungen oder Bedeutungseinheiten, von der s<strong>einer</strong> Meinung<br />

nach Husserl nicht ganz frei geworden ist (vgl. LuPh 199 ff.). Noch weniger ist für ihn<br />

jedoch damit gedient, wenn, wie bei Heidegger, die traditionell mit dem „Logos“ bzw. der<br />

„Logik“ umschriebene „Ursprungssphäre“ in eine „Fundamentalontologie“ umgemünzt wird,<br />

die dem ‘logischen Fallstrick’ ebensowenig entgehen kann (vgl. S. 219 ff.). In bezug auf einen<br />

unzureichenden, schon bei Parmenides abstrakt werdenden Seinsbegriff und eine für<br />

Misch geradezu paradox anmutende „Ontologie der Geschichtlichkeit“ (vgl. S. 238) ist die<br />

Logik als „Organon der Kritik“ unverzichtbar. Wie für Platon hat ‘sein’, ‘nichts’ usw. auch<br />

für Misch eine primär logische bzw. prädikative Bedeutung, die nicht einmal substantiviert<br />

und noch weniger ontologisch hypostasiert werden darf. Man kann nicht logiche Satzfunktionen<br />

zu Geschehensformen uminterpretieren und dies nicht einmal reflektieren, denn dabei<br />

geht der eigentlich metaphysische Gehalt ebenso verloren wie der geschichtliche Gehalt und<br />

der logische Sinn. Man kann nicht die Seinshaltigkeit retten wollen, indem man die logische<br />

Form übersieht. Die logische Analyse löst den ursprünglich-theoretischen, metaphysischen<br />

und geschichtlichen Gehalt keineswegs auf, sondern dient gerade umgekehrt dazu, ihn zu<br />

wahren und die Bedingungen s<strong>einer</strong> Einholung anzugeben. Damit hängt das Achten auf das<br />

Wie des Gewußtseins, auf die Wissensform als solche zusammen, deren logische Klärung unverzichtbar<br />

ist.<br />

<strong>Josef</strong> <strong>König</strong> weiß sich in dieser grundsätzlichen Einschätzung mit Misch völlig einig. Was<br />

das Metaphysische betrifft, hebt er dessen Abgelöstheit aus den immanenten Lebenszusammenhängen<br />

noch stärker als dieser hervor und betont beim „Wissen vom Absoluten“ nicht nur<br />

dessen anderen Ausgangspunkt, sondern auch und mehr noch den qualitativen und formalen<br />

Unterschied, daß es „als Wissen ein anderes als das gewöhnliche verstandesmäßige Wissen“<br />

ist (MiPh 155). Wenn Misch auf dem geschichtlichen Weg in die Philosophie „das Überhistorische<br />

in den historischen Anfängen des Wissens“ bemerkt (Fibel, S. 410) und in diesem Sinne<br />

von der „Immanenz des Transzendenten“ spricht (Fibel, S. 31 u.ö.), denkt auch <strong>König</strong> an<br />

keine einfache Immanenz und vielmehr an ein „Einwohnen“ (MiPh 157) des Transzendenten<br />

im Immanenten, dem gemäß das Geschehen des Philosophierens „auf jeden Fall kein rein innerweltliches“<br />

ist (S. 154). Und so wie für Misch die praktische und rational aufklärende, aber<br />

immer noch „natürliche“ Richtung des Denkens „nicht nur nicht zur Philosophie, sondern<br />

auch nicht zur Wissenschaft“ führt (S. 160), handelt es sich auch für ihn auf dem Weg zur<br />

Wissenschaft um „Umsetzungen, ‘Transpositionen’ ursprünglich metaphysischer Gedanken in<br />

die Ebene des Erfahrungsdenkens“ (Fibel, S. 276). Dies hat Konsequenzen für eine [188/189]<br />

Theorie des Wissens, die jenes wesentliche Wissen einlösen muß und nicht einfach ausscheiden<br />

darf, denn nur in dieser Verbindung des Heterogenen kann Wissen „durch Einsicht das<br />

Leben leiten“ (Fibel, S. 26). Was die Wissenschaft ist und sein kann, steht deshalb für beide<br />

noch nicht „endgültig fest“ (LuPh 193).<br />

Daß die hier gesuchten Verbindungen geschichtlich und der Sache nach diskontinuierlich<br />

sind, wird von <strong>König</strong> dadurch noch stärker akzentuiert, daß er die „Ursprungsbewegung“ gar<br />

nicht mehr wie Misch als terminus a quo in den Lebensgrund und in vortheoretische Formen<br />

des elementaren Verstehens legt, sondern lediglich als terminus ad quem mit einem späten<br />

geschichtlichen Ereignis verbinden möchte, das, wie für Misch die Anfänge der Philosophie,<br />

„aus dem Leben hervorgehend, in dasselbe einbricht“ (Fibel I, 55). Darin liegt für <strong>König</strong><br />

„nichts Unnatürliches; aber es ist auch nichts Natürliches.“ (MiPh 165) Und während Misch<br />

die Diskontinuität mit dem „Durchbruchscharakter“ und <strong>einer</strong> „Doppelseitigkeit“ bzw. „ech-


17<br />

ten Mehrseitigkeit“ des Lebens verbindet und in der „Besinnung“ das gegenüber der aufsteigenden<br />

Vorwärtsrichtung rückläufige Moment der Lebensbewegung sieht (Schaffen, Innehalten,<br />

Reflektieren ...), betont <strong>König</strong> noch stärker den „Sprung“, der ja auch für Misch, „in einem<br />

entschiedenen Gegensatz zu Dilthey“ (MiPh 167), „nicht aus <strong>einer</strong> Natur des Lebens ableitbar“<br />

ist (vgl. Fibel, S. 27 f.). „Der Gegensatz von Natur und Geschichte, der in und hinter<br />

den Darlegungen (scil. Mischs) aufscheint, dürfte bei ihm kein wesentlich anderer sein als der<br />

von Natur und Geist.“ (MiPh 171)<br />

Verglichen mit Hegel, der in der Geschichte den absoluten Geist wirken sieht, geht Misch für<br />

<strong>König</strong> insofern weiter, als Hegel das zu ‘wissen’ glaubt, wie man auch sonst etwas weiß,<br />

während Misch mit der „Kluft“ auch den von <strong>König</strong> so genannten formalen Unterschied in<br />

der „Immanenz des Transzendenten“ und einen darauf bezogenen Unterschied in den Wissensformen<br />

gewahrt wissen will (vgl. MiPh 172 f.). Dieser Differenz entsprechend ist für<br />

Misch die bei Jacob Burckhardt auf die Kultur der Renaissance bezogene „geistige Individualität“<br />

als eine „eigentümliche Einheitsbildung“ „nicht begrifflich fixierbar“ 10 und bleibt für<br />

immer unerschöpflich in ihrer „Wirkungsmacht“. Für <strong>König</strong> besagt dies klar: „Man muß die<br />

biologische Individuation von der geistigen unterscheiden.“ (MiPh 178)<br />

Bei alledem ist es in <strong>König</strong>s Augen ausschlaggebend, wie die „Verbindung des Heterogenen“<br />

gedacht wird, denn hieran scheiden sich die Geister. Wenn z. B. Misch Philosophie und Christentum<br />

als „heterogene geistige Mächte“ [189/190] empfindet, ihr geschichtliches Verhältnis<br />

aber gleichwohl als polare und sich produktiv steigernde Spannung verstehen will, bleibt es<br />

für <strong>König</strong> „die große Frage, ob für Misch der Gedanke <strong>einer</strong> produktiven Vereinigung der<br />

geistigen Mächte von Philosophie und Christentum sinnvoll ist.“ (MiPh 196) Es wäre s<strong>einer</strong><br />

Meinung nach besser, diese Gegensätze freizulegen, bis zum Grund durchzuerfahren und bis<br />

zum Ende durchzudenken, bevor man die Art ihrer Vereinigung (wie sie etwa in Hegels System<br />

vorgenommen wurde) bedenken kann (vgl. S. 199 ff.). Damit ist aber bereits der<br />

„formale Charakter des zwischen ihnen bestehenden ‘Gegensatzes’“ (S. 196; gesp. v. Verf.)<br />

angesprochen, den „zu durchschauen“ (a. a. O.) eine logische Analyse zum vordringlichen Erfordernis<br />

macht.<br />

Auch in s<strong>einer</strong> logischen Intention weiß sich <strong>König</strong> einig mit Misch, für den „das Durchhalten<br />

dieses Wissens vom Unerforschlichen in der zergliedernden, der Erfahrungswirklichkeit zugewandten<br />

Denkarbeit zum wesentlichen Anliegen des wissenschaftlichen Gewissens wird.“<br />

(LuPh 323; von <strong>König</strong> gesperrt) Um „das Wissen vom Unerforschlichen für die Theorie des<br />

Wissens selber verbindlich“ werden zu lassen, muß man mit Misch „den Weg zu <strong>einer</strong> Logik“<br />

gehen, „die den Intentionen der Lebensphilosphie entspräche“ (S. 51; von Misch selbst gesperrt).<br />

An dieser Stelle ist <strong>König</strong> hellwach: „Wieso Logik?“, fragt er, „an so bedeutender<br />

Stelle im Ganzen der Lebensphilosophie“? (MiPh 208 u. 208 Anm.) An ihr scheiden sich aber<br />

auch die Wege beider, wenn Misch, an den zugleich gedankenmäßigen und unergründlichen,<br />

rationalen und überrationalen Logos-Begriff anknüpfend, den Gedanken <strong>einer</strong> lebensphilosophischen<br />

Logik „im umfassenden Sinne der Theorie des Wissens“ (LuPh 37) weiterverfolgt,<br />

während für <strong>König</strong> die formale Logik, und nur sie, geeignet ist, „eine Theorie des Unterschiedes<br />

und in eins damit auch des Zusammenhangs der beiden radikal verschiedenen Wissen“<br />

(MiPh 220 f.) abzugeben. Der Sache nach können beide Denker in wesentlichen Unterscheidungen<br />

immer noch übereinkommen, und auch darin, daß es gegenüber Heidegger gilt, „die<br />

Frage nach dem Logischen als die ursprüngliche und umfassende gegenüber der nach dem<br />

Sein zu bewähren“ (S. 208 und nocheinmal im Schlußsatz S. 236). Indem <strong>König</strong> den letzten<br />

Satz s<strong>einer</strong> Gedenkrede zu Ende führt: „... und bei dem Logischen denkt er auch da an die<br />

Hermeneutik“ (a. a. O.), hat er sich selbst aber bereits wieder aus der Übereinstimmung he-<br />

10<br />

Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Erster Band, Zweite Hälfte. 3. Aufl. Verlag G. Schulte Bulmke<br />

Frankfurt a. M. 1950, S. 123.


18<br />

rausgenommen.<br />

Der Punkt der Differenz zwischen den beiden Denkern läßt sich in der Abhandlung „Der logische<br />

Unterschied theoretischer und praktischer Sätze und seine philosophische Bedeutung“<br />

aus dem Jahre 1947 genauer markieren, die in <strong>einer</strong> zu Mischs 80. Geburtstag vorbereiteten,<br />

jedoch nicht zur Veröffentlichung gelangten Festschrift erscheinen sollte. <strong>König</strong> hat, wie er<br />

hier berichtet, Mischs [190/191] Logikvorlesung selber gehört und in späteren Jahren das<br />

Manuskript verschiedentlich zum Zwecke eigenen Studiums eingesehen (vgl. S. 132 Anm.<br />

der vorliegenden Druckfahnen). Der von Misch an der traditionellen formalen Logik kritisierte<br />

„Mangel <strong>einer</strong> Analyse der logischen Formen“ 11 kann <strong>König</strong>s Meinung nach besser mit Hilfe<br />

der Analysetechniken der modernen mathematischen Logik vorgenommen werden, wie<br />

Russell sie erstmals in philosophisch-kritischer Intention verwendet hat. Mischs eigener <strong>Versuch</strong>,<br />

die Unterschiede der Bedeutungsform entsprechend den Arten der Urteilsrelation mit<br />

Hilfe verschiedener Logiken auszudifferenzieren und insbesondere die hermeneutischen Aussagen<br />

von den Urteilen im engeren Sinn abzugrenzen, hat für <strong>König</strong> wenig Überzeugungskraft,<br />

weil dabei nicht klar ist, ob diese „Abstufungen“ kontinuierlich oder als ein qualitativer<br />

Sprung zu verstehen sind (a. a. O., S. 135 f.). Misch redet abwechselnd von einem „Gegensatz“<br />

zwischen den beiden Schichten und den entsprechenden hermeneutichen bzw. gegenständlich-diskursiven<br />

Aussageformen, aber auch von ihrer „Verschränkung“; er sieht in ihrer<br />

„Abstufung“ einen „genetischen Zusammenhang“ und „Übergang“, so daß die Klärung des<br />

hierin enthaltenen Unterschieds und Zusammenhangs zum vordringlichen Interesse werden<br />

muß.<br />

Wenn aber „das Problem des Unterschiedscharakters ihres Unterschiedes das eigentliche Problem<br />

an und in dem Problem ihres Unterschiedes ist“ (S. 139), kann nur eine logische und<br />

keine genetische, lebensphilosophische oder (bei Heidegger) ontologische Untersuchung diese<br />

Klärung erbringen. Das mit Misch gegen Husserl und Heidegger vorgetragene logische<br />

Argument kann an dieser Stelle auch gegen ihn selbst verwendet werden, denn unterscheidet<br />

man hier nicht logisch genau, so kommt man auch nicht zu <strong>einer</strong> angemessenen Lebensphilosophie<br />

und projiziert vielmehr nur die logischen Mängel auf diese. Solange der logische, formale<br />

Unterschied nicht klar ist, bleibt auch ein angemessenes Verständnis des Theoretischen<br />

im Unterschied zum Praktischen verbaut, das nicht in die herkömmlichen erkenntnistheoretichen<br />

Alternativen paßt, aber auch durch die ebenfalls mit logischen Mängeln behafteten Vermittlungsversuche<br />

nicht befördert wird. Das unzureichende Logikverständnis muß an der entscheidenden<br />

Stelle, wo es um den Unterschiedscharakter des Unterschieds selbst geht, das<br />

philosophische Problemverständnis notwendig verkürzen. <strong>König</strong> geht davon aus, daß die die<br />

Begriffsform und Sprachstufe betreffenden Unterschiede sich nur auf formale Weise klären<br />

lassen, weil die Begriffe hier als Begriffe in ihrem Charakter verschieden sind und Unterschiede<br />

sich als solche der Art nach unterscheiden lassen müssen. [191/192]<br />

Für <strong>König</strong> folgt daraus, daß nur die eine Logik einen derartigen Unterschied im Begriffs- und<br />

Unterschiedscharakter markieren kann. Nimmt man zweierlei Logiken an, so ist nicht mehr<br />

deutlich, wie diese ihren eigenen Unterschied ausmachen sollen. Es erscheint deshalb nicht<br />

sinnvoll, eine philosophische bzw. hermeneutische Logik von der formalen Logik abzugrenzen<br />

und diese auf gegenständlich- feststellende, jene aber auf selbstbezüglich-artikulierende Aussageformen<br />

zu beziehen. Nur indem die formale Logik sich gegen derartige „Erweiterungen“<br />

sperrt, kann sie ihre unterscheidende Funktion wirklich wahrnehmen.<br />

Für Misch ergab sich das Bedürfnis nach <strong>einer</strong> philosophischen bzw. hermeneutischen Logik<br />

im Zusammenhang mit der lebensphilosophischen Frage nach dem unterschiedlich erlebten<br />

Verhältnis von „Leben“ und „Begriff“, von vortheoretischem Lebensverhalten und theoreti-<br />

11 Vgl. Mischs Vorbericht zu Band V der Gesammelten Schriften Diltheys, S. LXI.


19<br />

scher Erkenntnis. Die Überbrückung dieser Kluft führte zum <strong>Versuch</strong>, die Leistung der logischen<br />

Funktionen in Verbindung mit dem rationalen Verhalten aus dem Lebenszusammenhang<br />

zu begreifen, in den sie genetisch und praktisch eingelassen sind. Ein solcher Zusammenhang<br />

besteht in der Tat, doch stellt er sich für <strong>König</strong> anders dar. Wenn es schon nicht<br />

möglich ist, zwei Logiken auf derselben Ebene anzusiedeln, erscheint es ihm auch nicht sinnvoll,<br />

den Unterschied im Verhältnis von nichtreflexiven und selbstreflektierenden Einstellungen<br />

oder von geschlossenen und offenen Feldern und Aussageformen zu suchen und mittels<br />

verschiedener Logiken abzustufen, weil die so unterschiedenen Strukturelemente theoretisch<br />

wie praktisch sogleich wieder interferieren müssen. Was nicht trennscharf gemacht werden<br />

kann, läßt sich auch nicht angemessen verbinden und ins Verhältnis zueinander setzen. Immer<br />

noch gängige Stereotype wie Deduktion bzw. identische Substitution versus Explikation bzw.<br />

Kontextmodifikation, geschlossenes versus offenes Denken und strategisch-operatives versus<br />

kommunikatives Handeln usw. weisen zwar auf wichtige kategoriale Differenzen hin, sie<br />

können diese aber weder theoretisch noch praktisch in einen erkenntnistheoretischen Klartext<br />

bringen und auch die ‘logischen Schnitte’ nicht beseitigen, deretwegen sie doch gebildet worden<br />

sind.<br />

8. Der Zwischenstatus des Begrifflich-Theoretischeni<br />

Wenn, wie bei Misch und <strong>König</strong>, das Theoretische an das Metaphysische angeschlossen und<br />

auf der anderen Seite dem im praktischen Lebensverhalten verwurzelten rationalen Denken<br />

der philosophische und wissenschaftli [192/193] che Charakter abgesprochen wird, ergibt sich<br />

für eine Theoriebildung, die hier die Brücke schlagen soll, ein schwieriges Problem, denn sie<br />

kann sich auf k<strong>einer</strong> Seite verorten und für ihren allgemeinen Geltungsanspruch weder im<br />

Metaphysischen noch im Praktischen einen hinreichenden Grund finden. Das rein Geistige<br />

bzw. rein Bedeutende, wie der Dichter es in modifizierender Rede faßt, ist in s<strong>einer</strong> singulären<br />

Prägung und qualitativen Verdichtung dafür zu hoch angesetzt und das ebensowenig verallgem<strong>einer</strong>ungsfähige<br />

Praktische zu niedrig. Das Theoretische hängt so zwischen beiden<br />

Wirklichkeitsebenen gleichsam in der Luft und kann weder hier noch da einen Grund s<strong>einer</strong><br />

Möglichkeit finden, auch wenn es als ein ebensosehr natürliches wie geistiges Phänomen an<br />

beide angeschlossen ist.<br />

Dies ist der Punkt, an dem <strong>König</strong>s formale Analyse wie an keinem anderen ihre philosophische<br />

Kraft bewähren muß. Was das Theoretische betrifft, ist es mit der Alternative zwischen<br />

dem rein Geistigen und dem bloß Praktischen ebensowenig wie mit zwangsläufig mißlingenden<br />

<strong>Versuch</strong>en ihrer Vermittlung getan. Nur wenn die hier gegebenen Unterschiede von der<br />

Wurzel her und bis zum Ende durchdacht werden, kann hinsichtlich der Art <strong>einer</strong> möglichen<br />

Verbindung, wie das Theoretische sie fordert, eine zureichende Antwort gefunden werden.<br />

Um den Anspruch des Begrifflich-Theoretischen zur Geltung zu bringen, aber auch um seine<br />

unübersteigbare Grenze zu markieren, führt <strong>König</strong> den Nachweis, daß praktische bzw. empirische<br />

Begriffe und eigentlich theoretische Begriffe der Ursache, des Dings etc. der Art nach<br />

„total andere Begriffe“ (DiE 366) sind und sich formal unterscheiden lassen. Am Beispiel der<br />

Redeweisen von „Dingen“ kann dies einleitend verdeutlicht werden. Redet man z. B. von<br />

Bäumen als Bäumen, Pflanzen oder Dingen, so hat dies einen formal anderen Sinn als Aussagen,<br />

die über Dinge als Dinge möglich sind. Im einen Fall ist von bestimmten, empirisch feststellbaren<br />

Eigenschaften oder lokalisierbaren Vorkommnissen die Rede, während ein Ding als<br />

Ding so gar nicht gegeben ist und auch nicht als ‘Was’ erfragt bzw. als ‘Etwas’ bestimmt<br />

werden kann. Semantisch gleich klingende Aussagen wie „ein Ding trägt ein anderes Ding“<br />

(wie z. B. der Baum Früchte) und „Dinge tragen Eigenschaften“ haben diesen Unterschied im<br />

Begriffscharakter unerachtet des gleichen Satzbaus an sich. Äußerlich deckungsgleiche Formulierungen<br />

meinen hier etwas gänzlich Verschiedenes, was in seinem Unterschied nur for-


20<br />

mal auszumachen ist, weil kein direkter Vergleich den fraglichen Gesichtspunkt zeigt. Es besteht<br />

ein Unterschied im Satzcharakter der Sätze, auch wenn diese im übrigen völlig gleich<br />

gebaut sind. Was von Dingen als Dingen gesagt werden kann, liegt als Prädikat höherer Stufe<br />

auf <strong>einer</strong> anderen Ebene und kann nicht dasselbe meinen wie die Rede von irgendwelchen<br />

Dingen. Das „Ding“ steht prototypisch für die „Welt“ und kann wie diese nicht als allgem<strong>einer</strong><br />

Subsumtionsbegriff verstanden und [193/194] empirisch bestimmt werden. Logisch läßt<br />

sich der fragliche Unterschied so bezeichnen, daß es sich bei dem Satz: „Ein Ding trägt ein<br />

anderes Ding“ um eine echte zweistellige Relation handelt, während zwischen dem „Ding“<br />

und seinen „Eigenschaften“ keine solche Relation besteht, wohl aber ein formaler Unterschied<br />

und Zusammenhang.<br />

Ein formaler Unterschied ist aber auch schon in den einzelnen Dingnamen enthalten. Der<br />

Name „Baum“ als solcher sagt nicht, was irgendein Baum begrifflich und sinnlich zeigt. Es<br />

handelt sich hier weder um einen allgemeinen Subsumtionsbegriff noch um den empirisch bestimmten<br />

Namen irgendeines Baumes. Man kann den Begriff irgendeines Baumes als praktischen<br />

Begriff und den Begriff des Baumes als solchen als theoretischen Begriff bezeichnen,<br />

insofern der erste eben nur praktisch bzw. empirisch bestimmt, der zweite aber lediglich theoretisch<br />

ausgesagt werden kann. Jeder Baum nimmt als Baum im theoretischen Sinne diejenigen<br />

Züge an, die auch ein Ding als Ding kennzeichnen. So wie man ein Ding als Ding „sehen<br />

und ineins denken“ kann als (1) „nichts als das, was Eigenschaften trägt“ und (2) „nichts als<br />

das, was bleibt, wenn anderes wechselt“ (S. 356), kann man auch denken und sehen von<br />

Bäumen als Dingen, d. h. sie denken und sehen „als nichts als sich Veränderndes.“ (vgl. S.<br />

361 f.)<br />

In der theoretischen Ebene sieht man „ineins denkend und sehend“ und d. h. gleichsam mit<br />

anderen, begrifflich erschlossenen Augen. Zwar kann man auch in der praktischen Ebene<br />

Bäume sehen und subsumierend als solche benennen, doch bleibt hier die Anschauung in<br />

Kants Sinne blind und kann sich nicht aus sich selber verstehen. Während hier das Wahrnehmen<br />

dem Denken vorausläuft, ist im Theoretischen umgekehrt das Begreifen der Schlüssel für<br />

das, was man sieht. Wenn aber nur in dieser Doppelbödigkeit Erkennen ermöglicht wird, kann<br />

die empirisch-einzelwissenschaftliche Forschung für sich allein noch kein Erkennen der Dinge<br />

sein und hat von diesen nur einen abstrakten Begriff. Die Frage nach dem Ding als Ding<br />

liegt bereits auf <strong>einer</strong> anderen, für sie unerreichbaren Ebene. Konfundiert man die Ebenen, so<br />

führt dies zu einem haltlosen Schwanken zwischen Dingsprache (Phänomenalismus) und<br />

Dingmetaphysik (Substanzdenken), logisch ausgedrückt zwischen Prädikation und Existenzbelegung<br />

oder allgemein gesagt zwischen Sprache und Wirklichkeit, wobei das Ding sich in<br />

seinen Eigenschaften auflöst und das Wirkliche einem unter den Händen zerrinnt.<br />

<strong>König</strong>s Feststellung, daß der von Misch hervorgehobene Unterschied von hermeneutischen<br />

Aussagen und Urteilen im engeren Sinn im wesentlichen derselbe sei wie der von ihm so genannte<br />

logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze (vgl. LU 137), kann vor diesem<br />

Hintergund nun auch in seinen logischen Implikationen entwickelt werden. Allerdings<br />

muß man dazu die [194/195] logischen Formunterschiede anders als in den transzendentalen<br />

oder hermeneutischen Konzeptionen <strong>einer</strong> philosophischen Logik fassen, um Unterschiede im<br />

Begriffscharakter des Begriffs formal ausdrücken zu können. Eine erste Annäherung dazu<br />

gibt Hegel, für den der praktische Standpunkt, begrifflich gesehen, abstrakt bleibt und die<br />

sinnliche Gewißheit die „abstrakteste und ärmste Wahrheit“ ist. Der Zusammenschluß des<br />

praktischen Standpunkts mit sich selbst bleibt rein formal und thematisiert nicht die dazwischenliegenden<br />

Vermittlungen. Der praktische Schluß geht davon aus, daß „dieses“ notwendig<br />

eintreten muß, wenn „alle“ Bedingungen dafür erfüllt sind. Wären andere Bedingungen<br />

gegeben, so wäre etwas anderes der Fall. Der tautologische Charakter dieser Denkfigur ist<br />

deutlich. Solange das Einzelne unmittelbar mit der abstrakt-allgemeinsten, formallogischen<br />

Begriffsform verbunden wird und das je Faktische als das logisch Notwendige erscheint, dem


21<br />

nur noch eine ebenso abstrakt bleibende logische Möglichkeit oder Eventualität gegenübersteht,<br />

bleibt der vermittelnde, besondere Begriff der Sache verdeckt. Hartmanns Satz von der<br />

Notwendigkeit des Geschehens folgt ganz dieser formalanalytischen Denkfigur.<br />

<strong>König</strong> weiß sich hier der Sache nach mit Hegel durchaus einig und weist doch auf einen ganz<br />

anderen, formal bleibenden Begründungszusammenhang hin, wenn er feststellt: „Von großer<br />

Bedeutung für das Problem des Unterschieds theoretischer und praktischer Sätze sind gewisse<br />

Konzeptionen der mathematischen Logik ... Eine der grundlegenden Konzeptionen der mathematischen<br />

Logik ist nun die entschiedene Trennung von Satzfunktionen und Sätzen.“ (LU<br />

129) Er sieht in dieser Differenz von Aussagenlogik und Prädikatenlogik eine Möglichkeit,<br />

theoretische und praktische Sätze formal zu unterscheiden, ohne auf Hegels spekulative Implikationen<br />

zurückgreifen zu müssen.<br />

Wie bei Hegel erlaubt es die prädikatenlogische Satzfunktion, die Vermittlungen selbst zu<br />

thematisieren und begriffliche Zusammenhänge zu bestimmen. Das Einzelne ist dann nicht<br />

bloß ein Gegebenes, sondern ein Prädikate Erfüllendes und d. h. begrifflich Strukturiertes.<br />

Was bei Hegel mit der traditionellen Unterscheidung des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen<br />

als Formunterschied des Begriffs festgehalten wurde, um das in der analytischen Beziehung<br />

A ≡ A lediglich widerspruchsfrei Gesetzte zu begrifflich zu entwickeln, nimmt nun<br />

für <strong>König</strong> die folgende Form an: „Es charakterisiert einen Satz als einen theoretischen, daß er<br />

<strong>einer</strong> Erläuterung durch Satzfunktionen wesentlich bedürftig ist. Ein praktischer Satz hingegen<br />

bedarf an sich k<strong>einer</strong> [195/196] solchen Erläuterung ...“ (LU 130) Konstitutiv für die begrifflichen<br />

Beziehungen wird somit ihre prädikatenlogische Formulierbarkeit in Satzfunktionen,<br />

wobei das Begriffliche stets Prädikat ist und d. h.in der erläuternden Implikation als solcher<br />

liegt, nicht aber als Erfüllungswert an der Argumentstelle auftreten kann.<br />

Im Unterschied zur prädikatenlogischen Form theoretischer Sätze verbinden sich praktische<br />

Sätze mit aussagenlogischen Beziehungen, für die der Inhalt und eine mögliche begriffliche<br />

Beziehung gar keine Rolle spielt. Die hier verbundenen Satzvariablen können beliebige Inhalte<br />

haben und ohne jeden begrifflichen Zusammenhang bleiben: salva veritate bleibt immer alles<br />

‘heil’.<br />

<strong>König</strong> zieht aus dem logisch anderen Charakter von Sätzen und Satzfunktionen die Konsequenz,<br />

daß die aussagenlogische Implikation p ⊃ q weder einen begrifflichen noch einen realen,<br />

sondern lediglich einen selbstgesetzten Zusammenhang meinen kann und nur dazu dient,<br />

die formale Widerspruchsfreiheit <strong>einer</strong> Folge mit sich selbst zu verbürgen. Demgegenüber reflektiert<br />

die in der Satzfunktion (x,y)ϕ(x) ⊃ ψ(y) ausgedrückte begriffliche Implikation auf<br />

das Wie eines Zusammenhanges und drängt zu weiterer begrifflicher Analyse. p ⊃ q fordert<br />

lediglich „die Notwendigkeit eines gewissen Setzens“, nicht aber wie (x,y)ϕ(x) ⊃ ψ(y) „die<br />

Notwendigkeit des Folgens eines (scil. bestimmt gearteten) Seienden“ (SaNoGe 108). Die<br />

theoretische Dimension läßt sich somit erst erschließen, wenn die prädikatenlogische Satzfunktion<br />

ihrem begrifflichen Gehalt nach ins Auge gefaßt wird. Implikationen wie (x,y)ϕ(x)<br />

⊃ ψ(y) drücken eine begriffliche Beziehung von „überempirischer Dignität“ (Kant) aus, die<br />

das Geschehen von <strong>einer</strong> allgemeinen Regel abhängig macht (vgl. S. 104). Damit ist dem<br />

wirklichen Ausgang nicht vorgegriffen, denn die Satzfunktion braucht als solche nicht erfüllt<br />

oder erfüllbar zu sein.<br />

Der „logisch-erkenntnistheoretische Klartext“ zeigt somit, was die „ontologische Chiffrierung“<br />

Nicolai Hartmanns verkennen läßt: „daß die Logik noch immer die Grunddisziplin der<br />

Philosophie ist, weil sie allein in den Stand zu setzen vermag, Denken und Sein, Setzen und<br />

Sache, nicht miteinander zu verwechseln. Die Logik unterscheidet nicht einfach nur zwischen<br />

sich selber und <strong>einer</strong> - möglichen - Ontologie, sondern ist das sich und die Ontologie Unterscheidende.<br />

In dieser Rücksicht hat sie als eine Logik des Philosophierens eine Funktion ...“


22<br />

(S. 119).<br />

Der Unterschied theoretischer und praktischer Sätze, mit dem <strong>König</strong> Mischs Unterscheidung<br />

von hermeneutischen Aussagen und Urteilen im engeren Sinn zurechtrücken will, kann auf<br />

diesem logischen Hintergrund leichter verstanden werden. Urteile im engeren Sinn oder<br />

wahrheitsdefinit feststellende Aussagen, wie sie der Aussagenlogik zugrundegelegt werden,<br />

nennt <strong>König</strong> praktische Sätze, weil „Handlung die Grundbestimmung dieser Sätze ist“ (LU<br />

137). „Handlungen in Gestalt eines Satzes“ (S. 120; 124 u.ö.) beziehen sich auf die praktische<br />

Situation und sind darin notwendig an jemanden gerichtet. So erhält z. B. die [196/197] Frage:<br />

Warum rollt diese Kugel da? eine praktische Antwort dadurch, daß jemand sie anstößt<br />

bzw. angestoßen hat. Die theoretische Frage: Warum rollt eine Kugel, wenn sie einen Stoß<br />

erhalten hat? ist damit aber noch nicht mitbeantwortet (vgl.BeUrs 147ff.). Die praktische<br />

Antwort macht nicht wie eine theoretische Implikation etwas einsehbar und kann vielmehr,<br />

indem sie unbestimmt verallgem<strong>einer</strong>t wird (Immer wenn ...), den theoretischen Zusammenhang<br />

gründlich verdecken.<br />

Für die in praktischer Hinsicht verwendete Logik genügt somit die Identität der praktischen<br />

Setzung mit sich selbst und ihre Widerspruchsfreiheit im Falle <strong>einer</strong> Wiederholung. Praktisch<br />

„Dieses“ und das abstrakt Allgemeinste (Jedesmal wenn dieselben Bedingungen erfüllt sind<br />

...) geht hier einen logischen Kurz-Schluß ein, für den inhaltliche Unterschiede, dazwischenliegende<br />

Vermittlungen und bestimmte Erklärungsmöglichkeiten irrelevant sind. Die praktische<br />

Totalität ist die formale Totalität und umgekehrt. Es ist in ihr im unbestimmten Sinne alles<br />

möglich, zugleich aber nur das, was faktisch ist - eben weil es ist. Außer dieser gegebenen<br />

Möglichkeit gibt es nur noch irgendeine Möglichkeit, die mangels Bestimmtheit aber nicht<br />

ergriffen werden kann. Alles zusammen hat zu dem praktischen Resultat geführt, und die Frage,<br />

was geschehen sein würde wenn ..., muß in der praktischen Situation notwendig unbeantwortbar<br />

bleiben, weil hier gar keine allgemein angebbaren Regeln die möglichen Ausgänge<br />

bestimmen. Mit dem theoretischen Unterschied hebt sich auch der praktische Unterschied auf.<br />

Die sich mangels Einsicht anbietende quasi-religiöse Antwort <strong>einer</strong> ‘Fügung’ behauptet de<br />

facto aber auch nicht mehr als die formale Widerspruchsfreiheit des Geschehens mit sich<br />

selbst, das im tautologischen Sinne eben ist, was es ist.<br />

Der formalanalytische Kern <strong>einer</strong> derartigen praktischen Denkfigur ist deutlich, und auch, daß<br />

sie immer nur legitimierenden Charakter haben kann. Der affirmative Charakter der Selbstsetzung<br />

macht die aussagenlogischen Prinzipien zum Fallstrick des Praktischen, in dem alles total<br />

relativiert und zugleich gar nichts relativiert wird, weil mit der theoretischen Ebene konkrete<br />

Alternativen und Ansatzpunkte für ein veränderndes Handeln fehlen. In der praktisch affirmierten<br />

‘positiven’ Totalität, aber auch in der jede mögliche Praxis vereitelnden ‘negativen’<br />

Totalität, sind die Widersprüche und die konkreten Alternativen gleichermaßen verschleiert.<br />

Das Praktische kann sich deshalb als Position wie als Negation seinen eigenen Setzungscharakter<br />

verbergen und die Weihe des Absoluten geben.<br />

Eine theoretische Frage wird im Unterschied dazu meist erst gestellt, wenn die praktische Erwartung<br />

enttäuscht worden ist. Um sie beantworten zu können, muß der situative Kontext verlassen<br />

werden, denn praktisch dieses Geschehen (hic) läßt sich nicht in gleicher Weise analysieren<br />

wie so ein [197/198] Geschehen (talis). Die Frage, warum dieses geschehen ist, läßt<br />

sich weder praktisch noch theoretisch befriedigend beantworten. Die andere Frage, warum so<br />

etwas geschehen kann, ist demgegenüber theoretisch beantwortbar, insofern die Bedingungen<br />

der Möglichkeit und die wirkenden Faktoren, abgestuft nach Ebenen und Wertigkeiten, angegeben<br />

werden können. Auch hier kann man praktisch davon reden, daß es Ursachen und Wirkungen<br />

‘gibt’, doch kann der fragliche Kausalzusammenhang grundsätzlich nur begrifflich<br />

und d. h. theoretisch ausgedrückt werden. Das wirkliche Kausalverhältnis ist so stets zugleich<br />

ein begriffliches, ohne daß genau gesagt werden könnte, wie Begriffe und reale Geschehens-


23<br />

abläufe zusammenhängen, außer eben daß dieser Zusammenhang gedacht und ineins damit<br />

gesehen werden kann.<br />

Die Frage Humes, ob er objektiv aufgefaßt oder lediglich subjektiv nachgebildet ist, bleibt<br />

unentscheidbar. Aber auch wenn hier die Verhältnisse im Inhaltlichen zusammenfließen,<br />

bleibt zwischen den Ebenen ein formaler Unterschied, den im Bewußtsein zu behalten entscheidend<br />

wichtig ist. Daß, wie Hume und Kant feststellen, der Kausalzusammenhang nicht<br />

in die sinnliche Wahrnehmung fällt, ist nur ein Ausdruck für diesen Sachverhalt. Die erkenntnistheoretische<br />

Frage, ob und in welchem Sinne der formale Unterschied auch im Sinne <strong>einer</strong><br />

ontologischen Differenz verstanden werden kann, steht hier grundsätzlich an zweiter Stelle<br />

und muß hinsichtlich des begrifflich Theoretischen und s<strong>einer</strong> Geltung auch ausdrücklich offengelassen<br />

werden. Wenn die Ursache als Ursache und die Wirkung als Wirkung kein lokalisierbares<br />

‘Etwas’ darstellt, kann der wirkliche Kausalzusammenhang vom logischen Grund-<br />

Folge-Verhältnis nicht grundsätzlich verschieden sein, jedenfalls nicht in s<strong>einer</strong> begrifflichen<br />

Bestimmung . Wie immer man die kausale Beziehung als eine wirkliche verstehen mag: es<br />

wird in ihr stets eine Beziehung gedanklicher Art ausgedrückt, die als solche weder apriorisch<br />

noch empirisch, weder gegenständlich noch psychologisch unterlegt zu werden braucht. Das<br />

uns begreifen und verstehen lassende Darum eines Warum braucht nicht einmal „richtig“ zu<br />

sein; es genügt, wenn Handeln dadurch wieder möglich wird.<br />

Wenn <strong>König</strong> in diesem Sinne von einem „schlußhaften Ineinandergreifen eines praktischen<br />

und eines theoretischen Wissens“ (S. 149 f.) redet, ist auch hier der logische Kern des Gedankenganges<br />

deutlich gemacht. Alle daran geknüpften erkenntnistheoretischen Alternativen lassen<br />

sich einklammern, denn die befriedigenden Antworten auf gestellte Fragen sind im Sinne<br />

prädikatenlogischer Satzfunktionen weder mit <strong>einer</strong> Existenzbehauptung verbunden, die empirisch<br />

nachzuweisen unmöglich wäre, noch braucht man Gott und die Naturkräfte bzw. Naturgesetze<br />

zu bemühen, um die Geltung der theoretischen Implikationen selbst als solcher abzusichern.<br />

Theoretische Ursachen sind weder empirisch-praktische Ursachen, noch geben sie<br />

metaphysische Gründe an. [198/199]<br />

Der kritische Charakter eines derartigen Theorieverständnisses ist deutlich. Die affirmative<br />

Funktion theoretischer Sätze beschränkt sich auf den Status <strong>einer</strong> befriedigenden Antwort, die<br />

als solche keinen Setzungscharakter annehmen kann und in ihrer Geltung durch sich selbst<br />

eingeschränkt bleibt. Was heute als Antwort befriedigt, kann schon morgen unbefriedigend<br />

geworden sein. Eine theoretische Antwort dieser Art verhindert so, daß die praktische Setzung<br />

sich selbst verabsolutiert und mit dem Hinweis auf eine vermeintlich objektive Wahrheit<br />

auch noch die höhere Weihe gibt. Will man diese in der tautologischen Denkfigur eng miteinander<br />

verbundenen Aspekte <strong>einer</strong> bloß praktischen Antwort vermeiden, so kommt man nicht<br />

ohne einen theoretischen Zwischenstatus aus, der dem Handeln einen Spielraum eröffnet und<br />

zugleich s<strong>einer</strong> Selbstverabsolutierung wehrt. Die von <strong>König</strong> am Beispiel der Kausalbeziehung<br />

untersuchte begrifflich-theoretische Beziehung kann und will vermöge ihres logischen<br />

Charakters nichts als das sein, was uns denken und sehen läßt oder verständlich machen kann,<br />

wie ein praktisch relevanter Zusammenhang funktioniert - solange wir ein Interesse daran haben,<br />

ihn so zu sehen. Weil dabei zwischen Realgründen und Erkenntnisgründen kein prinzipieller<br />

Unterschied gemacht wird, hat dieses Zusammen eines Vorgangs und eines einleuchtenden<br />

Gedankens immer nur den Charakter <strong>einer</strong> befriedigenden Antwort auf eine gestellte<br />

Frage und will nicht mehr sein als eben dieses.<br />

Würde man nur praktische Sätze kennen, so würde dies, wie gezeigt, notwendig zum „Umkippen<br />

eines analytischen Satzes in ein scheinbares ontologisches Theorem“ (SaNoGe 186)<br />

führen, wobei letztendlich Gott an die Stelle der logischen Implikation treten müßte. Die<br />

praktische Nötigung zu diesem nichts erläuternden Schritt unterstreicht nocheinmal, wie<br />

sinnvoll es ist, von der ontologischen Differenz zum formalen Unterschied überzugehen und


24<br />

dem realen Zusammenhang eine prädikatenlogische Implikation zu substituieren. Das Ontologische<br />

bzw. Reale wird dadurch nicht bestritten, aber auch nicht in bedenklicher Weise<br />

mißbraucht. Solange die ontologischen Fassung des Problems dazu dienen muß, einen fatalen<br />

Kurzschluß des Praktischen mit sich selbst und mit der höchsten Notwendigkeit herzustellen<br />

und zudem noch verdeckt, daß die Praxis sich diese höhere Weihe ja nur aufgrund eines rein<br />

formalanalytischen Kriteriums geben kann, das sie zudem gegen nähere Einsicht und Kritik<br />

immunisiert, muß der ‘erkenntnistheoretische Klartext’ <strong>einer</strong> explizit logischen Fassung des<br />

Problems vorgezogen werden.<br />

Indem <strong>König</strong> dem begrifflichen Zusammenhang den Status <strong>einer</strong> prädikatenlogischen Satzfunktion<br />

gibt, weist er ihm eine mittlere Lage zu, die weder im formalen noch im inhaltlichen<br />

Sinne einen subsumierenden Vorgriff darstellen kann. Das so verstandene Begriffliche ist<br />

weder hypothetisch noch [199/200] affirmativ, weder bloß gedacht noch real, weder analytisch<br />

leer noch inhaltlich definitiv gefüllt. Es ist nichts als das, was ein Licht wirft und verstehen<br />

läßt, daß etwas im Prinzip so sein kann, in der Praxis aber nicht unbedingt so sein muß.<br />

Das Theoretische betrifft so den Erkenntnisprozeß als solchen und nicht das wirkliche Geschehen<br />

oder eine sich damit deckende objektive Wahrheit. Im Zusammen eines Gedankens<br />

und eines Vorgangs hat der Gedanke nicht die Funktion eines Vorgriffs oder <strong>einer</strong> Bestätigung<br />

(dies beides wäre noch praktisch gemeint), sondern sucht gerade umgekehrt eine Antwort<br />

auf das, was anders kommt als erwartet. Was theoretisch gemeint ist, kann auch praktisch<br />

gelten, muß dies aber nicht tun.<br />

Die Wahrung dieses entscheidenden Unterschieds ist an die Einsicht gebunden, daß das Theoretische<br />

und das Praktische „in grundverschiedenen Dimensionen des Fragens und Antwortens<br />

verwurzelt sind und entspringen.“ (S. 206) Gleichwohl darf ein solcher Unterschied im<br />

Sinne der Theorie nur formal geltend gemacht werden, denn nur so läßt sich das der praktischen<br />

Selbstaffirmation entsprechende Selbstmißverständnis des Theoretischen abwehren, als<br />

könne dieses sich praktisch legitimieren oder aber aus ontologischen Prämissen einen objektiven<br />

Geltungsanspruch für sich ableiten. Ein Theoretisches oder Begrifflich-Allgemeines, das<br />

sich weder praktisch noch ontologisch absichern kann und als eine vom Menschen eingezogene<br />

Zwischenebene gleichsam in der Luft hängt, braucht, um sich selbst artikulieren zu können,<br />

notwendig eine Logik, die auf empirische, transzendentale oder ontologische Voraussetzungen<br />

ausdrücklich verzichtet. Es gewinnt dadurch einen Status „mittlerer Eigentlichkeit“,<br />

der, gerade weil er den unterschiedlichen Wissenscharakter theoretischer und praktischer Sätze<br />

nicht einnivelliert, nach allen Seiten hin erfahrungsoffen ist.<br />

Die philosophische Bedeutung der Logik liegt darin, daß sie es erlaubt, über wesentliche Differenzen<br />

formal zu reden und keine bestimmte Stellungnahme präsupponiert. Bezüglich des<br />

theoretischen Umgangs mit Kausalbeziehungen wäre es eher hinderlich, wenn man sich zuvor<br />

auf einen ontologischen oder logischen Status wie Geschehensnotwendigkeit, funktionaler<br />

Zusammenhang, logische Implikation usw. einigen müßte. Ein Theoretisches, das nur in seinem<br />

logischen Status bestimmt ist und im übrigen hinsichtlich aller weitergehenden Optionen<br />

erfahrungsoffen gehalten wird, bleibt dann aber auch beschränkt auf eine Kommunikationsgmeinschaft,<br />

die sich von Ideen leiten läßt und darauf bezogene befriedigende Antworten annimmt<br />

oder mit neuen Fragen solche weiterzuentwickeln sucht. Während praktisches Sein<br />

sich auf je individuelles Gewußtsein, Überzeugtsein, Gemeintsein etc. reduzuiert und darin<br />

seinen Setzungscharakter zeigt, gilt für das theoretische Sein: „Die Idee der Sache ist die Idee<br />

des theoretischen Seins als eines Seins, das wesentlich nicht an ihm selbst [200/201] Gewußtes<br />

ist.“ (LU 169) Das Theoretische kann sich deshalb nur gemäß der „logischen Struktur der<br />

theoretischen Wahrheit und des theoretischen Erkennens“ entfalten (a. a. O.) und hat darin eine<br />

ideelle Ausrichtung, wie sie im Adäquationskriterium der Wahrheitsidee ausgedrückt ist.<br />

Aufgabe des homo theoreticus ist es, „das Wissen in einem wesentlich unendlichen Prozeß<br />

dem Sein adäquat zu machen und dadurch das Meinen zu einem wahren Meinen zu erheben.“


25<br />

(a. a. O.) Deutlich ist, daß in solchen Formulierungen neukantianische Positionen für <strong>König</strong><br />

wegweisend geworden sind. Platon dürfte für eine derartige Auffassung immer noch der<br />

Kronzeuge sein; ihre logische Ausarbeitung dürfte m. E. auch bei Charles Sanders Peirce<br />

weitgehende Parallelen finden.<br />

Erklärungen oder Begründungen kausaler, funktionaler etc. Art haben ihren Geltungsanspruch<br />

grundsätzlich nur, insofern und so lange sie als Antworten auf entsprechende Fragen befriedigen.<br />

Dies unterscheidet die theoretischen Sätze aber nicht nur von den praktischen Sätzen,<br />

sondern auch von dichterischen Aussagen, deren innere Wahrheit sich aus unbekannten Prämissen<br />

selbst erweist und für denjenigen, der zu dem betreffenden Phänomen einen nicht nur<br />

vorgestellten Bezug aufnehmen kann, aber auch nur für ihn, unzurückweisbar ist. Die absolute<br />

Beziehung kennt weder praktische Setzungen noch begrifflich-allgemeine Antworten. Mit<br />

dem Praktischen hat sie den singulären Charakter und die individuelle Geltung, mit dem<br />

Theoretischen die tiefere Einsicht gemein. Weil die für das dichterische Sagen konstitutive<br />

reine Erfahrung nicht allgemein vorausgesetzt werden kann, läßt sich auch der Unterschied<br />

zwischen dem begrifflich Theoretischen und des rein Theoretischen wiederum nur formal bezeichnen.<br />

Allerdings kommt hier, anders als beim formalen Unterschied zwischen theoretischen<br />

und praktischen Sätzen, der ontologische Charakter eines derartigen Formunterschieds<br />

deutlicher zum Vorschein. Der formale Unterschied weist hier auf eine ontologische Differenz<br />

im dimensionalen Verhältnis hin, deren Hüter er ist. [201/202]<br />

9. Der Mensch als der geistige Vater s<strong>einer</strong> selbst und s<strong>einer</strong> Welt<br />

Hinsichtlich der ästhetischen Wirkungen macht <strong>König</strong> den formalen Unterschied so geltend:<br />

„Ästhetische Wirkungen und Wirkungen, die nicht ästhetische sind, sind nicht nur verschiedene<br />

Wirkungen, sondern unterscheiden sich darüber hinaus auch noch als Wirkungen.“<br />

(NäW 261) Die formale Unterscheidung kann an dieser Stelle aber nicht mehr logisch, sondern<br />

nur noch analog verstanden werden. Wo es nicht um verschiedene Wirkungen in ein und<br />

derselben Sphäre geht, sondern um „radikal oder total andere Wirkungen“ (S. 273) <strong>einer</strong> anderen<br />

Sphäre, kann man statt von Wirkungsarten besser davon reden, daß die Wirkungen „in<br />

verschiedenen Welten beheimatet sind“ (S. 263), wobei auch dieser an Kant anschließende<br />

Sprachgebrauch noch mißverständlich ist. Jedenfalls betrifft die ästhetische Wirkung und ihre<br />

dichterische Beschreibung das dimensionale Verhältnis selbst als solches und damit eine unaufhebbare<br />

ontologische Differenz, die nur via nichts zu überbrücken bzw. im Punkt der Verschränkung<br />

zu durchbrechen ist. Will man sich über die hier gegebenen Verhältnisse philosophisch<br />

verständigen, so nehmen alle Kategorien, die das dimensionale und das gegenständliche<br />

Verhältnis gleichermaßen betreffen: Sprache und Erkenntnis, Wirklichkeit und Wahrheit,<br />

Welt, Natur und Geist, eine qualitativ andere Bedeutung an, so daß dieselben Worte nun nicht<br />

mehr dasselbe bedeuten und auch die ganzen Kontexte nicht mehr dieselben sind. Wirklichkeit<br />

und Wahrheit konstituiert sich im dimensionalen Verhältnis grundsätzlich anders, als dies<br />

aus gegenständlichen, sprachlichen und logischen Bezügen theoretisch und praktisch vertraut<br />

ist.<br />

Was wie die ästhetische Wirkung und ihre Beschreibung im dimensionalen Verhältnis spielt<br />

und mit der gegenständlichen Ebene grundsätzlich nicht mehr vermittelt werden kann, will<br />

pimär unter dem Aspekt des Unterschieds und der qualitativen Andersartigkeit verstanden<br />

werden. Der Mensch kann hier immer nur einzelne Elemente fassen, die in s<strong>einer</strong> sonstigen<br />

physischen und psychischen Organisation und Welt keinen materiellen Resonanzkörper finden<br />

und deshalb auch keine gegenständlichen oder zuständlichen Formen annehmen können.<br />

Ästhetische Wirkungen haben weder aktual noch auf die Dauer eine materielle Auswirkung,<br />

so daß ihr Begegnen, Anmuten, Einwohnen und Erfüllen auch nicht in leiblichen oder seelischen<br />

Wirkungen bzw. Zuständen eine Entsprechung finden kann. Daß sie als Wirkungen an-


26<br />

dere sind heißt insbesondere auch, daß der ganze Bereich der physischen und psychischen<br />

Wirkungszusammenhänge, Gegenstände und Zustände von ihnen überhaupt nicht tangiert<br />

wird (vgl. 272 ff., 279, 283, 294 ff.).<br />

Die Kunst, die <strong>König</strong> mit Dichtung im weitesten Sinne gleichsetzt, bildet [202/203] somit ein<br />

Überschneidungsfeld, das, wenn es keine pychophysische Basis hat, einen eigentümlichen,<br />

weder innerweltlichen noch außerweltlichen Ort einnimmt (vgl. S. 293 ff.). Wie das Beispiel<br />

von Rilkes Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ zeigte, läßt sich dieser Ort von außen her<br />

gesehen nur paradox umschreiben. Die ästhetische Wirkung und ihre dichterische Beschreibung<br />

sind nicht trennbar und nicht gleichsetzbar, sie können aber auch nicht im Verhältnis der<br />

Einwohnung bleiben und müssen in ihrer „Ursprungseinheit“ wieder zerfallen. Im Sinne des<br />

paradoxen „Nicht Zwei, nicht Eines“ handelt sich hier um zwei Bewegungen, die doch nur in<br />

eins möglich, indem sie sich je aktual verschränken. Die ästhetische Wirkung wirkt nur vermöge<br />

dessen, daß sie in der dichterischen Beschreibung „zu sich kommt“ (vgl. S. 267), und<br />

diese wiederum „spricht“ nur, indem und solange jene ihr „einwohnt“ - ohne dies und darüberhinaus<br />

sind beide, auch füreinander, wie nicht. Anders gesagt „ermöglicht und legitimiert“<br />

(S. 264) die ästhetische Wirkung aktual die Rede von ihr und ist nichts als das, was ein solches<br />

Sprechen als ein ihr angemessenes empfindbar macht. Und umgekehrt ist die dichterische<br />

Beschreibung für die ästhetische Wirkung ermöglichend in dem Sinne, daß sie als Beschreibung<br />

diese zur Wirkung bringen kann.<br />

Eine Wirkung, die nichts als die Bedingung ist, so sagen zu können, bleibt auch in ihrer<br />

aktualen Präsenz zeitenthoben und unterscheidet sich darin von dem in der Zeit selbst<br />

liegenden, an ihren jeweiligen Kontext gebundenen Aktuellen. Man kann eine ästhetische<br />

Wirkung grundsätzlich nur „haben“, wenn und indem sie sich selbst erweist ( vgl. S. 323 ff.)<br />

und darin den allererst „hervorbringt“, der sie - in diesem Moment - aufnehmen kann (S.<br />

363). Damit ist verbunden, daß der Rechts- und Wahrheitsgrund <strong>einer</strong> ästhetischen Wirkung<br />

auf keine Weise allgemein geltend gemacht werden kann und alles Reden über sie im Bereich<br />

der doxa verbleiben muß (vgl. S. 298; 312).<br />

Weil die ästhetische Wirkung nur das ihr Angemessene kennt und kein Mehr-und-Weniger<br />

verträgt, ist ihre Beschreibung entweder gar keine solche oder aber „rein und genau“ (S. 257),<br />

so daß sie „unmittelbar als treffend empfunden“ wird (S. 258). Die ästhetische Wirkung ist<br />

„etwas durch und durch Bestimmtes“ (S. 304), so daß von ihr nichts anderes zu sagen ist als<br />

was ihre Beschreibung sagt, und dieses auf keine andere Weise. Der hermeneutische Bezugsrahmen<br />

kontextueller Interpretation ist damit als Verständnisgrundlage gänzlich verlassen.<br />

Das dichterische geprägte Wort bleibt ein unübersetzbarer atomarer Sachverhalt: „Es ist eine<br />

ursprüngliche Metapher, d. h. was dieser metaphorische Ausdruck bedeutet, ist in der Welt<br />

nur in Gestalt dieses notwendig metaphorischen Ausdrucks.“ (S. 322 f.) Die ästhetische Wirkung<br />

und ihre Beschreibung führt in der Welt ein gänzlich vereinzeltes Dasein und punktuelles<br />

Eigenleben. Wo es k<strong>einer</strong>lei Einbettungen und Vergleichsmög [203/204] lichkeiten gibt,<br />

kann der Punkt des notwendig metaphorischen Ausdrucks nur getroffen werden - oder eben<br />

nicht.<br />

Wenn <strong>König</strong> in diesem Sinne von <strong>einer</strong> Beschreibung spricht, läßt das Wort „Beschreibung“<br />

sich nicht mehr im üblichen Sinne verstehen. Erhellender ist die Analogie mit dem k<strong>einer</strong><br />

Konvention verdankten „Eigennamen“ (vgl. S. 267 f.), dem kein semantischer Kontext mehr<br />

anhaftet und der deshalb auch mit keinem erläuternden Satz verbunden werden kann. Der<br />

wahre Name eines Seienden trifft das ganz Spezifische <strong>seines</strong> „Eigentons“ (S. 304), für den es<br />

keine Annäherungen über das Tonspektrum gibt. <strong>König</strong> redet von der ästhetischen Wirkung<br />

als einem „lautlosen Ton“, der nur durch die ihm in der Beschreibung gegebene Resonanz<br />

überhaupt hörbar wird, in ihr zu sich kommt und erwachend gleichsam in sich selbst erzittert.<br />

„Zwar ertönt sie auch dann nicht, denn auch der Eigenton der erwachten ästhetischen Wir-


27<br />

kung bleibt ein lautloser Ton. Wohl aber gerät sie dann in Schwingung oder erzittert gleichsam<br />

in sich selbst.“ (S. 304).<br />

Aufgabe der Dichtung ist es, mittels der Beschreibung eine ästhetische Wirkung „zu sich“ zu<br />

bringen oder, wie <strong>König</strong> sagt, „zur Welt zu bringen“ (vgl. S. 306 ff.). Wie bei Kant ist „Welt“<br />

hier als eine Kategorie der Möglichkeit verstanden. Die Welt, in der ästhetische Wirkungen<br />

Gegenstände menschlichen Wahrnehmens und dichterischer Beschreibung sein können, wird<br />

von <strong>König</strong> aber nicht einfach mit Kants Erscheinungswelt gleichgesetzt, jedenfalls nicht, insofern<br />

diese durch Kategorien, empirisch sinnliche Wahrnehmung und einen beides verbindenden<br />

Schematismus gekennzeichnet ist. Es handelt sich für ihn bei „Welt“ somit nicht um<br />

die Bedingungen der Möglichkeit von Erscheinungen, sondern vielmehr um eine Möglichkeit<br />

des Dings an sich, „mögliches Objekt“ menschlicher Wahrnehmung zu werden. Damit ist gerade<br />

nicht gemeint, daß das Ding an sich empirisch zur Erscheinung gebracht werden könnte,<br />

was ja auch für Kant unmöglich ist. Gleichwohl hält <strong>König</strong> seine eigene Auffassung für einen<br />

„genauen Ausdruck der Lehre Kants, nach der der Mensch, der wahrnimmt, das Ding an sich<br />

zur Welt bringt. Das menschliche Wahrnehmen ist - bei und nach Kant - das zur Welt Bringen<br />

des Dinges an sich. Die kantische Erscheinungswelt ist eine Welt, nur weil und insofern, wer<br />

wahrnimmt, das Ding an sich hervorbringt als mögliches Objekt.“ (S. 310)<br />

Die Welt der ästhetischen Wirkungen ist so verstanden eine Welt der „Dinge an sich“ bzw.<br />

eine Welt des mit Aristoteles so genannten „an und für sich Wahrnehmbaren“ (vgl. S. 332 f.),<br />

das der Mensch nicht schlechthin hervorbringen kann und das doch ohne sein Wahrnehmenkönnen<br />

nicht in der Welt wäre. „Gewiß also ist dieses Beschreiben kein Hervorbringen des<br />

Beschriebenen. Wohl aber ist es eine Art von Umsetzen oder Übersetzen des Beschriebe<br />

[204/205] nen in einen anderen Status. Das dichtende Beschreiben bringt nicht das Beschriebene<br />

hervor, wohl aber bringt es das Beschriebene hervor als mögliches Objekt oder möglichen<br />

Gegenstand.“ (S. 307)<br />

Eine materielle Verwirklichung und empirisch-objektivierende Erfassung ist mit dem so verstandenen<br />

möglichen Objekt ausdrücklich nicht verbunden. Nicht jedes künstlerische Hervorbringen<br />

ist deshalb für <strong>König</strong> ein Zur-Welt-Bringen, nicht jedes Hervorgebrachte, wie z. B.<br />

das Produkt des Töpfers oder das Werk eines so genannten Dichters, ein zur Welt Gebrachtes<br />

(vgl. S. 293 ff.). Nur der „Dichter“ und sein „Dichten“ „im jüngeren Sinn“ (S. 309; gesp. v.<br />

Verf.) bringt ästhetische Wirkungen „zur Welt, wenn er sie auch nicht erschafft.“ (a. a. O.) Es<br />

ist geradezu ausgeschlossen, daß die mit dem In-der-Welt-sein in diesem Sinne verbundene<br />

Möglichkeit zur gegenständlichen Wirklichkeit und einem etwa in ihr vorhandenen Kunstprodukt<br />

werden könnte. Pointiert gesagt: „Die Welt ist nicht das Haus der Gegenstände, der<br />

Objekte. Wohl aber ist sie nichts als das, in dem mögliche Gegenstände sind.“ (S. 310) Was<br />

ästhetische Wirkung sein bzw. werden kann, muß zwar schon in der Welt sein, aber gerade<br />

nicht in grob verdinglichter Form, in der er seine eigentliche Wirkungsmacht schon nicht<br />

mehr entfalten könnte.<br />

<strong>König</strong> rekurriert an dieser Stelle auf einen Weltbegriff, der die Welt diesseits gegenständlicher<br />

Formen, ja auch noch diesseits der Goetheschen Welt des Lichtes und der Farben als ein<br />

Stimmendes bzw. Gestimmtes anspricht (vgl. S. 322 ff.), das als solches unsichtbar und unhörbar<br />

bleibt, aber gleichwohl etwas anregt und in sich selbst erzittern läßt.. Ein „Stimmendes“<br />

ist „nur als mögliches Objekt“ (S. 307; 309); es nimmt weder einen innerweltlichen Status<br />

an wie strukturierte Erscheinungen, materielle Formen oder gegenständliche Werke (auch<br />

solche der Kunst), noch hat es einen rein transzendenten Status wie Kants völlig unbestimmbar<br />

bleibendes Ding an sich.<br />

Der von <strong>König</strong> mit „Welt“ verbundene Zwischenstatus „möglicher Objekte“ muß somit von<br />

allen mit Raum, Gegenständlichkeit, semantisch-strukturellen Rahmen und Vorverständnismöglichkeiten<br />

verbundenen Konnotationen gänzlich freigehalten werden. Näher kommt dem


28<br />

fraglichen Sachverhalt eine Geistkategorie, die <strong>König</strong> von der Wurzel „ein Hauch, ein spiritus“<br />

(S. 331) herleitet. Man kann vom So-Wirken reden, „wie man sonst von einem Hauch<br />

oder auch von einem Duft spricht, der von etwas ausströmt und uns anweht.“ (S. 311) Auch<br />

dieser Vorgang ist im Sinne des Phänomens der „auswählenden Resonanz“ (S. 322) auf einen<br />

spezifischen Ton eingestimmt, wobei das Wirken qua Stimmen für <strong>König</strong> ein geistiges Wirken<br />

ist. „Ein Geist ist ein auf einen Ton Gestimmtes“ (S. 331) und wirkt vermöge dieses Gestimmtseins<br />

wie ein Eigenname oder Schöpfungsstrahl, der in nicht-physischer und nichtpsychischer<br />

und d. h. nicht zur bloßen Trägerfunktion degradierter Materialität reine [205/206]<br />

Phänomene zu erzeugen vermag. Die Welt des Geistigen ist als solche eine wirkende Welt<br />

und noch keine Formenwelt. Dem entspricht der Begriff <strong>einer</strong> Wahrheit, die im Sinne des<br />

Wahr-wirkens oder auf wahr Stimmens wie ein „Hauch von Wahrsein“ zu „schmecken“ ist<br />

(S. 326), nicht aber im Sinne der Aussagenwahrheit objektiviert und auf gegenständliche<br />

Verhältnisse abgebildet werden kann.<br />

Näherhin wird von <strong>König</strong> „dieser Geist und dieses Geistige (als) ein Naturgeist und ein Naturgeistiges“<br />

verstanden (S. 332). <strong>König</strong> erinnert in diesem Zusammenhang an Goethes Rede<br />

von der ganzen Natur, die zu uns spricht und sich als Farbe und als Ton dem Sinn des Auges<br />

und des Ohrs besonders offenbaren will (vgl. dazu S. 334). Ein so verstandener Geist benützt<br />

die Natur nicht lediglich als Material und sekundär zu belegenden Bedeutungsträger oder Code,<br />

sondern verhält sich zu ihr wie zu <strong>einer</strong> „magna mater“ (S. 306). Er formt und gestaltet in<br />

ihr nicht als Demiurg, sondern holt etwas aus ihr heraus, so wie z. B. der Maler im Ringen um<br />

dieses bestimmte Rot eine ganz spezifische, so noch nicht dagewesene Wirkungsqualität herausbringen<br />

und diesseits aller Konventionen zur geistig ansprechenden Wirkung bringen<br />

will. Ein so verstandener spezifischer Farbton wäre für <strong>König</strong>, wie das an und für sich Wahrnehmbare<br />

überhaupt, „in prägnantem Sinne das Element des Künstlers und nicht sein Material.“<br />

(S. 335)<br />

Indem <strong>König</strong> den aristotelischen Ausdruck „das an und für sich Wahrnehmbare“ (vgl. S. 332<br />

f.) aufnimmt und in bezug darauf ausschließlich sprechen möchte von „Sinnesinhalten, die für<br />

die Kunst relevant sind“ (S. 333 Anm.), geht er insofern noch weiter als Goethe, als er deren<br />

Unsinnlichkeit betont und ganz auf den Vorgang des Sehens selbst abhebt: „Ich exponiere den<br />

Begriff des an und für sich Wahrnehmbaren ausschließlich an dem in der Weise des Sehens<br />

Wahrnehmbaren, dem an und für sich Sichtbaren; und sehe dabei sogar von dem Licht ab.“<br />

(S. 333 Anm.; gesp.v. Verf.) Versteht man das an und für sich Wahrnehmbare in diesem Sinne<br />

als einen qualifizierten Seh-Punkt oder Seh-Strahl, so kann man in dem an und für sich<br />

Wahrnehmbaren die „ursprünglichen Quellpunkte“ (S. 332) eines naturgeistigen Wirkens finden,<br />

die für den Dichter in einem zweiten Schritt zur „ursprünglichen Quelle des ästhetischen<br />

Wirkens werden“ (S. 333). In dieser Verbindung sind es in der Tat nur die für die Kunst relevanten<br />

„sogenannten Sinnesinhalte“ (a. a. O.), von denen <strong>König</strong> in diesem Zusammenhang<br />

reden will.<br />

Eine in der Weise des Sehens selbst und d. h.im Wahrnehmbaren als solchem liegende Welt<br />

ist schon eine Welt des Menschen und nicht ausschließlich ein Werk der Natur, auch wenn<br />

diese dabei nicht entbehrt werden kann. Das Zur-Welt-Bringen von geistigen Wirkungen aus<br />

der Kraft der Natur vollzieht sich dann in zwei Schritten: „Der Mensch als das Wesen, das<br />

Wahrneh [206/207] mung besitzt, ist das Wesen, das die Kraft der Natur, die Wirkungen derselben,<br />

zur Welt bringt in der Gestalt des an und für sich Wahrnehmbaren. Wir werden diese<br />

Wirkungen nicht ästhetische Wirkungen nennen. Aber wenn das an und für sich Wahrnehmbare<br />

diese Wirkungen selber als Farben, Töne ist, wenn wir uns einmal erlauben so zu denken<br />

und zu sprechen, könnten wir uns von daher dem Gedanken nähern, daß eben deshalb das an<br />

und für sich Wahrnehmbare die ursprüngliche Quelle des ästhetischen Wirkens ist. Dem<br />

Dichten als dem zur Welt bringen ästhetischer Wirkungen liegt voraus, daß die ursprünglichen<br />

Quellen dieser Wirkungen selber zur Welt Gebrachtes sind. Das Dichten ist ein Nach-


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ahmen, - nicht des Wahrgenommenen, sondern des Wahrnehmens, nämlich jenes Wehrnehmens,<br />

welches das an und für sich Wahrnehmbare wahrnimmt.“ (S. 335) Anders gesagt:<br />

„Dies ursprüngliche Beschreiben geschieht als das Wahrnehmen oder Empfinden des an und<br />

für sich Wahrnehmbaren“ (S. 337) und geht als ein „ursprüngliches zur Welt Bringen“ der<br />

Kunst als einem „anhebenden Fortsetzen dieses ursprünglichen zur Welt Bringens“ (S. 335)<br />

voraus. Die Kunst ahmt somit nicht die Natur nach, sondern setzt bereits eine in der Form des<br />

Wahrnehmens schon menschlich gewordene Welt voraus. Die „Quellpunkte“ dieses spezifischen<br />

Wahrnehmenkönnens bilden als das an und für sich Wahrnehmbare das „Element“, in<br />

und aus dem der Künstler denken und dichten kann, so daß „in den Produkten der Kunst das<br />

an und für sich Wahrnehmbare noch einmal konzentriert, variiert und gesteigert präsent“ ist<br />

(S. 335 f.). Abschließend gesagt: „In dieser Doppelstellung - als ursprüngliche Beschreibung<br />

der Wirkungen der Natur und als die ursprüngliche Quelle der ästhetichen Wirkungen - ist das<br />

an und für sich Wahrnehmbare wie ein Gelenk und daher ist es das Element der Kunst.“ (S.<br />

337)<br />

Es mag im Nachvollzug dieses schwierigen Gedankens deutlich geworden sein, warum <strong>König</strong><br />

das „zur Welt Bringen“ qualitativer Gehalte durch den Menschen nicht unmittelbar auf die<br />

Natur, aber schon gar nicht auf die Kultur beziehen will, sondern ein „Naturgeistiges“ damit<br />

verbindet, das als das an und für sich Wahrnehmbare nur dadurch in der Welt ist, daß der<br />

Mensch es in seinem besonderen Wahrnehmenkönnen und als dieses zur Welt bringt, als<br />

Quellpunkt ästhetischer Wirkungen und Element der Kunst aber gleichzeitig noch in der Natur<br />

beläßt. Es handelt sich bei diesem „Gelenk“ um ein ineins Natur-und-Menschen-<br />

Mögliches besonderer Art, das nur der Mensch, wenngleich aus der Kraft der Natur, in der<br />

Weise des Sehens selbst zur Welt bringen kann. Der Mensch schafft somit nicht allein künstliche<br />

Dinge aus leblosem Material, sondern bringt in zweiter Linie die Kraft der Natur im<br />

Wahrnehmen des an und für sich Wahrnehmbaren so zur Welt, daß dieses in abermals potenzierter<br />

Weise zum Quellpunkt ästhetichen Wirkens und Element der Kunst werden kann. In<br />

diesem Sinne kann <strong>König</strong> sagen: „Die Werke der Kunst [207/208] sind seltsame Lebewesen<br />

im Element des an und für sich Wahrnehmbaren.“ (S.336)<br />

In und aus der Natur wird so vom Menschen etwas hervorgebracht, was als ein geistiges Kind<br />

s<strong>einer</strong> selbst ein eigenes Leben gewinnt und nicht mehr lediglich das natürliche Leben auf<br />

dem Wege der Zeugung und Geburt perpetuiert. „Der Dichter ist nicht der leibliche und auch<br />

nicht der seelische Vater des Dichters; wenn man hier kurz sprechen will, muß man schon bereit<br />

sein, das Wort „Geist“ aufzunehmen und zu erklären, der Dichter sei der geistige Vater<br />

des Dichters. Die magna mater ist die ästhetische Wirkung.“ (S.306)<br />

Was in der Wahrnehmung des an und für sich Wahrnehmbaren und in der die ästhetischen<br />

Wirkungen beschreibenden Dichtung zur Welt gebracht werden kann, hat den Menschen<br />

selbst in seinem Wahrnehmen- und Dichtenkönnen zum Instrument und Resultat. Was der<br />

Mensch so zur Welt bringt ist letztlich er selbst als dieser Wahrnehmende und Dichtende und<br />

nicht mehr eine Welt von Dingen.<br />

Er fügt dadurch allem Seienden eine neue, so noch nicht dagewesene Qualität hinzu.

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