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Geld allein macht nicht reich - neue Wege zu Wachstum & Wohlstand ...

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„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ –<br />

<strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

Eine Denkschrift von<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen<br />

2012


2<br />

„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

Zu den Autoren:<br />

Alexander Hobusch ist 20 Jahre alt, Vorsitzender der Jusos Wuppertal<br />

und studiert Jura an der Heinrich‐Heine‐Universität in Düsseldorf.<br />

Daniel Todorović ist 21 Jahre alt, Vorsitzender des AStA<br />

der Bergischen Universität Wuppertal und studiert dort Wirtschaftsingenieurwesen.<br />

Jakob Steffen ist 30 Jahre alt, Diplom‐Volkswirt und hat u.a.<br />

für die Handelskammer Hamburg gearbeitet; aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

der SPD‐Landtagsabgeordneten für Wuppertal.<br />

Alle drei sind stolze Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

1 Hergebrachte <strong>Wachstum</strong>s‐ und <strong>Wohlstand</strong>smessung – und ein Gegenvorschlag<br />

Seit der Finanzkrise von 2008 ist wieder eine Diskussion in Fahrt gekommen, die <strong>nicht</strong>s<br />

Geringeres <strong>zu</strong>m Ziel hat als die Abschaffung des klassischen Konzepts ökonomischen <strong>Wachstum</strong>s.<br />

Wieder? Jawohl, denn tatsächlich ist diese Debatte <strong>nicht</strong> neu: Im England der industriellen<br />

Revolution ist sie schon einmal unter Ökonomen geführt worden: Besonders der Philosoph unter den<br />

Ökonomen, John Stuart Mill, stellte schon damals Überlegungen <strong>zu</strong> einer Volkswirtschaft an, die<br />

ohne Wirtschaftswachstum auskommt. 1 Diskutiert wird heute unter der Überschrift<br />

„Postwachstumsökonomie“. Das klingt griffig; doch was soll das eigentlich heißen? Tatsächlich nimmt<br />

der Begriff in unglücklichem Maße das Ergebnis der Diskussion vorweg: Er suggeriert eine Ökonomie<br />

nach dem Zeitalter des <strong>Wachstum</strong>s, sprich: eine Ökonomie, die ohne <strong>Wachstum</strong> auskommt. Wie im<br />

Thesenpapier der Enquete‐Kommission <strong>zu</strong> lesen steht: „(…) Das <strong>Wachstum</strong> selbst kann <strong>zu</strong> einem<br />

Problem werden.“ 2<br />

Das aber ist nach Auffassung der Autoren ökonomischer Analphabetismus: <strong>Wachstum</strong> ist in<br />

unserer <strong>Geld</strong>‐ und Kreditwirtschaft, deren Zahlungsmittel <strong>allein</strong> auf Vertrauen beruht und mit<br />

keinerlei materiellem Wert mehr unterlegt ist, unabdingbar: Der dynamische, expandierende<br />

Kreislauf aus Kredit, Investition und Zins kann <strong>nicht</strong> einfach abgeschafft werden, es sei denn, man<br />

kehrte <strong>zu</strong>r Tauschwirtschaft <strong>zu</strong>rück! 3 Der Begriff „Postwachstumsökonomie“ ist bei genauer<br />

Betrachtung daher bereits a priori Unfug. Das Gleiche gilt für die Behauptung, dass das ökonomisch‐<br />

materielle <strong>Wachstum</strong> in unserer Zeit an eine Art ‚natürliche Grenze’ gestoßen sei: Die nächste<br />

evolutorische Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung ist der Markt für Ressourceneffizienz, genauer:<br />

für die Entkoppelung von <strong>Wachstum</strong> bzw. <strong>Wohlstand</strong> (auch in der hier entwickelten Verbreiterung<br />

des Begriffs) vom Ressourcenverbrauch, wie auch von der Enquete‐Kommission festgestellt wurde. 4<br />

Da<strong>zu</strong> kommt die Entwicklung, dass wir durch die <strong>zu</strong>nehmende Automatisierung unserer<br />

Arbeitsprozesse (die, aufgrund des technischen Fortschritts, in sich bereits ein ewiger<br />

<strong>Wachstum</strong>streiber ist!) immer mehr Güter mit immer weniger Arbeit erzeugen können; so nehmen<br />

die Möglichkeiten für ehrenamtliche Arbeiten an der Gesellschaft <strong>zu</strong>, bei gleichzeitig <strong>neue</strong>n<br />

1<br />

Vgl. z.B. Steffen, Jakob (2008): „John Stuart Mill – die Öffnung der Politischen Ökonomie“, abrufbar unter:<br />

http://dadnuhw.files.wordpress.com/2012/05/steffen20112.pdf.<br />

2<br />

Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages (2012): „Thesen<br />

nach einem Jahr Arbeit der Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität“ des Deutschen<br />

Bundestages“, Stand 07.03.2012, abrufbar unter: https://info.<strong>zu</strong>kunftsdialog.spdfraktion.de/wp‐<br />

content/uploads/2012/03/Thesenpapier‐ein‐Jahr‐Enquete‐Komission.pdf, S. 1.<br />

3<br />

Besonders prägnant hat Christoph Binswanger diese Feststellung herausgearbeitet; vgl. Binswanger, Hans<br />

Christoph (2006): „Die <strong>Wachstum</strong>sspirale“, Metropolis Verlag.<br />

4<br />

vgl. Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages, Stand<br />

07.03.2012 a.a.O.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen 3


4<br />

„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

Möglichkeiten <strong>zu</strong>r Umverteilung der Früchte dieser Maschinen‐Arbeit – etwas, was Frank Rieger mit<br />

dem klugen Begriff „Automatisierungsdividende“ belegt hat, 5 und was noch Eingang in unsere<br />

Überlegungen <strong>zu</strong>r Messung von <strong>Wohlstand</strong> weiter unten findet.<br />

Insoweit beziehen die Autoren hier eine klare Gegenposition <strong>zu</strong>m 1. Entwurf des Thesenpapiers<br />

der Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages: Die<br />

oben beschriebene ‚grüne’ Evolution des Marktsystems ist sehr wohl in der Lage, in den kommenden<br />

Jahrzehnten fortwährendes <strong>Wachstum</strong> <strong>zu</strong> generieren! Nur mittels der vernebelnden Feststellung,<br />

diese Evolution führe <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong> „sehr hohen <strong>Wachstum</strong>sraten“ 6 und sei deswegen ein Beleg für die<br />

quasi unausweichliche Nutzlosigkeit des klassischen <strong>Wachstum</strong>sbegriffs, kann man dagegen<br />

behaupten, dass das klassische, ökonomische <strong>Wachstum</strong> an eine Art historisches Ende gelangt sei<br />

(man fühlt sich unwillkürlich an längst überholte, einschlägige Vorstellungen aus einer bekannten<br />

Ecke von der unvermeidbaren Entwicklung des Marktsystems <strong>zu</strong> seinem eigenen Ende hin<br />

erinnert…). Deswegen stimmen wir Daniela Kolbe in diesem Punkt völlig <strong>zu</strong>: „Ein allgemeiner<br />

<strong>Wachstum</strong>sstopp ist schwer vereinbar mit <strong>Wohlstand</strong> für alle.“ 7<br />

<strong>Wachstum</strong> bleibt somit nach der Überzeugung der Autoren ein Ziel, und <strong>nicht</strong> bloß Mittel;<br />

entscheidend ist: Der <strong>Wachstum</strong>sbegriff muss im Hinblick auf gesellschaftliche Ziele neu definiert<br />

und ausgerichtet werden, wie das ebenso grundsätzlich auch die Enquete‐Kommission festgestellt<br />

hat. 8 Dabei aber sehen die Autoren eine Gefahr, der es entschieden entgegen<strong>zu</strong>treten gilt: nämlich<br />

die Verwechslung oder aber bewusst‐unterschwellige Gleichset<strong>zu</strong>ng eines <strong>neue</strong>n <strong>Wachstum</strong>sbegriffs<br />

mit im Wesentlichen letztlich doch ‚nur’ allgemeinen Verteilungsaspekten – zwischen Mensch und<br />

Mensch ebenso wie zwischen Mensch und Natur. Verteilung aber – gleich wie man sie definiert –<br />

kann niemals <strong>Wachstum</strong> ersetzen; es gilt das alte Gleichnis vom Kuchen, der durch <strong>Wachstum</strong> erst<br />

gebacken werden muss, bevor man ihn verteilen kann. An dieser simplen Einsicht für schlechterdings<br />

kein Weg vorbei! Insoweit ist also die Gefahr der Neudefinierung qualitativen <strong>Wachstum</strong>s <strong>nicht</strong>, dass<br />

die Politik so<strong>zu</strong>sagen künstlich das BIP‐<strong>Wachstum</strong> begrenzen wolle – eine völlig absurde Vorstellung,<br />

5<br />

Rieger, Frank (2012): „Automatisierungsdividende für alle ‐ Roboter müssen unsere Rente sichern“, FAZ vom<br />

18.05.2012.<br />

6<br />

Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages (2012): „12<br />

Thesen nach dem ersten Jahr Arbeit in der Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität““,<br />

Stand: 03.02.2012, abrufbar unter: https://info.<strong>zu</strong>kunftsdialog.spdfraktion.de/wp‐content/uploads/2012/02/<br />

Thesenpapier.pdf, These 11.<br />

7<br />

Kolbe, Daniela (2012): „<strong>Wohlstand</strong> jenseits des <strong>Wachstum</strong>s sichern, <strong>nicht</strong> Schrumpfung anstreben“, Stand:<br />

22.03.2012, abrufbar unter: https://info.<strong>zu</strong>kunftsdialog.spdfraktion.de/wp‐content/uploads/2012/04/120322‐<br />

B.A.U.M.‐Jahrbuch‐Daniela‐Kolbe.pdf.<br />

8<br />

vgl. Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages (2012):<br />

„Thesen nach einem Jahr Arbeit der Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität“ des<br />

Deutschen Bundestages“, Stand 07.03.2012, abrufbar unter: https://info.<strong>zu</strong>kunftsdialog.spdfraktion.de/wp‐<br />

content/uploads/2012/03/Thesenpapier‐ein‐Jahr‐Enquete‐Komission.pdf.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

die dennoch in der Diskussion tatsächlich aufgegriffen und – schlimmer noch – vertreten wird. 9 Die<br />

Gefahr ist vielmehr eine Vernachlässigung des <strong>Wachstum</strong>sziels bis <strong>zu</strong> einem Grad, der in der Tat<br />

<strong>Wohlstand</strong> für alle – und insbesondere für die Millionen Menschen, die in den Entwicklungsländern<br />

noch erst geboren werden – unmöglich <strong>macht</strong>e.<br />

Konkret schlagen wir als Weiterentwicklung des traditionellen BIP‐Indikators und in Anlehnung<br />

an den Human Development Indicator der UN daher einen Indikator vor, der sich aus insgesamt 10<br />

verschiedenen Teilbe<strong>reich</strong>en <strong>zu</strong>sammensetzt, und dessen Ausweisung sowohl als einzelnen,<br />

aggregierten ‚Leitindikator’ für die Zwecke der medialen Veröffentlichung als auch in Gestalt der<br />

einzelnen Teilindikatoren im Sinne eines ‚Übersichtstableaus‘ für wissenschaftliche Zwecke wir für<br />

sinnvoll erachten. Im Einzelnen halten wir dabei die folgenden Be<strong>reich</strong>e für notwendig:<br />

1) Verteilungsgerechtigkeit<br />

Gesellschaftlicher <strong>Wohlstand</strong> ist nach unserer Auffassung stets mehr als nur die Summe der<br />

individuellen Einzelvermögen; denn eine extreme Ungleichverteilung stiftet Un<strong>zu</strong>friedenheit <strong>nicht</strong><br />

nur mit dem wirtschaftlichen System, sondern auch dem demokratischen Gemeinwesen und<br />

schließlich und endlich mit der eigenen Lebens<strong>zu</strong>friedenheit. Wir nehmen damit <strong>nicht</strong> einen Indikator<br />

nach dem Motto: „Je näher die Verteilung einer absoluten Gleichverteilung kommt, desto besser“ ins<br />

Auge; derartige Träumerein erweisen der Sache eher einen Bärendienst. Stattdessen schlagen wir<br />

hier die Beibehaltung einer etablierten Kenngröße aus der Volkswirtschaftslehre, des Gini‐<br />

Koeffizienten, vor, der obendrein den Vorteil einfacher Verfügbarkeit besitzt.<br />

2) Bildung(sgerechtigkeit)<br />

Zu einer wohlhabenden Gesellschaft gehört auch ein gutes und gerechtes Bildungssystem.<br />

Bildung ist mehr als nur die Vorbereitung auf das spätere Arbeitsleben – Bildung ist die Zukunft der<br />

Gesellschaft. Kein anderer Parameter kann die Entwicklung einer Gesellschaft so treffend<br />

beschreiben, wie dieser Be<strong>reich</strong>. Je besser ausgebildet eine Gesellschaft ist, desto leichter kann sie<br />

auch künftige Herausforderungen angehen und ist wesentlich anpassungsfähiger.<br />

Ein qualitativ gutes Bildungssystem besteht aus einem Schulsystem, das den Heranwachsenden<br />

Zukunftsperspektiven eröffnet, sie umfassend lehrt und ihnen eine gute Grundbildung mit auf den<br />

weiteren Lebensweg gibt. Es muss weitergehend auch starke und leistungsfähige Hochschulen für<br />

höchste Bildungsabschlüsse geben. Zur Evaluierung eines qualitativ guten Bildungssystems lassen<br />

9 vgl. Enquete‐Kommission „<strong>Wachstum</strong>, <strong>Wohlstand</strong>, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages, Stand:<br />

07.03.2012 a.a.O.; Kolbe, Daniela a.a.O. sowie vor allem die Aussagen des Deutschen Naturschutzrings auf der<br />

Gründungsveranstaltung <strong>zu</strong> einem <strong>neue</strong>n wachstumskritischen Bündnis mit dem DGB; danach soll es<br />

<strong>Wachstum</strong> künftig nur noch in gewünschten Teilbe<strong>reich</strong>en geben, wie <strong>zu</strong>m Beispiel dem Ökolandbau (vgl. FAZ<br />

vom 05.06.2012, „<strong>Wachstum</strong>skritik ohne Grenzen“).<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen 5


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

sich fachliche Kompetenzen in bestimmten Fächern heranziehen. Gleichwohl lässt sich auch durch<br />

monetäre und materielle Aufwendungen, etwa den Bildungsausgaben pro Schüler oder der Anzahl<br />

von Computern pro Schüler Rückschlüsse auf die Qualität der Lehre ziehen. Eine Übersicht der<br />

einzelnen Unterpunkte findet sich unten.<br />

6<br />

Ein Bildungssystem muss daneben aber auch gerecht sein, damit die gesamte Gesellschaft daran<br />

teilhaben kann. Exzellente Hochschulen mit hochwertigen Abschlüssen, die jedoch nur den oberen<br />

Gesellschaftsschichten <strong>zu</strong>gänglich sind, leisten zwar einen Beitrag <strong>zu</strong>r Qualität des Bildungssystems,<br />

ihr Wert für ein gerechtes Bildungssystem ist aber gleich Null. Gerecht ist folglich ein Bildungssystem,<br />

wenn darin jede/r von vornherein die gleichen Chancen auf höchste Bildungsabschlüsse besitzt und<br />

dies <strong>nicht</strong> von der gesellschaftlichen Situation und dem Einkommen der Eltern abhängt. Inwiefern ein<br />

Bildungssystem gerecht ist, lässt sich somit beispielsweise in dem Verhältnis zwischen den<br />

Absolventen der höchsten Bildungsabschlüsse und denen niedrigster Bildungsabschlüsse ablesen.<br />

Ferner auch die soziale Durchmischung bei den höheren Bildungsabschlüssen oder die<br />

Abbrecherquote, die anzeigt, wie viele Menschen das System auf dem Weg verliert.<br />

Als Merkmale <strong>zu</strong>r empirischen Evaluation eines Bildungssystems sind daher folgende<br />

Indikatoren heran<strong>zu</strong>ziehen: 10<br />

Qualität des Systems<br />

Fachliche Qualität<br />

Mathematik<br />

Lesen<br />

Naturwissenschaften<br />

Informations‐ und Kommunikationstechnologie<br />

Fremdsprachen<br />

Staatsbürgerkunde<br />

Bildung/Weiterbildung von Lehrern<br />

Zahl der Schüler pro Computer<br />

Bildungsausgaben pro Schüler<br />

Gerechtigkeit des Systems<br />

Schulische Abbrecherquoten<br />

Abschluss Sekundarstufe II<br />

Teilnahme am tertiären Bildungsweg (z.B. Anteil der Teilnehmer, die tatsächlich eine höhere<br />

Qualifikation er<strong>reich</strong>en)<br />

Soziale Durchmischung bei höchster Bildung<br />

10 Vgl. http://europa.eu/legislation_summaries/education_training_youth/lifelong_learning/c11063_de.htm.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

3) Soziale Sicherung, Wohlfahrtssystem<br />

Es versteht sich (hoffentlich) von selbst, dass ein geeignetes Wohlfahrtssystem, das ein<br />

Mindestmaß an sozialer Sicherung gewährleistet, integraler Bestandteil eines Konzepts <strong>zu</strong>r<br />

<strong>Wohlstand</strong>smessung sein muss: Keine Gesellschaft kann als wohlhabend erachtet werden, die jene<br />

Gesellschaftsmitglieder, die aus welchen Gründen auch immer aus dem Marktprozess gefallen sind,<br />

einfach ihrem Schicksal überlässt. Dasselbe gilt für die Kinder in einer Gesellschaft, die vom<br />

Einkommen ihrer Eltern abhängen und damit besonders im Fokus stehen sollten: Instrumente <strong>zu</strong>r<br />

Anerkennung der Erziehungsleistung und <strong>zu</strong>r Förderung von Kindern in einer Gesellschaft wie das<br />

Kindergeld oder Kinderfreibeträge im Steuersystem sind daher ebenfalls Bestandteil unserer<br />

Messung von <strong>Wohlstand</strong>.<br />

Aber auch diejenigen, die Arbeit haben und sich innerhalb des Marktprozesses befinden,<br />

bedürfen der genaueren Betrachtung; denn Job ist <strong>nicht</strong> gleich Job. Zum <strong>Wohlstand</strong>sniveau einer<br />

Gesellschaft zählt nach unserem Verständnis natürlich auch die Qualität der Arbeit; nur, wenn diese<br />

menschenwürdig ist und ein anständiges Leben von der eigenen Hände Arbeit gewährleistet, kann sie<br />

als wohlstandsmehrend angesehen werden. Das führt <strong>zu</strong> folgenden Indikatorvorschlägen:<br />

Anteil sozialversicherungspflichtige Jobs an der Erwerbstätigkeit<br />

Kinderfreibeträge und Kindergeld<br />

Niveau der Arbeitslosenunterstüt<strong>zu</strong>ng, gemessen an einer allgemein definierten<br />

4) Glück<br />

Armutsgrenze (z.B. x% des Medianeinkommens)<br />

Neben objektiv bestimmbaren, äußerlichen Bedingungen, die den <strong>Wohlstand</strong> einer Gesellschaft<br />

an<strong>zu</strong>zeigen vermögen, ist auch ein subjektives Element <strong>nicht</strong> von der Hand <strong>zu</strong> weisen. Eine<br />

Gesellschaft kann erst dann <strong>Wohlstand</strong> für sich reklamieren, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger<br />

im wahrsten Sinne des Wortes "wohl" fühlen.<br />

Wohlbefinden in einer Gesellschaft bedeutet für die Autoren allerdings <strong>nicht</strong> nur, dass<br />

"Verwirklichungschancen" gegeben sind ‐ diese sind nach unserer Ansicht bereits in den übrigen in<br />

diesem Aufsatz hinlänglich diskutierten und ausgeführten Rubriken enthalten, so wie etwa die<br />

Verwirklichungschancen in den Be<strong>reich</strong>en der persönlichen Freiheit, der Bildung und so fort.<br />

Gleichwohl halten wir den Begriff des "Glücks" <strong>zu</strong>r Bestimmung der Zufriedenheit für<br />

missverständlich, da sich Glück vielmehr auf emotionale und persönliche Aspekte bezieht. Wir<br />

möchten daher als subjektive Messgröße <strong>zu</strong>r Bestimmung des <strong>Wohlstand</strong>es das subjektive<br />

Wohlbefinden heranziehen, mithin die allgemeine Lebens<strong>zu</strong>friedenheit. Somit muss <strong>zu</strong>m Einen <strong>zu</strong>m<br />

Ausdruck gebracht werden, wie wohl sich der Befragte in seiner gegenwärtigen Situation fühlt. Dies<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen 7


8<br />

„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

lässt sich durch den so genannten "Fragebogen <strong>zu</strong>r Lebens<strong>zu</strong>friedenheit" (FLZ) abbilden. Enthalten<br />

sind hier Fragen <strong>zu</strong> folgenden Be<strong>reich</strong>en:<br />

Arbeit und Beruf<br />

Finanzielle Lage [


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

Ausgaben der Bürger für „grüne“ Produkte, absolut oder relativ<br />

CO2‐Emissionen pro Kopf<br />

6) Gesundheit<br />

Es mutet wie eine Selbstverständlichkeit an; und doch blieb bei der bisherigen Messung des rein<br />

materiellen <strong>Wohlstand</strong>s der Aspekt der Gesundheit einer Gesellschaft vollkommen außen vor!<br />

Darum wollen wir die folgenden Indikatoren berücksichtigt wissen:<br />

Ärzte/Krankenhausbetten je 1.000 Einwohner<br />

Anteil der sportaktiven (Jugendlichen) in der Bevölkerung<br />

Anteil der Übergewichtigen in der Bevölkerung<br />

Lebenserwartung<br />

7) Beitrag unentgeltlicher Arbeit, Qualität der Arbeit und Freizeit<br />

Die Wichtigkeit einer auskömmlichen, menschenwürdigen Arbeit haben wir ja schon erwähnt (s.<br />

Punkt 3); natürlich aber definiert sich der <strong>Wohlstand</strong> einer Gesellschaft auch ganz maßgeblich über<br />

das ehrenamtliche Engagement in ihr. Daneben sind auch die individuelle Zufriedenheit mit dem Job<br />

sowie das Verhältnis von Freizeit und Arbeit insgesamt Ausdruck des <strong>Wohlstand</strong>s einer Gesellschaft;<br />

dies bedeutet als konkrete Indikatorenvorschläge:<br />

Ehrenamtliche Tätigkeiten/Bereitschaft da<strong>zu</strong>, z.B. je 1.000 Einwohner<br />

Krankheitsstände<br />

Erholungs‐ und Wasserflächen in Hektar je 1.000 Einwohner<br />

8) Mobilität<br />

Die veränderten Anforderungen an Berufstätige, welche dadurch geprägt sind, dass eine höhere<br />

Mobilitätsbereitschaft gefordert ist, so wie die metropolitanen Städteentwicklungen bedingen eine<br />

höhere Mobilität der Bürger. Diese metropolitane Stadtentwicklung der typischen europäischen<br />

Stadt, mit ihrer verdichteten, binnendifferenzierten und zentripedalen Struktur mit<br />

Zentrumsstrukturen 14 setzt für das alltägliche Leben einen Mindestgrad der Mobilität voraus. Diese<br />

Mobilität wiederum wird beispielsweise durch einen entwickelten öffentlichen Personennahverkehr<br />

und eine gute Infrastruktur <strong>zu</strong>r Ermöglichung eines <strong>zu</strong>friedenstellenden Straßenverkehrs ermöglicht.<br />

Mögliche Indikatoren <strong>zu</strong>r Messung der Mobilitätslage einer Gesellschaft sind:<br />

14 Vgl. http://www.uni‐kassel.de/fb5/kigg/dateien/Kapitel‐2.pdf, S. 1.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen 9


10<br />

„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

Angebotene Personenkilometer im ÖPNV je 1.000 Einwohner<br />

Straßen‐/Schienenkilometer je 1.000 Einwohner<br />

Flugverbindungen je 1.000 Einwohner<br />

9) Persönliche Freiheiten: Religionsausübung, Meinungsfreiheit etc.<br />

Noch so großer materieller <strong>Wohlstand</strong>, aber auch gute Mobilität oder gute Gesundheit sind aus<br />

Sicht der Autoren nur wenig wert, wenn man <strong>nicht</strong> die Freiheit hat, damit im Rahmen einer<br />

verfassten Gesellschaft tun und lassen <strong>zu</strong> können, was einem beliebt – und insbesondere glauben<br />

und aussprechen <strong>zu</strong> dürfen, was man will. Unter diese persönlichen Freiheiten rechnen wir also die<br />

Meinungs‐ und Glaubensfreiheit, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit und so fort.<br />

Tatsächlich gibt es <strong>zu</strong> diesem Aspekt bereits einen aggregierten Index, der die genannten Be<strong>reich</strong>e<br />

umfasst und bewertet: den Freedom‐Index 15 der US‐amerikanischen Nichtregierungsorganisation<br />

Freedom House, den wir für die Zwecke des hier vorgestellten <strong>Wohlstand</strong>sindikators für sehr<br />

geeignet halten und ohne Abänderung einbeziehen.<br />

10) Materieller <strong>Wohlstand</strong><br />

Auch wenn das Ziel die Überwindung eines rein materiellen Konzepts der <strong>Wohlstand</strong>smessung<br />

ist: Eine <strong>Wohlstand</strong>smessung ohne jede Berücksichtigung der materiellen Ressourcen wäre natürlich<br />

Unsinn (und zwar unabhängig von der Organisationsform der Wirtschaft; diese Randbemerkung<br />

erscheint uns wichtig). Sowohl das klassisches BIP‐Konzept als auch der <strong>neue</strong> Inclusive Wealth Index<br />

der UN 16 sollten hier berücksichtigt werden, letzterer wg. seiner Berücksichtigung des <strong>Wohlstand</strong>s<br />

aus unberührter Natur in einer Gesellschaft, beide aber ergänzt um einen Fokus auf Investitionen<br />

und F&E‐Aufwendungen. Was die konkrete Messung anlangt, plädieren wir allerdings klar gegen die<br />

Mehrheitsmeinung und für einen Maßstab in US‐Dollar <strong>zu</strong> jeweiligen Marktpreisen – denn gerade<br />

auch die Veränderungen eines Wechselkurses beeinflussen nun mal faktisch das <strong>Wohlstand</strong>sniveau<br />

eines Landes im internationalen Kontext! Dieser Kontrast <strong>zu</strong>m Human Development Index der UN ist<br />

uns wichtig, denn aus unserer Sicht führt das Konzept der Kaufkraftparitäten in die Irre: In einer<br />

globalen Welt ist ein <strong>Wohlstand</strong>smaßstab immer absolut und <strong>nicht</strong> relativ; es wäre daher unredlich,<br />

beispielsweise einem indischen Bauern denselben „<strong>Wohlstand</strong>“ wie einem amerikanischen<br />

Geringverdiener <strong>zu</strong> bescheinigen, indem man die schwache Währung des indischen Bauern relativ<br />

„schön“ rechnet – denn im globalen Maßstab ist und bleibt er insgesamt „ärmer“ als der<br />

amerikanische Geringverdiener.<br />

15 Zu finden unter: http://www.freedomhouse.org.<br />

16 Vgl. The Economist (2012): „Buy me a river“, abrufbar unter: http://www.economist.com/blogs/<br />

graphicdetail/2012/06/daily‐chart‐10.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

2 Neue <strong>Wohlstand</strong>smessung & ihre nationale Anwendung<br />

Zur Untauglichkeit des traditionellen BIP‐Konzeptes<br />

Das hergebrachte Konzept, <strong>Wohlstand</strong> nur anhand des BIP pro Kopf <strong>zu</strong> messen, ist aus vielerlei<br />

Gründen unbefriedigend, von denen hier die wichtigsten <strong>zu</strong>r Abgren<strong>zu</strong>ng unseren eigenen<br />

Vorschlägen gegenüber noch mal genannt werden sollen. Da das BIP ausschließlich Leistungen<br />

erfasst, die am Markt erbracht und bepreist werden, lässt es somit sämtliche marktfernen Prozesse<br />

außer Acht: Ehrenamtliche Tätigkeiten, elterliche Erziehungs‐ und Haushaltsführungsleistungen,<br />

externe Schäden/Nutzen Dritter aus Marktbeziehungen.<br />

Im Be<strong>reich</strong> der Sozialen Sicherung folgt daraus vor allem die Konsequenz, dass jahrzehntelange<br />

Arbeit im ehrenamtlichen und familiären Be<strong>reich</strong> keinerlei Berücksichtigung in der Berechnung der<br />

Altersversorgungsansprüche, und eine viel <strong>zu</strong> geringe bei der Berechnung von Kinderfreibeträgen<br />

und des Kindergeldes findet! Es folgt aber auch die Konsequenz, dass externe, eigentlich immer<br />

soziale Kosten in Form vor allem von Umweltschäden <strong>nicht</strong> berücksichtigt werden, obwohl sie der<br />

Gesellschaft erhebliche, wohlfahrtsmindernde Belastungen verursachen.<br />

Ebenso bisher unberücksichtigt in <strong>Wohlstand</strong>smessungen ist das Bildungssystem der<br />

untersuchten Gesellschaft. Die oben vorgeschlagenen Indikatoren dienen nach Ansicht der Autoren<br />

einer aus<strong>reich</strong>enden Analyse eines Bildungssystems, sind aber <strong>nicht</strong> zwangsläufig eine abschließende<br />

Aufzählung sondern können fortgeführt werden.<br />

Warum aber das Bildungssystem in die <strong>Wohlstand</strong>smessung einbeziehen? Schließlich könnte<br />

man ins Feld führen, dass die Bildung rein wirtschaftlich kaum <strong>zu</strong> Buche schlägt.<br />

Eben doch! Eine bessere Bildung verschafft dem Einzelnen bessere Verdienstmöglichkeiten und<br />

ermöglicht der Gesellschaft, sich einfacher auf kommende Herausforderungen ein<strong>zu</strong>stellen.<br />

Außerdem belasten diejenigen, die eben <strong>nicht</strong> durch das System fallen den Staat nachweislich<br />

weniger. Bildung schlägt also mittel‐ bis langfristig durchaus auch auf harte wirtschaftliche<br />

Indikatoren durch. Die Qualität eines Bildungssystems kann also auch Aufschluss über die <strong>zu</strong>künftige<br />

Entwicklung einer Gesellschaft geben.<br />

Nach Ansicht der Autoren genügt es allerdings <strong>nicht</strong>, das Bildungssystem nur nach der Qualität<br />

<strong>zu</strong> beurteilen. Wie oben dargelegt, müssen alle Mitglieder der Gesellschaft die Möglichkeit <strong>zu</strong>r<br />

Teilhabe daran haben. Das System muss also gerecht sein ‐ ein Bildungssystem, das qualitativ<br />

hochwertig, aber einseitig Eliten schult wäre nach unserem Modell beispielsweise mit einem eher<br />

negativen Urteil versehen. Obwohl die "Gerechtigkeit" eines Systems erfahrungsgemäß schwierig <strong>zu</strong><br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen 11


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

messen ist, sind oben durchaus erhebbare Daten als Grundlage für eine Bewertung der Gerechtigkeit<br />

vorgeschlagen worden.<br />

12<br />

Weiterhin bleibt der Aspekt des "Glücks", den die Autoren allerdings lieber unter dem Stichwort<br />

"subjektives Wohlbefinden" gewürdigt sehen, beim BIP‐Konzept komplett außer Acht: Nach dessen<br />

Kriterien währe eine Gesellschaft, die auf einem Berg materiellen <strong>Wohlstand</strong>s sitzt und dennoch –<br />

<strong>zu</strong>m Beispiel wegen eines verkümmerten sozialen Zusammenhalts o.ä. – kreu<strong>zu</strong>nglücklich ist,<br />

wohlhabend.<br />

Im Be<strong>reich</strong> der ökologischen Nachhaltigkeit erscheint einem das BIP‐Konzept als völlig<br />

un<strong>zu</strong><strong>reich</strong>end, da gerade Bemühungen <strong>zu</strong>r Nachhaltigkeit im Hinblick auf das <strong>Wachstum</strong> des BIP<br />

negative Auswirkungen haben können. Beispielsweise kann eine umweltschädliche, aber äußerst<br />

lukrative Produktion durch Umweltauflagen gebremst und somit das <strong>Wachstum</strong> des BIP verlangsamt<br />

werden. Natürlich aber ist die Relevanz der ökologischen Nachhaltigkeit für eine Gesellschaft <strong>nicht</strong><br />

von der Hand <strong>zu</strong> weisen: Allein der Begriff ,,<strong>Wohlstand</strong>“ impliziert, dass sich die Individuen wohl<br />

fühlen (s. Punkt 4). Dies wird u. a. maßgeblich durch das ökologische Umfeld in dem sie sich<br />

befinden, bestimmt. Da dies durch das BIP‐Konzept aber keinerlei Beachtung findet, sondern u. U.<br />

Sogar eher hinderlich für das BIP‐Konzept ist, ist das BIP nach der Meinung der Autoren auch in<br />

diesem Be<strong>reich</strong> kein adäquater <strong>Wohlstand</strong>skoeffizient.<br />

Auf den Aspekt der Mobilität in einer Gesellschaft geht das bisherige BIP‐Konzept auch <strong>nicht</strong><br />

weiter ein. Zwar werden beispielsweise Absätze des Automobilsektors, jedoch weder anderweitige<br />

Mobilitätsbedingungen noch ‐möglichkeiten erfasst oder gar bewertet.<br />

Im Be<strong>reich</strong> der Messung von Gesundheit und Lebensqualität hat das BIP‐Konzept beinahe nur<br />

perverse Effekte <strong>zu</strong>r Folge: Bereits grundlegend ist es schließlich so, dass die Versorgung von Kranken<br />

zwar ein gesellschaftlicher Fortschritt ist – aber die vorausgehende Verlet<strong>zu</strong>ng oder Erkrankung für<br />

sich selbst genommen <strong>nicht</strong> wirklich „<strong>Wohlstand</strong>“. Jeder Knochenbruch, jede alkoholbedingte<br />

Leberschädigung, jede Raucherlunge, die behandelt werden, steigern das BIP – und damit nach<br />

bisheriger Definition den <strong>Wohlstand</strong>.<br />

Aber auch auf der Marktseite sieht das <strong>nicht</strong> besser aus: Die Herstellung und der Verkauf von<br />

Alkohol, Zigaretten und Waffen (!), all das steigert das BIP, wohl kaum aber den <strong>Wohlstand</strong> im<br />

Be<strong>reich</strong> der Gesundheitsversorgung! Eben gerade die aus dem BIP‐Konzept folgende<br />

Vermarktlichung des Gesundheitssektors hat da<strong>zu</strong> geführt, dass in unseren Krankenhäusern<br />

heut<strong>zu</strong>tage betriebswirtschaftliche Maßstäbe den Ton angeben; absurd! Unser Vorschlag würde<br />

dagegen <strong>zu</strong> einem Trade‐off zwischen einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung einerseits und<br />

Aspekten der betriebswirtschaftlichen Effizienz andererseits führen.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

Im Be<strong>reich</strong> der Work/Life‐Balance und der Bepreisung von Freizeit versagt das BIP nahe<strong>zu</strong> völlig:<br />

Gezählt wird hier wiederum nur, was unmittelbar am Markt gehandelt wird. Mit anderen Worten:<br />

Die Eintrittskarte in den Vergnügungspark wird gezählt, <strong>nicht</strong> aber der Besuch des kostenfreien<br />

Stadtparks. Die Kinokarte wird gerechnet, <strong>nicht</strong> aber der Wert unversehrter Natur als<br />

Naherholungsgebiet. Und Freizeit ist bestenfalls ambivalent: ‚Wertvoll’ für das BIP ist sie nur solange,<br />

wie sie den Marktprozess im Gang hält; ansonsten verursacht sie <strong>nicht</strong>s weiter als<br />

‚Produktionsausfälle’.<br />

Im Be<strong>reich</strong> der persönlichen Freiheiten hört das BIP‐Konzept endgültig auf, irgendeine<br />

Bedeutung <strong>zu</strong> haben: Der hohe Wert politischer und religiöser Freiheit sowie der Freiheit der<br />

Meinung werden im BIP <strong>nicht</strong> erfasst; eine totalitäre Diktatur kann danach genauso ‚wohlhabend’<br />

sein wie eine liberale Demokratie.<br />

Anwendung unseres Konzepts in der Wirtschafts‐ und Sozialpolitik<br />

Regionale Förderung und föderale Ausgleichsmechanismen<br />

Die Anwendung des von uns vorgeschlagenen <strong>Wohlstand</strong>sindikators im Be<strong>reich</strong> der regionalen<br />

Förderung, konkret: des deutschen föderalen Ausgleichsystems <strong>zu</strong>r Anpassung der<br />

Lebensbedingungen hätte natürlich weit<strong>reich</strong>ende Konsequenzen. Denn bedürftig wären danach<br />

<strong>nicht</strong> in erster Linie Regionen mit einem vergleichsweise niedrigen Durchschnittseinkommen pro<br />

Kopf, sondern vor allem jene mit einer schlechten Bildungsqualität, mit unterdurchschnittlichen<br />

Werten in der individuellen Glückseinschät<strong>zu</strong>ng, mit unterdurchschnittlichem ehrenamtlichen<br />

Engagement usf. Welche Gewichtung den einzelnen Komponenten dabei bei<strong>zu</strong>messen wäre, steht<br />

auf einem anderen Blatt; wir haben da<strong>zu</strong> oben ja bereits einen Vorschlag unterbreitet.<br />

Der bisher völlig vernachlässigte Aspekt der Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger in den<br />

verschiedenen Regionen Deutschlands hätte enorme Auswirkungen auf die Angleichung der<br />

Lebensverhältnisse innerhalb der Republik und die dafür <strong>zu</strong> ergreifenden Maßnahmen. Denn eine<br />

Gesellschaft ist nur dann vollständig wohlhabend, wenn die Mitglieder der Gesellschaft selbst ein<br />

positives subjektives Wohlbefinden besitzen. Diese Zufriedenheit sollte sich auf alle Aspekte des<br />

<strong>Wohlstand</strong>es (somit beispielsweise auch Zufriedenheit mit dem Bildungssystem, dem<br />

Gesundheitssystem, den Freiheiten usf.) beziehen sowie darüber hinaus noch persönliche Aspekte<br />

<strong>zu</strong>r Lebens<strong>zu</strong>friedenheit enthalten ‐ denn auch darin spiegelt sich indirekt die Gesellschaft wieder.<br />

Zufriedenheit er<strong>reich</strong>t man <strong>nicht</strong> als Einsiedler ohne Anschluss an die Gesellschaft.<br />

Um die Vernet<strong>zu</strong>ng von Menschen sowie die logistischen Grundbedingungen der Wirtschaft <strong>zu</strong><br />

ermöglichen, ist es wichtig, dass auch die regionalen Bedingungen für Mobilität aus<strong>reich</strong>end sind. Ob<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen 13


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

es sich nun beispielsweise um durch den ÖPVN gegebene Möglichkeiten <strong>zu</strong>m Besuch von Freunden<br />

oder Verwandten, oder die reibungslose Versorgung mit Konsumgütern oder Erzeugnissen aus der<br />

Region handelt: Dies alles spielt eine Rolle für den <strong>Wohlstand</strong> einer Region und ihrer Menschen.<br />

Denn <strong>Wohlstand</strong> bedingt auch Freiheit, wie wir bereits an anderer Stelle betont haben, und Freiheit<br />

beinhaltet unter anderem auch, sich frei bewegen <strong>zu</strong> können.<br />

14<br />

Verteilungsschlüssel in der Sozialhilfe, Bildungspolitik etc.<br />

Eine konsequente Anwendung des von uns vorgeschlagenen <strong>Wohlstand</strong>sindikators und hier<br />

speziell der Messung von ehrenamtlicher und familiärer Arbeit hätte ganz konkret <strong>zu</strong>r Folge, dass<br />

diese gesellschaftlich so wichtigen Tätigkeiten Berücksichtigung bei der Berechnung der<br />

Altersversorgung fänden; ebenso würde die Erziehungsarbeit massiv aufgewertet in Be<strong>zu</strong>g auf<br />

staatliche Unterstüt<strong>zu</strong>ngsleistungen wie Kindergeld etc. In Be<strong>zu</strong>g auf die Gesundheitspolitik ist es<br />

<strong>nicht</strong> übertrieben <strong>zu</strong> sagen, dass diese von Grund auf umgekrempelt würde: Eine Vollerfassung von<br />

Unfällen und selbst durch Konsum beigebrachten Gesundheitsschäden, aber auch der Produktion<br />

und Vermarktung von Drogen und Waffen als Wohlfahrtsminderung hätte <strong>zu</strong>m Einen <strong>zu</strong>r Folge, dass<br />

ein noch viel größeres Gewicht als bisher auf die Prävention anstatt auf die Behandlung gelegt<br />

werden würde. Und: Alkohol‐, Tabak‐ und Waffenkonzerne müssten sich mit einer Sondersteuer <strong>zu</strong>r<br />

Finanzierung ihrer externen Effekte abfinden, ein Vorschlag, der ökonomisch ohnehin entweder<br />

bereits in Teilen umgesetzt ist oder sonst längst klar auf der Hand liegt.<br />

Im Be<strong>reich</strong> der Bildung würde eine Anwendung unseres <strong>Wohlstand</strong>sindikators durchaus <strong>zu</strong> einer<br />

Veränderung der Bewertung vieler Regionen beitragen, die bisher durch die ausschließliche<br />

Anwendung der reinen Wirtschaftskraft benachteiligt waren. Regional betrachtet sind die<br />

Bildungssysteme in ihrem Aufbau und ihrer Qualität durch das föderale Bildungssystem Deutschlands<br />

sehr heterogen. Bundesländer wie Sachsen oder Thüringen, sowie die Südländer Bayern und Baden‐<br />

Württemberg nehmen bei Erhebungen <strong>zu</strong>r Bildung regelmäßig Spitzenpositionen ein, wohingegen<br />

Länder wie Hamburg, Bremen oder Mecklenburg‐Vorpommern die Schlusslichter eines<br />

Bildungsrankings sind (z.B. aus Pisa‐Studie).<br />

Interessanterweise würde eine Einbeziehung des Bildungsaspektes durchaus den Osten<br />

Deutschlands in einem <strong>Wohlstand</strong>sranking nach vorne bringen. Dort sind zwar teilweise<br />

strukturschwache Regionen, durch gute Bildung würden diese aber aufgewertet, ein Minus an<br />

Wirtschaftskraft also durch ein Plus an Bildung ausgeglichen.<br />

Große Gewinner eines <strong>Wohlstand</strong>srankings bei Inkludierung der Bildungsindikatoren wären<br />

aber zweifelsfrei die Südländer Baden‐Württemberg und allen voran Bayern. Dort ist <strong>nicht</strong> nur ein<br />

starkes Bildungssystem vorhanden, sondern auch harte wirtschaftliche Zahlen lassen diese Länder<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

gut dastehen. Lediglich die Gerechtigkeit im bayrischen Bildungssystem könnte diese Bewertung<br />

unter Umständen schmälern.<br />

Aber auch die Bereitstellung öffentlichen Erholungsraumes würde eine enorme Aufwertung<br />

erfahren: Vor dem Hintergrund allgemeiner Kür<strong>zu</strong>ngen in kommunalen Budgets für die<br />

Grünflächenerhaltung eine <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong> unterschätzende Auswirkung. Kein Stadtrat könnte mehr so<br />

ohne Weiteres die Beinahe‐Aufgabe der Grünflächenpflege beschließen, wenn er sich daraufhin den<br />

Vorwurf gefallen lassen müsste, den lokalen <strong>Wohlstand</strong> damit massiv <strong>zu</strong> senken!<br />

3 Neue <strong>Wohlstand</strong>smessung & ihre internationale Anwendung<br />

Die Messung von <strong>Wohlstand</strong>sniveaus im internationalen Kontext würde – das kann wohl ohne<br />

Übertreibung gesagt werden – durch unseren Vorschlag vielfach auf den Kopf gestellt. Allein im<br />

Be<strong>reich</strong> der sozialen Sicherung und der gerechten Einkommensverteilung führte unser Indikator <strong>zu</strong><br />

einer deutlichen Veränderung bestehender Bewertungsrankings. So würden beispielsweise die USA<br />

mit ihrem enormen materiellen <strong>Wohlstand</strong> dennoch bestenfalls eine mittelmäßige Gesamt‐<br />

<strong>Wohlstand</strong>sbewertung nach unserem Konzept erhalten, angesichts der frappanten und in den<br />

vergangenen Jahren noch gestiegenen Ungleichverteilung in diesem Land. Dagegen würde absolut<br />

relativ ärmere Länder, die allerdings eine <strong>nicht</strong> ganz so krasse Ungleichverteilung aufweisen, in<br />

diesem Be<strong>reich</strong> eine Aufwertung erfahren.<br />

Auch und vor allem unter Berücksichtigung der von uns vorgeschlagenen Bildungsindikatoren<br />

würde sich sodann das bisher manifestierte Weltbild der großen Wirtschaftsmächte als die einzig<br />

wahren <strong>Wohlstand</strong>sgesellschaften grundsätzlich ändern. Je nach Gewichtung des Bildungsaspektes<br />

könnten hier volkswirtschaftliche "Zwerge" an den großen Wirtschaftsnationen vorbeiziehen.<br />

Beispielsweise würde eine der größten Volkswirtschaften der Erde, die USA, im Be<strong>reich</strong> der Bildung<br />

<strong>nicht</strong> unbedingt die Bestnoten bekommen. Schließlich ist hier zwar ein ausgebautes Schuldsystem<br />

vorhanden, bei der für die Bewertung eines Bildungssystems nach obiger Darstellung ebenso nötigen<br />

Gerechtigkeit sähe das System allerdings vor allem in Be<strong>zu</strong>g auf die vielen elitären Hochschulen und<br />

die schwierigen Zugangsvorausset<strong>zu</strong>ngen (hohe Studiengebühren) sowie die starke Abhängigkeit des<br />

erzielten Abschlusses von dem monetären Einsatz der Eltern insgesamt <strong>nicht</strong> gut aus.<br />

Hier wären beispielsweise skandinavische Gesellschaften stärker ein<strong>zu</strong>schätzen, die mit<br />

alternativen Schulmodellen sowie einer komplett anderen Wertschät<strong>zu</strong>ng von höchsten<br />

Bildungsabschlüssen (bspw. Bildungsgeld für Studenten) wesentlich gerechter abschneiden.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen 15


16<br />

„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

Wie ein Ranking diesbezüglich aussehen würde, darf offengelassen werden, da eine konkrete<br />

Bewertung von Ländern <strong>nicht</strong> Ziel dieses Aufsatzes ist.<br />

International ebenso interessant dürfte sich der Indikator des subjektiven Wohlbefindens<br />

auswirken. Dies würde insbesondere autoritäre Systeme abwerten ‐ vorausgesetzt, der Einzelne ist<br />

mit den Zuständen <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong>frieden. Je nach der Zufriedenheit der Bürger könnte beispielsweise China<br />

durch diesen Indikator einen ‚<strong>Wohlstand</strong>s’‐Dämpfer erhalten. Natürlich aber kann ein<br />

Zufriedenheitsindikator auch schwächelnde Volkswirtschaften noch <strong>zu</strong>sätzlich abwerten, wenn<br />

beispielsweise die Lebensqualität sinkt. Solche doppelten Effekte lassen sich allerdings <strong>nicht</strong> vollends<br />

vermeiden, werden aber durch die Art der Zufriedenheitsbestimmung und der verwendeten Fragen<br />

eingeschränkt.<br />

Gerade im Hinblick auf den erhöhten Wettbewerbsdruck durch die Globalisierung sehen sich<br />

Produzenten gezwungen, möglichst effizient <strong>zu</strong> produzieren. Dies hat <strong>zu</strong>r Folge, dass ökologisch<br />

verträgliche Produktion <strong>zu</strong> einem behindernden Faktor wird, da entsprechende Auflagen die<br />

internationale Wettbewerbsfähigkeit mindern. Hier ist <strong>zu</strong>sätzlich <strong>zu</strong> erwähnen, dass der vorgestellt<br />

Indikator, CO2‐Emissionen pro Kopf im internationalen Blick, <strong>nicht</strong> nur territorial, sondern auch auf<br />

den Endverbraucher bezogen aufgefasst werden kann. 17 Dies hat als Hintergrund die Überlegung,<br />

dass auf lange Sicht CO2‐Emissionen an einem Ort der Welt <strong>nicht</strong> abgetrennt betrachtet werden<br />

können. Beispielsweise betreffen erhöhte CO2‐Emissionen in China einen Mensch in Europa auf<br />

lange Sicht im gleichen Maße wie einen Menschen vor Ort in China.<br />

Gerade in unserer heutigen, globalisierten Welt ist es daneben von enormer Bedeutung für das<br />

persönliche Wohlbefinden, dass auch internationale Mobilitätsmöglichkeiten gegeben sind. Gerade<br />

der gestiegene Selbstverwirklichungstrieb, welcher <strong>zu</strong>r Folge hat, dass ‚man’ die Welt erkunden<br />

möchte, <strong>macht</strong> gute internationale Mobilitätsbedingungen erforderlich. Die Bedeutung von<br />

Flugknotenpunkten ist jedoch ebenso für die Wirtschaft von enormer Bedeutung. Hierbei sind<br />

sowohl logistische Aspekte wie auch personelle Beförderungsmöglichkeiten von Bedeutung. Das BIP<br />

versagt hier also erneut als angemessener <strong>Wohlstand</strong>sindikator, da die Möglichkeiten als solche <strong>nicht</strong><br />

erfasst werden.<br />

Im Be<strong>reich</strong> der individuellen Freiheiten ist die Un<strong>zu</strong>länglichkeit des hergebrachten BIP‐Konzepts<br />

als <strong>Wohlstand</strong>smaßstab seit jeher Gegenstand der Diskussion, und hat sogar einen Niederschlag in<br />

Thesen <strong>zu</strong>r kausalen Verknüpfung von politischen und wirtschaftlichen Systemen nach dem Schema<br />

gefunden: Erst kommt der materielle <strong>Wohlstand</strong>, dann die politische Entwicklung. Würde eine solche<br />

17 In den Maßstäben der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgedrückt könnte man hier auch von der<br />

Unterscheidung zwischen „Inlandskonzept“ (also Messung der CO2‐Emissionen in den Grenzen eines Landes)<br />

und „Inländerkonzept“ (also Messung der unmittelbaren und mittelbaren CO2‐Emissionen pro Kopf der<br />

Bevölkerung eines Landes) sprechen.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

Feststellung gelten, wäre das natürlich enorm komfortabel, und tatsächlich zielt darauf die<br />

Argumentation der marktwirtschaftlich orientierten Lesart von Außenpolitik ab: Man sorge nur für<br />

eine gesunde Volkswirtschaft, dann kommt die politische Evolution in Richtung auf eine liberale<br />

Demokratie irgendwann von ganz <strong>allein</strong>. Doch einmal abgesehen davon, dass die <strong>zu</strong>gehörigen<br />

Entwicklungszeiträume mitunter <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong> tolerieren sind (wie lange soll sich etwa die chinesische<br />

Bevölkerung noch mit dem politischen status quo ‚arrangieren’?), ein solcher Zusammenhang ist<br />

auch sachlich falsch. Zwar profitiert eine marktwirtschaftliche Ordnung einerseits von einem<br />

möglichst wenig korrupten Staatswesen und einer verlässlichen Justiz, die wiederum andererseits<br />

automatisch auch bürgerliche Freiheiten schützen – aber eine marktwirtschaftliche Ordnung bringt<br />

diese zivilisatorischen Fortschritt <strong>nicht</strong> notwendig hervor, und sie funktioniert auch ohne diese<br />

begünstigenden Faktoren. 18 Dann aber sind weder das BIP noch sein <strong>Wachstum</strong> verlässliche<br />

Indikatoren von <strong>Wohlstand</strong> im Sinne bürgerlicher Freiheit und Selbstbestimmung – und was ist<br />

materieller <strong>Wohlstand</strong> ohne diese wert? Nichts, wie wir bereits im 1. Abschnitt verschiedentlich<br />

ausgeführt haben.<br />

Die von uns vorgeschlagene Einbindung eines Freiheitsindikators wie der von Freedom House<br />

zielt genau auf diese Problematik; denn <strong>zu</strong> einem breit gefassten Begriff von <strong>Wohlstand</strong> einer<br />

Gesellschaft muss zwingend ihre Entwicklung hinsichtlich der individuellen, freien Verfügbarkeit<br />

materieller und immaterieller Ressourcen wie vor allem Bildung gerechnet werden: Eine noch so<br />

perfekte Ausbildung ist nach unserem Vorschlag nur wenig wohlfahrtssteigernd, wenn sie<br />

anschließend in einem autokratischen oder totalitären System entwertet wird.<br />

4 Schlussbemerkung<br />

Die Untauglichkeit des traditionellen BIP‐Konzeptes, belastbare Aussagen <strong>zu</strong>m<br />

<strong>Wohlstand</strong>sniveau einer Region, einer Gesellschaft oder eines Landes <strong>zu</strong> machen, ist sicherlich <strong>nicht</strong><br />

neu und wird längst breit diskutiert. Doch stehen wir in der öffentlichen Diskussion damit nun vor der<br />

Herausforderung, konkret <strong>zu</strong> benennen, welche Indikatoren für uns eigentlich <strong>Wohlstand</strong><br />

ausmachen, und wie wir sie gewichten wollen.<br />

Die Autoren wollen mit dieser Denkschrift einen Beitrag und <strong>zu</strong>gleich einen Anstoß leisten,<br />

endlich konkret <strong>zu</strong> werden: <strong>Wohlstand</strong> ist mehr als die Summe erwirtschafteter Dollar oder Euro,<br />

18 Wir setzen an dieser Stelle wirtschaftliches <strong>Wachstum</strong> mit einer markwirtschaftlichen Ordnung gleich, weil<br />

wir der Überzeugung sind, dass die Geschichte die Un<strong>zu</strong>länglichkeit grundlegend anderer wirtschaftlicher<br />

Organisationsformen – insbesondere des Kommunismus in seiner volkswirtschaftlichen Interpretation –<br />

hin<strong>reich</strong>end bewiesen hat.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen 17


„<strong>Geld</strong> <strong>allein</strong> <strong>macht</strong> <strong>nicht</strong> <strong>reich</strong>“ – <strong>neue</strong> <strong>Wege</strong> <strong>zu</strong> <strong>Wachstum</strong> & <strong>Wohlstand</strong><br />

soweit, so gut. Aber dass diese Feststellung auf un<strong>zu</strong>lässige Weise – unter der fehlleitenden und<br />

sinnentstellenden Überschrift „Postwachstumsökonomie“ – mit der Ausrufung einer Epoche ‚nach<br />

dem Wirtschaftswachstum’ verbunden wird, können wir <strong>nicht</strong> akzeptieren: Wirtschaftswachstum an<br />

sich – vor dem Hintergrund des nie versiegenden Quells menschlichen Erfindungs<strong>reich</strong>tums, den<br />

daraus folgenden technologischen Neuerungen und vor allem angesichts der Herausforderungen in<br />

Be<strong>zu</strong>g auf <strong>neue</strong>, ressourcenschonende Produktions‐ und Lebensweisen – für tot <strong>zu</strong> erklären, ist<br />

volkswirtschaftlicher Unsinn! Der Knackpunkt ist: Welchen Maßstab wollen wir an welchen Beitrag <strong>zu</strong><br />

diesem Wirtschaftswachstum legen, um ihn als <strong>Wohlstand</strong> an<strong>zu</strong>sehen – <strong>nicht</strong> <strong>zu</strong>letzt, um dadurch<br />

auch die Art und Weise des <strong>Wachstum</strong>s politisch <strong>zu</strong> lenken?!<br />

18<br />

Unseren Standpunkt haben wir hin<strong>reich</strong>end deutlich ge<strong>macht</strong>: Insbesondere die Aspekte einer<br />

halbwegs gerechten, den sozialen Frieden wahrenden Verteilung, eines gerechten und<br />

leistungsfähigen Bildungssystems, eines ökologisch nachhaltigen Wirtschaftsprinzips und einer<br />

gesunden und <strong>zu</strong>friedenen Gesellschaft müssen <strong>zu</strong>künftig mehr Beachtung bei der Messung unseres<br />

<strong>Wohlstand</strong>s finden. Wir haben einen ersten Aufschlag da<strong>zu</strong> ge<strong>macht</strong> – nun sind wir auf die Beiträge<br />

anderer Autoren gespannt.<br />

Alexander Hobusch, Daniel Todorović und Jakob Steffen

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