27.10.2013 Aufrufe

Vollversion (8.77) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (8.77) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Vollversion (8.77) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

30 Herfried Münkler<br />

Meine These nun ist, dass bei der Erosion traditionaler<br />

Pflichtvorstellungen neben dem allmählichen<br />

Verschwinden der klassischen sozial-moralischen<br />

Milieus des Katholizismus, des<br />

Protestantismus und der Arbeiterbewegung<br />

auch die verbreitete Nichtinanspruchnahme der<br />

Engagementbereitschaft vieler Bürger durch die<br />

offizielle Politik, also die notorische Missachtung<br />

ihres Bürgersinns, eine verhängnisvolle<br />

Rolle gespielt hat. Genauer explizieren ließe<br />

sich dies am politischen Management des Vereinigungsprozesses,<br />

bei dem bürgerschaftliche<br />

Initiativen im Osten wie im Westen wenig Aufmerksamkeit<br />

und Unterstützung durch die staatliche<br />

Politik erlangt haben. In diesem Sinne<br />

lassen sich im Osten und Westen Deutschlands<br />

komplementäre Entwicklungen beobachten:<br />

Dauerüberforderung im einen, notorische Unterforderung<br />

im anderen Fall - und beide haben<br />

nicht zu entgegengesetzten, sondern zu<br />

ähnlichen Konsequenzen geführt: zur weiteren<br />

Verknappung von Bürgersinn. Die knappe Ressource<br />

Bürgersinn, wie es im Untertitel dieses<br />

Textes heißt, kann also aus zwei unterschiedlichen<br />

Ursachen zum Versiegen gebracht werden:<br />

durch Überforderung wie durch Unterforderang,<br />

wobei in sozialwissenschaftlicher Sicht<br />

natürlich der Fall von Unterforderang der interessantere<br />

ist, da er zu unseren Erfahrungen<br />

und Erwartungen im Umgang mit knappen Ressourcen<br />

kontraintuitiv ist.<br />

Was folgt daraus nun im Hinblick auf die Ordnung<br />

einer Gesellschaft, die gewillt und bereit<br />

ist, ihre freiheitliche Verfasstheit auch für die<br />

Zukunft zu erhalten? Zunächst, dass sie nicht<br />

nach den Modellen der reinen Marktlogik, also<br />

denen strategischer Interessenverfolgung, aufgebaut<br />

sein darf. Marktrationalität und Politikrationalität,<br />

zumindest die freiheitlich verfasster<br />

Gesellschaften, folgen nichtkongruenten<br />

Logiken. Das heißt nicht, dass es zwischen<br />

beiden Logiken grundsätzlich keinerlei Überschneidungen<br />

und Überlappungen gibt: Selbst­<br />

verständlich ist politisches Handeln in zentralen<br />

Bereichen immer darauf angewiesen, dass<br />

die Akteure ihre Interessen strategisch verfolgen<br />

und die Logik kalkulierter Interessenverfolgung<br />

ihnen zugleich die Möglichkeit eröffnet,<br />

Kompromisse zu bilden oder Allianzen zu<br />

schließen usw. Was damit jedoch gesagt werden<br />

soll ist, dass diese Politikbetrachtung die<br />

Ordnung freiheitlich verfasster Gesellschaften<br />

nicht erschöpft, sondern in ihr etwas zum Tragen<br />

kommen muss, was nach den Rationalitätsstandards<br />

des homo oeconomicus unvernünftig<br />

ist, und das nenne ich Bürgersinn. Es<br />

handelt sich dabei um das Engagement für allgemeine<br />

Aufgaben und in öffentlichen Ämtern,<br />

bei dem - nach den Vorgaben einer Theorie<br />

individuellen Nutzenkalküls formuliert -<br />

individueller Aufwand und individuell nutzbarer<br />

Ertrag in keinem ökonomisch sinnvollen<br />

Verhältnis stehen, weil das als Investition angesehene<br />

Engagement den individuell konsumierten<br />

Ertrag der öffentlichen Güter deutlich<br />

übersteigt.<br />

In der Geschichte des politischen Denkens ist<br />

dieser Problembereich unter dem Rubrum eines<br />

Tugenddiskurses verhandelt worden<br />

(Münkler 1991), der sich in Alternative zum<br />

Interessendiskurs entfaltet hat. Nun ist unter<br />

den Vorzeichen von Rationalisierung und Individualisierung<br />

versucht worden, diesen Tugenddiskurs<br />

in den Interessendiskurs einzuschreiben,<br />

also Bürgersinn als rational im Sinne kalkulierter<br />

Interessenverfolgung zu erweisen. Die<br />

Hand- und Lehrbücher der jüngeren Politikund<br />

Gesellschaftstheorie sind voll mit solchen<br />

Versuchen, denen vorderhand eine gewisse<br />

theoretisch-konstruktive Eleganz und empirieexplikative<br />

Plausibilität nicht abzusprechen ist.<br />

Es ist jedoch die Expansivität dieser Theorien,<br />

die alles erfassen und umfassend erklären wollen,<br />

die sie gefährlich und - sagen wir es ruhig<br />

deutlich - demokratiesubversiv werden lässt,<br />

weil sie dabei die Spezifika des Bürgers über-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!