Der nüchterne Patient - Fortbildung - UniversitätsSpital Zürich
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PRAXIS Praxis 2011; 100 (11): 631–638 631<br />
<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong><br />
Alltag im Spital: Nichts zu essen und zu trinken – die Frage aber lautet: für wie lange?<br />
Nüchternheit – das 19. Jahrhundert<br />
<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong> wurde zuerst 1858 als konzeptuell wichtig<br />
erachtet, als Snow et al. feststellten, dass eine Äther-Narkose<br />
bei vollem Magen zu Erbrechen führen konnte, was als unangenehm,<br />
aber ungefährlich interpretiert wurde. Erst der Fallbericht<br />
eines britischen Soldaten, der bei Behandlung einer<br />
Schusswunde im Bein an einer perioperativen Aspiration verstarb,<br />
sorgte für eine Sensibilisierung bezüglich einer Aspirationsprophylaxe.<br />
Die ersten praktikablen Empfehlungen wurden auf Basis<br />
persönlicher Erfahrungen 1883 vom britischen Chirurgen Lord<br />
online-CME der PRAXIS ist gemäss <strong>Fortbildung</strong>sprogramm der<br />
Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM)<br />
als strukturierte und nachweisbare <strong>Fortbildung</strong> anrechenbar.<br />
Die <strong>Fortbildung</strong> entspricht einem geschätzten Arbeitsaufwand<br />
von einer Stunde pro <strong>Fortbildung</strong>sbeitrag und wird somit mit<br />
1 Credit bewertet. SGAM-Mitglieder können online-CME der<br />
PRAXIS auf dem Selbstdeklarationsprotokoll notieren.<br />
Die Schweizerische Gesellschaft für Innere Medizin (SGIM)<br />
vergibt im Rahmen der nachzuweisenden <strong>Fortbildung</strong> Innere<br />
Medizin pro online-CME der PRAXIS 1 Credit.<br />
Joseph Lister formuliert: «While it is desirable that there should<br />
be no solid matter in the stomach when chloroform is administered,<br />
it will be found very salutary to give a cup of tea or<br />
beef-tea about two hours previously» (Lister 1883). Er führte als<br />
Erster die Unterscheidung der Nahrungsmittel in fest und<br />
flüssig ein, was von den meisten Textbüchern bis Mitte der<br />
1960er Jahre in diesem Wortlaut übernommen wurde.<br />
Nil per os (NPO) – das zwanzigste Jahrhundert<br />
In den 1960er Jahren kam es dann zu einer Ausbreitung der<br />
nil-per-os-Regel (NPO) mit Nüchternheit ab Mitternacht des<br />
Vorabends und die Unterscheidung zwischen flüssiger und<br />
fester Nahrung im prä-interventionellen Rahmen wurde aufgehoben.<br />
Entscheidend waren hier unkontrollierte Tierversuche,<br />
in denen vergleichsweise grosse Mengen azider Flüssigkeiten<br />
intrabronchial appliziert wurden, welche nach heutigem wissenschaftlichem<br />
Standard keine Übertragbarkeit auf den<br />
Menschen erlauben. Dennoch fanden die in diesen Versuchen<br />
induzierten Pneumonitiden weithin Beachtung und unterstrichen<br />
die undifferenzierte NPO-Regel. Es stellte sich als organisatorisch<br />
praktikabel heraus, <strong>Patient</strong>en ab dem Vorabend<br />
einer Intervention nüchtern zu lassen, da keine spezifischen<br />
Nahrungs- oder Medikamenten-Verordnungen an die betreuenden<br />
Ärzte und Pflegefachkräfte ausgegeben werden mussten<br />
und sich zudem Probleme in der Terminplanung der Operationssäle/Interventionsräume<br />
einfacher ausgleichen liessen.<br />
«While it is desirable that there should be no solid matter in the stomach when<br />
chloroform is administered, it will be found very salutary to give a cup of tea or<br />
beef-tea about two hours previously» Joseph Lister, 1883<br />
© 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern DOI 10.1024/1661-8157/a000553
PRAXIS Continuing Medical Education Praxis 2011; 100 (11): 631–638 632<br />
<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong><br />
Forschung und neue, evidenz-basierte Richtlinien – ab 1980<br />
Ende der 1980er Jahre mehrten sich die Hinweise, dass Fasten<br />
länger als 4 Stunden keinen Unterschied bezüglich Volumen<br />
des Mageninhalts oder Säuregehalt erbrachte, und die ersten<br />
klinischen, prospektiven und kontrollierten Studien wurden<br />
initiiert, um Unterschiede bezüglich Magenentleerung und<br />
Einfluss auf den Magen-pH sowohl fester als auch flüssiger<br />
Speisen in Abhängigkeit von Volumen und Zeit zu untersuchen.<br />
Eingenommene Flüssigkeitsvolumina dieser Studien<br />
bewegten sich zwischen 90 und 1000 ml; als Getränke wurden<br />
Wasser, Kaffee (mit oder ohne Milch) und Fruchtsäfte<br />
gewählt, und es wurden Zeiträume von 1.5–3 Stunden gegenüber<br />
8–12 Stunden verglichen. <strong>Der</strong> generelle Konsensus<br />
dieser zwischen 1986 und 1993 veröffentlichen Studien war,<br />
dass das residuelle Magenvolumen unabhängig ist von der<br />
Art der Flüssigkeit, dem aufgenommenen Volumen und der<br />
gewählter Methode zur Bestimmung der Magenvolumina.<br />
Auch neuere direkte Nachweisverfahren wie z.B. die Ultrasonographie<br />
konnten zeigen, dass 300 ml Wasser innert<br />
60 Minuten und die gleiche Menge an kohlehydratversetztem<br />
Wasser (oder Fruchtsaft) nach 90 Minuten komplett entleert<br />
war. Im Gegensatz dazu kann nach Aufnahme grösser<br />
Mengen fester Nahrung eine Fastenzeit von 6 Stunden ungenügend<br />
sein, wie De Silva et al. bei <strong>Patient</strong>en nach einer<br />
Reismahlzeit mit Linsen und Eiern in einer prospektiven, randomisierten<br />
Arbeit an über 100 <strong>Patient</strong>en zeigen konnten.<br />
Präinterventionelles Fasten (NPO) über Nacht wurde<br />
schliesslich von den meisten anästhesiologischen Arbeitsgruppen<br />
abgeschafft, nachdem in prospektiven Studien gezeigt<br />
werden konnte, dass Aspiration und andere peri-interventionelle<br />
Risiken bei Flüssigkeitsaufnahme bis zu zwei<br />
Stunden vor Operation nicht erhöht sind [8]. Entscheidend<br />
für den Transfer dieser Forschungsergebnisse auf die klinische<br />
Praxis war ein 1990 publiziertes erstes Editorial in «Anesthesiology».<br />
<strong>Der</strong> Autor präsentierte die bis anhin publizierten<br />
Ergebnisse aus Studien bei Kindern und Erwachsenen und<br />
kam zu folgendem Schluss: «I believe we have had enough<br />
publications directed at a problem that may not be clinically<br />
important, and suggest instead that we focus our attention<br />
upon fasting guidelines, and the type, timing and volume of<br />
liquid that is ‹safe› for elective surgical patients to consume<br />
with and without premedication».
PRAXIS Continuing Medical Education Praxis 2011; 100 (11): 631–638 633<br />
<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong><br />
Guidelines – das 21. Jahrhundert<br />
Knapp 10 Jahre dauerte es nach Publikation des ersten Editorials<br />
in «Anesthesiology», bis die amerikanische Gesellschaft<br />
für Anästhesie (ASA) die publizierten Erkenntnisse in ihre<br />
Richtlinien aufnahm und zu den auch heute noch gültigen<br />
zwei Stunden Flüssigkeits- und sechs Stunden Nahrungskarenz<br />
vor operativen oder interventionellen Eingriffen bei<br />
Nicht-Risikopatienten überging (1999).<br />
Tab. 1: Einführung der aktuell gültigen Empfehlungen zum präoperativen Fasten (Nahrungskarenz in Stunden vor dem Eingriff).<br />
Organisation Jahr flüssig fest<br />
Amerikanische Gesellschaft für Anästhesiologie (ASA) 1999 2 6<br />
Blaubuch Medizin <strong>UniversitätsSpital</strong> <strong>Zürich</strong> (USZ) 1999 2 6<br />
Vereinigung britischer und irischer Anästhesisten (AAGBI) 2001 2 6<br />
Cochrane Review 2004 2 6<br />
Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie (DGAI) 2004 2 6<br />
Kanadische Anästhesisten Gesellschaft (CAS) 2005 2 6<br />
Norwegische Nationale Konsensus Leitlinien (NNCG) 2005 2 6<br />
Forschung – Nachteile des nil per os (NPO)<br />
In den Folgejahren kam es zu einer Gegenbewegung zum<br />
Fasten, indem Studien publiziert wurden, die die negativen<br />
Effekte von präoperativem Fasten beleuchteten. So konnte<br />
gezeigt werden, dass Fasten über Nacht zu einem Gesamtflüssigkeitsverlust<br />
von mindestens 1 Liter führt, was mit unangenehmem<br />
Durstgefühl, Schläfrigkeit und Schwindel assoziiert<br />
wurde [3]. Im Falle zusätzlicher Darmvorbereitung mit<br />
Laxanzien vor kolorektalen oder anorektalen Prozeduren,<br />
konnten zusätzliche Dehydratation und akzentuierte Störungen<br />
des Elektrolythaushaltes dokumentiert werden. Weitere<br />
Studien zeigten eine Zunahme der postoperativen Insulinresistenz<br />
sowie negative Effekte auf postoperative Muskelmasse<br />
und Muskelkraft. Jung et al. dokumentierten messbare<br />
Funktionseinschränkungen wie z.B. postoperativ prolongier-<br />
te intestinale Motilitätsstörungen [4]. Studien an <strong>Patient</strong>en<br />
mit kardiovaskulären Eingriffen zeigten einen niedrigeren<br />
Vasopressorenbedarf nach präoperativer Einnahme von<br />
kohlehydratreichen Flüssigkeiten. Weiterhin konnten positive<br />
Effekte auf das Immunsystem (spezifisch am Beispiel der<br />
Monozytenfunktion) dokumentiert werden.<br />
Die Realisierung der Anfang des Jahrtausends geänderten<br />
Guidelines sowie die Umsetzung der Erkenntnisse von Studien<br />
der letzten 10 Jahre zeigten regionale Unterschiede. Anhand<br />
einer Untersuchung wurde 2005 in Westeuropa eine Adhärenz<br />
an die neuen Leitlinien in über 85% aller Spitäler<br />
berichtet [2], während in Asien (spezifisch Japan) die gängige<br />
Praxis des «overnight NPO» zum selben Zeitpunkt von über<br />
50% der Spitäler beibehalten wurde [7].
PRAXIS Continuing Medical Education Praxis 2011; 100 (11): 631–638 634<br />
<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong><br />
Stand der Dinge und aktuelle Empfehlungen – das 21. Jahrhundert<br />
In der Schweiz sind momentan (Stand Januar 2011) keine<br />
national gültigen Leitlinien zu diesem Thema publiziert; man<br />
verweist aktuell bezüglich gängiger Anästhesiepraktiken u.a.<br />
auf die amerikanischen, britischen und deutschen Gesellschaften,<br />
an derer Empfehlungen man sich nach kritischer<br />
Prüfung orientieren soll. In der Umsetzung all dieser Guidelines<br />
gilt: Alle Eingriffe, die eine notfallmässige Intubation<br />
nach sich ziehen können (z.B. Angiographie bei Komplikationen),<br />
oder direkt intrapulmonal respektive proximal-intestinal<br />
eingreifen (Bronchoskopie, Koloskopie) sind wie elektive<br />
Intubationen im Rahmen geplanter Eingriffe bezüglich<br />
Aspirationsprophylaxe zu bewerten. In der praktischen Umsetzung<br />
wichtig erscheint der Hinweis, dass Emulsionen, also<br />
fett- und wahrscheinlich auch proteinhaltige Flüssigkeiten<br />
(z.B. Milch) wie feste Nahrung zu behandeln sind. Begründet<br />
liegt diese Empfehlung in Beobachtungen, dass Milch bei<br />
Kontakt mit Magensäure gerinnt und eine joghurtähnliche<br />
Konsistenz annimmt. Kaffee mit Kaffeerahm (10 ml) ergibt<br />
eine gelartige Konsistenz und zeigte in vitro unveränderte Abflusszeiten<br />
durch pylorus-ähnliche Öffnungen; dies wurde<br />
aber letztlich nicht in vivo untersucht [6]. Die genannten<br />
Empfehlungen sind daher nicht nur präoperativ sondern<br />
Zusammenfassung<br />
<strong>Patient</strong>en vor geplanten Interventionen, die eine Sedation beinhalten<br />
oder das Risiko einer solchen bei schwerwiegenden<br />
Komplikationen bergen, dürfen bei fehlenden Hinweisen auf<br />
eine Motilitätsstörung oder Obstruktion des Gastrointestinaltraktes<br />
bis zwei Stunden vor dem Eingriff klare Flüssigkeit zu<br />
auch präinterventionell gültig – insbesondere vor Angiographien,<br />
Gastroskopien und Bronchoskopien. Bezüglich<br />
Gastroskopien mit Fokus auf die optimale Sicht und somit<br />
adäquate Untersuchung muss der oralen Medikation der<br />
<strong>Patient</strong>en Aufmerksamkeit gewidmet werden. Pharmazeutische<br />
Produkte mit Wandadhärenz wie orale Kontrastmittel<br />
oder topische Antazida (z.B. Alucol®) sind wie feste Nahrung<br />
zu behandeln und hier ist eine Karenz von mindestens 6 oder<br />
besser 12 Stunden einzuhalten, da die Mukosa sonst häufig<br />
nicht beurteilbar ist. Auf der anderen Seite ist das Weglassen<br />
einer medizinisch vitalen Dauermedikation vor Endoskopien<br />
gefährlich; nicht selten kommt es im Aufwachraum zu einer<br />
hypertensiven Entgleisung, da der <strong>Patient</strong> nach Vorschrift<br />
sämtliche Antihypertensiva weggelassen hat. In der Regel sind<br />
alle Medikamente innert 1–2 h absorbiert, Ausnahmen bilden<br />
hier Magenentleerungserkrankungen. Hypoglykämie-induzierende<br />
orale Antidiabetika sollten allerdings aus verständlichen<br />
Gründen am Untersuchungstag weggelassen werden.<br />
Die aktuell gültige deutschsprachige Leitlinie der Deutschen<br />
Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin<br />
(DGAI), an der wir uns orientieren, gibt folgende Empfehlungen<br />
zur präoperativen Nüchternheit:<br />
Tab. 2: Empfehlungen zur präoperativen Nüchternheit (adaptiert nach: Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und<br />
Intensivmedizin (DGAI) und des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten (BDA) 2008)<br />
Fest • Bis 6 Stunden vor der Intervention kann Nahrung, etwa in Form einer kleinen Mahlzeit, z.B. eine Scheibe Weissbrot mit Marmelade,<br />
ein Glas Milch, aufgenommen werden.<br />
Flüssig • Klare Flüssigkeiten, die kein Fett, keine Partikel und keinen Alkohol enthalten (z.B. Wasser, fruchtfleischlose Säfte, kohlensäurehaltige<br />
Getränke wie Mineralwasser, Limonade oder Tee oder Kaffee, jeweils ohne Milch) können in kleinen Mengen (ein bis zwei<br />
Gläser/Tassen) bis zu 2 Stunden vor Intervention getrunken werden.<br />
• Oral applizierbare (Dauer-)Medikamente und/oder Prämedikationspharmaka (ausser Kontrastmittel, topische Antazida (z.B. Alucol®),<br />
Bisphosphonate, Antidiabetika) können bei <strong>Patient</strong>en ohne Hinweise auf eine gastrointestinale Motilitätsstörung oder<br />
Obstruktion am Interventionstag mit einem Schluck Wasser bis kurz vor der Intervention eingenommen werden.<br />
sich nehmen. Die reguläre Dauermedikation kann und soll<br />
mit wenig klarer Flüssigkeit ebenfalls eingenommen werden.<br />
Eine leichte Mahlzeit kann bis 6 Stunden vorher verzehrt werden.<br />
Joseph Lister erkannte dies bereits vor 130 Jahren.
PRAXIS Continuing Medical Education Praxis 2011; 100 (11): 631–638 635<br />
Fallbericht «<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong>»<br />
Anamnese des <strong>Patient</strong>en<br />
61-jähriger Schweizer Mann mit bekannter chronisch obstruktiver<br />
Lungenerkrankung kommt wegen zunehmender<br />
Müdigkeit zum Hausarzt.<br />
Er raucht 1 Päckchen Zigaretten pro Tag, total bisher 45 pack<br />
years.<br />
Befunde des <strong>Patient</strong>en<br />
Status<br />
61-jähriger Mann in leicht reduziertem AZ, 166 cm, 55 kg,<br />
Puls 78/min, regelmässig. BD 145/90 mmHg re sitzend, AF 22.<br />
Leises Atemgeräusch, keine Nebengeräusche (NG). Normale<br />
Herztöne, keine NG. Halsvenen nicht gestaut. Abdominal und<br />
neurologisch unauffällig. Keine Ödeme.<br />
Aktuelle Therapie<br />
Spiriva®<br />
Routinelabor<br />
Natrium 122 mmol/l (136–145)<br />
Harnstoff 2.0 mmol/l (2.9–8.2)<br />
Kreatinin 65 mol/l (62–105)<br />
Harnsäure 103 mol/l (210–420)<br />
Weitere Befunde<br />
Thoraxröntgenbild mit Rundherd im rechten Lungenoberlappen.<br />
Weg zur Diagnose/Kommentar<br />
Aus didaktischen und datenschützerischen Gründen geben<br />
wir hier eine vereinfachte Krankengeschichte wieder. Im<br />
realen Fall fehlte, wie so häufig, eine Lungenfunktion. Ausserdem<br />
war nicht klar, ob und wie das behandelnde medizinische<br />
Personal den <strong>Patient</strong>en zu einem Rauchstopp zu<br />
motivieren versuchte.<br />
Weg zur Diagnose/Kommentar<br />
Hier fällt als pathologisches Vitalzeichen eine leicht beschleunigte<br />
Atemfrequenz in Ruhe auf. Fehlende Ödeme und die<br />
nicht gestauten Halsvenen sprechen gegen eine Hypervolämie,<br />
der normal-hohe Blutdruck und normfrequente Puls gegen<br />
eine Hypovolämie.<br />
Die Laborkonstellation ergibt eine Hyponatriämie. Bei klinischer<br />
Euvolämie wäre die Bestimmung der Serumosmolarität<br />
(welche dann tief wäre) der nächste Schritt. Diese fehlt<br />
aber. <strong>Der</strong> tiefe Harnstoff und die tiefe Harnsäure sprechen<br />
für eine hypotone Hyponatriämie bei einem Syndrom der<br />
inadäquaten ADH-Sekretion.<br />
Die wahrscheinlichste Ursache bei diesem <strong>Patient</strong>en ist paraneoplastisch<br />
im Rahmen eines, wahrscheinlich kleinzelligen,<br />
Bronchuskarzinoms.<br />
<strong>Der</strong> verdächtige Befund im Thoraxröntgenbild verlangt<br />
nach einer Bronchoskopie mit transbronchialer Biopsie zur<br />
Diagnosesicherung.<br />
Ob bereits vor dieser Untersuchung eine Computertomographie<br />
zur genaueren Lokalisation bzw. Staging der vermuteten<br />
Tumorerkrankung durchgeführt wird, bespricht<br />
man am besten mit dem Pneumologen, der die Bronchoskopie<br />
durchführen wird.
PRAXIS Continuing Medical Education Praxis 2011; 100 (11): 631–638 636<br />
Intervention am <strong>Patient</strong>en inkl. Kommentar<br />
Mindestens 24 Stunden vor der Bronchoskopie besprechen<br />
Sie mit dem <strong>Patient</strong>en die Untersuchung (Nutzen, Risiken)<br />
und unterschreiben danach gemeinsam das «Informed Consent»-Formular,<br />
welches Bestandteil der Krankengeschichte<br />
ist. Dort wird das Thema Nüchternheit vor dem Eingriff angesprochen.<br />
6 Stunden vor der Bronchoskopie soll der <strong>Patient</strong><br />
keine festen Speisen mehr zu sich nehmen. Bis zu 2 Stunden<br />
vorher darf er noch klare, ungesüsste Flüssigkeiten trinken.<br />
Spätestens hier wird evident, dass zur Einhaltung dieser<br />
Grenzen der Bronchoskopeur einen Zeitplan haben muss, in<br />
dem er dem <strong>Patient</strong>en resp. dem betreuenden Personal eine<br />
Uhrzeit am Untersuchungstag nennen kann. Dass viele<br />
stationär liegende <strong>Patient</strong>en auf Abruf behandelt werden und<br />
keinen fixen Termin erhalten, stellt einen wichtigen Grund<br />
für die Nichteinhaltung der Nüchternheitsregeln dar. Wie<br />
wollen Sie nun auf der Abteilung mit Ihrem <strong>Patient</strong>en planen,<br />
wenn Sie nicht wissen, wann er dran kommt? Für die konsequente<br />
Befolgung der Nüchternheitsregeln verlangen Sie vom<br />
Untersucher zumindest ein Zeitfenster.<br />
In unserem Fall: <strong>Der</strong> <strong>Patient</strong> wurde ambulant für 14 Uhr einbestellt.<br />
Somit konne er ein leichtes Frühstück zu sich nehmen<br />
und bis am Mittag (12 Uhr) noch klare Flüssigkeit (Wasser)<br />
trinken.<br />
Die Bronchoskopie konnte komplikationslos durchgeführt<br />
werden; der <strong>Patient</strong> hatte weder unter Durst noch Hunger zu<br />
leiden. Die transbronchiale Biopsie ergab wie befürchtet den<br />
Befund eines kleinzelligen Bronchuskarzinoms.
PRAXIS Continuing Medical Education Praxis 2011; 100 (11): 631–638 637<br />
Fragen zu «<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong>»<br />
Frage 1<br />
Wer formulierte die noch heute gültige Fastenregel<br />
als Erster?<br />
(Einfachauswahl, 1 richtige Antwort)<br />
a) Harvey Cushing<br />
b) Joseph Lister<br />
c) Algernon Moncrieff<br />
d) George Parr<br />
e) Thomas Wakley<br />
Frage 2<br />
Wie lautet die heute gültige Nüchternheitsregel vor<br />
invasiven Eingriffen, in Stunden für klare, ungesüsste<br />
Flüssigkeit / feste Speisen?<br />
(Einfachauswahl, 1 richtige Antwort)<br />
a) 2 Stunden / 2 Stunden<br />
b) 2 Stunden / 4 Stunden<br />
c) 2 Stunden / 6 Stunden<br />
d) 4 Stunden / 8 Stunden<br />
e) 12 Stunden / 12 Stunden<br />
Frage 3<br />
Welchen Zeitabstand vor einem Eingriff empfehlen Sie<br />
für das Trinken von Milch?<br />
(Einfachauswahl, 1 richtige Antwort)<br />
a) 2 Stunden<br />
b) 4 Stunden<br />
c) 6 Stunden<br />
d) 10 Stunden<br />
e) 16 Stunden<br />
Frage 4<br />
Wie gross ist in einer Studie in Japan im Jahre 2005 der<br />
prozentuale Anteil der Institutionen, die sich nicht an<br />
die neue Leitlinie mit der 2/6-Stunden-Regel halten?<br />
(Einfachauswahl, 1 richtige Antwort)<br />
a) 10%<br />
b)20%<br />
c) 30%<br />
d)40%<br />
e) 50%<br />
Frage 5<br />
Sie weisen eine 76-jährige <strong>Patient</strong>in mit bekannter<br />
symptomatischer peripherer arterieller Verschlusskrankheit<br />
zur Durchführung einer perkutanen transluminalen<br />
Angioplastie einer Kollegin zu. Sie und die<br />
<strong>Patient</strong>in erhalten einen Termin für nächsten Mittwoch<br />
um 15 Uhr. Was erklären Sie der <strong>Patient</strong>in bzgl.<br />
Nüchternheit an diesem Tag?<br />
(Einfachauswahl, 1 richtige Antwort)<br />
a) Ab Mitternacht keine feste und flüssige Nahrung mehr zu<br />
sich nehmen<br />
b) Ab Mitternacht keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen,<br />
Flüssigkeiten bis zum Znüni erlaubt<br />
c) Frühstück erlaubt, kein Mittagessen, Trinken bis 13 Uhr<br />
erlaubt<br />
d) Frühstück erlaubt, leichtes Mittagessen, Trinken bis 13 Uhr<br />
erlaubt<br />
e) Frühstück erlaubt, kein Mittagessen, Trinken von klarer<br />
ungesüsster Flüssigkeit bis 13 Uhr erlaubt<br />
Auflösung der Fragen und Kommentar in PRAXIS Nr. 12<br />
vom 8. Juni 2011<br />
Sie können die Fragen auch online unter www.praxis.ch<br />
lösen. Nach Beantwortung der Fragen sind Auflösung und<br />
Kommentar sofort abrufbar.
PRAXIS Continuing Medical Education Praxis 2011; 100 (11): 631–638 638<br />
Korrespondenzadresse<br />
Dr. med. Daniel Pohl<br />
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin<br />
Universitätsspital <strong>Zürich</strong><br />
Rämistr. 100<br />
8091 <strong>Zürich</strong><br />
Daniel.Pohl@usz.ch<br />
CME-Antworttalon<br />
Um Ihre Bestätigung für das Bearbeiten der CME zu erhalten, schicken Sie uns bitte den ausgefüllten Antworttalon bis spätestens<br />
7. Juni 2011 mit einem frankierten und an Sie adressierten Rückumschlag an Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Redaktion<br />
PRAXIS, Länggass-Strasse 76, Postfach, 3000 Bern 9. Sie können die Fragen auch online unter www.praxis.ch beantworten und<br />
Ihre Bestätigung direkt aus drucken.<br />
Ihre Antworten zum Thema «<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong>»<br />
1 2 3 4 5 Absender<br />
a Name Adresse<br />
b Vorname<br />
Autoren<br />
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin1 , Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie2 ,<br />
Universitätsspital <strong>Zürich</strong><br />
1 Dr. med. Daniel Pohl, 2 Dr. med. Christoph Gubler, 1 PD Dr. med. Markus Schneemann<br />
Bibliographie (Auswahl; vollständige Liste beim Korrespondenzautoren)<br />
1. Practice guidelines for preoperative fasting and the use of pharmacologic agents to reduce the<br />
risk of pulmonary aspiration: application to healthy patients undergoing elective procedures:<br />
a report by the American Society of Anesthesiologist Task Force on Preoperative Fasting.<br />
Anesthesiology 1999; 90:896-905.<br />
2. Hannemann P, Lassen K, Hausel J, Nimmo S, Ljungqvist O, Nygren J, et al. Patterns in current<br />
anaesthesiological peri-operative practice for colonic resections: a survey in five northern-<br />
European countries. Acta Anaesthesiol Scand 2006;50:1152-1160.<br />
3. Holte K, Kehlet H. Compensatory fluid administration for preoperative dehydration – does it<br />
improve outcome? Acta Anaesthesiol Scand 2002;46:1089-1093.<br />
4. Jung B, Lannerstad O, Påhlman L, Arodell M, Unosson M, Nilsson E. Preoperative mechanical<br />
preparation of the colon: the patient's experience. BMC Surg 2007;7:5.<br />
5. Lister J. On anaesthetics. Holmes System of Surgery. Longmans Green and Co., London, 1883.<br />
6. Maltby JR. Fasting from midnight--the history behind the dogma. Best Pract Res Clin Anaesthesiol<br />
2006;20:363-378.<br />
7. Shime N, Ono A, Chihara E, Tanaka Y. Current practice of preoperative fasting: a nationwide<br />
survey in Japanese anesthesia-teaching hospitals. J Anesth 2005;19:187-192.<br />
8. Stuart PC. The evidence base behind modern fasting guidelines. Best Pract Res Clin Anaesthesiol<br />
2006;20:457-469.<br />
c Titel/FMH PLZ, Ort<br />
d <br />
e Datum Unterschrift<br />
✂
PRAXIS Continuing Medical Education Praxis 2011; 100 (12): 741–741 741<br />
Antworten zu den Fragen zu «<strong>Der</strong> <strong>nüchterne</strong> <strong>Patient</strong>» aus<br />
PRAXIS Nr. 11<br />
Frage 1<br />
Richtig ist Antwort b).<br />
Joseph Lister (1827–1912) war ein berühmter britischer<br />
Chirurg und gilt als Vater der Antisepsis. 1883 formulierte er<br />
bereits die heute gültige Fastenregel.<br />
ad a) Harvey Cushing (1869–1939) war ein berühmter<br />
U.S. amerikanischer Neurochirurg. Er erhielt übrigens 1926<br />
den Pulitzer-Preis für seine monumentale Biogaphie über<br />
William Osler.<br />
ad c) Algernon Moncrieff ist eine Figur in Oscar Wildes<br />
Komödie «The Importance of Being Earnest» von 1895.<br />
ad d) George Parr ist eine Kunstfigur des britischen Komikerduos<br />
John Bird and John Fortune.<br />
ad e) Thomas Wakley (1795–1862) war ein berühmter britischer<br />
Chirurg. Er war der erste Herausgeber des Lancet ab<br />
1823.<br />
Frage 2<br />
Richtig ist Antwort c).<br />
Präoperatives Fasten bedeutet: Bis 2 Stunden vor dem<br />
Eingriff sind erlaubt: Ungesüsste klare Flüssigkeiten. Feste<br />
Speisen bis zu 6 Stunden vorher. (Siehe auch Text und Abbildungen<br />
Theorieteil.)<br />
© 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern<br />
Frage 3<br />
Richtig ist Antwort c).<br />
Da Milch durch den Kontakt mit Magensäure gerinnt und<br />
eine joghurtähnliche Konsistenz annimmt, gilt die Regel für<br />
feste Speisen, also 6 Stunden.<br />
ad a) Die 2 Stunden gelten nur für klare ungesüsste Flüssigkeiten.<br />
Frage 4<br />
Richtig ist Antwort e).<br />
In dieser Umfrage von 2005 bei fast 400 Spitälern in Japan gaben<br />
50% an, ihre Fastenregel nicht den neuen Erkenntnissen<br />
und Guidelines anzupassen, sondern beim traditionellen<br />
NPO zu verharren. Wir hoffen, dass es in der Schweiz nicht<br />
ähnlich konservativ gehandhabt wird.<br />
Frage 5<br />
Richtig ist Antwort e).<br />
Nur Antwort e) entspricht den neuen Richtlinien mit 6 Stunden<br />
nüchtern für feste Nahrung und 2 Stunden für klare,<br />
ungesüsste Flüssigkeiten vor der Untersuchung.<br />
ad a) Diese Regel entspricht dem traditionellen und überholten<br />
NPO = nil per os.<br />
ad b – d) entsprechen nicht der neuen Regelung wie unter a).<br />
DOI 10.1024/1661-8157/a000554