Ausführliche Biographie als PDF - QR-Gedenken
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Freuet euch in dem Herrn alle Wege,<br />
aberm<strong>als</strong> sage ich euch: Freuet euch!<br />
Philipper 4,4<br />
Ellen Dagmar Freifrau von der Goltz<br />
100 Jahre Erinnerungen<br />
10. Mai 2010
Inhaltsverzeichnis<br />
Meine Familie ................................................................................................................................ 4<br />
Der Vater: ................................................................................................................................... 4<br />
Die Mutter: .................................................................................................................................. 4<br />
Die Geschwister: ......................................................................................................................... 4<br />
Kindheit ......................................................................................................................................... 5<br />
Nuckö 1902 ................................................................................................................................. 5<br />
Rettung ....................................................................................................................................... 6<br />
Weißenstein 1910 ....................................................................................................................... 8<br />
Petersburg 1913 ......................................................................................................................... 8<br />
Der 1. Weltkrieg ............................................................................................................................. 9<br />
Anfang des Krieges 1914 ............................................................................................................ 9<br />
Kukula in Finnland 1915 bis 1917 ............................................................................................. 10<br />
Petersburg 1917 ....................................................................................................................... 15<br />
Weihnachten 1917 .................................................................................................................... 16<br />
Werro / Estland (1918) .............................................................................................................. 18<br />
Tilsit 1918 ................................................................................................................................. 19<br />
Pfarrwohnung - 1919 ................................................................................................................. 21<br />
Meine Großeltern – der Adelstitel .............................................................................................. 22<br />
Schule .......................................................................................................................................... 25<br />
Unser Hund Hallo ...................................................................................................................... 26<br />
Quäkerspeisung ........................................................................................................................ 28<br />
Inflation und Pensionäre ........................................................................................................... 29<br />
Ein peinlicher Irrtum .................................................................................................................. 30<br />
Muttis Hilfestellung .................................................................................................................... 30<br />
Tod von Omama – Umzug Opapas zu Onkel Otto .................................................................... 31<br />
Schulausflüge ........................................................................................................................... 32<br />
Weihnachten ............................................................................................................................. 32<br />
Der Freitagabend ...................................................................................................................... 34<br />
Ferien........................................................................................................................................ 34<br />
Dittchens Verlobung .................................................................................................................. 36<br />
Ein abendlicher Besuch ............................................................................................................ 36<br />
Dachkletterei – Polizei ............................................................................................................... 37<br />
Wäsche – Frau Kaktstieß und unser Gretchen .......................................................................... 38<br />
Vögel......................................................................................................................................... 38<br />
Dittchens Hochzeit 1923 ........................................................................................................... 39<br />
Ritha Grüner 1926..................................................................................................................... 40<br />
Justinus Frey 1926 .................................................................................................................... 41<br />
Sigrid und ihr Chor „Dienende Liebe“ ........................................................................................ 42<br />
Meine Einsegnung 1927 ........................................................................................................... 43<br />
Säuglingsheim .......................................................................................................................... 44<br />
Gefängnisbaby .......................................................................................................................... 44<br />
Im Frauengefängnis .................................................................................................................. 45<br />
Riga: Zwillinge ........................................................................................................................... 46<br />
Silberhochzeit der Eltern in Livland ........................................................................................... 47<br />
Schwesternausbildung in Lötzen 1929 ...................................................................................... 48<br />
2
Beendigung meiner Schwesternzeit – Abschied von Tilsit ......................................................... 49<br />
Geburt von Dietrich Frey am 30. Juli 1932 ................................................................................ 50<br />
Drillinge v. d. Goltz, Rastenburg 1932 ....................................................................................... 51<br />
Galbuhnen 1933 ....................................................................................................................... 55<br />
Hochzeit in Jucha 19. August 1934 ........................................................................................... 57<br />
Die Hochzeitsreise .................................................................................................................... 60<br />
Aeternitate – in Ewigkeit ............................................................................................................ 62<br />
Wittigs Geburt 1935 .................................................................................................................. 63<br />
Tod von Fritz, Frhr. v. d. Goltz – 1936 ....................................................................................... 63<br />
Edithas Geburt – 1936 .............................................................................................................. 65<br />
Volkers Geburt – 1938 .............................................................................................................. 66<br />
Mertensdorf ................................................................................................................................. 69<br />
Kriegsjahr 1941 ......................................................................................................................... 71<br />
Dagmars Geburt – 1941 ............................................................................................................ 76<br />
Kriegszeiten .............................................................................................................................. 76<br />
Gestapoverhör .......................................................................................................................... 77<br />
Träume ..................................................................................................................................... 78<br />
Flucht ........................................................................................................................................... 80<br />
Beginn der Flucht am 27. 01. 1945 ........................................................................................... 80<br />
Eichen ....................................................................................................................................... 81<br />
Pellen ........................................................................................................................................ 83<br />
Haffüberfahrt ............................................................................................................................. 83<br />
Neukrug – Zoppot - Danzig ....................................................................................................... 84<br />
Darsin ....................................................................................................................................... 86<br />
Wiedersehen mit Wolfram ......................................................................................................... 87<br />
Viezig ........................................................................................................................................ 87<br />
Abschied von Nikolai und Maruschka ........................................................................................ 90<br />
Mackensen 10. 03. bis 15. 09. 1945 .......................................................................................... 91<br />
Verhaftungen ............................................................................................................................ 95<br />
Russenüberfälle ........................................................................................................................ 97<br />
Tataren ..................................................................................................................................... 99<br />
Ausweisung............................................................................................................................. 101<br />
Lauenburg ............................................................................................................................... 103<br />
Belgard ................................................................................................................................... 104<br />
Zwischen Stargard und Scheune ............................................................................................ 105<br />
Angermünde ........................................................................................................................... 106<br />
Prenzlau .................................................................................................................................. 108<br />
Wiedebach bei Weißenfels ...................................................................................................... 110<br />
Schönburg .............................................................................................................................. 111<br />
Neuer Anfang ............................................................................................................................ 113<br />
Haus Mark – Tecklenburg 1947 .............................................................................................. 113<br />
Geburt von Roland .................................................................................................................. 114<br />
Schmie bei Maulbronn ............................................................................................................ 115<br />
Sindelfingen ............................................................................................................................ 115<br />
Zollenreute bei Aulendorf ........................................................................................................ 116<br />
Murrhardt ................................................................................................................................ 117<br />
Seeon ..................................................................................................................................... 118<br />
3
Ellen Dagmar Freifrau von der Goltz<br />
100 Jahre Erinnerungen<br />
Meine Familie<br />
Der Vater:<br />
Eduard August Maaß (1875 – 1958)<br />
Geb. am 20. April 1875 in Dorpat/Estland <strong>als</strong> Jüngster von 5<br />
Geschwistern, 1888 Übersiedlung der Familie nach<br />
Petersburg; 1894 – 1901 Theologiestudium in Dorpat; 1901<br />
Pfarrer in Nuckö/Estland, 1902 Heirat. 1910 Schuldirektor in<br />
Weißenstein; 1913 Pfarrer an der St. Annenkirche in<br />
Petersburg. 1918 Flucht und Schuldirektor in Werro / Estland;<br />
1919 Pfarrer in Tilsit und ab 1931 in Jucha bei Lyck<br />
(Ostpreußen). 1945 Flucht; 1946 bis 1951 Pfarrer in<br />
Schönburg/Saale<br />
Die Mutter:<br />
Edith Ida Nelissen v. Haken (1883 – 1961)<br />
Geb. am 5. April 1883 in Riga <strong>als</strong> Älteste von 6 Geschwistern;<br />
bereits mit 12 Jahren Aufnahme in die Rigaer Kunstakademie;<br />
ihr Leben lang malte sie und die Legende behauptet, sie hätte<br />
gelegentlich Pinsel und Kochlöffel verwechselt; wegen des<br />
Krieges von 1915 bis 1917 mit den vier jüngsten Kindern in<br />
Finnland<br />
Die Geschwister:<br />
Editha Amalie, geb. am 1. Juni 1903 in Nuckö, genannt „Dittchen“<br />
Irene Gabriele Lucie Emilia, geb. am 17. Juli 1904 in Nuckö, genannt „Ena“<br />
Sigrid Luise Helene Ingeborg, geb. am 2. Juni 1907 in Hapsal / Estland<br />
Wolfram, geb. am 23. Febr. 1909 in Hapsal / Estland<br />
Ellen Dagmar Katharina Eugenie, geb. 10. Mai 1910 in Hapsal/Estland<br />
Dittchen liebte es nicht “Dittchen” genannt zu warden (1 Dittchen = 10 Pfennig). Sie<br />
unterschrieb mit Dita. Ich nannte sie „Dittelchen“.<br />
4
Nuckö 1902<br />
Kindheit<br />
Mein Vater, Eduard Maaß, hatte in Dorpat (estnisch Tartu) mit besten Noten sein<br />
Theologiestudium bestanden. Nur derjenige, der die Examen mit sehr gut oder mindestens<br />
gut bestanden hatte, konnte <strong>als</strong> Kandidat eine wissenschaftliche Arbeit für ein Diplom<br />
einreichen, was bei Anerkennung dem Dr. Phil. in Deutschland gleich kam.<br />
Seine erste Amtsstelle <strong>als</strong> Pastor erhielt er auf der Halbinsel Nuckö/Estland. Die<br />
Bevölkerung zählte 5000 Seelen, davon 2/3 Schweden und 1/3 Esten. Papi lernte ihre<br />
Sprachen und predigte bald auf schwedisch und estnisch. Das Pastorat bestand aus einem<br />
einfachen lang gestreckten Landhaus, dessen Dach mit Stroh gedeckt war. Die Eltern<br />
meiner Mutter hatten die Räume mit bestem Mobiliar ausgestattet. Zum Gehalt gehörte eine<br />
Landwirtschaft. Zur Gemeinde gehörte die Leuchtturminsel „Odisholm“, die mein Vater<br />
zweimal im Jahr besuchen musste, teilweise unter Lebensgefahr. Er hatte einen treuen<br />
Gemeindediener, Johannes, der ihn bei allen Fahrten zu Land und Meer begleitete. Auf<br />
dieser Leuchtturminsel hatten die Bewohner eine Kirche aus angeschwemmtem Treibholz<br />
von gekenterten Schiffen und Booten gebaut. Meine Mutter hatte für diese Kirche ein<br />
Altarbild gemalt: Jesus mit den verängstigten Jüngern im Boot stillt den Sturm. Mein Vater<br />
nahm seinen Beruf sehr ernst und war geachtet und beliebt.<br />
Mein Großvater, Ottomar v. Haken war ein beliebter Arzt in Riga. Meine Mutter, Editha v.<br />
Haken, war die Älteste von sechs Geschwistern. Sie studierte auf der Akademie der<br />
Bildenden Künste Malerei und Bildhauerei. Meine Mutter hatte viel Temperament, liebte<br />
Geselligkeit und Feste.<br />
Nun holte mein Vater sie auf diese einsame Insel Nuckö. Doch meine Mutter verstand es,<br />
sich ihren Lebensraum zu schaffen. Landwirtschaft, Hühner, Pferde und Vieh lagen nicht in<br />
ihrem Interesse. Das Pastorenhaus bot aber Platz für viele Gäste. Diese lud sie ein und<br />
manche blieben mehrere Monate. Muttis Schwester Karin, die später Paul Baron v. d.<br />
Ostensacken heiratete, blieb bei uns ein ganzes Jahr.<br />
Personal gab es in der damaligen Zeit im Baltikum reichlich, so dass für diese eine extra<br />
Köchin eingestellt wurde. Für uns sorgten zwei Stubenmädchen, Liese und Johanna, die<br />
Pfarrhaus in Nuckö, ursprünglich mit Strohdach<br />
5
uns bis zur Flucht aus Petersburg treu blieben. Johanna war unser geliebtes<br />
Kindermädchen, eine Estin. Sie war für uns Kinder und auch für Mutti eine Respektsperson<br />
und sorgte für unsere Erziehung. Da hatte Mutti nicht viel zu sagen! Für alle gab es abends<br />
eine Abendandacht – in schwedischer und estnischer Sprache.<br />
6<br />
In Nuckö bzw. der nächst<br />
gelegenen Stadt Hapsal, kamen<br />
wir fünf Kinder zur Welt: 1903<br />
Editha, genannt Dittchen, 1904<br />
Irene, genannt Ena, ein<br />
Siebenmonatskind, 1907 Sigrid,<br />
1909 Wolfram und 1910 ich.<br />
Bei der Schwangerschaft mit Irene<br />
hatte Mutti Malaria. Tante Ellen v.<br />
Radecki war aus Riga gekommen,<br />
um Mutti zu pflegen. So konnte sie<br />
bei der viel zu frühen Geburt das<br />
Kirche in Nuckö<br />
Kind empfangen und entbinden.<br />
Das winzige Baby wog knapp ein Kilo und wurde in eine mit Watte ausgepolsterte Schachtel<br />
gelegt und in die vorgewärmte Ofenröhre geschoben.<br />
Da Mutti durch ihre Krankheit nicht stillen konnte, wurde eine Amme gesucht. Sie war eine<br />
tüchtige Schwedin, die drei Jahre bei uns blieb. Irene wuchs <strong>als</strong> ein fröhliches Kind heran.<br />
Von Irene weiß ich, dass zum Pastorat drei Hofpferde gehörten, die Trips, Traps, Trull<br />
hießen und auf denen Dittchen reiten lernte.<br />
In der Nachbarschaft gab es vereinzelt große Güter, mit deren Besitzern wir befreundet<br />
waren. So wurde bei Irenes Taufe eine Baronin von Rosen ihre Taufpatin, die sie reichlich<br />
beschenkte. Da sie Hofdame der Zarin war und der Zarin von ihrem Patenkind erzählt hatte,<br />
erhielt sie viele Babysachen von der Zarentochter Anastasia, die alle mit der Zarenkrone<br />
geschmückt waren.<br />
Rettung<br />
Es gäbe von Nuckö noch Vieles zu erzählen. Aus Papis Lebensbuch (gekürzt): „Einmal<br />
wäre Edith mit den beiden Ältesten Dittchen und Irene fast ums Leben gekommen. Ich darf<br />
dieses Erlebnis nicht auslassen, weil es bezeugt, wie Gott aus Not und Tod erretten kann,<br />
besonders, wenn Menschen im Gebet die Hände nach ihm ausstrecken. Es war um die<br />
Weihnachtszeit, <strong>als</strong> Edith mit den Kindern und einigen Frauen im Schlitten über das Eis<br />
nach Hapsal fuhr. Es hatten sich auch einige Männer dieser Fahrt angeschlossen. Fischer<br />
Johann, unser steter Begleiter bei diesen Überfahrten, war <strong>als</strong> sicherer Führer dabei. Schon<br />
bei der Hinfahrt warnte er vor aufkommendem Sturm mit Tauwetter und drängte zur<br />
schnellstmöglichen Abfertigung aller Besorgungen. Leider verspäteten sich trotz dieser<br />
Warnung mehrere Teilnehmer erheblich. Der Himmel hatte sich verdunkelt, ein heftiger<br />
Wind mit nassem Schneetreiben hatte eingesetzt, <strong>als</strong> alle endlich beisammen waren.
Sehr nachdrücklich erklärte nun Fischer Johann, dass eine Überfahrt mit den Schlitten nicht<br />
mehr möglich wäre. Nach kurzer Beratung beschloss man, zu Fuß über das Meer zu gehen.<br />
Johann mit einem langen Stab und einer Laterne führte die kleine Schar. Die Kinder wurden<br />
auf den Arm genommen. Mit einem langen Seil wurden alle aneinandergebunden, damit<br />
sich keiner verlöre, da die Sicht immer schlechter wurde. Stumm kämpfte man sich<br />
vorwärts, während der Wind an Stärke zunahm. Die Laterne schwankte hin und her und<br />
plötzlich verlosch sie ganz. Nun war es dunkel und nur langsam gewöhnten sich die Augen<br />
an die Dunkelheit. Plötzlich tönte Johanns laute Stimme durch den Sturm: „Halt!! Wasser!<br />
Wir müssen zurück!“ Angstvoll wichen alle zurück, <strong>als</strong> der Hinterste aufschrie: „Halt,<br />
stehenbleiben!“ Das Eis hatte zu bersten begonnen, auf allen Seiten bildeten sich dunkle<br />
Wasserschlangen. Es war ein verzweifelter Augenblick, <strong>als</strong> alle erkennen mussten, dass sie<br />
auf einer großen Eisscholle, die auch jeden Augenblick auseinander brechen konnte, in das<br />
offene Meer trieben. Die Fläche auf der sie standen, schwankte hin und her. Die Frauen<br />
begannen zu weinen und zu beten, stammelnd und zusammenhanglos. Auch die Männer<br />
fielen in das Gebet ein: „Vater im Himmel, rette, hilf!! Du allein kannst noch retten!“<br />
Nach einer Weile ließ der Wind etwas nach. War man doch in die Nähe des Landes<br />
gekommen? Aber keiner wagte sich zu bewegen. Würde das Eis unter den Füßen halten?<br />
Nur die Lippen flüsterten pausenlos: „Hilf, hilf, erbarme Dich!“ Nach schier endloser Zeit<br />
leuchtete plötzlich in nicht zu weiter Ferne ein kleines Licht auf. War es ein Stern? Aber<br />
Johann rief: „Gottseidank, nun weiß ich, wo wir sind. Das kommt von einem Haus, in<br />
welchem ein bekannter Fischer wohnt und irgendwo hier muss ein langer Steindamm ins<br />
Meer ragen. Sobald ich ihn erspüre, heißt es: schnell ins Wasser springen, ehe die Scholle<br />
weiter treibt!“<br />
Er tastete mit seinem Stab suchend im Wasser herum und dann kam der entscheidende<br />
Augenblick. Johann glitt blitzschnell ins Wasser, welches ihm bis zur Brust reichte. Die<br />
Männer folgten schnell und halfen den Frauen. Eng aneinandergeschmiegt kämpften sie<br />
sich nun durch das eiskalte Wasser bis zum Ufer und schleppten sich dann steif gefroren<br />
zum Fischerhaus, dem rettenden Lichtschein entgegen. Nach lautem Pochen an die<br />
Haustür öffnete eine verstörte Frau und schrie bei unserem Anblick entsetzt auf. Ihr Mann<br />
kam hinzu und mit beider tatkräftiger Hilfe wurden nun eiligst trockene Kleider<br />
hervorgesucht, Decken zum Einhüllen, dazu heiße Getränke bereitet. Die Kinder wurden in<br />
das Ehebett gesteckt.<br />
Nun erfuhren die Leutchen, wie es uns ergangen war und dass ihr Licht uns gerettet hatte.<br />
Erschüttert berichtete nun die Fischersfrau, dass sie plötzlich aufgewacht wäre, weil sie<br />
vermeintlich auf dem Boden ein verdächtiges Geräusch gehört hätte. Sie wäre<br />
hochgestiegen und hätte das Licht in die Fensterluke gestellt. Und dieses Licht hatte uns<br />
gerettet.<br />
Wie erschreckt und doch glücklich durfte ich am nächsten Tag meine Lieben in die Arme<br />
schließen, <strong>als</strong> ich sie mit dem Schlitten abholte. Der treue Johann hatte sich, kaum war er<br />
trocken und etwas erwärmt, zu Fuß in der Nacht auf den weiten Weg gemacht, um mir<br />
Nachricht zu bringen. Wie hatte ich die ganze Nacht voller Angst gebetet, <strong>als</strong> meine Lieben<br />
und die anderen alle nicht zur erwarteten Zeit zurückgekehrt waren. Gott hatte so gnädig<br />
unsere Gebete gehört. Dieses schreckliche Erlebnis mit der Errettung aus größter<br />
Lebensgefahr haben wir nie vergessen.“<br />
7
Weißenstein 1910<br />
Als meine Schwestern Editha und Irene schulpflichtig wurden, fügte es sich gut, dass mein<br />
Vater die Aufforderung erhielt, die Leitung der deutschen Schule in der kleinen Stadt<br />
Weißenstein (Estland) zu übernehmen.(Aus Papis Buch)“ Die deutschen Schulen waren in<br />
der damaligen Russifizierungspolitik der Regierung ein Ärgernis. Da aber der deutsche<br />
Schulverein von oben her anerkannt war, blieb der Regierung nur die Möglichkeit, den<br />
deutschen Schulen möglichst viele Hindernisse in den Weg zu legen und möglichst etwas<br />
zu finden, was rassenfeindlich ausgelegt werden könnte.“ Wie stand es um den<br />
Geschichtsunterricht? Dieses gefährliche Fach hatte mein Vater neben Latein zu<br />
unterrichten. Es fehlten die drei Oberklassen, die zum Abitur nötig waren. Die sollte mein<br />
Vater erkämpfen. Mit Kühnheit, Geschick und List war es ihm gelungen, Klasse auf Klasse<br />
gegen alle Intrigen durchzusetzen.<br />
Kinderfräulein Olympia, Ellen, Sigrid, das estnische<br />
Kindermädchen Johanna, Wolfi , Dittchen, Ena<br />
8<br />
Wir Kinder spielten gern im großen<br />
Garten von Probst Bell, mit dem meine<br />
Eltern befreundet waren. Von hier, mit<br />
ungefähr zweieinhalb Jahren, stammen<br />
meine ersten lebhaften<br />
Kindheitserinnerungen. Es gab in diesem<br />
Garten ein Puppenhaus, genau meiner<br />
Größe angepasst, so dass ich aus den<br />
kleinen Fensterchen hinausschauen<br />
konnte, ohne dass mich jemand<br />
hochheben musste. Es gab auch einen<br />
kleinen Tisch und kleine Stühle und<br />
sogar einen kleinen Besen.<br />
Weißenstein war für meine Eltern eine<br />
sehr schöne Zeit mit viel Geselligkeit.<br />
Mein Vater, der schauspielerisches<br />
Talent besaß, übte mit begabten<br />
Menschen aus der Gesellschaft<br />
Theaterstücke ein, so u. a. auch Goethes „Faust“. Er wurde anerkennend „Theaterdirektor“<br />
genannt.<br />
Petersburg 1913<br />
1913 wurde mein Vater <strong>als</strong> Pastor an die deutsche Annengemeinde nach Petersburg<br />
berufen, außerdem <strong>als</strong> Rektor des deutschen Diakonissenhauses, zu dem auch ein<br />
Altersheim gehörte. An den Umzug aus Weißenstein <strong>als</strong> Dreijährige kann ich mich nicht<br />
mehr erinnern. Wir zogen in eine Wohnung mit vielen großen Zimmern und großen<br />
Fenstern. Das Haus hatte einen Lift, der mit rotem Samt ausgekleidet war und eine Bank<br />
besaß. Im gleichen Stockwerk lebte mein Onkel Ernst Igel mit seiner Frau. Er war<br />
Oberstudienrat des deutschen Lyzeums.
Kurz vor Kriegsausbruch hatte ich ein unvergessliches Erlebnis: Ein Zarenregiment mit<br />
Blasmusik und einem großartigen Paukenpferd zogen an unserem Haus vorbei. Dabei<br />
wurde auch die Zarenhymne „Boshe, Zarja chrani“ (Gott schütze den Zaren) gespielt. Ich<br />
stand auf dem Fensterbrett und schaute ergriffen zu. Die Musik bewegte mich so stark, dass<br />
ich in heiße Tränen ausbrach.<br />
Ein weiteres unvergessliches Erlebnis ganz anderer Art war das plötzliche Auftauchen eines<br />
Schornsteinfegers. Ich spielte unter dem Arbeitstisch unseres Kindermädchens Johanna<br />
mit meinen Puppen, <strong>als</strong> ich energische männliche Schritte hörte. Da tauchte ein<br />
rußgeschwärzter Mann auf. Laut schreiend rannte ich über den Flur, durch die Räume und<br />
trotz zorniger Abwehr der Köchin zum Küchenausgang, zur Personaltoilette und knallte die<br />
Tür hinter mir zu. Dort fanden mich Johanna und Mutti, die mich in die Arme nahm und sich<br />
mein tränenreiches Gestammel vom schwarzen Mann anhörte. Sie erklärte mir, dass das<br />
ein Schornsteinfeger sei, der selber Kinder habe und sehr bestürzt sei, ein kleines Mädchen<br />
so erschreckt zu haben. Wir gingen zu ihm, ich gab ihm die Hand, mit der anderen Hand<br />
klammerte ich mich sicherheitshalber an Mutti. In Finnland sah ich später oft<br />
Schornsteinfeger, die aber alle nicht so schwarz waren wie jener in Petersburg!<br />
Petersburg 1903<br />
Anfang des Krieges 1914<br />
Der 1. Weltkrieg<br />
1914 brach der Krieg aus. In Petersburg lebten 80.000 Deutsche. Viele kehrten nach<br />
Reichsdeutschland zurück. Andere, von der Regierung <strong>als</strong> regimefeindlich oder gefährlich<br />
eingestuft, wurden nach Sibirien verbannt. Dadurch sank die deutsche Bevölkerung auf<br />
etwa ein Drittel. Aus Papis Lebensbuch: „Vom Balkon aus hielt Lenin flammende Hetzreden<br />
zu den sich immer dichter zusammen rottenden Volksmengen. Rote Fahnen wurden durch<br />
die Straßen unter Drohreden und Gejohle getragen bis schließlich die Hölle der Revolution<br />
ausbrach. Da gab es Mord und Schrecken.“<br />
9
Ellen mit Teddy Mischa<br />
Kukula in Finnland 1915 bis 1917<br />
10<br />
Plötzlich durfte öffentlich kein deutsches<br />
Wort mehr gesprochen werden. Wenn<br />
jemand dabei erwischt wurde, konnte das<br />
mit Sibirien geahndet werden. Das war für<br />
uns Kinder unverständlich. Für meine<br />
Eltern wurde die Situation zu gefährlich.<br />
Viele deutsche, aber auch russische<br />
Familien zogen nach Finnland. Mein 5.<br />
Geburtstag wurde noch in Petersburg<br />
gefeiert. Ich erhielt Sandförmchen und<br />
einen Teddybären, meinen Mischa.<br />
Dittchen, die eine sehr gute Schülerin war,<br />
entschied sich trotz Trennungsschmerz in<br />
Petersburg bei Papi zu bleiben. Sie durfte<br />
uns aber noch auf der Reise nach<br />
Finnland begleiten.<br />
An die Packerei und die Reise kann ich mich kaum erinnern. Papi hatte uns eine hübsche<br />
Villa gemietet. Jetzt konnte ich mit meinen neuen Förmchen im Sand spielen. Sand kannte<br />
ich bis dahin noch gar nicht. Der Sandkuchen schmeckte zu meiner Enttäuschung<br />
scheußlich, denn der echte von Mutti schmeckte köstlich.<br />
Ellen und Wolf im Sand Ellen und Wolf im Sand Sigrid u. Wolf spielen mit<br />
Wachti<br />
Zum Einzug erhielten wir von der Bäuerin einen Kuchen und Milch. Das Landleben war für<br />
mich etwas völlig Neues. Irene durfte sich im Kuhstall ein Kätzchen aussuchen. Wir sahen
wie die Kühe gemolken wurden und durften sie streicheln, auch die Pferde und den Hund<br />
„Wachti“. Mit diesem spielten Sigrid und Wolfi ganz wild. Dabei riss Wachti ein Loch in<br />
Sigrids Mantel.<br />
11<br />
So lebten wir uns in unserem Haus in Kukula<br />
ein. Das Haus lag auf einer großen flachen<br />
Felsenanhöhe. Es hatte einen Haupt- und<br />
einen Kücheneingang und zur Gartenseite<br />
eine große Veranda. Die große Wohnstube<br />
hatte zu jeder Seite zwei geräumige Zimmer.<br />
Die Küche war gemütlich, der Herd hatte<br />
einen Rauchfang.<br />
Papi hatte das Haus mit sehr einfachen<br />
Möbeln ausgestattet. Im Wohnzimmer stand<br />
der große Esstisch, der zugleich Arbeits- und<br />
Spieltisch war. Hier gab es auch eine<br />
Irene, der Steuermann, ist ins Wasser gefallen gemütliche Sitzecke mit Polstermöbeln. Die<br />
Zimmer wurden mit Petroleumlampen<br />
beleuchtet. In den kalten Jahreszeiten wurden die Öfen mit Birkenholz beheizt. Das Wasser<br />
musste aus einer Quelle geholt werden, bei der sich auch das Waschhaus befand. Wir<br />
genossen die ländliche Freiheit, besonders natürlich im Sommer. Wir konnten barfuß<br />
laufen, auf Bäume klettern, in den großen Scheunen auf den Balken balancieren und ins<br />
Heu springen. Die Scheune nannten wir „Rulli Bulli“.<br />
Cyrri, der Liebling von allen<br />
Für eine ganz kurze Zeit hatten wir eine<br />
Gouvernante, eine sehr altjüngferliche Frau. Sie<br />
zog Sigrid, die sehr begabt war, auf unschöne<br />
Weise Irene vor. Irene fühlte sich gekränkt und<br />
sann mit Wolfi auf Rache. Sie hefteten ihr einen<br />
langen Rattenschwanz an die Kleidung. Das gab<br />
Ärger! Und die Eltern entschieden, dass Fr.<br />
Bernstein uns verlassen musste. Wir hatten<br />
außerdem ein russisches Mädchen, um russisch<br />
zu lernen. Allerdings lernte sie viel schneller<br />
deutsch <strong>als</strong> wir russisch.<br />
Unser Großvater, der mit der Familie Igel und<br />
Omama ebenfalls nach Finnland gekommen war,<br />
übernahm unseren Schulunterricht. Er war sehr<br />
streng, da gab es keine Bummelei.<br />
Ich hatte noch Schonfrist. Als wir noch in Weißenstein wohnten, bin ich eineinhalbjährig aus<br />
dem Fenster auf Pflaster gefallen und hatte mir eine lebensgefährliche Kopfverletzung<br />
zugezogen. Die galt zwar durch ärztliche Betreuung und Pflege <strong>als</strong> ausgeheilt, aber Mutti<br />
behütete mich ängstlich. Wie kränkte es mich, wenn es bei Familienausflügen hieß: Ellen<br />
bleibt zu Hause, sie ist noch zu klein und zart! So war es auch bei dem Ausflug zu den
Imatra-Wasserfällen. Da musste mich Johanna trösten, weil ich mich gar nicht zart und zu<br />
klein fühlte.<br />
Abendstimmung nach einer Bootsfahrt<br />
Bei den Gutenachtgebeten mit unserer Mutter<br />
betete sie, dass unsere Schutzengel uns<br />
behüten und beschützen sollen. Dann sangen<br />
wir die schönen Abendlieder. So konnten wir<br />
fröhlich und geborgen schlafen. Ich suchte oft<br />
Hilfe bei meinem Schutzengel. Ich sprach mit<br />
ihm, wenn ich mit den Puppen und im Sand<br />
spielte oder bei anderen Spielen. Wenn ich mit<br />
kleinen Aufträgen in Nachbarhäuser gehen<br />
musste, war ich sicher, dass mein Schutzengel<br />
mich an der Hand führte.<br />
Eines meiner Puppenlieder, eigentlich ein<br />
Schlager und richtiger Gassenhauer, ich glaube<br />
aber aus einer späteren Zeit. Das Lied passt aber<br />
hier gut hin. Editha und Dagmar kennen auch die<br />
Melodie.<br />
Schlaf Püppchen Lise, Püppchen schlaf ein!<br />
Ich bin so groß,und du bist so klein.<br />
Schließ deine Äuglein, mein Liebling bist du,<br />
schlaf Püppchen Lise, schlafe in Ruh!<br />
In späteren Jahren hatte ich einen Vers in mir, den ich irgendwo aufgeschnappt hatte:<br />
Nun tönt ein Jubel durch den Wald<br />
Wohin ich meinen Fuß auch lenke,<br />
mein Schutzengel mich still umschwebt.<br />
Und was ich tu und was ich denke<br />
Im klaren Lichte ewig lebt.<br />
Zum Beerenpflücken in den Wald durfte ich aber<br />
mit. Jeder erhielt ein weißes Körbchen aus<br />
Birkenrinde. Es gab große Erdbeeren mit<br />
herrlichem Aroma und Himbeeren. Leider<br />
mussten wir uns oft durch Brennnesseln und<br />
Dornengestrüpp zu den Früchten durchdrängen.<br />
Da durfte ich nicht zimperlich sein, trotz arg<br />
zerkratzter Hände und Arme. Im Verlauf des<br />
Sommers konnten wir noch Blaubeeren, die in<br />
Finnland Schwarzbeeren hießen, Preisel- und<br />
Moosbeeren pflücken.<br />
Ein Teil wurde frisch gegessen und aus einem<br />
Teil kochte Mutti wohlschmeckende Speisen,<br />
wie z. B. „Kisell“. Bei Magenbeschwerden gab es<br />
Moosbeeren, die gut halfen. Wir hielten Hühner<br />
und Irene besaß Kaninchen. Schon früh weckte<br />
sie uns zum Gras- und Kräuterpflücken. Ein<br />
besonderer Liebling hoppelte bei uns im Haus<br />
12
herum. Jeder wollte „Schnucki“ bei sich im Bett haben. Wir machten Löcher in unsere<br />
Matratzen und rupften das Heu heraus, das war die Füllung unserer Matratzen.<br />
Eines Tages bekamen wir eine zahme Heuschrecke namens „Karla“ geschenkt. Sie hüpfte<br />
uns überall hinterher, sie war bei allen Mahlzeiten dabei und begleitete uns sogar zum<br />
Badesee. Während wir im Wasser waren, saß Karla auf unseren Kleidern. Sie schlief auf<br />
dem Herd. Da verbrannte sie sich eines Tages ein Sprungbeinchen. Durch eine<br />
Unachtsamkeit geschah es, dass sie in der Küchentür eingeklemmt wurde und starb. Wir<br />
trauerten sehr. Sie wurde feierlich beerdigt. Wolfram, <strong>als</strong> Pastor verkleidet, hielt die<br />
Abschiedsrede. Es gab noch viele weitere Tiergeschichten in unserer paradiesisch schönen<br />
Zeit in Finnland.<br />
Ein Ereignis bewegte mich sehr. Wir bekamen Besuch von einer Frau v. Krusenstern mit<br />
ihrem Sohn und ihrer Tochter. Beide waren etwa im Alter von Wolfram und mir. Die Tochter<br />
hieß Amati, sie hatte vor dem Gesicht einen Schleier, trug weiße Handschuhe, Strümpfe<br />
und Schuhe. Sie litt an einer schweren Hautkrankheit. Sie konnte an unseren Spielen nicht<br />
teilhaben wie im Sand spielen oder auf Bäume klettern usw. Schließlich blieb noch das Spiel<br />
mit meinen Puppen übrig. Dabei erzählte mir Amati, dass sie niem<strong>als</strong> von jemanden einen<br />
Kuss bekäme, weil ihre Haut krustig sei und stark juckend. Sie hob etwas den Schleier,<br />
damit ich ihr Gesicht ansehen könnte, dabei weinte sie. Ach, wie tat sie mir leid! Ich<br />
versprach, zu ihrem Schutzengel zu beten. Amati wurde in späteren Jahren ein gesundes<br />
und hübsches Mädchen.<br />
Die Sommernächte in Finnland blieben immer hell. Wir hatten deshalb dunkelblaue<br />
Vorhänge an unseren Fenstern. Anfangs litten wir unter den Mückenschwärmen, später<br />
wurden wir unempfindlich gegen das Gift. Die Sommersonnenwende wurde groß gefeiert.<br />
Körbe wurden mit Köstlichkeiten vieler Art gefüllt. Johanna trug Decken zum Lagern.<br />
Unsere baltischen Verwandten und Freunde, auch unsere russische Nachbarfamilie,<br />
sammelten sich um eine Feuerstelle. Bald loderten die Flammen hell und knisternd auf. Ich<br />
durfte das alles miterleben. Die besondere Atmosphäre lebt noch heute in mir. Es wurde<br />
gesungen und Liedverse ausgedacht. Auch auf Papi gab es ein Lied: „Der Pastor Maaß ist<br />
halb verrückt, wenn er einen Schwalbenschwanz (Schmetterling) erblickt. Freut euch des<br />
Lebens “. Wenn dann das Feuer herunter gebrannt und nur noch die Glut übrig war, wurde<br />
diese übersprungen. Auch Papi sprang drüber, und ich war sehr stolz auf ihn.<br />
Einmal brach Feuer im Waschhaus aus, und ich fürchtete mich sehr. Papi, der gerade bei<br />
uns war, tröstete mich und sagte, dass Gott uns auch bei Feuersnot behütet. Papi kam mit<br />
Dittelchen in den Ferienzeiten zu uns nach Finnland. Zu allen kirchlichen Feiertagen musste<br />
er in Petersburg bleiben.<br />
Der Übergang von Herbst zum Winter war sehr kurz. Das Haus musste beheizt werden. Der<br />
Winter meldete sich mit dichten Schneefällen. Die Schulkinder stampften durch den hohen<br />
Schnee zu der Schule, an der Opapa unterrichtete. Wir hatten alle Filzstiefel, „Walenki“,<br />
dann dicke Wollsocken, so blieben die Füße immer warm. Die Stiefel hatten keine<br />
Ledersohlen, da es kein Tauwetter mit Patsch gab.<br />
13
Winterlandschaft<br />
und dem Jesuskind einfach nicht. So<br />
verschwanden sie hinter einem Vorhang, und nur<br />
die Füße und Strohhalme waren sichtbar. Da ich<br />
noch nicht schreiben konnte, brachte mir Dittchen<br />
einen Weihnachtsvers bei, den ich bei guter<br />
Betonung aufsagen konnte.<br />
Papi kam erst nach Sylvester zu uns, da er <strong>als</strong><br />
Pastor und Rektor in Petersburg bleiben musste.<br />
So feierte Mutti mit Johanna und uns das<br />
Weihnachtsfest. Einmal klopfte es plötzlich laut<br />
und polternd an die Türe und ein richtiger<br />
Weihnachtsmann mit rotem Mantel, langem Bart<br />
und dicker Mütze trat ein. Trotz dunkel verstellter<br />
Stimme erkannte ich Cousine Frieda Igel. Keck sagte ich:<br />
14<br />
Nun gab es die gemütlichen<br />
Stunden im warm beheizten<br />
Wohnzimmer. Während<br />
gemalt, gebastelt und<br />
andere Handarbeiten<br />
gefertigt wurden, erzählte<br />
uns Mutti spannende<br />
Geschichten. Es war uns<br />
Kinder wunderbar, dass<br />
unsere Mutti für uns Zeit<br />
hatte. Vor Weihnachten<br />
wurde Schmuck für den<br />
Weihnachtsbaum gebastelt.<br />
Jeder von uns malte ein Bild<br />
zu dem Gedicht, das er<br />
aufsagen musste. Mir gelang<br />
mein Bild von Maria, Josef<br />
Haste was, dann setz dich nieder,<br />
haste du nichts, dann pack dich wieder.<br />
Diesen Vers hatten mir die Geschwister beigebracht.<br />
Der Weihnachtsmann Frieda hatte keinen Humor und<br />
versetzte mir ein paar leichte Schläge und schalt<br />
mich. Mir wurde es dann doch etwas ängstlich zu<br />
Mute. Dann kam aber die große Überraschung. Für<br />
jeden von uns holte der grimmige Weihnachtsmann<br />
ein paar Schneeschuhe mit den dazu passenden<br />
Stöcken aus dem Sack. War das ein Jubel. Diese<br />
Schneeschuhe hatte der Dorfschreiner kunstvoll<br />
gearbeitet. Unter den Lederschlaufen für die Füße<br />
war Schaffell befestigt. So hatten die Füße in den<br />
„Walenkis“ festen Halt.
Die Skier (Schneeschuhe) waren hellgelb gestrichen und<br />
fachmännisch geölt. Nun konnten wir den nächsten Tag<br />
kaum erwarten. Am nächsten Tag ging es hinaus, es musste<br />
geübt werden. Am Anfang war Irene die Geschickteste. Bald<br />
machten alle Skiausflüge, die Großen sogar bei<br />
Mondenschein. Ich rutschte im Hof und Garten unter Muttis<br />
Aufsicht herum. Auch sie hatte Ski, war aber nicht sehr<br />
geschickt damit. Das machte Spaß. Wenn wir in den tiefen<br />
weichen Schnee fielen, war das immer ein Anlass zu viel<br />
Gelächter miteinander.<br />
So vergingen die Winter- und Sommermonate unbeschwert mit Spielen und herrlichen<br />
Naturerlebnissen. Es war unsere glücklichste Kinderzeit, die wie ein Atemholen war vor all<br />
dem Schweren, das uns bevorstand. Am liebsten wären wir immer in Finnland geblieben.<br />
Doch der grausame<br />
Krieg erreichte auch<br />
das friedliche Finnland<br />
mit den Kämpfen<br />
zwischen der weißen<br />
und roten Garde.<br />
Petersburg 1917<br />
15<br />
Hier möchte ich noch<br />
etwas einfügen:<br />
Finnland wurde durch<br />
den General Rüdiger<br />
Graf v.d. Goltz gerettet.<br />
Er hieß bei allen Balten<br />
der „Finnen-General“.<br />
Es war Herbst 1917. Papi holte uns eilig nach Petersburg zurück, das inzwischen Petrograd<br />
hieß. Wir packten nur das Nötigste. Hühner und Kaninchen bekamen unsere Bauern.<br />
Unsere große Wohnung in Petersburg kam uns wie ein Gefängnis vor. Wir durften nur in<br />
Begleitung eines Erwachsenen nach draußen. In den großen Anlagen des Taurischen<br />
Gartens konnten wir deutsch sprechen ohne gehört zu werden. Aber was war das gegen die<br />
unendliche Freiheit, die wir in Finnland hatten. Ich fuhr mit einem Dreirad in unserer<br />
Wohnung und dem großen Saal herum und sang meine Sehnsuchtslieder:<br />
Hätt ich Flügel, hätt ich Flügel,<br />
flög ich über Tal und Hügel<br />
nach Finnland hin, nach Finnland hin.<br />
Es begann das Gespenst der Hungersnot. Die Lebensmittel wurden immer knapper, bis es<br />
nur noch Zuteilungen in Rationen gab: 50g Brot pro Person und Tag, darin mehr Häcksel <strong>als</strong><br />
Mehl, fast ungenießbare steife alte Salzheringe, fauliges Sauerkraut, Kaffeemehl aus
Eichelpulver, bitter und scheußlich schmeckend. Mutti formte daraus mit Kakao, der noch in<br />
der Speisekammer war, und Zucker, den Papi von den Diakonissen bekommen hatte, kleine<br />
teelöffelgroße Plätzchen, die auf Papier getrocknet wurden. Unsere Köchin Lena war von<br />
uns gegangen, weil es nichts mehr zu Kochen gab.<br />
Im Diakonissenhaus waren verwundete deutsche Kriegsgefangene untergebracht. Diese<br />
Soldaten, wie auch das Diakonissenhaus, standen unter dem Schutz des schwedischen<br />
Roten Kreuzes. Ab und zu bekamen wir im Arztzimmer Essensreste. Einmal bekam Mutti<br />
von den Diakonissen ein ganzes Brot. Sie versteckte es unter ihrem Mantel, der beim<br />
Aussteigen aus der Tram verrutschte, so dass das Brot sichtbar war. Da musste sie um ihr<br />
Leben laufen oder zumindest um die Rettung des Brotes. Erst <strong>als</strong> die schwere Haustüre<br />
hinter ihr zufiel, hatte sie die schreienden Menschen abgeschüttelt.<br />
Papi musste mit schmerzhaften Hungermagengeschwüren ins Krankenhaus. Dort bekam er<br />
täglich Haferschleim. Davon füllte er etwas in ein Fläschchen. Jeder von uns bekam davon<br />
ein Schlückchen ab, wenn wir ihn besuchten. Unseren Vater so blass und krank zu sehen,<br />
erfüllte uns mit Schmerz und Sorge.<br />
Wenn sie auch vor Nervenanspannung zitterte, war meine Mutti eine unglaublich mutige<br />
Frau. So stand sie eines Tages, wie viele angstvolle Bittsteller, im Warteraum des<br />
bolschewistischen Kommandanten – in der Höhle des Löwen. Als sie endlich an der Reihe<br />
war, stand sie vor einem jungen brutal aussehenden Mann. Auf seine barsche Frage<br />
antwortete Mutti ganz naiv in sehr schlechtem Russisch, dass sie weißes Mehl für ihre<br />
Kinder erbitten wolle, um mit ihnen ein Fest zu feiern. Der Kommandant war völlig verblüfft<br />
und erfüllte ihren Wunsch.<br />
Als Papi im Krankenhaus lag, nahm Mutti uns alle ins große Elternschlafzimmer. Wegen des<br />
Hungers gingen wir alle frühzeitig zu Bett. Im Nebenzimmer summte der Samowar. Jeder<br />
bekam eine Tasse Tee und ein Stückchen Brot mit Muttis Spezialkakaoplätzchen drauf.<br />
Mutti las uns Karl May vor und jeder von uns schlüpfte in eine seiner Figuren. Mir wurde die<br />
Rolle des Bleichgesichtes zugedacht. Mutti zeigte vor uns keine Furcht. Sie vermittelte uns<br />
ihren festen Glauben, dass Gott uns bewahren und erretten würde. Das übertrug sich auf<br />
alle, die in unser Haus kamen, um sich Mut und Trost zu holen. Und endlich durfte auch Papi<br />
wieder nach Hause kommen.<br />
Weihnachten 1917<br />
Es durfte kein Weihnachtsbaum gekauft werden. Papi, der sonst so wunderbare<br />
Weihnachtsfeste zu gestalten verstand, konnte uns in diesem Jahr nichts bieten. Wir<br />
sangen Lieder, von Papi begleitet auf dem Bechstein-Flügel. Wir bekamen von Verwandten<br />
Spielsachen in Mengen. Aber es kam keine Freude auf, da der Hunger quälte. Papi hatte für<br />
uns ein Weihnachtsmärchen gedichtet, welches wir zur Weihnachtsfeier im<br />
Diakonissenhaus aufführten. Der Saal war gefüllt mit verwundeten Soldaten und allen<br />
Diakonissen. Welch eine Erschütterung und Rührung ergriff die Soldaten, <strong>als</strong> deutsche<br />
Kinder Weihnachtsverse aufsagten und Weihnachtslieder sangen. Das war ein Licht in der<br />
Trost- und Hoffnungslosigkeit. Bald sangen alle unter Tränen lautstark die schönen<br />
Weihnachtslieder. Ich erinnere mich noch gut daran, auch an das von uns aufgeführte<br />
16
Märchen, in dem Wolfram und ich Heinzelmännchen spielten. Hier ein Stück unseres<br />
Textes:<br />
Husche, husche – sacht, sacht, sacht,<br />
schleicht der Wichtel durch die Nacht.<br />
Leise muss der Wichtel gehn,<br />
Menschenaug darf ihn nicht sehn.<br />
Eh der helle Tag erwacht,<br />
sitzen wir in Berges Schacht.<br />
Unsere geliebte Omama, Papis Mutter, hatte nach zwei Schlaganfällen ihr Gedächtnis<br />
verloren. Sie begriff nicht mehr, was um sie geschah, weshalb es nichts Richtiges mehr zu<br />
essen gab. Kaum hatte man es ihr erklärt, kam mit zittrigen Lippen die Frage: Ach gebt mir<br />
doch wenigstens ein ganz kleines Kartöffelchen zu essen.<br />
Eines Tages während des Gottesdienstes brach Papi, vom Hunger geschwächt, vor dem<br />
Altar zusammen. Als unser Vater auf der Bahre aus der Kirche getragen wurde, waren wir<br />
alle zutiefst erschrocken. Unser Vater erschien uns wie ein Fels, den kein Unheil treffen<br />
könnte. Gott sei Dank, erholte er sich bald wieder. Es gab keine Pferdedroschken mehr. Alle<br />
Pferde und Haustiere, auch wenn sie vor Hunger krepiert waren, waren aufgegessen<br />
worden. Man konnte Menschen sehen, die vor Schwäche auf allen Vieren krochen. Die<br />
Leichen wurden auf den Straßen gesammelt, wie Holzscheite übereinander gestapelt und<br />
auf die Friedhöfe geschleppt. Es wurde erzählt, dass im Verlaufe einer Stunde 15 solcher<br />
Leichentransporte über eine der Newabrücken transportiert wurden. Es herrschten Typhus,<br />
Ruhr, Cholera und andere Krankheiten. Wolfram und Dittchen bekamen Hungertyphus. Sie<br />
wurden heimlich ins Krankenhaus gefahren und dort sorglich gesund gepflegt.<br />
Da die St. Annengemeinde die Schulen schließen musste, konnte sich die Kirche drei<br />
Pastoren nicht mehr leisten. Papi, <strong>als</strong> der Jüngste, nahm seinen Abschied. Um Petersburg<br />
verlassen zu können, mussten Bescheinigungen über Bescheinigungen besorgt und viele<br />
Hindernisse überwunden werden. Hier setzte sich das schwedische Rote Kreuz hilfreich<br />
ein. Wir wären sonst wohl nie dieser grausigen Mausefalle entronnen. Unser Hauspersonal<br />
erhielt nur Reisegenehmigungen bis zu ihren Heimatorten.<br />
Das erlaubte Gewicht unseres Gepäcks war sehr gering, so konnten wir nur das<br />
Allernötigste mitnehmen. Wir hatten aber schon einen Zustand erreicht, dass uns das alles<br />
gleichgültig war. Wir Kinder legten unsere Puppen schlafen und streichelten noch einmal<br />
über unsere geliebten Bilderbücher. Ich durfte meinen Teddy Mischa mitnehmen. Im<br />
Frühjahr 1918 war es dann soweit. Wir erhielten Plätze in einem Viehwagen und warteten<br />
und warteten. Es wurde unheimlich. Dann hieß es, dass der Zug erst am nächsten Tag<br />
fahren würde. Es blieb uns nichts anderes übrig <strong>als</strong> auszusteigen und wieder zurück zu<br />
kehren und zu warten. Ich kann mich noch gut an unsere bittere Enttäuschung erinnern, und<br />
es gab nichts, wirklich gar nichts zu essen, aber es gab reichlich Tee zu trinken.<br />
Einige Tage später hieß es wieder, dass ein Flüchtlingstransport genehmigt wäre. In drei<br />
Viehwagen wurden an die 300 Deutsche gepfercht. Bei der Kontrolle der Papiere fehlte die<br />
Ausreisegenehmigung von Papi. Das war ein Schock! Wir nahmen unter Tränen Abschied.<br />
Viele Geistliche waren ermordet worden, so auch unser Bischof Malgren. Welch ein<br />
Schmerz, welche Angst hatten wir um unseren Vater. Mit Grauen erinnere ich mich an diese<br />
17
Fahrt. Der Zug blieb immer wieder mitten auf der Strecke stehen. Mit Geld und Schmuck<br />
musste geschmiert werden. Unsere mutige Mutter tröstete uns immer wieder und sagte:<br />
Passt auf, wie Gott uns weiter führen wird, obgleich sie aus Sorge und Leid um Papi selbst<br />
am Rande ihrer Kräfte war.<br />
Schließlich wurden wir in einem Lager in Pleskau untergebracht. Das war wohl die<br />
Endstation. Um das Lager war ein Stacheldrahtzaun gezogen, Ausgang bei Todesstrafe<br />
verboten. Es wurde ständig geschossen und geschrien. Es herrschten Seuchen. Menschen<br />
stöhnten und starben. Das Grauen begleitete uns ständig hautnah. Dazu kam der quälende<br />
Hunger. Und dann – welch ein Unglück: Mein blaues, mit weißem Fell verziertes<br />
Mäntelchen mit Kapuze und weißem Fellmuff war weg. Ich hatte es an einem Nagel<br />
aufgehängt. Wer hatte es gestohlen? Ich glaube auch Sigrids und Irenes Mäntel waren weg.<br />
Wie lange wir in diesem Lager ohne jede Nahrung waren, weiß ich nicht mehr. Irgendwann<br />
durften wir raus und wurden von deutschen Beamten übernommen und nach Werro, einer<br />
Kreisstadt in Estland gebracht. Werro hatte deutsche Besatzungssoldaten aus Sachsen.<br />
Wir waren gerettet, welch ein Wunder! Wir wurden in einem leeren Schulhaus untergebracht<br />
und bekamen Tee zu trinken, vielleicht auch etwas zu essen, daran erinnere ich mich nicht<br />
mehr. Dann kam das nächste Wunder. Mein Vater war mit Hilfe des schwedischen Roten<br />
Kreuzes von deutschen Kriegsgefangenen, u. a. auch Offizieren, mitgenommen worden.<br />
Einer der Offiziere, namens Marks, war verstorben. So kam Papi ohne Aufsehen durch die<br />
Kontrolle. Dass er durch den Tod eines Menschen gerettet wurde, erfuhr er erst später.<br />
Werro / Estland (1918)<br />
Der Bürgermeister in Werro war ein Vetter von Erich Kästner, der mit meinem Vater<br />
befreundet war. Der kümmerte sich um uns und versorgte uns rührend. Wir durften in das<br />
leer stehende Schulgebäude einziehen. Die nötigsten Möbel, wie Betten, Tisch und Stühle,<br />
etwas Wäsche und Sonstiges wurden uns gebracht. Vor allen Dingen: Wir mussten nicht<br />
mehr hungern! Wir mussten ganz vorsichtig mit der Nahrungsaufnahme anfangen. Das<br />
Essen musste mit Wasser verdünnt werden und in ganz kleinen Portionen gegessen<br />
werden. Dittchen erbrach erst alles und wurde sehr krank. Aber auch durch diese Zeit<br />
fühlten wir uns von Gott geführt.<br />
Papi wurde gebeten das Gymnasium wieder aufzubauen. Das war für ihn wie ein Geschenk.<br />
Geeignete Lehrkräfte dafür zu finden, war nicht einfach, da es an Wohnraum mangelte. So<br />
suchte er unverheiratete Lehrer. Pastor Rodrich Mekler wurde <strong>als</strong> Religions- und<br />
Sportlehrer eingesetzt. Wir wurden eine große Familie. Die Schüler waren begeistert. Mutti<br />
gab Zeichen- und Malunterricht. Bei Pastor Mekler durften wir in der Sporthalle turnen. Das<br />
war herrlich. Wir Kinder besuchten eine Grundschule. Ich war durch die lange Hungerzeit<br />
noch so geschwächt, dass ich mich nur sehr schwer konzentrieren konnte. Irene musste am<br />
Blinddarm operiert werden Das war dringend. Sie kam in das deutsche Militärlazarett, wo<br />
sie operiert und bestens verpflegt wurde. Wir durften sie besuchen. Wolfram interessierte<br />
sich hauptsächlich für die Küche, wo er tüchtig verwöhnt wurde. Wir amüsierten uns köstlich<br />
über die sächsische Aussprache der Ärzte und Schwestern. Pastor Mekler teilte uns unsere<br />
täglichen Brotrationen aus, echtes gutes Brot, eine besondere Gabe. Außerdem gab er uns<br />
jeden Morgen einen Löffel Lebertran, scheußlich, aber bestimmt sehr gesund.<br />
18
Auch in Estland und Lettland waren die Spuren des Krieges überall zu sehen und zu spüren.<br />
Die Geschäfte und Häuser waren ausgeplündert. Kleider, Wäsche, Schuhe und Strümpfe<br />
waren nicht zu erhalten. Russische Truppen zogen von Osten heran. Die deutschen<br />
Besatzungstruppen mussten sich nach langen Verhandlungen zurückziehen. Der deutsche<br />
Kommandant riet uns, Estland zu verlassen. Papi <strong>als</strong> deutscher Schuldirektor und Pastor<br />
sei besonders gefährdet. Nach einem intensiven Gebet war er völlig ruhig und<br />
entschlossen. Und wieder hieß es in aller Eile unsere wenigen Habseligkeiten zu packen.<br />
Der Schuldiener packte uns einen Reisekorb. Lehrer und Schüler verabschiedeten sich von<br />
uns und Pastor Mekler. Und wieder Bahnhof und Viehwagen. Der war dieses Mal mit Stroh<br />
ausgestreut und nahm uns alle auf: Die Großeltern, meine Eltern und uns fünf Kinder und<br />
viele andere Flüchtlinge und deren Gepäck. Der Wagon war überfüllt. Es war der letzte Zug.<br />
Hinter uns wurden die Gleise gesprengt.<br />
Es war November und lausig kalt. Unsere Mäntel waren uns ja auf der Flucht von<br />
Petersburg geklaut worden. Wir froren furchtbar. Der Lokführer, ein Este, nutzte die Not der<br />
Flüchtlinge aus. Er ließ den Zug immer wieder halten und musste bestochen werden, um<br />
weiter zu fahren. Wir hatten Milch in einer Flasche mit genommen. Die war gefroren. Mutti<br />
nahm Wolframs Füße an ihren Bauch, um sie vor Erfrierung zu bewahren. Mich nahm ein<br />
gütiger Herr in seinen Pelz, so hatte ich es warm. Der Wind fegte durch die Ritzen des<br />
Waggons. Es war eine widerliche Fahrt. Endlich, endlich kamen wir in Riga an und wurden<br />
von Muttis Geschwisterfamilien liebevoll aufgenommen. Wir konnten uns einige Tage<br />
erholen und kräftigen. Ich bekam einen Mantel, der mir viel zu groß war. Ich weinte, weil er<br />
kratzte und hässlich war. Auch hier herrschte große Besorgnis vor der bolschewistischen<br />
Gefahr. Ich erinnere mich an die lieben Großeltern, Muttis Eltern v. Haken. Großmama hatte<br />
uns einen wunderbaren Tisch gedeckt mit köstlichen Speisen und Silber- und<br />
Kristallgeschirr. Großpapa nahm mich leichte Last auf den Arm und küsste mich. Er war<br />
Arzt. Mir fielen zwei Bilder auf, die zwei junge wunderschöne Frauen zeigten. Großpapa<br />
erklärte mir: „Das eine war deine Großmutter, das andere deine Großtante. Es waren die<br />
schönsten Frauen in Riga.“<br />
Nach erholsamen Tagen in Riga fuhren wir weiter, dieses Mal in einem Personenzug, der<br />
ebenfalls völlig überfüllt war. So erreichten wir die erste reichsdeutsche Grenzstadt – Tilsit.<br />
Tilsit 1918<br />
Da waren wir nun umdrängt von Hunderten von Flüchtlingen und Soldaten. Diese oft mit<br />
verbundenen Köpfen, die Arme in Schlingen, lauter verzweifelte Menschen nach dem<br />
verlorenen Krieg. Ich erinnere mich noch wie wir in der kalten zugigen Bahnhofshalle<br />
zitternd vor Müdigkeit und Kälte auf dem nassen Boden kauerten.<br />
Papi fand schließlich mit Hilfe der Polizei einen leeren ungeheizten Raum. Hier verbrachten<br />
wir die Nacht auf harten Stühlen, frierend und bibbernd. Das war besonders schwer für<br />
unsere alten Großeltern. Omama war inzwischen so dement, dass sie die Situationen gar<br />
nicht mehr erfasste und dauernd fragte, wo wir uns denn befänden.<br />
Am nächsten Tag stellte sich Papi dem Superintendenten Schawaller vor. Der konnte uns<br />
vorübergehend in einem Altersheim mit dem großartigen Namen „Krönungs-Jubiläumsstift“<br />
unterbringen. Wir erhielten einen großen Raum, in dem Strohmatratzen ausgelegt waren<br />
19
mit Kissen und Federbetten. Auch ein Tisch und Stühle wurden uns gebracht und sicherlich<br />
auch ein heißes Getränk. Wir waren so ausgekühlt, dass wir trotz der dicken Federbetten<br />
zunächst nicht warm wurden. Federbetten, die es im Baltikum nicht gab, kannten wir nur von<br />
Wilhelm Buschs Frau Bolte aus Max und Moritz. Irene und ich kuschelten uns dicht<br />
aneinander. So erlebten wir die letzten Tage der Adventszeit und die Weihnachtstage 1918.<br />
Ich selbst habe keine richtige Erinnerung an diese Zeit. Irene bekam von irgendjemandem<br />
Glashündchen geschenkt, mit denen wir spielten. Von irgendwoher war das Geläut von<br />
Kirchenglocken zu hören. Posaunen ertönten und begrüßten das neue Jahr 1919. Papi<br />
sprach ein Dankgebet für die Hilfe und seinen Neuanfang.<br />
Trotz aller Entbehrungen und Not und schrecklichen Fluchterlebnissen waren wir doch<br />
behütet und bewahrt in Deutschland gestrandet – noch recht benommen und zerzaust, aber<br />
voll erfüllt von Gottes Führung und Hilfe.<br />
20<br />
Unsere stets so zuversichtlich<br />
denkende Mutter sagte: „Nun<br />
bin ich gespannt, wie Gott uns<br />
weiter helfen wird!“<br />
In Tilsit sprach es sich herum,<br />
dass ein Pfarrer aus<br />
Petersburg mit fünf Kindern<br />
völlig ausgeplündert im<br />
Krönungs-Jubiläumsstift<br />
untergekommen sei. Schon<br />
bald erhielten wir Pakete mit<br />
Altkleidern, Wäsche und lauter<br />
brauchbaren Dingen. Schön<br />
waren sie nicht, auch mussten<br />
sie geflickt werden. Es waren<br />
Dittchen, Ena, Sigrid, Wolfi , Ellen, Tilsit 1918<br />
auch Schuhe und Strümpfe<br />
dabei. Meine Schuhe waren<br />
mir zu klein geworden, nun fand ich welche, die mir zu groß waren. Da musste Papier rein<br />
gestopft werden, und so ging es.<br />
Mein Vater stellte sich dem Magistrat vor. Die zweite Pfarrstelle war frei geworden, für die es<br />
außer meinem Vater mehrere Bewerber gab. Er bekam nach einer Probepredigt den<br />
Zuschlag. Zu dieser Stelle gehörte auch Land, das jenseits der Memel lag. Ein Bauer<br />
lockerte den Boden und setzte Kartoffeln, die wir dann ernten konnten.<br />
Nach dem verlorenen Krieg war das Memelgebiet Litauen zugesprochen worden. Durch das<br />
Völkergemisch von gestrandeten Menschen war die Gegend unsicher. Schwarzhandel und<br />
Kriminalität herrschten überall. In dem Altenheim, in dem wir untergebracht waren, lebten<br />
auch geistig verwirrte Menschen. Da hatte ich ein unheimliches Erlebnis. Ich kam zurück<br />
von einem kleinen Auftrag bei uns in der Nähe. Ich merkte, dass mich ein Mann verfolgte,<br />
näher kam und „komm“ grunste. Ich bekam einen riesigen Schreck, rannte zu unserem<br />
Heim und sauste – soweit das mit meinen zu großen Schuhen ging – die Treppe rauf. Der<br />
Mann kam immer hinter mir her und keuchte „Ich krieg dich doch!“ Ich landete an der<br />
Bodentür, die aber verschlossen war. Nun kauerte ich mich hin, machte mich ganz klein und<br />
betete zu Gott und meinem Schutzengel. Der Mann stand vor mir, schaute zu mir herunter,
drehte sich um, und ging kopfschüttelnd die Treppe wieder runter. Es war ein harmloser<br />
Irrer.<br />
Es war bitterkalt. Wir erhielten in der Bürgerhalle täglich ein Armenessen. Da durften wir uns<br />
alle satt essen. Es schmeckte uns köstlich nach dem vielen Hunger. Wir Kinder wurden<br />
freundlich bewirtet und immer wieder aufgefordert: Esst Kinderchen, esst nur bis ihr satt<br />
seid! Und das taten wir.<br />
Dittelchen und Irene änderten und nähten von den gespendeten Kleidern und Stoffen<br />
Anziehsachen für uns. Ich schämte mich, weil ich mein Kleid sehr hässlich fand.<br />
Deutsche Straße in Tilsit Luisenbrücke in Tilsit<br />
Pfarrwohnung - 1919<br />
Die uns zugewiesene Wohnung in der Deutschen Straße Nr.1 lag neben der schönen<br />
Ordenskirche, nur durch die Memelstraße getrennt. Wir sahen aus dem Fenster die<br />
Memelbrücke mit den schönen Bögen und dem prächtigen Portal. Ebenfalls nah an der<br />
Deutschen Straße befand sich das Königin-Luise-Haus, wo sich die preußische Königin mit<br />
Napoleon zu einer Aussprache getroffen hatte, leider nicht mit dem erhofften Erfolg.<br />
Es gab zwei Pfarrwohnungen, die durch eine große Aula getrennt waren. Dann gab es noch<br />
die Küsterwohnung und zwei große Gemeinderäume. In das Haus kam man durch eine<br />
schwere Haustür, dahinter befand sich eine doppelseitige Schwingtür. Dann im Vorderhaus<br />
eine Treppe hoch, da war unsere Tür, dahinter unsere Wohnung! Sie bestand aus 11<br />
Zimmern und einigen Kammern, leer, ziemlich verwohnt, nicht sehr anheimelnd. Der größte<br />
Raum wurde später unser Saal. Wir fanden eine alte kaputte Nähmaschine und eine Kiste,<br />
auf die sich Mutti blass und erschöpft gesetzt hatte. Sie hatte ein Herzleiden. Wir trösteten<br />
Mutti, in dem wir sagten, dass nichts da ist, was wir kaputt machen könnten. Schließlich<br />
siegte wieder einmal ihr Vertrauen in Gottes Führung und ihre Zuversicht, etwas müde, aber<br />
immerhin: „Wir wollen Gott danken, dass Papi eine Stellung hat, und wir alle dadurch eine<br />
große Wohnung. Wir werden es erleben, wie Gott uns alles geben wird, was wir brauchen.“<br />
So war es dann auch. Die Wohnung wurde nach und nach renoviert. Wir bekamen ein<br />
schönes Badezimmer mit einem elektrischen Ofen und eine Toilette.<br />
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Hinter dem großen Pfarrhof lagen die beiden Pfarrgärten. Zu unserem Garten gehörte ein<br />
Gartenhaus. Da hielten wir uns bald einige Hühner und auf Irenes Wunsch auch Kaninchen.<br />
Es gab Obstbäume und Beerensträucher. Papi legte Gemüsebeete an. Spielzeug hatten wir<br />
noch nicht, aber unsere Phantasie war nicht verloren gegangen. Blätter waren unser Geld,<br />
und man konnte ja so viel verkaufen!<br />
Viel Geld hatte Papi nicht, aber eine wichtige Anschaffung leistete sich Mutti: Zeichenpapier,<br />
Aquarell- und Ölfarben und Pinsel. Ihre Bilder und Bilderbücher musste sie in Petersburg<br />
zurück lassen, außer zwei Kinderbüchern, den so genannten Finnlandbüchern. Diese hatte<br />
sie in der Zeit in Finnland gestaltet. Es waren Zeichnungen von uns Kindern, auch<br />
Landschaftsbilder. Sie haben den Titel: Baltische Kinder im hohen Norden. Ursprünglich<br />
waren es drei Bücher, zwei davon wurden wie durch ein Wunder gerettet.<br />
Wir erlebten immer wieder Wunder. Muttis Zuversicht bewahrheitete sich. Die<br />
Hilfsbereitschaft der Tilsiter Gemeinde war groß. Ein Möbelwagen fuhr auf unseren<br />
Pfarrhof: „Sind wir hier richtig bei Pfarrer Maaß? Wir sollen hier Möbel ausladen.“ Oh, ja, da<br />
waren sie wirklich richtig. Wir erhielten Betten, schöne und einfache, ja, die brauchten wir!<br />
Dann Tische, Stühle, Schränke, Kommoden und sogar eine ganze Esszimmereinrichtung<br />
für 12 Personen. Ein sehr eigenartiges lustiges Möbelstück war auch dabei: Es waren zwei<br />
Sessel, in denen man sich gegenüber saß, dazwischen eine Konsole, auf der man z.B.<br />
Schach spielen konnte. Wir nannten dieses Möbelstück Kussstuhl. „Von wem stammen<br />
diese ganzen Möbel?“ „Das dürfen wir nicht sagen.“ Später erfuhren wir, dass ein Herr<br />
Lesch, Besitzer eines Hotels und einer Weinhandlung, der großzügige Spender war. Daraus<br />
entstand eine langjährige Freundschaft.<br />
Wir erhielten in unterschiedlichen Zeitspannen von anderen Menschen weitere Möbel und<br />
sogar ein Klavier von einer alten Dame, Frl. Sinhuber. Und dann ereignete sich noch ein<br />
Möbelwunder. Dazu gibt es aber eine Vorgeschichte, die ich nur aus den Erzählungen<br />
meiner Geschwister kenne.<br />
Meine Großeltern – der Adelstitel<br />
Meine Großeltern väterlicherseits lebten um 1915 auf der Insel Ösel in der Stadt<br />
Ahrensburg/Estland. Dort hatten meine Großeltern ein schönes Haus mit Veranda und<br />
Garten. Mein Großvater wurde in den Stadtrat gewählt und erhielt das Ressort der<br />
Finanzverwaltung. Diese war in desolatem Zustand und die Stadt völlig verschuldet.<br />
Innerhalb weniger Jahre waren alle Schulden getilgt. In einer Zeitung erschien ein Artikel,<br />
„Ahrensburg ist ein weißer Rabe unter den Städten Ösels.“ Mein Großvater wurde mit einem<br />
hohen Orden ausgezeichnet und erhielt vom Zaren den erblichen Adelstitel. Sicherlich wird<br />
er sich darüber gefreut haben, aber einen russischen Adelstitel lehnte er ab und hat davon<br />
keinen Gebrauch gemacht. Auch mein Vater und seine Brüder haben den Titel nicht<br />
übernommen. Mein Vater freute sich an den Ehrungen anderer, machte sich aber für seine<br />
Person nichts aus äußeren Anerkennungen, so wie er eine Bestätigung seines Doktortitels<br />
nie angefordert hat.<br />
So, und nun wieder zu der Geschichte mit den Möbeln. Eines Tages landete ein großes<br />
Floß mit russischen Flößern an der Memeltreppe. Da lagen auch Schiffe vor Anker. Die<br />
22
Mannschaft fragte in gebrochenem Deutsch nach dem Herrn Amtsrat Maaß aus<br />
Ahrensburg. An das Floß und seine Mannschaft kann ich mich nicht erinnern, aber an die<br />
Möbel. Sie stammten aus dem Haus der Großeltern in Ahrensburg. Es waren vor allen<br />
Dingen Saalmöbel (im Baltikum nannte man das Wohnzimmer Saal), Plüschsofas, runde<br />
und ovale Tische, ein hoher Spiegel auf einem Podest mit Marmorplatte, ein sehr schöner<br />
Mahagonischrank und ein Kronleuchter und Teppiche.<br />
Da mein Vater sein ganzes Vermögen und alle Ersparnisse verloren hatte, so wie auch<br />
unser einst recht vermögender Großvater, mussten wir sehr sparsam leben. Durch ein<br />
Versehen eines Beamten waren die Dienstjahre im Baltikum und in Petersburg nicht<br />
angerechnet worden. Dadurch war sein Gehalt sehr bescheiden. Der Beamte bat meinen<br />
Vater flehentlich, ihn nicht anzuzeigen, da er sonst seine Stellung verlieren würde, von der<br />
seine große Familie abhinge. Mein Vater wollte sein Pfarramt nicht mit dem Unglück eines<br />
Menschen beginnen.<br />
So erhielt er nur ein Anfangsgehalt. Es blieb auch gering trotz seiner umfangreichen Arbeit.<br />
Nach Aussage meines Vaters empfand er die Zeit in Tilsit <strong>als</strong> die schönste und<br />
segensreichste Arbeit seines Lebens.<br />
Frl. Sinhuber, die alte Dame, von der wir das Klavier bekommen hatten, bat meinen Vater,<br />
ob er ihr ein Zimmer vermieten könnte. Sie hätte keine Angehörigen, möchte aber in kein<br />
Altersheim, eigene Möbel hätte sie. So zog Frl. Sinhuber bei uns ein. Sie bekam einen<br />
schönen großen Raum, den wir ihr gemütlich einrichteten. Am liebsten saß sie auf ihrem<br />
Lehnstuhl und las ihre alten angesammelten Briefe. Irene und ich versorgten ihr Zimmer,<br />
machten das Bett und reinigten Waschschüssel, Nachttopf und Eimer und füllten die<br />
Wasserkaraffe. Sie hatte ein Eisbärenfell. Darauf habe ich oft gesessen und zugehört, wenn<br />
sie aus ihrem Leben erzählte. Frl. Sinhuber hatte einen kleinen Buckel und eine rote sehr<br />
gepflegte Perücke. Irene brachte diese hin und wieder zum Friseur zum Waschen und<br />
Frisieren. Irene behauptete, dass auf dem von spärlichen Haaren bedeckten Kopf große<br />
Läuse wären. Irene war zwar sechs Jahre älter <strong>als</strong> ich, aber genauso kindisch. Wir ekelten<br />
uns sehr. Dabei hatten wir auf unseren Fluchten in den schmutzigen Viehwaggons selber<br />
unter Läuseplagen zu leiden gehabt. Mutti hatte mir in dieser Zeit die Haare kurz<br />
geschnitten. Frl. Sinhuber hatte sicherlich keine Läuse.<br />
Einmal, <strong>als</strong> wir Schwestern am Esstisch unsere Schulaufgaben machten, trank Sigrid aus<br />
einem Glas Wasser, das da stand. Da lauste mich der Affe und ich sagte: „Ätsch, das war<br />
Frl. Sinhubers Augenwasser!“ Wir lachten alle. Sigrid sprang auf und schlug mich und<br />
schrie: “Ihr seid alle gemein“, entschuldigte sich dann aber gleich wieder bei mir. Dann lief<br />
sie in den Saal zum Klavier und spielte: Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott erhör mein<br />
Rufen! Wir hatten Frl. Sinhuber gerne, sie nahm am Familienleben teil. Eine gewisse<br />
Distanz blieb aber immer. In ihrer Bescheidenheit und Zurückhaltung machte sie uns keine<br />
Mühe, aber ob sie bei uns glücklich war, weiß ich nicht. Nach einer kurzen Krankheit starb<br />
sie friedlich. Das Klavier von ihr war inzwischen ein Mittelpunkt unseres Lebens geworden.<br />
Papi spielte zu den Abendandachten Choräle darauf, und auch sonst war es ein<br />
Anziehungspunkt. Ich hatte Klavierstunden und übte fleißig.<br />
In Tilsit war von dem verlorenen Krieg kaum etwas zu merken. Auch in der Schule merkte<br />
ich nichts von Armut. Außerhalb der Stadt gab es aber viele Flüchtlinge, die in<br />
verschmutzten armseligen Baracken Unterkunft gefunden hatten. In diesem Umkreis gab es<br />
auch kriminelles Gesindel. Dorthin ging ich, <strong>als</strong> ich etwas älter geworden war. Ich sorgte für<br />
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eine kranke Frau, säuberte den völlig verdreckten Fußboden und nahm ihr Baby, ein<br />
Mädchen, und die ältere Schwester mit nach Hause. Für diese sorgte Irene. Wir badeten die<br />
Kinder, befreiten sie von Läusen und kleideten sie von unseren Kleiderspenden neu ein.<br />
Nach einigen Tagen brachten wir sie wieder zurück und konnten ihnen noch Kleidung und<br />
Wäsche mitgeben.<br />
Wir wurden gewarnt, uns nicht außerhalb von Tilsit aufzuhalten. Auch innerhalb der Stadt<br />
sollten wir uns in acht nehmen. Einmal im Winter, <strong>als</strong> die Memel zugefroren war, spielten<br />
Wolfram und ich auf dem Eis. Da kam ein Schlitten mit einem Mann auf uns zu. Er forderte<br />
uns zu einer Schlittenfahrt auf und lockte mit einer Schokoladentafel. Wolfram wollte schon<br />
los laufen, mir fielen aber die Warnungen ein. Da fand Wolfram den Mann auch unheimlich,<br />
und wir liefen eiligst weg. Einige Tage später berichtete eine Tageszeitung von einem<br />
Kindermord auf der Memel!<br />
Dann erlebte ich zum zweiten Mal, dass mich ein Mann verfolgte. Ich war auf dem Heimweg<br />
auf einer belebten Straße und merkte nicht, dass ein Mann mir folgte. Erst <strong>als</strong> ich auf den<br />
fast menschenleeren Fletscherplatz kam, hörte ich die Schritte hinter mir, die sich den<br />
meinen anpassten. Den Platz musste ich überqueren, um zu unserem Haus zu gelangen.<br />
Ich ging schneller, mein Verfolger auch, dann rannte ich los. Der Mann hinter mir rief: „Ich<br />
bekomme dich doch!“ Ich konnte sehr schnell laufen, war schon bei der Haustüre, dann die<br />
Treppe hoch. Ich hörte den Mann hinter mir keuchen, kam an unsere Wohnungstür, läutete<br />
Sturm und hämmerte mit den Fäusten gegen die Glasscheibe, so dass sie zersplitterte. Da<br />
ging die Tür auf und Licht wurde gemacht. Ich stürmte hinein und war gerettet!<br />
Dittchen, unsere älteste Schwester, respektierte ich sehr. Sie zog sich gern zurück, spielte<br />
Klavier oder las und hatte ihren eigenen Freundeskreis. Manchmal lud sie Irene, mich,<br />
Sigrid und Wolfram dazu ein. Einmal rief sie mich, um mit mir vierhändig Klavier zu spielen.<br />
Das machte mir großen Spaß, die Kinderlieder klangen so voll und melodisch, dass es für<br />
mich ein großes Erlebnis blieb.<br />
Unsere Mutter liebte Schokolade. Deshalb hatte Sigrid den Plan, wenn uns Schokolade<br />
angeboten würde, dass wir diese nicht essen, sondern in die Taschen unserer Unterröcke<br />
stecken. So hatten wir schon eine ganze Schachtel voll gesammelt. Dann, <strong>als</strong> wir sie wieder<br />
aus dem Schrank holten, war sie leer. Wir waren fassungslos vor Schreck, wer konnte das<br />
gewesen sein. Es konnte nur das Mädchen Helmi sein, die für Küchenarbeiten eingestellt<br />
worden war. Helmi weinte auch gleich los. Sie hätte eigentlich nur ein Stückchen naschen<br />
wollen, dann konnte sie sich nicht bremsen und hätte jeden Tag genascht, bis die Schachtel<br />
leer war. Ach, wir waren traurig und weinten. Da klingelte es an der Haustür. Ich lief, um zu<br />
öffnen. Da stand Baron von Sanden, von uns Onkel Basti genannt. Ihm gehörte das Gut<br />
Tusainen an der Memel. Er sah mein verweintes Gesicht und fragte nach dem Grund<br />
meiner Tränen. Ich erzählte ihm das ganze Drama. Er lud uns alle zu einer Autofahrt ein und<br />
kaufte einen Schokoladenkasten und andere Süßigkeiten. Dieses Mal versteckten wir die<br />
Köstlichkeiten sorgfältig <strong>als</strong> Weihnachtsgeschenk für Mutti. Helmi verziehen wir und sie<br />
durfte mit uns spielen und fröhlich sein.<br />
24
Schule<br />
Natürlich mussten wir zur Schule angemeldet werden. Dittchen, 16 Jahre alt, übersprang<br />
gleich zwei Klassen. Sigrid wurde nach kurzer Zeit in ihrer Klasse zur Klassensprecherin<br />
gewählt. Irene, obgleich drei Jahre älter <strong>als</strong> Sigrid, kam in dieselbe Klasse. Sie war nur in<br />
einigen Fächern gut, ihre Begabungen lagen auf anderen Gebieten. Sie war aber bei allen<br />
Mitschülerinnen sehr beliebt. Ich war 8 Jahre, eigentlich schon fast 9 Jahre alt, <strong>als</strong> ich<br />
eingeschult wurde.<br />
Die Entbehrungen und die Hungerzeiten hatten ihre Spuren hinterlassen. Ich konnte mich<br />
nur schwer konzentrieren, war noch ein echter Kümmerling. Außerdem schämte ich mich<br />
wegen der schlechten und hässlichen Kleidung. In Singen, Zeichnen und Sport war ich sehr<br />
gut, aber ansonsten konnte ich schulisch nicht glänzen. Meine Klassenlehrerin, Charlotte<br />
Kayser, war auch zugleich meine Zeichenlehrerin. Sie war bezaubernd und nahm mich<br />
immer wieder liebevoll in den Arm, während sie mir Vieles erklärte. Charlotte Kayser war<br />
außerdem Malerin und Schriftstellerin. Wolfram kam mit seinen 10 Jahren ins Gymnasium.<br />
Wegen seiner schlechten Kleidung wurde er spöttisch begrüßt. Von einem groß<br />
gewachsenen Jungen wurde er mit „Na, du Russe“ verhöhnt. Wolfram war zwar für sein<br />
Alter klein, aber recht kräftig. Er neigte zum Jähzorn und war leicht zu reizen. „Wer nennt<br />
mich Russe? Ich bin ein deutscher Junge!“ Der große Junge sprang herausfordernd vor und<br />
Humanistisches Gymnasium in Tilsit<br />
bekam von Wolfram gleich einen so kräftigen Schlag, dass er mit den Kopf gegen den Ofen<br />
schlug und sich eine Platzwunde zuzog. Das gab eine große Aufregung und Wolfram sollte<br />
die Schule gleich wieder verlassen. Er erklärte unter verhaltenem Schluchzen, dass er mit<br />
„Russe“ beschimpft worden sei, das könne er sich nicht gefallen lassen, er sei ein deutscher<br />
Junge.<br />
Direktor v. Holzt wurde herbeigerufen. Er war noch aus der Zeit im Baltikum gut befreundet<br />
mit meinem Vater. Alles wurde geregelt. Wolfram gehörte bald zu den Besten seiner Klasse,<br />
25
war sehr beliebt und besonders geachtet durch seine sportlichen Leistungen. Auch sein<br />
„Feind“ wurde sein Freund.<br />
In der Anfangszeit in Tilsit hatten wir ständig Hunger. Das niedrige Gehalt meines Vaters<br />
war immer schnell ausgeschöpft. So konnten wir zur Schule nur ein Stück trockenes Brot<br />
mitbekommen, das uns aber gut schmeckte. Es fiel uns auf, dass Kinder, meistens<br />
Landkinder, ihre Brote oft in den Papierkorb im Flur warfen. Irene, immer praktisch, nähte<br />
uns in die Unterröcke Taschen. Da steckten wir die Brote rein, wenn wir sie in einem<br />
unbeobachteten Moment aus dem Papierkorb holen konnten. Mir passierte die Peinlichkeit,<br />
dass ich von einer Schülerin dabei beobachtet wurde. Vor Scham weinte ich gleich los.<br />
Armut empfanden wir <strong>als</strong> Schande. Käthe Sokolow, ein jüdisches Mädchen, nahm mich in<br />
den Arm und beruhigte mich, sie wüsste, dass wir Flüchtlinge aus Russland wären, alles<br />
verloren hätten und sehr arm wären. Von da an lag über eine lange Zeit jeden Tag auf<br />
meiner Tasche ein in Pergamentpapier eingeschlagenes belegtes Brot.<br />
Einmal wurde ich von Sokolows zu einem jüdischen Fest eingeladen. Das hatte mich sehr<br />
beeindruckt. Es gab ungesäuertes Brot, „Matzen“, und noch andere Sachen zu essen. Bei<br />
Kerzenbeleuchtung las der Großvater, mit weißem Haar und Bart, aus dem alten Testament<br />
vor und segnete uns <strong>als</strong> Patriarch alle. Das war sehr feierlich. – Natürlich erzählte ich Papi<br />
von meinem Erlebnis in der jüdischen Familie Sokolow. Papi erklärte mir, dass Jesus ein<br />
Jude war, der anfänglich glaubte, dass sein Auftrag dem jüdischen Volk galt. Die Juden<br />
erkannten ihn aber nicht <strong>als</strong> Messias an, sondern <strong>als</strong> ihren höchsten Propheten. – Nach<br />
dem 2. Weltkrieg habe ich mich in Israel nach der Familie Sokolow erkundigt. Der Name war<br />
bekannt, aber nicht diese Familie.<br />
Auf den Straßen wurde ein Lied „gesungen“, ein richtiger Gassenhauer, in das auch ich<br />
fröhlich mit einstimmte. Der Inhalt des Textes war mir nicht bewusst, erst <strong>als</strong> er mir erklärt<br />
wurde. Ich schämte mich sehr, so sehr, dass ich das Lied bis heute nicht vergessen habe.<br />
Es war die Melodie, die mich mitriss, die ich aber nicht mehr übermittelt habe. Niemand soll<br />
dieses Lied noch singen können. Aber es ist ein Zeugnis dieser Zeit.<br />
Unser Hund Hallo<br />
Hallo, die Synagoge brennt, hallo, das Judenpack, das rennt.<br />
Und der Herr Rabbiner, der sammelt seine Hühner,<br />
mit krummer Nas„ und krumme Been„<br />
führt er sie nach Jerusalem.<br />
Zu unserem großen Jubel kauften unsere Eltern ein Hundebaby. Es war ein<br />
Mischlingshund, ähnlich einem irischen Spitz. Es war ein Rüde mit dunklen, sehr<br />
ausdrucksvollen Augen, schwarzer Nase und einem weichen, langhaarigen Fell. Wir tauften<br />
ihn „Hallo“. Als erstes badeten wir unser Baby, was ihm überhaupt nicht gefiel. Er<br />
entwickelte sich zu einem wunderschönen, lernfreudigen und gescheiten Hund. Wolfram<br />
brachte ihm Gehorsamspflichten bei, wie „Sitz“ oder sein Futter erst nach dem Wort „nimm“<br />
zu fressen. Hallo konnte auch Türen öffnen, was Leute, die zu meinem Vater wollten und<br />
sich vor Hunden fürchteten, nicht so gut fanden. Er griff aber nur auf Befehl an, und das<br />
auch nur mit warnendem Knurren und mit Gebell. So war Hallo auch ein Schutz für uns.<br />
Wenn wir ihn auf der Straße riefen, gab es oft Verwirrung bei den Passanten, die sich bei<br />
26
Wolf und Ellen mit Hallo, Tilsit ca. 1925<br />
27<br />
„Hallo“ umdrehten, was uns<br />
großes Vergnügen bereitete.<br />
Von den vielen Hunden in<br />
unserem Leben war „Hallo“<br />
mein unvergesslicher<br />
Liebling.<br />
Einige Jahre später, Wolfram<br />
war schon ein Jüngling,<br />
besorgte er sich eine<br />
Wolfshündin „Diana“. Diese<br />
dressierte er auch großartig<br />
und brachte ihr einige<br />
Kunststücke bei. Diana trug<br />
seine Schultasche und Hallo<br />
seine Mütze. So imponierte<br />
er den Mädchen.<br />
Wir hatten an unserer Schule einen netten Musiklehrer, Herr Kromat. Vor allem gab er uns<br />
Gesangsunterricht, schulte unsere Stimmen und legte Wert auf eine deutliche Aussprache.<br />
Notenlehre hielt er für nicht so wichtig. Er vermittelte uns Freude am Singen, an zwei-, drei-<br />
und vierstimmigen Liedern. Es machte uns großen Spaß. Er gab uns auch<br />
Mathematikunterricht. Darin war ich schwach, er half mir oft. Da er sehr humorvoll und lustig<br />
mit uns umging, getraute ich mich eine Zeichnung auf die Tafel zu malen.<br />
Wir hatten eine Schwenktafel. Auf die Rückseite malte ich ein Baby auf einem Töpfchen mit<br />
einem Lätzchen, auf dem stand: Mamas Liebling. Herr Kromat war unschwer zu erkennen.<br />
Während des Unterrichtes schwenkte er die Tafel. Er war verblüfft und musste sich das<br />
Lachen verkneifen. Er wusste sofort, wer die Täterin war, und drohte: „Das nächste Mal<br />
werde ich dir wohl nicht bei deinen Rechenaufgaben behilflich sein!“ Dann aber lachten er<br />
und die ganze Klasse. Mein schönes Gemälde musste ich wegwischen.<br />
Welch eine Enttäuschung war es, <strong>als</strong> Herr Kromal nach den Ferien nicht mehr kam. Als<br />
Ersatz kam ein Herr Hartung, Chorleiter des Lutherknabenchors. Das war ein großartiger<br />
Chor. Er begrüßte uns kurz und fragte, wie es um unsere Notenkenntnisse stünde, diese<br />
wolle er sofort überprüfen mit Hilfe eines Notendiktates. O je – aus dem Gesangsunterricht<br />
und den wenigen Klavierstunden kannte ich zwar Noten. Diese aber nach Gehör zu<br />
benennen und aufzuschreiben konnte ich, wie die meisten aus meiner Klasse, nicht. Herr<br />
Hartung spielte die Töne auf dem Klavier und schrie in die Klasse: „Na los, arbeitet!“ Ich<br />
stieß meine Nachbarin an und fragte sie leise, ob sie das verstünde. Herr Hartung schrie<br />
mich an: „Du alte Sau, schwatz nicht, sondern pass auf!“<br />
Nach dem Unterricht waren alle sehr aufgeregt. Nahezu alle fühlten sich beschimpft. Dass<br />
er mich aber alte Sau genannt hatte, war für alle empörend. Sie redeten mir zu, mir das nicht<br />
gefallen zu lassen und ihn anzuzeigen. Also ging ich zu Direktor Hanisch mit klopfendem<br />
Herzen und sehr beklemmendem Gefühl und erzählte ihm den Ablauf dieser ersten<br />
Musikstunde. Unsere Familie war ihm bekannt, er war öfter bei uns zu Besuch. In der<br />
nächsten Musikstunde fragte Herr Hartung die Schüler, ob jemand in der Klasse diese<br />
Worte gehört hätte oder ob er irgendjemanden aus der Klasse beschimpft hätte oder ob er<br />
grob gewesen wäre. Betretenes Schweigen und niemand sagte etwas, alle hatten Angst.
Nun wandte er sich an mich mit den Worten, dass ich ihn lügnerisch verleumdet hätte, ich<br />
müsste deshalb die Schule verlassen.<br />
Ich packte meine Sachen und schaute immer wieder meine Mitschüler enttäuscht und<br />
empört an und lief dann tränenüberströmt aus der Klasse. Ich warf mich meinem Vater in die<br />
Arme und erzählte ihm die ganze Geschichte. Papi beruhigte mich und sagte: „Das wird<br />
wohl Onkel Otto entscheiden müssen.“ Onkel Otto, Papis Bruder, Professor in Königsberg<br />
und Oberschulrat von West- und Ostpreußen, kam so schnell, wie er es einrichten konnte.<br />
Er sagte zu mir: „Na, was hast du denn angestellt?“ Ich gehörte zu seinen Lieblingsnichten,<br />
und ich liebte ihn auch sehr. Das blieb auch so bis zu seinem Tod. Er starb <strong>als</strong> alter Mann. Er<br />
hatte mit Herrn Hartung eine Unterredung. Da Herr Hartung ein angesehener Musiker und<br />
Knabenchorleiter war, bekam er eine Verwarnung und wurde nach Königsberg versetzt. Ich<br />
konnte wieder in die Schule gehen. Unser neuer Musiklehrer war Herr Weiß, der sehr<br />
beliebt war und ebenfalls ein guter Chorleiter des Knabenchors wurde. Nach den<br />
Chorproben tobten die Luthersängerknaben oft auf unserem Pfarrhof herum. Wir waren<br />
sehr zufrieden und sangen voll Freude.<br />
Quäkerspeisung<br />
Für unterernährte Kinder in den Schulen gab es die Quäkerspeisung. Zu diesen Kindern<br />
gehörten auch wir. Klassenmäßig wurden wir aufgerufen und bekamen angedickten Kakao<br />
und eine große Milchsemmel – köstlich.<br />
Ich hatte inzwischen Schulfreundschaften geschlossen. Dazu gehörte Lucie, ein Mädchen,<br />
das mich zu ihrer besten Freundin ernannte. Ich hatte mir allerdings unter dem Begriff<br />
„beste Freundin“ etwas anderes vorgestellt. Sie war nicht berechtigt, Quäkerspeisung zu<br />
erhalten. Sie drängelte sich aber immer neben mich und bettelte mich dann um das<br />
Brötchen für ihre Mutter an. Ich glaubte ihr das, weil bei unserer Familienmoral lügen ein<br />
großes Vergehen war. Eine Mitschülerin sagte mir: „Ellen, du bist richtig dumm. Lucie isst<br />
deine Brötchen selber.“ Ich war sehr betroffen und enttäuscht. Aber ich verzieh ihr, obwohl<br />
sie mich bei der Klassenlehrerin wegen irgendeiner Kleinigkeit gemein verpetzt hatte. Auch<br />
Petzen war in unserer Familie verpönt. Trotzdem vertrugen wir uns allmählich recht gut. Sie<br />
war oft bei uns und ich bei ihr. Sie war ein Einzelkind und genoss unsere große lebhafte<br />
Familie.<br />
In unserem Hause ging es meist lebhaft und wild zu. Trotzdem achteten meine Eltern sehr<br />
auf gute Manieren. Höflichkeit und Liebenswürdigkeit gehörten zu unserem Umgangston.<br />
Die Großeltern wurden immer mit einem Handkuss begrüßt. Bei Tisch durfte nicht laut<br />
geschwatzt werden. Es musste Rücksicht auf die verschiedenen Besucher meines Vaters<br />
genommen werden.<br />
Tilsit war eine Musik liebende Stadt und organisierte viele Konzerte, zu denen Musiker von<br />
außerhalb eingeladen wurden. Wir konnten diesen Musikern Privatquartiere bieten. Da<br />
erlebten wir wunderbare Menschen, die ich nie vergessen werde.<br />
28
Inflation und Pensionäre<br />
Das Geld verlor mehr und mehr an Wert. Es ging sehr knapp bei uns zu, es musste eisern<br />
gespart werden. Mutti malte Landschaftsbilder und Bilder mit biblischen Motiven, die gerne<br />
gekauft wurden, meistens von der Landbevölkerung. Sie bekam auch Aufträge über<br />
Portraits von gefallenen Männern oder Söhnen.<br />
Da gab es eine lustig-rührende Geschichte. Eine Kleinbäuerin bat Mutti um ein „Bildje“ von<br />
ihrem Sohn. Mutti fragte sie, ob sie ein Foto ihres Sohnes hätte. „Ach nei, nuscht habe ich<br />
und malen sie von ihm ein Bildje. Es kann auch nur ganz klein sein.“ Mutti machte ihr klar,<br />
dass sie nur nach einem Foto ein Bild malen könne. „Ach, er hatte blaue Augche und ein so<br />
scheenen Scheitel mit Pomade ganz blank gekämmt“ und dann weinte die Frau bitterlich<br />
und enttäuscht. Da sagte Mutti schließlich zu, meinte aber, dass es sich dabei nur um ein<br />
Andenken handele und ihrem Sohn wahrscheinlich ganz unähnlich. Als das Bild dann fertig<br />
war, rief sie überglücklich: „Ach, mein Gustavche, wie bist du so scheen, aber wie hast du dir<br />
verändert.“ Das Bild wurde gerahmt und in der guten Stube aufgehängt.<br />
Um unsere Familie zu ernähren, nahmen meine Eltern Pensionäre auf. Bisher hatte Mutti<br />
Bittstellern aller Art Unterkunft geboten. Es war ihr unmöglich jemanden abzuweisen,<br />
obwohl unsere bescheidenen Mahlzeiten nochm<strong>als</strong> „gestreckt“ werden mussten. Das ging<br />
nun nicht mehr, und das war auch gut so. Unter den Bittstellern waren auch Gauner und<br />
manchmal auch Verbrecher. Diese wurden dann zu unserem Schrecken in Handschellen<br />
von der Polizei abgeführt.<br />
Wir nahmen am liebsten Schulkinder vom Lande auf. Sie „bezahlten“ mit ländlichen<br />
Produkten. Nun wurden Schlafplätze für Jungen und Mädchen geschaffen. Diese waren uns<br />
am liebsten, wenn sie vom Lande kamen. Bettwäsche und Bettzeug musste mitgebracht<br />
werden. Die große Oberstube, die leider nicht beheizbar war, erhielten die Jungen. Die<br />
Mädchen kamen teils zu uns, so dass vier Mädchen in einem Raum waren. Wir vertrugen<br />
uns bestens. Die Eltern eines der Mädchen besaßen ein Kaisers-Kaffee-Geschäft. Dadurch<br />
bekam Mutti den für sie wichtigen Bohnenkaffee, aber auch andere Kostbarkeiten wie<br />
Schokolade, Kakao u.a.<br />
Wir waren eine große Gemeinschaft. In den Abendstunden spielten wir oft draußen um den<br />
ganzen Häuserkomplex. Ganz wild und aufregend ging es bei „Prinzessin und Räuber“ zu.<br />
Die gefangenen Prinzessinnen kamen auf die Treppe vor unserer Haustüre. Wenn wir dann<br />
unsere wilden Spiele beendeten und die Treppe rauf hetzten und noch nach Luft<br />
schnappend oben ankamen, versammelten wir uns in unserem Saal zur Abendandacht.<br />
Papi spielte auf dem Klavier einige Melodien bis wir uns beruhigt und gesammelt hatten.<br />
Dann wurde gesungen und ein Gebet gesprochen. Einer der Pensionäre, Günther Ruhnke,<br />
der später Arzt wurde, rief mich noch hier in Seeon jedes Jahr an und sagte, dass die<br />
schönste Zeit seines Lebens die im Pfarrhaus Maaß war.<br />
Es gab auch unschöne Aufregungen in unserem Haus. Ein Junge, wir nannten ihn Stips,<br />
den wir <strong>als</strong> nett und harmlos empfunden hatten, wurde <strong>als</strong> Spion entlarvt. Er wurde<br />
erschossen. Wir waren alle entsetzt – so ein junges Leben – ein Junge, der bei uns gelebt<br />
hatte!! Ein anderer sehr intelligenter und sehr gut aussehender Junge wurde von der Polizei<br />
abgeholt.<br />
29
Ein peinlicher Irrtum<br />
Einmal hatte ich eine scherzhafte Auseinandersetzung mit einem unserer Pensionäre. Er<br />
wollte zu mir zärtlich werden – ich war dam<strong>als</strong> etwa 14 Jahre. Ich schwor Rache. Ich kannte<br />
die Zeit seiner Heimkehr. Mit einem Eimer voller Wasser stand ich auf dem Balkon, innerlich<br />
schon lachend in Vorfreude meiner Tat. Als ich dann die Schritte von der Pforte zum Balkon<br />
hörte, goss ich das Wasser runter – dann ein Schrei einer mir fremden Männerstimme. Ich<br />
schaute runter und sah einen Herrn und rief entsetzt: „Bitte entschuldigen sie, ich dachte Sie<br />
wären Horst. Kommen Sie schnell zu uns nach oben, damit ich sie abtrocknen kann!“ Mit<br />
einem Handtuch in den Händen öffnete ich die Tür. Der Herr stand lachend und prustend<br />
vor mir, verbeugte sich und sagte sich vorstellend: „Hans v. d. Groeben.“ Auch ich stellte<br />
mich vor. Er wollte bei meinen Eltern einen Antrittsbesuch machen. Wir beschlossen, diesen<br />
lieber zu verschieben. Mein Vater wäre bestimmt nicht begeistert über diesen missglückten<br />
Racheakt gewesen.<br />
Hans v. d. Groeben wurde uns allen ein echter guter Freund. Wir lernten auch seine Eltern<br />
und seine Schwester kennen, die ich sehr verehrte. Er verliebte sich in Irene, sie aber nicht.<br />
Er war nicht ihr Typ, blieb aber trotzdem ein hilfsbereiter Freund.<br />
Muttis Hilfestellung<br />
Mutti ging gerne auf der Memelstraße spazieren. Dabei dachte sie an den großen Strom, die<br />
Newa, in Petersburg. Da sah sie einmal einen jungen Mann im Russenkittel, der mit einem<br />
verzweifelten Gesichtsausdruck auf die Memel starrte. „Junger Mann“ sagte meine Mutter,<br />
„eine Wasserleiche sieht scheußlich aus und sich das Leben zu nehmen ist keine Lösung<br />
eines Problems. Kommen sie besser mit mir auf eine Tasse Tee.“ Dieser junge Mann war<br />
Paul v. Kymmel und war in einer verzweifelten Situation. Seine Ehe war gescheitert –<br />
Scheidung. Seine Frau wollte den gemeinsamen einjährigen Sohn nicht <strong>als</strong> Belastung<br />
behalten. Auf Muttis Angebot brachte er uns den kleinen allerliebsten Christian. Mutti konnte<br />
ihn in ein gutes Kinderheim vermitteln. Die Gründerin und Leiterin war eine Ritha v.<br />
Gaudecker, die von allen Kindern Tante Ritha gerufen wurde. Auch für mich wurde sie die<br />
geliebte Tante Ritha.<br />
Dieser Christian wurde Pastor und lebte in der späteren DDR. Wir schrieben uns, und ich<br />
schickte ihm und seiner großen Familie Pakete.<br />
Ein weiteres Problem war der alte Vater von Paul. Er war in Sibirien ein hoch angestellter<br />
Beamter mit Gerichtshoheit über große Ländereien. Während der Revolution musste er<br />
fliehen und Hab und Gut zurück lassen. Seine geliebte Frau, eine russische Fürstin, war<br />
gestorben. Völlig verarmt, verstört und verbittert fand er in Ostpreußen bei einer Gräfin eine<br />
Büroanstellung. Er wurde unwürdig und wie ein Dienstbote behandelt. Viele Flüchtlinge aus<br />
ehemaligem Großgrundbesitz erlebten dieses Schicksal. Mein Vater lud ihn zu sich ein.<br />
Nach eingehenden Gesprächen und Überlegungen wurde Herr v. Kymmel der Gehilfe<br />
meines Vaters im Pfarrbüro, eine dringend benötigte Hilfe. Das Büro war außerdem noch<br />
mit einer Sekretärin besetzt. Er erhielt ein kleines bescheidenes Zimmer und gehörte ganz<br />
30
zu unserer Familie Es entstand eine wunderbare Freundschaft. Wir Kinder sprachen ihn mit<br />
„Du“ an, aber weiterhin mit Herr v. Kymmel. Er erzählte uns viel und spannend von Sibirien.<br />
Tod von Omama – Umzug Opapas zu Onkel Otto<br />
Omama, unseres Vaters alte Mutter, wurde<br />
schwächer und schwächer. Wir konnten sie<br />
Zuhause nicht mehr gut pflegen und versorgen,<br />
so dass sie ins Krankenhaus musste. Es war<br />
immer jemand bei ihr, weil Opapa und mein<br />
Vater sich mit den Besuchen abwechselten. Sie<br />
starb ganz friedlich, umgeben von Liebe und<br />
Gebeten. Obwohl Opapa und Papi und wir alle<br />
ihr die Ruhe und die Einkehr in Gottes Reich<br />
gönnten, war der Abschied doch sehr schwer.<br />
Auch wir Kinder nahmen Abschied <strong>als</strong> sie im<br />
Sarg lag. Es war ihr abgelegtes Erdenkleid. Ich<br />
weinte sehr. Ach, sie war so hoheitsvoll und ganz<br />
fern, nicht mehr meine geliebte Omama.<br />
Nachdem sie ihr Gedächtnis verloren hatte<br />
nannte sie mich „mein Kätchen“ nach ihrer<br />
Opapa Maaß mit Hagen<br />
Tochter, und für ihren kleinen Sohn „Neddi“<br />
strickte sie Söckchen. Opapa hatte ihr<br />
Andachtsbuch gerettet, aus dem ich ihr<br />
täglich dieselbe Andacht und dasselbe Gebet<br />
vorlesen musste. Omama war früher an einer<br />
Mädchenschule Sekretärin gewesen, und sie<br />
erzählte immer von ihren lieben Kindern. Als<br />
ich ihr die Hände zum Abschied küsste waren<br />
sie eisig kalt. Omama liebte den Frühling und<br />
die Frühlingsblumen. Ich pflückte einen<br />
Strauß Narzissen in unserem Garten, den ich<br />
ihr aufs Grab legte. Jeden Frühling, wenn ich<br />
Narzissen sehe, denke ich voller Liebe und<br />
Dankbarkeit an meine geliebte Omama.<br />
Onkel Otto wollte jetzt, nachdem wir so viele<br />
Jahre die Großeltern bei uns gehabt hatten,<br />
seinen alten Vater zu sich nach Königsberg<br />
holen. Tante Anna, Onkel Ottos Frau, hatte<br />
ein schönes Zimmer für ihn vorbereitet und<br />
würde ihn betreuen. Opapa war bis in sein<br />
Großvater Maaß <strong>als</strong> Hirt<br />
hohes Alter geistig völlig klar und körperlich<br />
rüstig. Er wurde aber blind. Trotzdem beschäftigte er sich noch <strong>als</strong> Blinder mit Mathematik.<br />
Er war sehr diszipliniert und streng mit sich selbst. Er starb mit 92 Jahren.<br />
31
Obwohl mein Großvater auch zu mir oft sehr streng war, hatte ich eine geistige Verbindung<br />
zu ihm. Ich habe ihn später <strong>als</strong> anbetenden Hirten modelliert. Er konnte nicht an die<br />
Auferstehung glauben. Da fand ich seinen Platz <strong>als</strong> anbetenden Hirten gut.<br />
Schulausflüge<br />
Jedes Jahr wurde an unserer Luisenschule ein großer Ausflug unternommen. Da ging es<br />
mit dem Schiff an die Ostsee, wie z. B. nach Nidden oder Cranz oder andere Badeorte. Das<br />
war für alle ein großartiges Erlebnis. Es gab aber auch die kleinen Ausflüge, die<br />
Wandertage. Die waren nett und fröhlich, je nach dem, welcher Lehrer oder Lehrerin zur<br />
Begleitung dabei war. Es gab aber auch die mir sehr langweiligen Wandertage, bei denen<br />
man Hand in Hand gehen musste, ohne ein Spiel oder lustige Lieder. Da kniff ich einmal mit<br />
einer Klassenkameradin einfach aus, in den Tilsiter Stadtwald. Von dort mussten wir vor<br />
Verfolgern eiligst davon laufen. Bei einem anderen, ebenso langweiligen Ausflug, gingen wir<br />
am Memelufer entlang. Wir kletterten die hohe Uferböschung hoch und befanden uns<br />
plötzlich in einem wunderschönen, gepflegten Park. Das fanden wir sehr spannend.<br />
Plötzlich wurden wir von einer männlichen Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam,<br />
angerufen: „Kinder, was macht ihr hier in meinem Garten?“ Es war der Baron v. Sanden,<br />
den ich gut kannte und den wir Onkel Basti nannten. Wir erzählten ihm, dass wir von<br />
unserem langweiligen Ausflug ausgekniffen wären. Dafür hatte Onkel Basti Verständnis, ja,<br />
er ließ sogar anspannen. Sein Gut lag an der kleinen Stadt „Ragnit“. Mit Süßigkeiten<br />
versorgt, fuhr er uns nach Tilsit direkt vor unsere Haustüre. Wir gingen mit schlechtem<br />
Gewissen in die Schule, erhielten aber eigenartiger Weise keine Strafe. Wir saßen auch<br />
überbrav in unseren Bänken.<br />
Weihnachten<br />
So wie meine Eltern die Vorweihnachts- und die Weihnachtszeit feierten, war es für uns das<br />
Allerschönste auf der ganzen Welt. Die ganzen geheimnisvollen Vorbereitungen ließen die<br />
Herzen erwartungsfroh klopfen. Und wir saßen mit heißroten Wangen, stickten, nähten und<br />
machten Laubsägearbeiten, Gedichte wurden gelernt, Bilder gemalt. In Finnland mit 5<br />
Jahren malte ich ein Krippenbild, auf dem die Gestalten hinter einem Vorhang standen und<br />
nur die Füße zu sehen waren. Ich hatte bemerkt, dass Mutti in Bezug auf Malerei sehr<br />
anspruchsvoll war. So erschien es mir sicherer, die Füße von Maria und Josef, von der<br />
Krippe und den Hirten zu zeichnen und war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. In den<br />
nächsten Jahren malte ich alle heiligen Gestalten von hinten, da mir die Gesichter noch<br />
nicht so richtig gelangen. Auch jetzt malte ich wieder, auch von vorn. Ich hatte Kunstwerke<br />
großer Maler sehr aufmerksam betrachtet. Unter mein Kunstwerk schrieb ich einen<br />
biblischen Vers.<br />
Mutti hatte mir meine Puppen, die ich inzwischen von einer netten Dame geschenkt<br />
bekommen hatte, weggenommen. Sie sagte, dass die Puppen zur Erholung fort müssten.<br />
Sie häkelte und nähte neue Puppenbekleidung. Papi dachte sich Spiele aus, Mutti malte die<br />
Spielfiguren. Ein Spiel hieß „Kali-Mali“, ein gespieltes Märchen. Auch diese Figuren, Feen,<br />
Blumen, Winde usw. hatte sie hochkünstlerisch gestaltet. Nach dem Krieg malte sie diese<br />
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nochm<strong>als</strong>, auch Tante Toni v.Haken, Muttis Cousine, malte das Spiel in einem anderen<br />
zeichnerischen Stil. Beide Spiele gibt es noch, nur leider sind die Spielregeln verloren<br />
gegangen.<br />
Dann war der ersehnte Weihnachtstag da. Er wurde in der Stadtkirche eröffnet. Der<br />
Weihnachtsbaum mit echten Kerzen, der Kirchenchor, zu dem sich auch der von Sigrid<br />
gegründete Chor einfügte, die Weihnachtsgeschichte und das Kribbeln der Vorfreude auf<br />
unser Weihnachtsfest. Dann der Weg nach Hause. Aus fast allen Fenstern sah man den<br />
Kerzenschein der Weihnachtsbäume.<br />
Bevor unsere Feier beginnen konnte, hatten wir noch Aufgaben zu erledigen. Wir besuchten<br />
alte, kranke und einsame Menschen, für die wir kleine Bäumchen oder Zweige geschmückt<br />
hatten und dazu ein kleines Geschenk. Wir sangen und beteten miteinander. So wurde es<br />
sehr spät, weil auch unser Vater noch Krankenbesuche machte, die ihm am Herzen lagen.<br />
Dann wurde gebadet und festliche Kleidung angelegt. Dann saßen wir im dunklen<br />
Esszimmer und warteten auf den stürmischen Schritt unseres Vaters. Wir lauschten auf die<br />
Geräusche aus dem Festsaal, hielten unsere Geschenkpäckchen auf dem Schoß und<br />
sangen voll seliger Spannung, bis endlich die Weihnachtsglocke erklang. Beim 3. Klang<br />
öffnete sich die Tür und wir schauten fast geblendet auf unseren Lichterbaum und sogen<br />
den Duft der Tanne und des Gebäcks ein und durften eintreten. Ich, <strong>als</strong> Jüngste, durfte<br />
vorangehen, ganz zuletzt Gretchen und die Mädchen, die Mutti voller Barmherzigkeit<br />
aufgenommen hatte. Papi spielte auf dem Klavier „Vom Himmel hoch“, wir sangen voller<br />
Jubel im Herzen „Christ ist geboren“.<br />
Nachdem wir alle unsere Sprüche aufgesagt, unsere Stücke auf dem Klavier vorgespielt,<br />
Lieder gesungen und gebetet hatten, ging es an unsere Geschenkplätze. Die waren noch<br />
alle mit einem Tuch bedeckt. Bei den ersten Weihnachtsfesten in Tilsit lag noch sehr wenig<br />
darunter. Ich erinnere mich an das Glück einer roten Wollmütze, ganz neu, <strong>als</strong>o nicht aus<br />
den Spendengaben. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich oder eines der Geschwister je<br />
enttäuscht gewesen ist. Als es uns besser ging, erhielt jeder ein Buch. Dann lagen wir in den<br />
nächsten Tagen auf dem Teppich und lasen – herrlich. Auch die „bunten Teller“ wurden mit<br />
den Jahren reichhaltiger. Trotzdem mussten sie gut eingeteilt werden, denn sie wurden erst<br />
zu Silvester wieder aufgefüllt.<br />
In einem Jahr standen Wolfram und ich vor der geheimnisvollen Tür des Zimmers, in das die<br />
Eltern unsere Geschenke brachten. Wir versuchten durch das Schlüsselloch zu gucken und<br />
stießen dabei an die Tür, die dieses Mal nur angelehnt war und sich öffnete. Erst guckten wir<br />
nur, aber <strong>als</strong> Wolfram einen Handwerkskasten erblickte, war er nicht zu halten. Ich folgte<br />
etwas zögerlich und sah dann voller Entzücken ein Puppenhaus, das fast genauso aussah,<br />
wie das, welches uns unser Vater in Finnland gearbeitet hatte. Es war kunstvoll ausgestattet<br />
mit einer Treppe und darunter ein eingebauter Schrank für das Puppenservice. Jetzt zog ich<br />
Wolfram am Ärmel, unsere Herzen klopften vor Erregung und schlossen die Tür hinter uns.<br />
An diesem Weihnachtsfest war mir beklommen zu Mute, und die Freude wollte sich nicht so<br />
richtig einstellen. Mitten in der ersten Feierlichkeit brach ich in Tränen aus und rief: „Wir<br />
haben gelauert!“ Wolfram sagte, dass er Schuld daran hätte, und wir bekannten unsere<br />
Missetat und baten um Vergebung. Unsere Eltern nahmen uns in die Arme, und nun<br />
konnten wir uns wieder richtig freuen.<br />
Sigrid und ich schenkten uns Jahr um Jahr gegenseitig meinen aus Petersburg geretteten<br />
Teddy „Mischa“. Das geschah zu unterschiedlichen Jahreszeiten, manchmal Ostern. Er<br />
33
hatte keine Fellhaare mehr. Sigrid war jedes Mal, so wie auch ich, voller Erwartung, das<br />
Kuschelbärchen mit ins Bett nehmen zu dürfen. Ich hatte mir aus Stoffresten eine<br />
Babypuppe gewickelt, die ich <strong>als</strong> Ersatz nahm, wenn Sigrid Mischa hatte. Mischa hatte nur<br />
noch ein Ohr. Zu einem Osterfest nähte Irene Mischa ein Hasenohr an und veränderte dabei<br />
auch die Schnauze. Jetzt war Mischa ein Osterhase. Sigrid und ich waren empört und<br />
Mischa hörte auf, unser Teddy zu sein.<br />
Der Freitagabend<br />
34<br />
Unser Vater hatte bei<br />
seiner großen<br />
Gemeindearbeit wenig<br />
Zeit für die Familie. Da<br />
dachte sich unsere Mutter<br />
aus, wie das geändert<br />
werden müsse. Sie legte<br />
sich ein großes Tuch um,<br />
trug einen Korb und ging<br />
ins Pfarrbüro. Sie bat<br />
Herrn v. Kymmel sie bei<br />
Herrn Pfarrer Maaß<br />
anzumelden <strong>als</strong> eine<br />
Tilsit 1920<br />
Frau, die sich über ihren<br />
Mann beklagen müsse.<br />
Natürlich spielte unser Vater dieses kleine Theaterstück mit und bat um eine Gedenkpause.<br />
Er entschied sich für den Freitagabend. Dieser Freitagabend wurde für uns eine feste<br />
Einrichtung und Gewinn. Es wurden Dramen gelesen und in verteilten Rollen gespielt, oft<br />
mit Freunden und Gästen.<br />
Ferien<br />
In den Ferienzeiten erhielten wir verschiedene Einladungen. Da denke ich gerne an den<br />
Ferienaufenthalt auf einem kleinbäuerlichen Hof. Die Bäuerin war eine herzensgute Frau.<br />
Ich durfte die Hühner füttern und die verlegten Eier suchen und wurde gelobt, wenn ich die<br />
Eier in die Küche brachte. Ich durfte das derbe Arbeitspferd putzen und auch reiten und<br />
zusehen, wie die Kühe gemolken wurden. Auch machte es mir Spaß, in einem Korb das<br />
Frühstück aufs Feld zu bringen und mit Mägden und Knechten am Feldrand sitzend die<br />
guten Bauernbrote mit Speck zu essen und Pfefferminztee zu trinken. Abends las der Opa<br />
aus der alten Familienbibel vor und sprach den Abendsegen.<br />
Ein anderes Mal war ich auf einen großen Bauernhof eingeladen. Dort fühlte ich mich gar<br />
nicht wohl. Es waren für mich überfromme Leute, die Bäuerin geizig. Da aber die Tochter<br />
Lilli eine Mitschülerin von mir war und ich sie gerne hatte, ertrug ich diese Zeit.
Wie jubelten wir, wenn wir alle<br />
auf das große Landgut<br />
„Randonatschen“ eingeladen<br />
wurden. Wir durften Baronin v.<br />
Sanden Tante Tussainen<br />
nennen, so hieß ihr großes<br />
Gut an der Memel. Wir wurden<br />
liebevoll verwöhnt. Das<br />
Schloss hatte vier größere<br />
und zwei kleinere Türme, aber<br />
nur ein Turm war noch<br />
begehbar. Da drin saßen wir<br />
Schwestern gerne und<br />
Irene, Sigrid, Ellen<br />
sangen und freuten uns über<br />
den Ausblick auf die schöne<br />
Landschaft. Leider waren am Schloss überall deutliche Zeichen der Vergänglichkeit zu<br />
sehen. Auf einer Mauer wuchs eine kleine Birke, was mir sehr gefiel. Wolfram aber, ein Jahr<br />
älter <strong>als</strong> ich, erklärte mir, dass die Wurzeln die Mauern zersprengen würden.<br />
Wenn wir in der Osterzeit in Randonatschen waren, ging Tante Tussainen mit uns auf den<br />
Friedhof. Wir sangen und beteten für die Verstorbenen, die in Gottes Reich leben und sich<br />
über unsere Gebete freuten. Danach ging es zum Ostereiersuchen in den Park, bei<br />
schlechtem Wetter in den Schlosssaal. Tante Tussainen verstand es, allem einen<br />
märchenhaften Inhalt und Rahmen zu geben.<br />
Am allerschönsten jedoch war es, wenn wir mit unseren Eltern die großen Ferien erlebten.<br />
Wir wohnten in einfachen Bauern- oder Fischerhäusern. Irene und ich schliefen meistens im<br />
Heu über dem Stall. Zweimal waren wir in Masuren und wohnten an Seen und im Wald. Wir<br />
sammelten Blaubeeren, Mutti bereitete herrliche Mahlzeiten daraus, auch aus Himbeeren<br />
und Erdbeeren. Wenn es regnete, las Mutti uns spannende Geschichten vor. Herrlich waren<br />
auch die Ferien an der Ostsee bei der Stadt Memel. Schon in aller Frühe liefen wir zum<br />
Strand und nahmen unser Morgenbad. Wir erlebten das Meer auch bei stürmischem Wetter<br />
und hohem Wellengang. Die ganze Natur lebte und hatte ihre Sprache. Ich wollte so gerne<br />
aufschreiben, was meine Seele bewegte, doch mir fehlten die Worte. Das erfüllte mich mit<br />
Wehmut und Sehnsucht.<br />
Wir fuhren auch mit den Fischern aufs Meer. Sie waren Deutsche, während sonst alle<br />
Litauer waren. Sie erzählten uns, welche Feindseligkeiten sie ertragen müssten. Sie<br />
schmuggelten aber auch Alkohol. Wenn wir dabei waren, konnten wir die litauischen<br />
Beamten ablenken. Das waren spannende und aufregende Erlebnisse. Wenn wir dann<br />
braungebrannt und noch erfüllt von all den schönen Ferieneindrücken wieder in Tilsit auf<br />
unserer Schulbank saßen, erschien uns alles wie ein Traum.<br />
35
Dittchens Verlobung<br />
Unser Vater war sehr zufrieden mit seinen drei ältesten Töchtern, ja geradezu stolz.<br />
Dittchen, mit ihren 18 Jahren, schien noch kein Interesse an Liebesbeziehungen zu haben.<br />
Ihre Liebe galt der Musik. Sie und Sigrid erhielten Klavier- und Gesangsunterricht am<br />
Konservatorium. Davon erzählte Vater einem unserer Freunde, während sie das Haus<br />
betraten. Da verschlug es ihm den Atem: Sie sahen Dittchen in den Armen eines jungen<br />
Mannes, der sie innig und heiß küsste.<br />
Dieser gut aussehende Mann hieß Alfred Müller und war Bankangestellter. Sie hatten sich<br />
bei einer Laienaufführung der „Hermannsschlacht“ der Tilsiter Bürgerschaft im Stadttheater<br />
kennen gelernt, in der sie beide mitspielten. Er gestand nun unserem Vater, dass sie sich<br />
bereits verlobt hätten.<br />
Eines abends saßen wir beieinander und überlegten, wie wir den Namen „Müller“ aufwerten<br />
könnten. Das war nur durch einen Doppelnamen möglich. Nach einigen Überlegungen und<br />
kuriosen Vorschlägen entschieden wir uns für „Stahl“ aus einer früheren Verwandtschaft. So<br />
kam der Name „Müller-Stahl“ zustande.<br />
Fred, <strong>als</strong> Kassierer, verdiente wenig. Seine Mutter, eine einfache Frau, hatte die drei Kinder<br />
ihres zweiten Mannes, der sie verlassen hatte, übernommen. Ihr eigener Sohn war ihr ein<br />
und alles. Trotzdem hatte sie die anderen Kinder nicht in ein Kinderheim gegeben, sondern<br />
arbeitete hart für alle – eine großartige Leistung. Für ihren Alfred hatte sie sich eine<br />
wohlhabende tüchtige Frau gewünscht; er sollte es leichter und bequemer haben <strong>als</strong> sie<br />
selbst. Nun hatte er sich ein Flüchtlingsmädchen ausgesucht, ohne Aussteuer und Geld –<br />
eine Enttäuschung für sie. Aber auch unsere Eltern hatten sich für Dittchen einen Mann mit<br />
sicherem Einkommen gewünscht, wie Irene mir erzählte. Den Eltern ging es hauptsächlich<br />
darum, dass Dittchen ihren vielen Begabungen weiter nachgehen konnte, die nicht an der<br />
Härte des täglichen Lebens scheitern sollten. Sie machten sich auch Sorgen, weil die<br />
Familien nicht zueinander passten. Dittchen würde es schwer haben.<br />
Ein abendlicher Besuch<br />
An einem unserer berühmt-beliebten Freitagabende saßen wir in Muttis Boudoir. Wir lasen<br />
dort oft Dramen in verteilten Rollen oder andere klassische Werke. Dieses Mal las Papi<br />
alleine. Es handelte sich dabei um den Mordplan eines grausamen Zaren (ich weiß nicht<br />
mehr welcher). Ein Graf Pahlen spielte dabei eine aufregende Rolle. Wir hörten gespannt<br />
zu, uns liefen heiße und kalte Schauer über den Rücken. Da gab es eine geheime<br />
Tapetentüre zu dem Gemach des Zaren, die sich langsam und leise öffnete. In diesem<br />
Moment klopfte es bei uns an die Tür. Noch ganz in der Spannung der Geschichte riefen wir:<br />
„Herein!“ Ein hoch gewachsener Herr trat ein, verbeugte sich tief und sagte sich vorstellend:<br />
Graf Pahlen.<br />
Graf v. Pahlen war mit seiner Frau und zwei kleinen Töchtern aus Moskau geflohen. Wie<br />
auch wir hatten sie alles zurücklassen müssen. Sie waren dankbar, dass sie ihr Leben<br />
retten konnten. Nun gehörten Pahlens auch zu unserem Familienkreis.<br />
36
Nach und nach füllte sich unser Saal an jedem Freitag Abend. Wir sangen mit und ohne<br />
Noten. Es wurden anregende und aufregende Spiele veranstaltet. Es gab Spiele, bei denen<br />
schauspielerische Talente gefragt waren. Da ergänzten sich Fred und Pappi großartig. Ihre<br />
Komik brachte uns oft zum Lachen.<br />
Dachkletterei – Polizei<br />
Wir hatten einen schönen Nutzgarten. Dieser bot uns aber keine Möglichkeit, uns<br />
genüsslich zu sonnen und zu lagern. Da kam uns eine Idee: Das flache Dach unserer Aula!<br />
Aber wie sollten wir dort hinaufgelangen? Sigrid fand ein passendes kleines<br />
Kammerfenster, durch das wir raus klettern konnten. Sigrid <strong>als</strong> erste durchs Fenster, dann<br />
Halt am Blitzableiter, der zugleich auch Kletterdraht war, und dann noch einen Schwung,<br />
und oben war sie, und wir hinterher. Mit der Zeit bekamen wir Routine und genossen mit<br />
Decken, Kissen und Büchern, die wir mit einem Strick nach oben gezogen hatten, unser<br />
Lagerleben. Wolfram und sein Freund Günther Ruhnke, einer unserer Pensionäre, machten<br />
es uns nach. Sie hatten aber noch ein paar zusätzliche Ideen: Sie liefen wie die Katzen auf<br />
dem hohen schrägen Dach herum, machten auf den Schornsteinen Handstand und<br />
vollführten weitere lebensgefährliche Kunststücke.<br />
Das blieb nicht unbemerkt. Sie wurden von der Straße aus gesehen, es sammelten sich<br />
immer mehr erstaunte Zuschauer, leider dann auch die Polizei. So erhielt unser Vater eine<br />
polizeiliche Anweisung, dem lebensgefährlichen Treiben auf dem Hausdach ein sofortiges<br />
Ende zu bereiten, auch wegen der Hochspannungsleitung. Jedenfalls war es erst einmal<br />
aus mit unserer Freude, aber nicht ganz. Die Jungens gehorchten, aber wir setzten<br />
klammheimlich unser Lagerleben fort. Trotz aller Heimlichkeit muss uns jemand beobachtet<br />
und uns angezeigt haben. Nun erhielt unser Vater erneut ein polizeiliches Schreiben. Er<br />
wollte uns aber keine Strafpredigt halten, sondern eine Mahnung erteilen.<br />
Unser Vater war auch Seelsorger im Tilsiter Gefängnis. Mit dem Gefängnispersonal hatte er<br />
guten Kontakt. So erbat er sich ein harmloses Formular vom Gefängnis, was ihm lachend<br />
übergeben wurde, <strong>als</strong> er von den „Taten“ seiner Töchter berichtete und seiner Idee der<br />
„Bestrafung“. Er ließ seine Sekretärin mit der Schreibmaschine einen Vermerk ausfüllen,<br />
dass wegen Übertretung der polizeilichen Anordnung ein Bußgeld erhoben wird oder<br />
ersatzweise zwei Monate Gefängnis. Herr v. Kymmel unterschrieb mit verstellter Schrift das<br />
„amtliche Schreiben“.<br />
An den genauen Inhalt erinnere ich mich nicht mehr, jedenfalls entschieden wir uns für das<br />
Gefängnis, weil ja unser Vater so wenig Geld hatte. Wie sollten wir es ihm aber beibringen?<br />
Einige Zeit schlichen wir bedrückt herum, bis Herr v. Kymmel uns auf unsere sichtbare<br />
Trübsal und Probleme ansprach. Wir zeigten ihm den Brief. Er gab uns den guten Rat, uns<br />
trotz schlechten Gewissens an unseren Vater zu wenden. Vielleicht würde er doch noch<br />
einen Ausweg aus unserer Notlage finden. Das taten wir dann auch. Wir waren fest<br />
entschlossen, ins Gefängnis zu gehen und hatten uns mit dem Gedanken schon vertraut<br />
gemacht. Als unser Vater dann erzählte, dass der Brief nur <strong>als</strong> Mahnung gedacht war und<br />
der Brief von ihm selbst stammte, war die Erleichterung riesengroß. Wir warfen uns vor<br />
Glück und Dank unserem Vater in die Arme.<br />
37
Wäsche – Frau Kaktstieß und unser Gretchen<br />
Mit den Jungen und Mädchen, die in unser Haus kamen, wuchsen auch die Ansprüche<br />
unseres Haushaltes. Teller und Tassen reichten nicht für alle aus, jedes Stück kam aus<br />
einem anderen Haushalt. So kauften wir ein preiswertes Service für 12 Personen auf dem<br />
Markt. Es hatte Blümchenmuster und wurde gehütet, besonders beim Abwaschen. Auch in<br />
der Küche wurden weitere Kochtöpfe und sonstige Gebrauchsartikel benötigt.<br />
Schlimm waren die wachsenden Wäscheberge. Keiner von uns verstand etwas vom<br />
Wäschewaschen. Unsere Mutter konnte gut kochen und backen, auch in mageren Zeiten,<br />
aber von Wäschewaschen, Hausputz und all den simplen Dingen des Haushaltes hatte sie<br />
keine Ahnung. Sie hatte auch kein Interesse daran. Wir hatten bis dahin, sei es in Estland,<br />
Petersburg, selbst in Finnland immer genügend Personal gehabt. Die Küche war ihr Reich,<br />
in das sie ihre Staffelei mitnahm und zwischen der Kocherei malte. Dann lag da noch ein<br />
Buch, in das sie ihre netten und oft auch humorvollen Gedichte schrieb und bezaubernd<br />
illustrierte. Leider ist dieses Buch, das „grüne Buch“ verloren gegangen.<br />
Nun musste aber Wäsche gewaschen werden! In Finnland gab es ein Wäschehaus, wo<br />
auch unsere Wäsche gewaschen wurde. Wir hatten gesehen, wie aus einem großen<br />
Kochtopf der Schaum herauslief, wie die Wäsche aus der kochenden Brühe gehoben,<br />
gewaschen und gespült wurde. Später hing alles an einer Leine zum Trocknen. Wie aber<br />
der gesamte Vorgang ablief, wusste keiner von uns. Unsere Küsterin riet uns, eine<br />
Wäscherin anzustellen. Das würde aber Geld kosten. Deshalb beschlossen Irene und<br />
Dittchen, die sich eigentlich gar nicht für Haushaltsdinge interessierte, die Wäscherei zu<br />
übernehmen. Also, die Wäsche muss wie eine Kartoffelsuppe kochen, natürlich mit viel<br />
Seifenpulver, ohne vorherigen Waschvorgang. Da floss der Schaum aus dem Topf, über<br />
den Herd, auf den Fußboden. Die Wäschestücke mussten irgendwie in die bereitstehende<br />
Wanne gehievt werden ohne sich zu verbrühen. Da war der Enthusiasmus schnell dahin,<br />
denn die Wäsche war ja noch lange nicht fertig gewaschen.<br />
So wurde in aller Eile die Wäscherin Frau Kaktstieß geholt, die auch in unserer Straße<br />
wohnte. Bei dem Anblick unserer Küche schlug sie erst einmal die Hände vor Entsetzen<br />
zusammen und rief: „O, mei, o, mei!“ Dann aber war alles in geübten kräftigen Händen, und<br />
Irene war eine aufmerksame Schülerin. Frau Kaktstieß bekam mittags ein Stück Fleisch zu<br />
ihrem Essen und zum Kaffee eine Kuchenschnecke mit viel Puderzucker. Oh, mir lief das<br />
Wasser im Mund zusammen. Bald hing die Wäsche auf der Leine, die im Hof gespannt<br />
wurde. Schön sah das nicht aus, aber die Wäsche war sauber! Die Eltern entschieden sich<br />
auch noch eine Haushaltshilfe einzustellen. So kam unser Gretchen in unser Haus. Die<br />
Küche blitzte und auch die anderen Räume. Natürlich mussten wir mithelfen, darauf achtete<br />
Irene sehr genau. Sie passte auf, dass ich mich nicht in den Garten oder Fahnenboden<br />
verdrückte, wie auch Sigrid oder Wolfram.<br />
Vögel<br />
Es gab eine Zeit, in der ich viel krank war. So musste ich wegen einer Lungenentzündung<br />
viel liegen. Mein Vater entdeckte in einem Tiergeschäft Vögel in viel zu kleinen Käfigen, die<br />
dort ängstlich und unglücklich herum flatterten. Das tat meinem Vater so leid, dass er alle<br />
38
kaufte. Unser Großvater baute eine große Volière, die in unser Mädchenzimmer gebracht<br />
wurde, in dem ich ja krank lag. Es handelte sich um ein Dompfaffenpärchen, zwei Hänflinge,<br />
einen Distelfink, einen Erlenzeisig. An diese Vögel kann ich mich erinnern. Nach kurzer Zeit<br />
wurde besonders der Erlenzeisig zahm, den ich sehr liebte. Erlenzeisige sind<br />
Schwarmvögel. Er war alleine und fühlte sich einsam. Deshalb schloss er sich zärtlich mir<br />
an. Auch die Dompfaffen wurden sehr zutraulich. Wir ließen die Vögel frei in unserem<br />
Zimmer fliegen und sie sangen und zwitscherten ganz wunderbar. Wenn das Zimmer<br />
gelüftet wurde, mussten alle Vögel in die Volière, was gar nicht so einfach war, denn man<br />
konnte es ihnen ja nicht befehlen.<br />
Obgleich auch ein großes Zimmer für die Vögel kein Ersatz für die Freiheit bedeuten konnte,<br />
sangen sie und waren sehr vertraut mit uns. Aber einmal, nach längerer Zeit, öffnete unser<br />
Mädchen das Fenster zum Hof, ohne auf die Vögel zu achten. Das Dompfaffenweibchen<br />
flog raus. Das war ein Schreck. Ich eilte mit einem kleinen Käfig nach draußen und lockte<br />
das Vögelchen herbei. Es flog auch tatsächlich auf den Käfig. In diesem Moment stürmten<br />
die Konfirmanden in den Hof. Da flog das Dompfaffenweibchen erschrocken davon, es wird<br />
wohl in der Freiheit nicht lange gelebt haben. Das übrig gebliebene Männchen trauerte sehr,<br />
wie auch wir.<br />
Er sang sein schwermütiges Lied auf Papis Bettkante, verlor vor Kummer viele Federn und<br />
bekam eine Glatze. Es war untröstlich, verkroch sich unter mein Bett und starb schließlich<br />
vor Leid. Ich schwor mir, nie in meinem Leben Vögel in einem Käfig zu halten. Als der<br />
Erlenzeisig in die Jahre kam, wurde er krank und starb in meiner Hand. Ich trauerte sehr und<br />
dachte, wenn ich einst im Himmel sein werde, wird mir mein Erlenzeisig entgegen fliegen.<br />
Dittchens Hochzeit 1923<br />
Im Jahr 1923 wurde die Hochzeit von Dittchen und Fred gefeiert. An die kirchliche Feier<br />
kann ich mich nicht erinnern, aber an alle Vorbereitungen. Es herrschte noch Inflation, die<br />
erst 1924 mit Einführung der neuen Währung, der Reichsmark, endete. Mutti aber, mit ihrer<br />
baltischen Gastlichkeit und Unbekümmertheit, hatte viele Gäste eingeladen. Durch die<br />
Pensionäre und den Verkauf ihrer sehr begehrten Bilder konnte sie Kuchen und alles für ein<br />
festliches Mahl bereitstellen. In der großen Aula wurden Tische aufgestellt und auch eine<br />
Bühne aufgebaut. Zum Polterabend gab es verschiedene Aufführungen, die vorher<br />
ausgiebig geprobt wurden. Papi hatte einen Eheautomaten gebaut, in dem Sigrid <strong>als</strong> Amor<br />
saß. Da wurden die verschiedenen Paare zusammengeführt. Papi hatte die Texte in<br />
Versform gedichtet, die zu Opern- und Operettenmelodien vorgetragen wurden. Ich war mit<br />
meinen 13 Jahren noch völlig Kind. In dieser Aufführung wünschte ich mir einen Ehemann<br />
gegen den Willen meiner Mutter und bekam von Amor Sigrid eine Puppe. Mein Gesangspart<br />
war schwierig mal in Dur, mal in Moll. Papi hatte fleißig mit mir geübt. Ich wurde liebevoll<br />
gelobt.<br />
Wie Papi das alles finanziell geschafft hat, ist mir rückblickend ein Rätsel. Das Brautkleid<br />
musste beschafft werden, auch wir Geschwister erhielten hübsche Kleider. Ich, oh Jubel,<br />
bekam ein weißes Kleidchen mit blauen Streifen und einer Schärpe. Um mein schönes<br />
neues Kleid zu zeigen, lud ich mir einige Schulfreundinnen ein, denen ich Kuchen servierte.<br />
39
Aus Riga reiste unsere Großmutter Ellen v. Haken an, Muttis Cousine Toni v. Haken, die<br />
zugleich ihre Pflegeschwester war, und weitere Verwandte und Freunde von Mutti und Papi.<br />
Großmama umarmte mich, ich freute mich, wie sie Ellen zu heißen. Eine Schwester von<br />
Mutti war eine weitere Ellen, Ellen v. Radecki.<br />
Dittchen und Fred waren ein sehr schönes Paar. Die Mutter von Fred fühlte sich fremd und<br />
unwohl in unserer Gesellschaft. Im Baltikum und auch in den „besseren Kreisen“ in Tilsit war<br />
der Handkuss üblich. Da passierte es, dass der Dame neben Omsi Müller die Hand geküsst<br />
wurde, aber ihr nicht. Das war eine grobe Taktlosigkeit, die Omsi schwer kränkte. Sonst<br />
verlief aber alles sehr fröhlich und harmonisch.<br />
Tilsit 1925 von li.n.re., vorne: Ellen, Mutti, Papi, Sigrid<br />
hinten:Irene, Fred, Dittchen, Wolfram<br />
40<br />
Wie voraus geahnt, hatte<br />
es Dittchen sehr schwer.<br />
Küche und Haushalt haben<br />
nie in ihrem Interessenfeld<br />
gelegen. Nun musste sie<br />
plötzlich ran und das unter<br />
Omsis Regie. Sie hat sich<br />
nie darüber beklagt, nur<br />
Irene erzählte sie von ihren<br />
Schwierigkeiten und dass<br />
sie oft geweint habe.<br />
Fred passte sich völlig<br />
unserer Familie an. Er<br />
liebte unsere Freitag<br />
Abende, bei denen Papi<br />
und er immer wieder ihr schauspielerisches Talent zeigen konnten, Fred besonders in den<br />
humoristischen Rollen. Da gab es viel zu lachen. Er und Wolfram wurden beste Freunde.<br />
Ritha Grüner 1926<br />
Eines Tages kam eine Dame, Frau Probst-Grüner, zu Mutti. Sie fragte, ob sie ihre Tochter<br />
Ritha <strong>als</strong> Pensionärin aufnehmen könnte. Diese war etwa gleichaltrig mit mir. Mutti freute<br />
sich und meinte, da bekommt Ellen, <strong>als</strong>o ich, eine Freundin. Als ich das hörte, dachte ich,<br />
dass ich mir keine Freundschaft diktieren lasse! Rita ging es ebenso, wie wir uns später<br />
gestanden.<br />
Grüners waren Baltendeutsche, sie hatten ein ländliches Pastorat gehabt. Sie mussten<br />
eilends fliehen und Hab und Gut zurück lassen. Grüners hatten fünf Töchter und einen<br />
Sohn. Ritha war die Jüngste, sie war 12 Jahre alt, <strong>als</strong> sie zu uns kam, ich war 14. Grüners<br />
waren in Kleidung und Lebensart sehr altmodisch. Frau Grüner trug ein schwarzes<br />
Spitzenhäubchen und hochgeschlossene Kleider. Ich durfte sie bald Tante Lucie nennen.<br />
Die ganze Familie war hochmusikalisch und sehr gebildet. Frau Grüner unterrichtete ihre<br />
Kinder in Geschichte und Erdkunde. So war Ritha, <strong>als</strong> sie in unsere Schule kam, allen<br />
Mitschülern im Lehrstoff weit überlegen. Obwohl weder Ritha noch ich zänkisch veranlagt<br />
waren, zankten wir uns oft, und besonders ich war nicht nett zu ihr. Wir wollten eben keine<br />
Freundschaft miteinander haben.
Nun ereignete es sich 1925, dass unser elektrischer Badeofen plötzlich ein giftiges Oxydgas<br />
ausströmte. Ritha wurde es in der Badewanne schlecht. Zum Glück schob sie ihre Arme<br />
unter ihren Kopf, so dass er nicht ins Wasser rutschte. Ich fiel bewusstlos zu Boden noch<br />
bevor ich das Fenster öffnen konnte. Ritha erlitt einen Lungenriss und stöhnte so laut, dass<br />
es Herr v. Kymmel hörte. Er dachte, es wäre unser Hausmädchen und rief sie durch die Türe<br />
an. Da kam aber Gretchen und sagte, dass da die Fräuleins drin seien, die hätten doch<br />
gerade noch laut gesungen und gesprochen. Papi wurde gerufen, der mit einem kräftigen<br />
Ruck die Türe öffnete. Schnell wurde Hilfe geholt. Ritha wurde ins Krankenhaus gefahren,<br />
mich legte man auf Herrn v. Kymmels Bett, da sein Zimmer direkt neben dem Badezimmer<br />
lag. Ich erhielt künstliche Beatmung und kam bald wieder zu Bewusstsein.<br />
Durch die eingeatmeten Gifte bekam ich einen schweren, juckenden Hautausschlag. Er<br />
brannte und juckte und quälte mich so sehr, dass ich mich in meiner Pein mit einer Bürste<br />
rubbelte. Irene hörte mich weinen und rief Papi. Er kam und legte mir die Hände auf, betete<br />
über mir und strich mir beruhigend über die Stirn. Ich schlief unter seinen Händen und<br />
liebevollen Worten ein. Als ich erwachte war die große Qual vorbei und der Ausschlag fast<br />
fort. Irene erhielt Salben, mit denen sie mich pflegte. Als Ritha aus dem Krankenhaus<br />
entlassen wurde, waren unsere Betten nebeneinander gestellt. Ritha musste noch viel<br />
liegen. So waren wir nach diesem fast tödlichen Ereignis zusammengerückt und sagten<br />
uns: Fast wären wir gestorben, wie hätten wir vor Gott gestanden? Wir wollen uns lieb<br />
haben und nie mehr miteinander streiten. Ritha und ich wurden die besten Freundinnen<br />
unseres Lebens.<br />
Justinus Frey 1926<br />
Wir hatten ein Haus der offenen Türen und erhielten immer wieder Herrenbesuch, deren<br />
besonderes Interesse fast immer Irene galt. Sie war bekannt für ihre praktischen Talente,<br />
sah hübsch aus und hatte ein fröhliches Temperament. Sie sang im Kirchenchor und war <strong>als</strong><br />
Pfarrerstochter gewiss auch fromm. Wir drei Schwestern, ich war erst 16, unterhielten uns<br />
mit den potenziellen Bewerbern und verstanden es, sie zu verabschieden, wenn sie uns<br />
nicht zusagten.<br />
Anders war es, <strong>als</strong> ein junger Offizier sich <strong>als</strong> Oberleutnant Justinus Frey anmelden ließ und<br />
zwar nicht nur bei Papi, sondern bei beiden Eltern und bei uns. Er war Kavallerist und zur<br />
Tilsiter Garnison versetzt worden. Er war Baltendeutscher und stammte von einem großen<br />
Landgut in Estland. Davon ist nach der russischen Revolution nur noch ein Restgut übrig<br />
geblieben. Auf diesem lebten noch seine Mutter und seine Schwester. Er war mit seinem<br />
Bruder Leopold, der Kunstmaler war, aus der sibirischen Gefangenschaft geflohen. Leopold<br />
geriet in schlimme französische Gefangenschaft. Justinus gelang es, ins deutsche Heer zu<br />
kommen. Er hatte von dem deutsch-baltischen Pfarrhaus gehört und wollte uns seine<br />
Aufwartung machen. Er war überaus höflich, sehr zurückhaltend, fast schüchtern. Wir<br />
nahmen ihn selbstverständlich in unsere Hausgemeinschaft auf. Mutti freute sich, einen<br />
guten Schachspieler zu erhalten, und auch Papi freute sich über die Bekanntschaft mit<br />
Justinus Frey.<br />
Nachdem er schon einige Zeit in unserem Haus verkehrte, reizte uns seine Schüchternheit<br />
zu „Schandtaten“. Wir wollten prüfen, ob er humorvoll auf unsere Neckereien reagieren<br />
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würde. Wir streuten ihm Salz in den Kaffee – er trank ihn ohne eine Miene zu verziehen. An<br />
einem Abend ließen wir ihn eine schwierige Aufgabe durch ein Musikstück lösen und das,<br />
obwohl er unmusikalisch war. Aber er erriet, dass er seinen Mantel und seine Mütze<br />
anziehen und gehen sollte. Er tat es. Wir fühlten uns gar nicht gut und spielten<br />
unaufmerksam und nicht sehr lustvoll weiter. Wir waren gespannt auf seine weitere<br />
Reaktion.<br />
Es dauerte eine ziemliche Weile, <strong>als</strong> er wieder kam, begrüßte uns, höflich lächelnd, ging zu<br />
Mutti und überreichte ihr mit einer Verbeugung einen Pralinenkasten. Danach spielten Mutti<br />
und er vergnügt Schach. Wir bekamen keine Schokolade und waren enttäuscht.<br />
Einige Zeit danach lud uns Justinus zu einer Wagenfahrt ein, die wir freudig annahmen. Wir<br />
saßen sittsam und fröhlich nebeneinander, Justinus uns gegenüber. Jede von uns hatte<br />
einen großen Strohhut auf, und mit denen hatten wir uns wieder eine „Prüfung“ und eine<br />
kleine Rache wegen der Schokolade ausgedacht. Wir genossen die schöne Fahrt, winkten<br />
den Straßenpassanten zu und gaben auf ein verabredetes Zeichen unseren Hüten einen<br />
Schubs, so dass sie flatternd auf die Straße flogen. Der Wagen musste halten. Der Bursche,<br />
der neben dem Kutscher saß, sprang grinsend aus dem Wagen und erhaschte die Hüte und<br />
überreichte sie uns. Weiter ging die Fahrt. Justinus war kein Ärger anzumerken. Wir<br />
genossen die Fahrt in Begleitung der Militärs in der schönen Landschaft außerhalb von<br />
Tilsit.<br />
Wieder lud uns Justinus nach einiger Zeit zu einer Kutschfahrt ein. Wir freuten uns und<br />
hatten keinerlei Untaten im Sinn. Die Kutsche fuhr vor, aber kein Justinus erwartete uns. So<br />
fuhren wir alleine durch Tilsit mit Kutscher und Bursche.<br />
Da kam plötzlich Justinus hoch zu Ross in tadellosem Sitz. Nun wussten wir, dass wir ihm<br />
mit unseren Jungmädchenstreichen nichts anhaben konnten, er stand darüber. Nun gehörte<br />
er völlig in unsere Familie, spielte mit Mutti Schach, ab und an fuhren wir aus. Wir wurden zu<br />
den Garnisonsfesten eingeladen. Da gab es große festliche Tafeln und Tanz.<br />
Wir rätselten, für wen sich Justinus entscheiden würde, für Irene oder Sigrid. Er machte<br />
schließlich Sigrid einen Heiratsantrag und warb auch ganz offiziell bei den Eltern um Sigrids<br />
Hand. Irene hatte sehr gehofft, dass sie die Erwählte wäre. Das war eine bittere<br />
Enttäuschung für sie. – Oh, wie würde dieser disziplinierte Mann mit der<br />
temperamentvollen, oft auch unbeherrschten Sigrid umgehen können? Aber bis dahin<br />
vergingen noch einige Jahre.<br />
In dieser Zeit, wohl auch durch die Erzählungen von Justinus Kriegserlebnissen, begannen<br />
meine Kriegsträume, die immer aufregend und bedrohlich waren. An der Kleidung erkannte<br />
ich, dass die Verfolger Russen waren.<br />
Sigrid und ihr Chor „Dienende Liebe“<br />
Die Konfirmanden meines Vaters baten um Zusammenkünfte auch nach der Konfirmation.<br />
Sie trafen sich auch immer mal wieder im Gemeinderaum. Sigrid, dam<strong>als</strong> noch fast ein Kind,<br />
noch nicht eingesegnet, fragte die ehemaligen Konfirmanden, ob sie bereit wären, unter<br />
ihrer Leitung einen Chor zu gründen. So entstand Sigrids Chor. Die Anfänge waren<br />
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escheiden, doch mit der Zeit sangen sie neben Volksliedern, Chorälen auch<br />
anspruchsvolle Werke. Fast keiner konnte Noten lesen, so spielte Sigrid die einzelnen<br />
Stimmen auf dem Harmonium vor. Sie fragte unseren Vater, ob ihr Chor <strong>als</strong> Verein geführt<br />
werden könnte mit dem anspruchsvollen Namen „Dienende Liebe“. Papi meinte, vielleicht<br />
würden sie von den Tilsitern bald in „Lärmende Liebe“ umgetauft werden. Es wurden weiße<br />
Vereinskleider entworfen, bestickt mit schönen Blumenmustern. Wir sangen zu<br />
Gottesdiensten, auch im Gefängnis, wo unser Vater Seelsorger war, auch bei Kranken und<br />
Alten. Wir sangen und sprachen Gebete. Später haben wir sogar Chorreisen im Baltikum<br />
unternommen und konnten vielen Menschen Freude bereiten. 1931, <strong>als</strong> Sigrid heiratete,<br />
musste sie ihren Chor aufgeben.<br />
Meine Einsegnung 1927<br />
Am 27. März 1927, kurz vor meinem 17. Geburtstag, wurde ich konfirmiert. Mein Vater hatte<br />
für mich den Spruch aus 2. Korinther 19, Vers. 9 gewählt: „Lass dir an meiner Gnade<br />
genügen, denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig.“ Ich sagte meinem Vater, dass<br />
ich mit diesem Spruch nichts anfangen könne. Er meinte dagegen, dass diese Worte Jesu<br />
noch eine Bedeutung in meinem Leben bekommen würden. Damit hatte er Recht!<br />
Die Vorbereitungen waren aufregend. Ich erhielt ein Kleid in wollweiß mit plissiertem<br />
Faltenrock, schwarze Lackschuhe und weiße „Florstrümpfe“. Vor lauter Aufregung konnte<br />
ich kaum schlafen und war auch schon sehr früh wach. Sigrid wollte mich mit Irene durch ein<br />
Ständchen wecken. Sie befahl mir zu schlafen, damit sie ihr Ständchen bringen konnten.<br />
Die kirchliche Feier, das Abendmahl und der Segen, bei dem mein Vater mir und den<br />
anderen Konfirmanden die Hand auflegte, waren sehr bewegend. Ich verstand vieles erst<br />
später.<br />
Meine Eltern bereiteten mir ein wundervolles Fest. Papi hielt eine humorvolle Rede mit<br />
ernstem Hintergrund. Er sprach darüber, dass ich nun den Kinderjahren entwachsen wäre<br />
und hoffentlich auch allen Kinderdummheiten. In diesem Sinne war seine Rede gestaltet<br />
und so lustig, dass alle immer wieder lachen mussten. Er schenkte mir eine Lutherbibel und<br />
meinte, dass ich da noch hineinwachsen müsste und das Verständnis dafür im Laufe<br />
meines Lebens entstehen würde. Ich erhielt auch noch ein Gesangbuch. In beiden Büchern<br />
war mein Name in goldener Schrift geprägt.<br />
Unter meinen Gästen waren auch Zwillingsschwestern. Obgleich aus bescheidenen<br />
Verhältnissen, schenkten sie mir einen großen Strauß weißen Flieder. Sie hatten<br />
wunderbare Gesangsstimmen und sangen oft bei Gemeindefesten. Ich erhielt, <strong>als</strong> jüngstes<br />
Pfarrkind, das nun in die Gemeinde hinein gesegnet wurde, viele Geschenke. Als echte<br />
Leseratte beglückten mich Bücher, auch Schmuck erhielt ich. Mit solchen Kostbarkeiten war<br />
ich recht unerfahren und verschenkte sie wahllos. Glücklicherweise gehörte zu den<br />
Beschenkten auch Mutti, die ihren gesamten Schmuck in Petersburg lassen musste. Das<br />
schönste Geschenk aber war mir der duftende weiße Flieder, der mir bis heute<br />
unvergesslich geblieben ist. Wie bei allen derartigen Festen wurde auch bei diesem Fest<br />
unter Papis und Sigrids Anleitung gespielt, meistens Gesangsspiele.<br />
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Säuglingsheim<br />
Wir hatten in Tilsit ein Säuglingsheim und eine Krabbelstube. Die Leiterin, Schwester<br />
Annemarie, verehrte meine Eltern und war ab und zu bei uns zu Besuch. Mutti malte, auf<br />
ihren Wunsch hin, für ihren Babysaal Märchenbilder in leuchtenden Farben. Ich fühlte mich<br />
da ganz beheimatet, durfte Babys wickeln und Fläschchen geben und <strong>als</strong> ich älter war, auch<br />
unter Aufsicht ganz kleine und größere Kinder baden. Das machte mir viel Freude.<br />
Schwester Annemarie sagte: “Ich werde dich ausbilden, Du wirst meine Nachfolgerin!“<br />
Gefängnisbaby<br />
Zu dem Aufgabenbereich meines Vaters gehörte auch die Gefängnisseelsorge. Bei den<br />
Gefängnisgottesdiensten sangen wir mit Sigrids Chor. Es war für uns interessant, die<br />
einzelnen Gefangenen zu sehen. Die Frauen saßen gut bewacht auf den vorderen Bänken,<br />
dahinter die Männer, von denen ab und zu einer in Handfesseln war. Alle Bänke der Männer<br />
waren stark bewacht. Diese interessierten sich natürlich besonders für die Mädchen im<br />
Chor.<br />
Nun geschah es, dass mein Vater von der Oberwachtmeisterin der Frauen angerufen<br />
wurde. Sie war in großer Bedrängnis, denn in der Abteilung für schwierige Fälle war ein Kind<br />
geboren worden. Die Mutter war inhaftiert, weil sie ihr erstes Kind getötet hatte.<br />
Sie war eine sehr primitive grobe Frau. Die Hebamme verweigerte ihre Hilfe, sich um das<br />
Neugeborene zu kümmern. Die Oberwachtmeisterin, Frau Pörschke, verstand nichts von<br />
Wochenpflege und Babys. Nach kurzer Überlegung sagte mein Vater: „Ich schicke ihnen<br />
meine Tochter Ellen. Sie ist allerdings noch sehr jung, versteht aber was von Babys.<br />
Ansonsten wüsste er auf die Schnelle keinen anderen Rat.“<br />
Meine Schwester Dittchen war sofort bereit, alle Babysachen, auch Creme und Puder, zu<br />
überlassen, die sie für ihren einjährigen Sohn Hagen nicht mehr benötigte. Im Gefängnis<br />
wurde ich bereits erwartet und zur Frauenabteilung geleitet. Frau Pörschke hatte das<br />
Babykörbchen und eine Schüssel mit warmem Wasser bereit gestellt und brachte mich zu<br />
der Zelle, aus der das Babygeschrei schon zu hören war. Die Wöchnerin empfing mich mit<br />
hässlichen Schimpfworten und war empört, dass man ein so junges Ding zu ihr brachte.<br />
Frau Pörschke blieb noch in der Zelle, so lange ich das Baby badete. Als sie aber merkte,<br />
dass mir das Geschimpfe nichts ausmachte, ließ sie mich alleine und sagte, dass sie die<br />
Türe bewache. Die Frau, sie hieß Frau Schuzat, weigerte sich, ihr Kind zu stillen. Ich hatte<br />
große Mühe, sie davon zu überzeugen, wie wichtig die Muttermilch für ihr Kind wäre und das<br />
Stillen für sie selbst. Wenn sie ihr Kind nicht nähren würde, könnte bei ihr eine<br />
Brustentzündung entstehen, die dann eventuell operiert werden müsste. Sie würde ja den<br />
Druck und die überlaufende Milch selbst merken. Ich weiß nicht mehr, was mir sonst noch<br />
so alles einfiel, bis sie sich schließlich unter Geschimpfe, sie könne dem Balg auch schnell<br />
den H<strong>als</strong> umdrehen, das Kind anlegen ließ, das auch sofort eifrig saugte und schluckte.<br />
Dann fiel mir ein, Frau Schuzat zu erzählen, dass es mir vielleicht erlaubt sein würde, wenn<br />
sie nicht mehr zu böse wäre, eine schöne Taufe auszurichten. Ich erklärte ihr, um diese<br />
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Erlaubnis zu bekommen, müsse sie ihr Kind wickeln und pflegen und stillen, das würde ich<br />
auch der Oberwachtmeisterin erklären.<br />
Mehrere Tage lang radelte ich zum Gefängnis, um nach Mutter und Kind zu sehen. Frau<br />
Schuzat war jetzt friedlich, der kleine Erwin gedieh sichtlich. Ich fragte Frau Pörschke, wie<br />
sie sich die Taufe des Kindes vorstellen würde und sagte ihr, dass ich den Wunsch hätte,<br />
eine kleine Tauffeier auszurichten. Es wäre doch auch schön, wenn alle Frauen, soweit das<br />
möglich ist, daran teilnehmen könnten. Ein Baby im Gefängnis ist doch ein Ereignis! Frau<br />
Pörschke meinte, dass sie das nicht alleine entscheiden könne, ich müsse mein Anliegen<br />
der Gefängnisdirektion vortragen, es käme auf deren Genehmigung an. Natürlich besprach<br />
ich auch alles mit meinem Vater. Mit klopfendem Herzen habe ich meine Bitte der Direktorin<br />
vorgetragen, und es wurde tatsächlich genehmigt.<br />
Frauen aus der Gemeinde meines Vaters spendeten selbstgebackene Kuchen. Der Kaffee<br />
wurde in der Gefängnisküche gekocht. Dittchen gab mir das Taufkleid von Hagen. Später<br />
wurden darin auch Dittchens Söhne Roland und Armin getauft. Die Täuflingsmutter, Frau<br />
Schuzat, strahlte voller Würde. Alle Frauen durften den kleinen Erwin in dem schönen<br />
Taufkleid bewundern. Die Taufe wurde von meinem Vater abgehalten. Bei seiner<br />
Ansprache weinten viele Frauen aus Rührung. Es wurde dann aber ein fröhliches Fest, trotz<br />
der strengen Bewachung. Ich hatte eine kleine Ersparnis von fünf Mark, die ich für den<br />
kleinen Erwin Frau Pörschke in Verwahrung gab. Das war für mich viel Geld. Mit Frau<br />
Schuzat und später auch mit dem kleinen Erwin stand ich im Briefwechsel. Frau Schuzat<br />
bettelte immer um Geld. Durch den 2. Weltkrieg ging die Verbindung verloren. Erwin wurde<br />
bestimmt, wie auch Hagen, zum Kriegsdienst eingezogen.<br />
Im Frauengefängnis<br />
Nach der gelungenen Tauffeier entstand bei einigen Frauen der Wunsch, dass das Fräulein<br />
Pfarrer, <strong>als</strong>o ich, sie doch gelegentlich besuchen könne. Sie fragten Frau Pörschke, ob das<br />
möglich wäre, und sie sagte zu. Frau Pörschke war eine gütige, mütterliche Frau, die aber<br />
sehr streng sein musste. Die meisten inhaftierten Frauen waren nicht gewalttätig. Sie<br />
verteilten die Mahlzeiten, säuberten die Flure, Waschräume und Toiletten. Ihre<br />
Hauptbeschäftigung aber war, Tüten zu kleben. Die Frauen, die in strengerem Gewahrsam<br />
gehalten wurden, habe ich nur einmal mit der Gefängnisfürsorgerin besucht. Ich war<br />
entsetzt über die harte Sprache, mit der sie die meist total verstockten Frauen ansprach. So<br />
konnte keine Hilfe geleistet werden, sondern nur weiterer Hass entstehen.<br />
Frau Pörschke bat mich vor meinem ersten Besuch in ihr Amtszimmer. Sie erklärte mir, dass<br />
ich mich in Acht nehmen müsste, wenn die Frauen mir Briefe mitgeben wollten oder wenn<br />
sie sich mir anvertrauten. Solche Gespräche dürfte ich nur mit ihr besprechen. Ansonsten<br />
würde absolute Schweigepflicht bestehen.<br />
Die größte Zelle wurde vorbereitet. Ich hatte aus unserem Garten Blumen mitgebracht. Die<br />
Frauen, die zu diesem Treffen kommen durften, mussten ihre Stühle mitbringen. Nachdem<br />
wir uns eine Weile unterhalten hatten, um uns kennen zu lernen, las ich aus dem Buch von<br />
Selma Lagerlöf „Das Mädchen vom Moorhof“. Am Anfang waren die Frauen noch etwas<br />
verlegen, auch schüchtern und misstrauisch. Ich las eine abgekürzte Version. Trotzdem<br />
bedeutete das mehrere Besuche und danach gab es Aussprachen. Manche erzählten aus<br />
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ihrem Leben. Alle stammten aus sehr einfachen Kreisen, manche recht primitiv. Zu mir<br />
waren sie jedenfalls liebenswürdig, und ich ging bereichert nach Hause. Ja, eigentlich<br />
tauten langsam alle auf. Es ging nach jedem Vorlesen aufgeregt und munter zu, alle waren<br />
gespannt auf die Fortsetzungen.<br />
Als wir die Geschichte beendet hatten, weinte ein Mädchen und fragte unter Tränen, ob sie<br />
mit mir alleine sprechen dürfe. Weil ich ihren Namen vergessen habe, nenne ich sie „Anna“.<br />
Frau Pörschke erlaubte das Gespräch. Die Zelle wurde hinter uns verschlossen. Nun<br />
erzählte Anna ihre traurige Geschichte und von ihrer großen Schuld. Sie hatte <strong>als</strong><br />
Dienstmädchen eine gut bezahlte Stellung. In ihrer Freizeit traf sie sich mit anderen<br />
Jugendlichen. Sie tranken Alkohol und vergnügten sich. Eines Tages bemerkte sie, dass sie<br />
schwanger war. Sie verbarg ihren Zustand vor ihren Arbeitgebern aus Angst vor einem<br />
Rausschmiss.<br />
Auch ihren Eltern konnte sie sich nicht anvertrauen. Sie hätten ihr die Türe gewiesen in ihrer<br />
strengen moralischen Frömmigkeit. Ohne jede Hilfe, ohne jeden Schrei hatte sie sich selbst<br />
entbunden. Doch ihre Hausfrau war misstrauisch geworden und verständigte die Polizei. Als<br />
Anna die schweren Schritte vor ihrer Türe hörte, steckte sie das Baby schnell in den kalten<br />
Ofen. Es war Sommer. Da wurde das Kind entdeckt, tot durch Ersticken. Anna kam ins<br />
Gefängnis. Das erzählte Anna mir unter ständigem Schluchzen. Sie sagte, dass sie um ihr<br />
Kind weine, aber auch um ihretwillen, weil sie nun von Gott verstoßen sei, weil sie eine<br />
Mörderin wäre. Nun kamen auch mir die Tränen, aber ich konnte sie trösten. Wenn man<br />
Gott bittet, wird er die Schuld vergeben. Wir beteten miteinander und umarmten uns. Ach,<br />
sagte Anna, jetzt ist es mir leichter ums Herz. Die Gefängnisstrafe habe ich verdient, die<br />
muss ich absitzen, aber ich will jetzt ein anständiges Mädchen werden. Ich will auch meine<br />
Eltern um Vergebung bitten. Die Traurigkeit um mein armes Kind wird bleiben.<br />
Riga: Zwillinge<br />
Ich musste mich von der freundlichen, aufgeschlossenen Oberwachtmeisterin<br />
verabschieden, von Anna und den anderen Frauen. Meine Tante Ingeborg v. Schlippe,<br />
Muttis Schwester aus Riga, hatte angefragt, ob ich zu ihnen kommen könnte, weil sie zu<br />
ihren vier Kindern Zwillinge bekommen hatte und dringend Hilfe brauchte. Schlippes hatten<br />
im zentralrussischen Gebiet im Gouvernement Kaluga ein großes Landgut. Da durch die<br />
Revolution das Leben der ganzen Familie bedroht war, mussten sie heimlich, ohne sich von<br />
ihren Angestellten verabschieden zu können, eine Besuchsreise vortäuschend, fliehen.<br />
Dabei waren die vier Kinder im Alter von 4 – 11 Jahren, Nanja, die alte Kinderfrau, die auch<br />
schon Tante Ingeborg versorgt hatte, und die Erzieherin, Frieda Sepp. Die Tochter konnte<br />
sich noch von ihrem Lieblingspferd, es liebkosend, verabschieden und aus der Ferne ihrer<br />
Lieblingskuh zuwinken. Da gab es Tränen und Abschiedsschmerz. So kamen sie fast ohne<br />
Hab und Gut in Riga an. Onkel Leo hatte, wie auch Mutti, eine Ausbildung an der Akademie<br />
der Künste absolviert. Jetzt, nach der Flucht, bekam er durch Onkel Max v. Radecki, der<br />
einen Posten im Schulministerium hatte, eine Stelle <strong>als</strong> Zeichenlehrer. So konnte er seine<br />
große Familie einigermaßen gut versorgen.<br />
Ich wurde mit großer Freude von Schlippes erwartet. Natürlich war ich entzückt von den<br />
Zwillingen Karin und Gunnar und wurde auch gleich in mein Aufgabengebiet eingeführt. So<br />
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lernte ich mit dem Spirituskocher umzugehen, um Fläschchen vorzubereiten, wenn die<br />
Muttermilch nicht ausreichte. Nanja Liesa beobachtete mich misstrauisch und zeigte mir,<br />
wie ich zu ihrer Zufriedenheit die Babys zu behandeln hätte. „Wenn Baby schreit, gleich auf<br />
den Arm nehmen, wiegen und singen – Atschitscha, uwischtscha – gleich ist Baby ruhig.“<br />
Benno, der Älteste, war 19 Jahre alt und Student. Ich saß gern bei ihm. Wir sangen und er<br />
spielte Gitarre dazu. Nanja war wie ein Schatten, man sah sie kaum, aber man hörte das<br />
Rauschen ihrer vielen Unterröcke. Sie sagte: „Gnädiger Herr Benno, du sollst studieren und<br />
nicht mit dem gnädigen Fräulein poussieren.“ Ich wurde höflich aber bestimmt in das<br />
Schlafzimmer zu den Babys, die ich bei mir hatte, verwiesen.<br />
Das Essen war sehr einfach und auch knapp. Ich hatte sicherlich einen gesunden Appetit.<br />
Nanja Liesa huschte hinter meinen Stuhl und flüsterte: „Gnädiges Fräulein, iss nicht so viel,<br />
kriegst dicken Bauch und keinen Mann.“ Tante Ingeborg entschuldigte sich und sagte, dass<br />
sie von Nanja, in deren Liebe und Fürsorge, völlig beherrscht würde. Sie lebte in ihrem<br />
Küchenwinkel und war trotzdem überall. Trotz Nanja Liesa war diese Zeit für mich<br />
wunderschön und unvergesslich.<br />
Onkel Leo und Tante Ingeborg, die ich liebte und verehrte, hatten in Birkenruh ein Haus mit<br />
Garten gemietet, nicht weit entfernt von Meschke. Von dort aus konnte ich immer mal<br />
wieder zu einem Kurzaufenthalt nach Meschke wechseln. Nach etwa sechs Monaten war<br />
mein Einsatz bei den Zwillingen nicht mehr nötig, und Nanja übernahm die Pflege.<br />
Silberhochzeit der Eltern in Livland<br />
Onkel Max und Tante Ellen v. Radecki, Muttis Schwester, hatten in der livländischen<br />
Schweiz, in Meschke, eine alte Mühle mit dem dazu gehörigen Haus gemietet, mit recht<br />
vielen einfach eingerichteten Räumen. Sie hatten die ganze Hakensche Familie eingeladen,<br />
um die Silberhochzeit unserer Eltern zu feiern. Onkel Leo und Tante Ingeborg konnten ihre<br />
ganze Familie in Birkenruh unterbringen. Unter der musikalischen Leitung von Onkel Max<br />
übten wir Lieder ein. Tante Ingeborg hatte Stoffe besorgt in der Größe von<br />
Herrentaschentüchern in den livländischen Farben, die von uns mit Kreuzstichen bestickt<br />
wurden. Ich war nun ganz nach Meschke gezogen.<br />
Wir Jugendlichen hatten uns eine große alte Linde ausgesucht, auf der jeder einen Platz<br />
fand, teilweise durch Bretter erweitert. Da saßen wir und stickten und sangen vielstimmig.<br />
Tante Ellen häkelte alle bestickten Stoffteile zu einem großen Tischtuch zusammen. Wie<br />
schade, dass Dittchen und Fred nicht dabei sein konnten. Es wurde ein großes Fest mit viel<br />
Gesang und eingeübten Darstellungen aus dem Leben unserer Eltern. Unter meinen<br />
Cousinen wurde mir Gisela v. Radecki besonders lieb. Sie habe ich später <strong>als</strong><br />
Hirtenmädchen modelliert mit einem großen Korb mit Gaben. Ein besonderes Erlebnis war<br />
für uns das Beisammensein der Cousinen und Vettern. Wir unternahmen nächtliche<br />
Spaziergänge, kletterten in den Felsen der gebirgigen Landschaft herum, badeten in den<br />
vielen Seen.<br />
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Schwesternausbildung in Lötzen 1929<br />
Nach der Heimkehr aus unserem geliebten Baltikum und Abschied von unseren<br />
Verwandten, meldete ich mich zur Schwesternausbildung <strong>als</strong> freie Schwester in dem<br />
Diakonissenmutterhaus in Lötzen an. Ich erhielt sofort eine Zusage. Sehr aufwändig war die<br />
Herstellung der gesamten Ausstattung. Eine Näherin musste die Alltagskleider und ein<br />
Sonntagskleid nähen. Irene half mir beim Zuschneiden der Schwesternschürzen, die ich<br />
selber nähte. Schwarze Strümpfe, Schuhe und einen Mantel erhielt ich von einer alten<br />
bettlägerigen Frau, ganz gut, aber sehr altmodisch. Die Schuhe liefen spitz zu und waren<br />
mir an den Zehen zu eng. Es musste recht viel angeschafft werden. So auch die<br />
Unterwäsche, die keine Spitzen haben durfte, außer kleinen „Mausezähnchen“. Ich klagte<br />
nicht über die zu engen Schuhe und den altmodischen Mantel. Die Ausrüstung war teuer<br />
genug. Die Schwesternhauben und den Umhang bekam ich vom Mutterhaus. Als ich mich<br />
der Familie im schönen Sonntagskleid, lang bis auf die Knöchel, vorstellte, sagte Wolfram,<br />
dass ich von hinten schon ganz schön erwachsen aussähe.<br />
Wie wunderbar war wieder das Weihnachtsfest. Mutti hatte den Chor der Don-Kosacken,<br />
der gerade in Tilsit gastierte, zu einem russischen Essen eingeladen. Das konnte unsere<br />
Mutter hervorragend. Alle waren hell begeistert. Wir erlebten ein großartiges Konzert und<br />
russischen Tanz. Zum Abschied wurden wir alle nach russischer Art umarmt und geküsst.<br />
48<br />
Dann wurde das Jahr 1929<br />
eingeläutet. Bald darauf saß ich<br />
im Zug nach Lötzen und fuhr<br />
einem neuen Lebensabschnitt<br />
entgegen. Ich hatte einen<br />
Fensterplatz und konnte<br />
verborgen meine Tränen laufen<br />
lassen. Da umfasste mich<br />
tröstend ein kräftiger Arm:<br />
„Nicht weinen, Fräulein Ellen“,<br />
sagte eine dunkle melodische<br />
Stimme auf russisch. Es war<br />
der Basssänger aus dem<br />
Don-Kosackenchor. Er wischte<br />
mir die Tränen ab und teilte aus<br />
seinem Frühstücksbeutel eine<br />
Apfelsine mit mir und sagte:<br />
“Großer Gott ist überall.“ Ich<br />
war getröstet und gespannt auf<br />
alles, was mich nun erwarten<br />
würde.<br />
Von meiner Probemeisterin,<br />
Schwester Lotte, wurde ich<br />
freundlich begrüßt. Sie führte<br />
mich in ein großes helles Zimmer mit 4 Betten. Sie setzte mir die Schwesternhaube auf und<br />
seufzte über meine langen Zöpfe, die schwer unterzubringen waren. Dann brachte sie mich<br />
auf die Kinderstation und übergab mich der dort leitenden Schwester, Schwester
Mariechen. Die erste Zeit auf der Kinderstation war meine liebste Zeit. Wir lernten die<br />
verschiedenen Krankheiten kennen und wie damit umzugehen ist. Es gab Kinder aus<br />
asozialen Verhältnissen, die schon viel Leid durchgestanden hatten. Die ersten Todesfälle<br />
gingen uns Jungschwestern sehr nahe, aber auch Abschiede von Kindern, die bitterlich<br />
weinten, weil sie nicht zurück in ihr liebloses Zuhause wollten.<br />
Wir vier „freien Schwestern“ waren die ersten, die zur Ausbildung im Diakonissenhaus<br />
aufgenommen worden waren. Für die alten Schwestern waren wir „Steine des Anstoßes“.<br />
Natürlich gab es auch sehr feine und liebenswürdige Diakonissinnen, besonders meine<br />
Probemeisterin, Schwester Lotte. Sie besuchte mich später gern in Mertensdorf, wie auch<br />
die Oberin des Hauses, Gräfin Sigrid zu Eulenburg. Anfangs war sie sehr streng und<br />
unnahbar, auch hoheitsvoll. Und ausgerechnet ihr rutschte ich in die Arme: Es gab da ein<br />
Treppengeländer mit weiten Kurven, eine verlockende Rutsche über mehrere Stockwerke.<br />
Da rutschte ich runter und der Frau Oberin direkt in die Arme. Oh, welche Peinlichkeit! Ich<br />
war sehr verlegen und entschuldigte mich, weil auch meine Schürze einen Schmutzstreifen<br />
aufwies. Aber die Frau Oberin, Schwester Sigrid, lachte und meinte, sie würde dafür sorgen,<br />
dass das Geländer für Schwester Ellen besser geputzt würde. Leider musste ich sie und<br />
auch Schwester Lotte enttäuschen. Beide hatten damit gerechnet, dass ich Diakonissin<br />
würde. Mein Vater aber empfand mich für diese Entscheidung noch nicht reif genug. Diese<br />
Überlegungen erfuhr ich erst sehr viel später durch Liesel Hüser, unsere Tante Liesel, die<br />
mit Schwester Lotte befreundet war. So erzählte sie mir, dass Schwester Sigrid sehr<br />
zufrieden mit meiner Arbeit und mit meiner Dienstauffassung war. Es gab aber auch<br />
Differenzen, Anklagen und Beschwerden über mich. Das lag an mir. Ich arbeitete auch in<br />
dem weiter abgelegenen Säuglingsheim. So erlebte ich, wie eine Jungdiakonissin manche<br />
Babys grob behandelte. Darüber äußerte ich mich entsetzt vor allen. Es gab auch andere<br />
Begebenheiten in dieser Schwesternschaft, die mich abstießen und über die ich sprach. Ich<br />
wurde daraufhin in der Diakonie verpetzt. Es kam zu einer Aussprache mit einer alten<br />
Diakonisse, die mir nicht glaubte. Ich war sehr unglücklich und bat Gott um Hilfe, dass doch<br />
die Wahrheit siegen müsse.<br />
Da hatte ich einen wunderbaren Traum. In diesem erschien mir meine Großmutter, Ellen v.<br />
Haken, <strong>als</strong> Lichtgestalt, jung, heiter und strahlend. Im Leben kannte ich meine Großmutter<br />
nur sorgenvoll, alt und müde. Ich erkannte sie sofort und rief: „Großmama, kommst du mich<br />
holen?“ Sie lachte und zeigte mir einen goldenen Ring. „Dieser Ring gehört dir, du kannst<br />
ihn aber noch nicht haben, weil dein Name erst eingraviert werden muss.“ Dann wachte ich<br />
auf und war sehr glücklich. Ich fühlte die Nähe meiner Großmutter und fühlte mich behütet.<br />
Beendigung meiner Schwesternzeit – Abschied von Tilsit<br />
Leider war der Abschied von meiner Schwesternzeit durch die Ereignisse sehr getrübt. Ich<br />
musste nach der Entlassung mit den Enttäuschungen und negativen Erfahrungen erst fertig<br />
werden. Andererseits war ich auch froh, dem beengten Geist des Diakonissenhauses<br />
entronnen zu sein. Es gab auch Schwestern, die mir lieb geworden waren und an die ich<br />
wehmütig dachte. Das war vor allem Fräulein Liesel Hüser, Hüserchen genannt, die<br />
Schwesternausbilderin war. Mit ihr hatte ich den engsten Kontakt. Meine Nachfolgerin im<br />
Säuglingsheim, auch eine freie Schwester, bemerkte in kurzer Zeit die Missstände. Sie<br />
konnte durch eine Unterredung mit dem neu eingetretenen Pfarrer, der jung und energisch<br />
49
war, erreichen, dass das Säuglingsheim personell neu besetzt wurde. Dieses alles erzählte<br />
mir später Tante Liesel.<br />
Mein Vater erlitt 1931 einen schweren Herzinfarkt. Er kam ins Krankenhaus, sein Zustand<br />
war besorgniserregend. Wie das manchmal mit Nachrichten von Mund zu Mund ist, haben<br />
einige schon von seinem Tod gehört. Dazu gehörte auch ein konkurrierender Pfarrer, der<br />
einen Kranz mit einer schönen Schleife ins Pfarrhaus schicken ließ. Meine Mutter legte<br />
diesen Kranz <strong>als</strong> Willkommensgruß auf das Bett meines Vaters. Das erfreute ihn sehr. Das<br />
Lachen tat seinem Herzen bestimmt sehr gut.<br />
Die vielfältigen Aufgaben in der großen Gemeinde hatten ihn zeit- und arbeitsmäßig<br />
überfordert. Er musste sich von Tilsit verabschieden. Er hatte sich eine ländliche Pfarrstelle<br />
in Jucha im Kreise Lyk ausgesucht und erhoffte sich, in der herrlichen Natur Masurens zu<br />
neuen Kräften zu kommen. Die Abschiedsfeier von den Tilsitern war bewegend und sehr zu<br />
Herzen gehend. Da flossen viele Tränen.<br />
Geburt von Dietrich Frey am 30. Juli 1932<br />
In dieser Zeit wurde Sigrid und Justinus ihr<br />
Söhnchen Dietrich geschenkt. Sigrid, die nichts<br />
von Babypflege verstand, bat mich ihr behilflich<br />
zu sein. Das wurde eine fröhliche unbeschwerte<br />
Zeit. Bald konnte aber Sigrid alle Aufgaben selber<br />
übernehmen, so dass ich überflüssig wurde und<br />
nach einer neuen Aufgabe Ausschau hielt. Diese<br />
Aufgabe vermittelte mir Barbara v. Pahlen. Sie<br />
erzählte mir, dass bei einer befreundeten Familie,<br />
Baron v. d. Goltz, Drillinge geboren worden seien.<br />
Diese suchten dringend eine Säuglingspflegerin<br />
und zwar sofort. Die Drillinge waren zwei Monate<br />
früher <strong>als</strong> erwartet auf die Welt gekommen, am 9.<br />
Oktober 1932. Eine 1 ½ jährige Tochter war<br />
schon da. Meine Bewerbung wurde sofort<br />
angenommen. Mutti freute sich mit mir. Papi aber<br />
hatte Bedenken. Er wollte nicht, dass ich mich<br />
anstellen ließ, ich sollte nur <strong>als</strong> besuchsmäßige<br />
Hilfe dorthin gehen. Von seinem Beruf her wusste<br />
er wie schlecht Personal behandelt wurde. Er<br />
erläuterte mir auch einige Beispiele aus der<br />
weiteren Familie, welchen Anmaßungen<br />
Dienstpersonal oft ausgesetzt seien. Meine Einwände, dass ich doch Geld verdienen wolle,<br />
akzeptierte er nicht. Da er aufgrund seiner Krankheit viel Schonung brauchte, willigte ich<br />
schließlich ein. Wir nahmen liebevollen Abschied voneinander. Die Eltern zogen nach Jucha<br />
und ich nach Rastenburg zu der Familie Dietrich und Elisabeth v. d. Goltz.<br />
50
Drillinge v. d. Goltz, Rastenburg 1932<br />
In Rastenburg holte mich Herr v. d. Goltz mit seinem kleinen Auto vom Bahnhof ab. Nach<br />
der Begrüßung teilte ich ihm den Beschluss meines Vaters mit. Er seufzte und meinte, was<br />
wohl die Mami dazu sagen wird. Die Mami, Elisabeth, war auch nicht begeistert. Ich<br />
beteuerte, dass ich meine Pflichten <strong>als</strong> Angestellte oder <strong>als</strong> Besuch mit gleicher Freude<br />
erfüllen würde. Mir wurde mein Zimmer gezeigt, das ich sehr anheimelnd empfand. Danach<br />
lernte ich am hübsch gedeckten Kaffeetisch die kleine Inge kennen, die mir nur zögernd die<br />
Hand gab und mich prüfend musterte. Das Ehepaar machte mir nach einigen Überlegungen<br />
den Vorschlag eines Taschengeldes, soweit ich mich erinnern kann, waren das 50,- Mark.<br />
Darüber war ich hoch beglückt.<br />
Im gemütlichen Damenzimmer standen die drei Körbchen mit den winzigen Babys. In dem<br />
blau bezogenen Körbchen lag der Älteste, Erhard; das zweite Körbchen hatte einen<br />
zartgrünen Vorhang, in dem Wolfgang schlummerte, und Sybilles Körbchen hatte einen<br />
rosa Vorhang. Alle Räume des Landhauses hatten Ofenbeheizung und<br />
Petroleumbeleuchtung und waren sehr gemütlich eingerichtet. Elisabeth war nach der<br />
Geburt noch pflegebedürftig. Sie hatte sich noch während der Hausbesichtigung hingelegt.<br />
Mein Amt konnte beginnen. Nach dem Wickeln bekam Elisabeth jeweils zwei Kinder zum<br />
Stillen, das dritte musste warten. Nach den ersten Schlucken schliefen die Kinder und auch<br />
Elisabeth zufrieden ein. So dauerte das Stillen ziemlich lange.<br />
Während Elisabeth und ich dabei plauderten und uns näher kennen lernten, rückte der<br />
Abend schnell heran. Das Abendessen musste bereitet und die kleine Inge gefüttert<br />
werden. Frieda, das Zimmermädchen, brachte sie hoch in ihr Zimmerchen, das neben<br />
meinem lag. Und dann meldeten sich die Babys wieder, mussten gestillt und für die Nacht<br />
fertig gemacht werden. Papi Dietrich saß geduldig und gähnend bei uns und nahm meinen<br />
Vorschlag, zu Bett zu gehen, dankbar an. Kurz darauf erschien er im Nachthemd. Obwohl<br />
ich durch meinen Schwesterndienst solche Anblicke gewohnt war, erschien es mir<br />
passender, sich einen Bademantel über zu ziehen. Er war Verwalter einer Ziegelei und<br />
musste frühzeitig aufstehen. Er hatte einen zuverlässigen Sekretär, der leider<br />
Quart<strong>als</strong>säufer war. Dietrich behielt ihn trotzdem, weil er meinte, dass er bei einem Wechsel<br />
nur andere Fehler eintauschen würde.<br />
Als ich an diesem ersten Abend reichlich ermüdet aber auch voller Dank zu Bett gehen<br />
wollte, hörte ich Klein-Inge an den Stäben ihres Bettchens rütteln, lachen und jubeln und<br />
plappern. Die Windeln waren herunter gerutscht und nass. Ich setzte sie auf`s Töpfchen, mit<br />
Erfolg nach einiger Zeit. Dann wickelte ich sie frisch auf meine Art. Pampers und gut<br />
sitzende Gummihöschen gab es dam<strong>als</strong> noch nicht. Ich steckte sie wieder in ihr Bettchen,<br />
streichelte sie und sang ein Lied, und sie schlief, Gott sei Dank!, schnell ein.<br />
Ich ging in mein Zimmer und suchte in meinem Koffer nach einem Nachthemd und fing<br />
dabei schon mal an, meine Sachen in den Schrank zu räumen. Als ich die Kleider<br />
aufhängen wollte, griff ich in den Schrank und erfasste dabei eine Gestalt. Der Schrecken<br />
ließ mir alle Haare zu Berge stehen. Ich lief aus dem Zimmer und holte nach einigem Zögern<br />
den müden Dietrich aus dem Bett. Er kam auch sofort mit und stellte schnell die Identität der<br />
Gestalt fest. Es war eine angekleidete Schneiderpuppe, die durch den Schornstein in der<br />
Wand erwärmt war. Dietrich und Elisabeth lachten, ich fühlte mich richtig blöd und blamiert.<br />
51
Aber endlich konnten wir alle schlafen. Das war mein Einstieg in die Familie v. d. Goltz.<br />
Schlimm war, dass sich hier wieder meine quälenden Kriegsträume fortsetzten.<br />
Mein Wecker weckte mich frühzeitig. Ich hatte den Kopf voller Pläne. Die Babys brauchten<br />
ein richtiges Kinderzimmer und nicht ein Damenzimmer mit Polstermöbeln. So kam ich auf<br />
die Idee, dass die Eltern in eines der geräumigen Bodenzimmer und ich mit den vier Kindern<br />
in das Elternschlafzimmer umzögen. Mit meinen Einfällen und Vorschlägen, die ich immer<br />
wieder vorbrachte, war ich Elisabeth und Dietrich nicht bequem, aber sie willigten ein. Es<br />
wurden auch Babyfläschchen gekauft, im Wechsel erhielt nun jeweils eines der Kinder das<br />
Fläschchen, so dass Elisabeth nur zwei Kinder stillen musste. Wenn ich die Kleinen badete<br />
und versorgte, machte Klein-Inge alles mit ihrer Puppe mit. So kam keine Eifersucht auf.<br />
Die Taufe der Drillinge musste geplant werden. So auch das Taufessen und die Getränke.<br />
Eines Abends rief Dietrich Elisabeth und mich zur Weinprobe. Es gab immer nur ein kleines<br />
Gläschen zum Probieren und eigentlich sollten wir jeden Schluck im Mund rumwälzen und<br />
gurgeln und ausspucken. Das fanden Elisabeth und ich zu schade, es schmeckte auch<br />
immer besser, und wir wurden immer fröhlicher. Letztendlich musste sich Dietrich selbst für<br />
einen Wein entscheiden, weil wir keine Weinkenner waren. Aber an diesem Abend fielen die<br />
letzten Fremdheiten und Hemmschwellen, und ich gehörte nun richtig zur Familie.<br />
Die Gestaltung der Tischkarten hatte ich übernommen. Jeder musste seinen Platz nach<br />
einem Spruch und einem Bildchen finden, Namen standen nicht darauf.<br />
Elisabeth musste mir zuvor von jedem Gast etwas Typisches erzählen, danach wählte ich<br />
einen Spruch und ein entsprechendes Bild. Dietrichs Bruder Wittig war in festen Händen,<br />
das nahmen jedenfalls alle an. Die Auserwählte war Vera-Lisa Baronesse v. Buhl, die<br />
Schwester von Barbara Gräfin v. Pahlen. Auf seiner Karte waren zwei Herzen von Amors<br />
Pfeil durchschossen. Den Spruch habe ich vergessen. Vera-Lisa war erkrankt und konnte<br />
nicht kommen, so wurde Wittig mein Tischherr. Auf meine Karte hatte ich einen Spruch<br />
gewählt, den ich hier versuche wieder zu geben: „Dienen lerne beizeiten das Weib, denn nur<br />
durch Dienen allein gelangt es zur Herrschaft.“<br />
So kam der Tag der Taufe. Großvater Fritz Frhr. v. d. Goltz hatte aus gesundheitlichen<br />
Gründen abgesagt, aber die Stiefgroßmutter Elsbeth, Mutter Etta genannt, war angereist.<br />
Dietrich flüsterte mir zu: „Jetzt kommt die Fürstin.“ Sie sah auch sehr stolz aus, mit viel<br />
Schmuck behangen und großen Brillantohrringen. Wegen eines Hüftleidens ging sie am<br />
Stock, hielt sich aber aufrecht. Sie wurde von allen respektvoll begrüßt, aber ich merkte,<br />
dass sie nicht geliebt wurde.<br />
Alle fanden ihre Plätze außer Wittig. Er sagte, dass der Amorschuss für ihn nicht zuträfe,<br />
weil seine Beziehung zu Vera-Lisa rein freundschaftlich wäre. Später erzählte er mir, dass<br />
für ihn schon an dem Tauftag klar war, dass er mich zur Frau haben wollte. So stimmten<br />
unsere beiden Tischkarten, denn später im Gutsbetrieb musste ich beides: Dienen und<br />
Herrschen.<br />
Der Pastor war ein leidenschaftlicher Jäger. Auf seiner Karte versteckte sich ein Häschen<br />
unter seinem Talar, und die weißen Bäffchen flatterten vor seinen Augen. Der Schuss ging<br />
ins Leere. Stiefmutter Etta hatte ich auf Dietrichs Hinweis einen lustigen Postboten gemalt,<br />
der zwei Beutel trug und „Hurrah, hurrah, der Erste ist da!“ rief. Das war boshaft, Baronin<br />
Etta gekränkt. Ich bat um Entschuldigung, sie nahm die Entschuldigung an, mich hochmütig<br />
musternd.<br />
52
Der Taufaltar war im Damenzimmer aufgebaut. An die Taufansprache und die Taufsprüche<br />
kann ich mich nicht mehr erinnern, aber natürlich an die Namen:1. Erhard, Fritz, Waldemar,<br />
2. Wolfgang, Dietrich, 3. Sybille, Elisabeth<br />
Es wurde ein fröhliches, entspanntes Fest.<br />
Der Winter zog schneereich und frostig ins Land. Umso gemütlicher war es im Hause.<br />
Elisabeth hielt jeden Morgen eine Andacht, an der auch die Hausmädchen teilnahmen. Sie<br />
spielte auf dem Klavier einen Choral, wir sangen gemeinsam dazu. Weihnachten rückte<br />
heran. Gemeinsam schmückten wir den kleinen Weihnachtsbaum. Ingelein bekam eine<br />
Käthe-Kruse-Puppe, die auch mich entzückte. Es war eine schlichte Weihnachtsfeier. Ich<br />
hatte Heimweh, war aber trotzdem sehr glücklich.<br />
Es kamen oftm<strong>als</strong> Verwandte und Freunde zu Besuch, um das Wunder der Drillinge zu<br />
bestaunen.<br />
Auch die Schwester von Vater Fritz Goltz, Tante Kati Deetchen, kam uns besuchen, die ich<br />
gleich verehrte und liebte. Aus Berlin kam Exzellenz Gertrud v. Wegerer. Beide Tanten<br />
rieten Wittig, diese Ellen Maaß zu erobern, nachdem er ihnen seine Liebe zu mir gestanden<br />
hatte. Sie fanden, dass ich die passende Frau für ihn wäre. Das erzählte er mir später.<br />
Neben meinen Pflichten hatte ich noch genug Zeit, für die Kinder einige Sachen zu nähen<br />
und zu besticken. Auch malte ich auf festem Karton Märchenbilder, die im Kinderzimmer die<br />
Wände schmückten. Inge erinnert sich noch heute an diese Bilder. Es blieb auch genügend<br />
Zeit, meinen Eltern lange Briefe zu schreiben.<br />
Elisabeth und ich verstanden uns gut. Viele Hausarbeiten erledigten wir gemeinsam. Dabei<br />
hatten wir tiefgehende religiöse Gespräche. Dietrich stand Glaubensfragen dam<strong>als</strong> noch<br />
zweifelnd gegenüber. Natürlich lachten wir auch viel und konnten richtig albern sein. Wir<br />
waren jung und voller Erwartung dem Leben gegenüber. Aber immer wieder kamen meine<br />
Träume von Krieg.<br />
Wittig besuchte uns recht oft. Wenn die Kinder gefüttert werden mussten, legte ich ihm eine<br />
meiner Schwesternschürzen um und gab ihm ein Baby in den Arm. Ich war erstaunt, wie<br />
geschickt er das Baby fütterte. Diese Verwunderung äußerte ich gegenüber Dietrich und<br />
Elisabeth. Die lachten und meinten, ob ich noch nicht gemerkt hätte, wem das Interesse<br />
eigentlich gelten würde. Nein, ich war nicht auf diesen Gedanken gekommen und völlig<br />
ahnungslos. Wahrscheinlich deswegen blieb ich zurückhaltend Wittig gegenüber. Aber wir<br />
waren alle fröhlich und harmonisch in unserer Gemeinschaft.<br />
Die Babys wuchsen heran und damit nahte die Zeit, die Kinder ihrem Großvater<br />
vorzuführen. Schon die Vorbereitungen zu dieser Reise waren aufregend. Welch ein<br />
Kunststück, uns alle mitsamt Gepäck in dem kleinen Auto unterzubringen. Wir waren 3<br />
Erwachsene, 4 Kinder, die Bettchensachen für die Drillinge und viele Notwendigkeiten. Die<br />
hinteren Sitze waren herausgenommen. Vorne saß Elisabeth mit Inge auf dem Schoß.<br />
Gesetzliche Sicherheitsbestimmungen wie heute gab es dam<strong>als</strong> nicht.<br />
In Mertensdorf wurden wir freudig und staunend begrüßt. Das gesamte Personal war<br />
angetreten und half beim Ausräumen. „Mutter Etta“ hatte alles sorgsam vorbereiten lassen.<br />
Den Kindern und mir war ein großes Gästezimmer zugewiesen. Es war das Zimmer Nr. 6.<br />
Über der Türe waren die Worte eingebrannt: „Hier bin ich – hier bleib ich!“ Es durchrann<br />
mich seltsam. Sollte das wirklich für mich gelten? Wir erlebten sehr schöne Tage.<br />
53
Bei einem weiteren Mertensdorfbesuch waren die Drillinge schon im Krabbelalter. Ich hatte<br />
Wittig noch kein bejahendes Zeichen gegeben. Er hatte mir und den Kindern sein Wohn-<br />
und Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt. Wittig beobachtete die Kinder und<br />
wahrscheinlich auch mich. Sein Dackel „Hummel“ kam plötzlich auf meinen Schoß und<br />
leckte meine Hände. Das erstaunte Wittig sehr, denn das hätte Hummelchen noch nie bei<br />
irgendjemandem gemacht. Ich setzte die Kinder auf ihre Töpfchen. Auf dem blanken Parkett<br />
rutschten sie munter herum. Weil ich mit Wittig in ein Gespräch vertieft war, bemerkte ich<br />
nicht, dass sie durch mehrere Räume bis zum Großvater an seinen Schreibtisch gewandert<br />
waren. Er begrüßte lachend die Topfreiter und freute sich, <strong>als</strong> ich die Ausreißer<br />
einsammelte.<br />
Wenn die Kleinen ihren Nachmittagsschlaf hielten, führte mich Wittig über den Hof, zeigte<br />
mir die vielen Ställe und auch den Kutschstall. Das war für mich ein besonderes Erlebnis,<br />
diese herrlichen Tiere, Reit- und Fahrpferde zu streicheln, die weichen Nüstern zu berühren.<br />
Im Sommer waren alle Kühe auf der Weide. Die Schweineställe waren gepflegt und sauber,<br />
alle Schweine konnten in die Außengehege.<br />
Wir besuchten auch die Gutsschreinerei, Meister May, der den Drillingen schöne<br />
Kinderbettchen gearbeitet hatte, <strong>als</strong> sie ihren Körbchen entwachsen waren. In der Küche<br />
zeigt mir Frau Soldner, die damalige Wirtin, wo ich die Fläschchen und den Milchbrei<br />
zubereiten konnte. Den Gemüsebrei bereitete sie selbst zu und brachte ihn auch zu den<br />
festgelegten Zeiten. Ich fütterte die Kinder im Esssaal. Die Gutsküche lag im Souterain. Die<br />
großen Küchenfenster waren durch Eisenstäbe gesichert.<br />
Mutter Etta hatte mir ein nettes Mädchen zugeteilt. Ich sollte keine gröberen Arbeiten<br />
verrichten. Doch sie verhielt sich mir gegenüber weiterhin distanziert und hochmütig, im<br />
Gegensatz zum Vater.<br />
Wittig erzählte mir aus seiner Kindheit. Seine Mutter starb an einer Gehirngrippe <strong>als</strong> er 14<br />
Jahre alt war, am 19. Februar 1919. Das war ein schwerer Verlust für ihn. Der Vater war zu<br />
den Kindern überstreng und oft so hart, dass Wittig vor Angst zu stottern anfing. Er war oft<br />
krank und wurde „Bratkeuchel“ genannt. Auch zur Mutter soll er oft hart gewesen sein, was<br />
er später bereute. Der Vater fühlte sich verpflichtet, seinen Kindern eine neue Mutter zu<br />
wählen und zugleich eine Guts- und Hausfrau. Es gab in der Nachbarschaft ein schmuckes<br />
kleines Landgut, Sophiental. Wittig und die Geschwister wurden dort von „Tante Etta“,<br />
Elsbeth v. Alt Stutterheim, stets freundlich begrüßt und mit Leckereien verwöhnt. Vater<br />
wählte sie zu seiner Frau, obwohl sie wegen eines Hüftleidens an Krücken ging. Die Kinder<br />
sollten sie Mutter nennen, was sie dann auch taten, weil es so verlangt wurde. Aber die<br />
Mutter konnte niemand ersetzen. Aus der freundlichen Tante Etta wurde eine<br />
herrschsüchtige, hochmütige „Mutter Etta“ und Hausfrau. Die Stimmung unter dem<br />
Personal war schlecht, einige kündigten. Nur die jüngste Schwester Gertrud, 11 Jahre,<br />
blickte noch vertrauensvoll zu ihr auf und erhielt auch mütterliche Zuneigung.<br />
Wittig kam auf ein Internat nach Königsberg. Er litt sehr unter Heimweh. Er durfte an den<br />
Wochenenden nicht nach Hause kommen. Er fuhr aber heimlich ab und zu nach Friedland<br />
und lief von da aus zu Fuß nach Mertensdorf. Er begrüßte seine Kaninchen, schlich sich<br />
über den Hof in die Pferdeställe. Die Hofleute und der Kutscher Hermann gaben ihm ein<br />
Zeichen, wenn sie den Vater sahen. Dann entwich er in die Küche. Dort war keine Gefahr,<br />
entdeckt zu werden, weil Mutter Etta so gut wie nie in die Küche kam. Alle Anordnungen traf<br />
sie von ihrem Damenzimmer aus. Das Frl. Soldner verwöhnte Wittig. Er durfte auch die<br />
54
Nacht bei ihr verbringen. Am Sonntag Abend lief und fuhr Wittig wieder zurück nach<br />
Königsberg, beladen mit lauter guten Sachen zum Essen. Wittig erzählte mir noch Vieles<br />
aus seiner Kindheit. Auch Dietrich sprach über seine Schwierigkeiten und die verpatzte<br />
Kindheit. Wie dankbar war ich über die Liebe und Geborgenheit, die ich durch meine Eltern<br />
erfahren hatte, trotz aller Widrigkeiten von Fluchten und Krieg.<br />
Die Konfirmation war für Wittig eine große Enttäuschung, er fühlte sich sehr vernachlässigt.<br />
Es gab kein Fest, keine erhoffte Torte, keine Geschenke. Nur in der Küche erhielt er<br />
Kuchen, den Frl. Soldner heimlich für ihn gebacken hatte und liebevolle Worte. Vater<br />
überreichte ihm einen Siegelring, den er von seinem Onkel, Siegfried Domhart v. d. Goltz<br />
aus Groß Bestendorf, bekommen hatte. Der Stein war ein Goldtopas mit eingravierter Krone<br />
mit sieben Zacken. Er konnte sich erst später darüber freuen, <strong>als</strong> er älter geworden war und<br />
der Ring ihm passte. 1934 schenkte mir Wittig diesen Ring <strong>als</strong> Verlobungsgeschenk. Ich<br />
habe ihn noch immer.<br />
Die Töchter Ulla, Hertha und Emma fingen an, sich gegen ihre neue Mutter aufzulehnen.<br />
Das konnte Mutter Etta nicht ertragen. Sie schickte Ulla zu zwei alten Tanten nach Berlin,<br />
die keinerlei Verständnis für das heimwehkranke Landkind hatten. Ulla versuchte sich aus<br />
dem Fenster zu stürzen, was misslang. Sie wurde einem Nervenarzt übergeben, der<br />
Schizophrenie diagnostizierte und sie in eine geschlossene Anstalt schickte. Dietrich<br />
besuchte sie dort oft. Er hing sehr an seiner Schwester Ulla. Vater war sicherlich<br />
erschrocken über die Wendung in Ullas bis dahin so behütetem Dasein. Er sorgte für eine<br />
gute Pflegerin. Außerdem wurde ihr ein Pferdewagen mit Kutscher zur Verfügung gestellt.<br />
Sie musste aber in der Anstalt bleiben. 1941 wurde sie mit weiteren Leidensgenossinnen<br />
von der SS ermordet. Wir erhielten die Urne, die nur mit Sand gefüllt war. Sie wurde auf dem<br />
Mertensdorfer Friedhof beigesetzt.<br />
Hertha und Emma wurden auf ein Internat nach Berlin geschickt. Hertha und Emma<br />
heirateten ziemlich früh, wohl hauptsächlich, um dem Regime Mutter Ettas zu entkommen.<br />
Gertrud, „Tuta“ heiratete Heinrich, ihren „Heini“ v. Gottberg aus Liebe. Als ich von ihren<br />
Lebensläufen erfuhr, kam mir ein finnischer Hausspruch in den Sinn: Wechselnde Pfade,<br />
Schatten und Licht. Alles ist Gnade! Fürchtet euch nicht!<br />
Galbuhnen 1933<br />
Obwohl ich so glücklich und zufrieden bei den Goltzens war, überfielen mich die Träume<br />
von Krieg, Verfolgung und Ängsten. Die Drillinge wuchsen heran, waren gesund und<br />
munter. Sie machten ihre ersten Steh- und Gehversuche, aus dem Geplapper formten sich<br />
die ersten verständlichen Worte. Ingelein mit ihren großen blauen Augen und dem<br />
Lockenköpfchen war bezaubernd. Irene und Wolfram kamen oft zu Besuch, auch Elisabeths<br />
Brüder. Das waren fröhliche Runden. Wittig war oft dabei. Mitten im munteren Geplauder,<br />
lud mich Wittig zu einem Spaziergang ein. Er hatte mir ein schönes Gedicht geschenkt, über<br />
das ich mich sehr gefreut hatte. Seine Liebe zur Natur, zu seinem Wald brachte er darin zum<br />
Ausdruck und ganz zart auch seine Liebe zu mir.<br />
Ich schlug vor, auf ein flaches Dach zu klettern, weil der Schotterweg unangenehm zu<br />
gehen war. Erst saßen wir stumm nebeneinander, schauten bei sanftem Mondenlicht<br />
andächtig in den Sternenhimmel, dann legte Wittig den Arm um mich und fragte: „Willst Du<br />
55
(bis dahin sagten wir „Sie“ zueinander) trotz all deiner Bedenken meine Frau werden?“ Er<br />
gab mir noch etwas unsicher einen Kuss. Wir brauchten keine Worte mehr. Nach einer<br />
Weile kletterten wir vom Dach, vom Glück beschwingt und verkündeten den Geschwistern<br />
und allen, die gerade da waren, unsere Verlobung. Dietrich sagte nur: „Na endlich! Und jetzt<br />
bekomme ich auch einen Kuss.“ Wir feierten das Ereignis voller Dank und Freude. Mir<br />
wurde bewusst, dass ich von Galbuhnen und all den Menschen, die ich lieb gewonnen<br />
hatte, Abschied nehmen musste. Als alle zu Bett gegangen waren, ging ich noch ans Bett<br />
meines Bruders. Es bewegten mich Fragen und Bedenken, die ich mit ihm besprechen<br />
wollte. Wolfram beruhigte mich, dass Wittig ein großartiger Charakter sei und ich in meine<br />
Aufgaben hinein wachsen werde.<br />
Eine Nachfolgerin für mich musste gefunden werden. So kam Frl. Baltrusch ins Haus, die<br />
die geliebte Baltu wurde. Ich nahm Abschied von Elisabeth, Dietrich und den geliebten<br />
Kindern. Meine Eltern nahmen Wittig voller Freude auf. Wittig hatte es da nicht so leicht mit<br />
seinem Vater, mich <strong>als</strong> seine Braut einzuführen. Er hatte sich eine wohlhabende<br />
Schwiegertochter gewünscht und eine Frau, die die Voraussetzung hätte, Mertensdorf <strong>als</strong><br />
Gutsfrau zu führen. So fuhr Wittig mit mir erst einmal nach Berlin, um mich dem<br />
Vorsitzenden der Goltzfamilie vorzustellen. Es war General-Leutnant Rüdiger Graf v. d.<br />
Goltz, Oberbefehlshaber in Finnland und im Baltikum. Wir Baltendeutsche verehrten ihn<br />
sehr, den „Finnen-General“.<br />
Nun lernte ich ihn kennen und durfte Onkel Rüdiger sagen und zu seiner Frau, Tante<br />
Hanna. Sie war wie ich eine Pfarrerstochter. Wir wurden herzlich aufgenommen. Diese<br />
Begegnung war ein großes Erlebnis für mich. So moralisch gestärkt fuhren wir weiter nach<br />
Mertensdorf, um uns <strong>als</strong> Brautpaar vorzustellen. Vater sagte zu Wittig gutmütig knurrend:<br />
„Ihr habt euren alten Vater lange genug warten lassen!“<br />
Mutter Etta hatte, obgleich sie mir ihre Ablehnung deutlich zeigte, für ein schön<br />
angerichtetes Festessen gesorgt. So feierten wir im kleinen Kreis, hauptsächlich mit den<br />
Geschwistern von Wittig, die offizielle Verlobung. Bei dieser Gelegenheit übergab Vater<br />
Wittig das Amt des Gutsverwalters, da der bisherige Gutsverwalter gestorben war.<br />
In der nächsten Zeit zog sich Vater immer wieder mit Wittig zurück, um über das Erbe<br />
Mertensdorf zu sprechen. Eigentlich stand Dietrich, <strong>als</strong> dem Älteren, Mertensdorf zu. Davon<br />
wollte Vater aber nichts wissen. Dann schlug Wittig vor, Dietrich das Vorwerk Sortlack zu<br />
geben. Nach einigem Hin und Her erklärte sich Vater mit dieser Lösung einverstanden. So<br />
wurden Dietrich und Elisabeth unsere nächsten und liebsten Nachbarn.<br />
Während Vater und Sohn am Debattieren waren, saß ich bei dem Genuss von Mokka mit<br />
meinen Schwägerinnen zusammen. Sie erzählten mir von ihren Ehen, von den<br />
Schwierigkeiten und den Freuden in ihrem Leben.<br />
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In diesen Tagen lernte ich Botho und Gerda Gerlach aus Klingenberg kennen. Dort<br />
verbrachte ich eine unvergesslich schöne Zeit. Gerda lehrte mich die Aufgaben einer<br />
Gutsfrau, die Führung von Personal in Haus und Küche. Mit ihrer fröhlichen Energie war sie<br />
mir Vorbild und zugleich Freundin. Wir besuchten auch Vera-Lisa im schönen Sophiental.<br />
Sie bot mir gleich das Du an und jede Hilfe und Rat, die ich in Zukunft in meiner neuen<br />
Aufgabe benötigen würde.<br />
Jucha 1934: oben: Mutter Etta, Ellen, Wittig, Herta, Dorothea, Dietrich, Karl, Elisabeth; unten: Vatter Fritz,<br />
Ingelein, die Drillinge und ganz zum Schluss Emma<br />
Als Wittig mit mir zu meinen Eltern nach Jucha bei Lötzen (Masuren) fuhr, holte er<br />
geheimnisvoll aus seiner Tasche ein altes Schmuckkästchen heraus und entnahm einen<br />
breiten Goldring. Er hielt ihn andächtig und bedeutungsvoll in die Höhe und sagte: „Dieser<br />
Ring ist ein wertvolles Andenken, es ist der Trauring meiner Mutter. Vater gab ihn mir. Nun<br />
muss nur noch unser Hochzeitsdatum eingraviert werden, dann sollst du ihn tragen.“ Mir fiel<br />
mein Traum ein, den ich in Lötzen hatte. Meine Großmutter hatte mir in diesem Traum mit<br />
der gleichen Gestik den Ring gezeigt und dieselben Worte gesprochen.<br />
Hochzeit in Jucha 19. August 1934<br />
Am Vortag fand die standesamtliche Hochzeit statt. Dietrich und Leopold, Sigrids Schwager,<br />
waren unsere Trauzeugen. Der Standesbeamte hatte seine Rede gut einstudiert und<br />
schnurrte sie herunter. Danach wischte er sich erleichtert den Schweiß von der Stirn. Seine<br />
Frau und seine Tochter traten in langen festlichen Kleidern ein und gratulierten uns. Sie<br />
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hatten eine festliche Mittagstafel bereitet und baten uns um die Ehre, ihre Einladung<br />
anzunehmen.<br />
Dann versammelten sich unsere Gäste im<br />
geräumigen Saal des schlichten<br />
Pfarrhauses. Wittigs Geschwister waren alle<br />
gekommen. Vater Goltz hatte sich<br />
entschuldigt wegen seiner angegriffenen<br />
Gesundheit und auch Mutter Etta war nicht<br />
gekommen. Sigrid und Justin mit Söhnchen<br />
Dietrich, Dittchen und Fred mit Sohn Hagen,<br />
Irene mit ihrem Verlobten Hans, einem<br />
Medizinstudenten, waren da. Dieser hatte<br />
seine Geige mitgebracht und bereicherte<br />
den musikalischen Teil des Abends. Da<br />
waren auch noch die Brüder meines Vaters,<br />
Onkel Carl und Onkel Otto, Professor aus<br />
Königsberg, und auch Verwandte aus Riga.<br />
Es war ein großer Kreis, der unseren<br />
Polterabend gestaltete mit Geschichten und<br />
Aufführungen. Dietrich, Elisabeth und ihr<br />
Bruder Georg erschienen in weiße Laken<br />
gewickelt mit großen Schleifen in blau und<br />
rosa um den Bauch gebunden, mit Lätzchen,<br />
die ich selbst genäht und bestickt hatte,<br />
Spitzenhäubchen auf dem Kopf und jeder<br />
hatte ein Babyfläschchen am H<strong>als</strong> hängen.<br />
Unsere Traukirche in Jucha<br />
Nun wurde Tante Ellen aufs Korn<br />
genommen. Nach jedem Spruch – ein<br />
Schluck aus der Flasche. Meine Untaten, meine vielen Einfälle kamen ans Licht, da wurde<br />
ich manchmal rot. Der Vortrag war aber so komisch, dass sich alle bogen vor Lachen. Auch<br />
Wittig wurde nicht geschont.<br />
Hertha warnte mich in gekonnter Reimform, dass Wittig eine Geliebte hätte. Diese wäre<br />
eine Schönheit, mit vollkommenen Kurven, voll Schwung und Temperament. Ihr Name sei<br />
Lena. Sie meinte sein Reitpferd. Sie zog einen Spieldackel hinter sich her, der „Hummel“<br />
hieß, wie Wittigs Dackel. Der Spieldackel war schon für unsere Kinder gedacht.<br />
Mein Vater hatte auch für ein oder zwei Aufführungen gedichtet, wie üblich humorvoll mit<br />
ernstem Hintergrund. Mit einigen Abendliedern, Irenes Hans begleitete mit seiner Geige,<br />
und einem Schlusschoral endigte dieser unvergessliche Vorhochzeitsabend.<br />
Unser Hochzeitstag war ein strahlend schöner Sommertag. Meine Schwestern halfen mir<br />
beim Ankleiden meines weißen Seidenkleides und legten mir den Brautschleier an. Wittig<br />
durfte mich so erst in der Kirche sehen. Als die Kirchenglocken zu läuten anfingen, ordneten<br />
sich alle Gäste vor dem Pfarrhaus zum Gang in die Kirche. Unter Orgelmusik führte mein<br />
Vater mich zum Altar, dort übergab er mich Wittig. Wir durften uns auf geschmückte Stühle<br />
setzen. Die Ansprache meines Vaters war bewegend und persönlich, so dass ich immer<br />
wieder mit Tränen zu kämpfen hatte. Unser Trauspruch stand in Phil.4, V.4:<br />
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Freuet euch in dem Herrn aller Wege.<br />
Und aberm<strong>als</strong> sage ich euch, freuet euch.<br />
Zum Schluss sangen wir:<br />
„Nun vorwärts froh den Blick<br />
gewandt und vorwärts fest<br />
den Schritt. Wir gehen an<br />
unsres Meisters Hand, und<br />
unser Herr geht mit.“ Im Saal<br />
des Pfarrhauses war die Tafel<br />
in Hufeisenform gedeckt. Die<br />
Türen zum Nachbarraum<br />
waren ausgehängt. Dort<br />
waren die Kindertische und<br />
der Tisch zum Anrichten der<br />
Speisen. Bevor alle Gäste<br />
Platz genommen hatten,<br />
spielte Irenes Hans<br />
meisterhafte Improvisationen<br />
am Flügel. Er begleitete auch<br />
das gesungene Tischgebet. Zwischen den Speisegängen gab es immer wieder geistvolle<br />
und witzige Reden. Dietrich studierte immer wieder den Zettel mit seiner Rede, die ihm dann<br />
auch ganz gut gelang. Erleichtert aufseufzend setzte er sich und konnte endlich das Essen<br />
genießen. Eine Rede löste die andere ab, nie langweilig, voller Witz und Geist – welch eine<br />
großartige Familie hatte ich doch!<br />
Hochzeitsfoto 19. August 1934<br />
Nach dem Essen zog es alle hinaus in den großen Pfarrgarten. Die Blumen und Muttis<br />
Gemüsegarten wurden bewundert, der Schatten der alten Bäume genossen. Der Saal<br />
wurde zum Tanzen umgeräumt. Unter Applaus eröffneten Wittig und ich den Tanz, bevor<br />
sich dann die anderen Paare einreihten.<br />
Wittig und ich verabschiedeten uns, während jung und alt noch fröhlich tanzte, und machten<br />
uns auf zu unserer Hochzeitsreise. Vater hatte uns nur wenige Tage Urlaub genehmigt.<br />
Irgendein Onkel sagte beim Verabschieden: „Mit deinem Brautschleier hast du auch deinen<br />
Mädchennamen abgelegt. Dein Name an Wittigs Seite lautet seit heute: Ellen Dagmar<br />
Freifrau v. d. Goltz. “ Papi segnete uns noch, und ab ging es in unserem Auto. Liesel Hüser<br />
fuhr noch bis Lötzen mit uns mit. Dort schenkte ich ihr meinen Brautstrauß zum Andenken.<br />
Wir übernachteten in Königsberg, glücklich und müde. Ich schlief an Wittigs Seite trotz einer<br />
Fülle von Gefühlen schnell ein. Am nächsten Morgen sagte Wittig zu mir, das er meinen<br />
Schlaf überglücklich bewacht hätte. Wie geborgen und dankbar fühlte ich mich in der Liebe<br />
und Ritterlichkeit meines Wittigs. Unser wunderschönes Hochzeitsfest klang in uns nach,<br />
das so harmonisch, so fröhlich und geistreich war. Alle politischen Themen waren<br />
ausgespart.<br />
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Die Hochzeitsreise<br />
Wir flogen über Berlin nach München. Dort<br />
übernachteten wir im Bahnhofshotel, um gleich am<br />
nächsten Tag mit dem Zug nach Garmisch<br />
Partenkirchen zu fahren. Als wir auf den Bahnsteig<br />
kamen, fuhr der Zug gerade ab. Wir gingen zurück ins<br />
Hotel, wo wir lachend empfangen wurden. Ja, <strong>als</strong> die<br />
Herrschaften so gemächlich frühstückten, dachten wir<br />
uns schon, dass sie zu spät kommen würden. Nun<br />
hatten wir Zeit, uns München anzuschauen. Wittig kaufte<br />
sich eine lederne Kniebundhose mit schönen Trägern<br />
und passenden Kniestrümpfen dazu. Ich fand ein<br />
schmuckes blaues Dirndl mit Schürze mit breiten<br />
Bändern und ein rotes Kopftuch.<br />
Im Zug erzählte mir Wittig, dass er, um mich so richtig zu<br />
verwöhnen, ein ganzes Appartement gemietet habe.<br />
Wittig und Ellen 1934<br />
Damit war ich nun gar nicht einverstanden. Die wenigen<br />
Tage, die uns zur Verfügung standen, wollte ich nicht in Räumen verbringen, sondern so viel<br />
Natur wie möglich erleben. Schon vom Zug aus bewunderten wir die gewaltigen<br />
Bergmassive und die schroffen Felswände. Vor dem Hotel standen kleine Einspänner und<br />
warteten auf Kunden. Wir fragten die Kutscher, die lässig auf ihren Kutschböcken saßen,<br />
nach einem einfachen Quartier. Nein, die sind alle belegt. Einer meinte mit einem pfiffigen<br />
Grinsen: „I wissat was. Wenn`s eich nix ausmachat, dass der Bua von de Leit durch<br />
d`Kamma geh muass?“ Wittig zog seinen Geldbeutel hervor. Die Sprache verstand der<br />
Bursche. An der Partnach Klamm gäbe es ein sauberes Gasthaus. Manche Leute fänden<br />
zwar das Rauschen des Wasserfalls zu laut, aber sonst wäre dort alles in Ordnung.<br />
So zuckelten wir erwartungsvoll durch die Stadt und wurden in dem schmucken Gasthaus<br />
von der Wirtin freundlich begrüßt. Sie führte uns eine Treppe hoch in ein bäuerlich<br />
eingerichtetes Zimmer mit einem Balkon und breiten Betten. Während sie uns verließ, sagte<br />
sie, dass sie im Gastraum ein gutes Essen für uns bereiten würde. Sie hatte uns in einem<br />
Nebenraum einen Tisch eingedeckt. Wir mussten höllisch aufpassen, sie zu verstehen, der<br />
bayrische Dialekt und das Dröhnen des Wasserfalls machten das schwer. Zufrieden und<br />
glücklich lagen wir bald in unseren Betten. Das gleichmäßige Rauschen des Wassers<br />
schläferte uns ein, wir wachten viel später auf <strong>als</strong> gedacht. Uns wurde ein herrliches<br />
Frühstück serviert, mit frischer Milch, Schwarzbrot, Butter, Käse und Honig.<br />
Dann zogen wir los in die Berge. Wir stiegen in die Klamm, kletterten und kraxelten,<br />
jauchzend vor Freude. Wir waren tief beeindruckt von den hohen Tannen, den Farben, dem<br />
Geruch. Wir fanden ein kleines Rasenstück und setzten uns dorthin. Wir vergaßen Zeit und<br />
Stunde und kehrten erfüllt von unserem Ausflug zurück. Große Schwierigkeiten hatte ich<br />
allerdings durch mein ungeeignetes Schuhwerk. In meinen Sandalen hatte ich keinen guten<br />
Halt, vor allem aber waren die Sohlen so glatt, dass ich hockend an Wittigs Hand abwärts<br />
rutschte. In Garmisch entdeckten wir ein Plakat mit der Anzeige: Bayrische Tänze und<br />
Vorführungen. Das lockte uns. Wir boten offensichtlich ein seltsames Bild. Wittigs<br />
gebräuntes wetterhartes Gesicht, die halblangen Lederhosen, die weißen Beine, das wirkte<br />
schon recht komisch. Mein hübsches Dirndl zeigte deutliche Spuren des Bergabstieges. Wir<br />
ernteten erstaunte und auch missbilligende Blicke. Als dann Wittig auch noch sehr bestimmt<br />
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einen guten Platz vor der Bühne forderte, wurden wir zunächst abgewiesen. Aber auch hier<br />
tat ein guter Geldschein seine Wirkung.<br />
Wir bekamen einen Extratisch und bekamen ein wunderbares Essen serviert. Die<br />
Vorführungen gefielen uns mit den bayrischen Trachten und speziellen Tänzen. Eine neue<br />
Welt in Deutschland. Wir waren bezaubert von den herausgeputzten Häusern, dem<br />
Blumenschmuck, den Schnitzereien. Ich kaufte mir ein fein ausgearbeitetes Kruzifix, Wittig<br />
kaufte sich einen Hirsch für seinen Schreibtisch.<br />
So eilten die Tage viel zu schnell dahin. Bald saßen wir in unserer neu erworbenen<br />
Reisekleidung in der Bahn und dann im Flugzeug, noch nicht gelöst von den Erlebnissen<br />
und Eindrücken unseres kurzen Urlaubes. Noch einmal übernachteten wir in den guten<br />
Hotelbetten in Königsberg. Dann ging es heimwärts.<br />
Als wir später in unserem Auto saßen, wuchs die Spannung und Vorfreude auf Mertensdorf<br />
mit jedem Kilometer. Auf der Straße nach Mertensdorf fuhren wir vorbei an winkenden<br />
Menschen und – <strong>als</strong> dunkle Vorboten der kommenden Zeit – an Hitlerjugend, die Fähnchen<br />
schwenkend Spalier standen. Wir fuhren durch das Tor über die Auffahrt bis zum Haus.<br />
Auch hier standen winkend unsere Leute. Vater empfing uns freundlich, obwohl er<br />
ungeduldig auf uns gewartet hatte. Er hatte ein mit Blumen geschmücktes Ehrentor<br />
anfertigen lassen, durch das wir durchgingen. Mutter Etta war nicht anwesend. Sie machte<br />
eine Kur wegen ihres Hüftleidens. Am freudigsten wurden wir von Wittigs Hummelchen<br />
begrüßt, die aufgeregt kläffend um uns herumlief. Wittig musste sie auf den Arm nehmen.<br />
Das Hauspersonal mit der neuen Wirtin stand in dunklen Kleidern und weißen Schürzen und<br />
begrüßte uns, auch die Jungfer, die bisher Vater versorgt hatte, war dabei mit rot verweinten<br />
Augen. Vater hatte ihr gekündigt, weil er meinte, dass nun ich das Spritzen und Ähnliches<br />
übernehmen könnte. Die Schulkinder sangen unter der Leitung von Lehrer Behrend ein<br />
Lied, er hielt eine kleine Rede, die er mit „Heil Hitler“ beendete.<br />
Vaters Schwester, Tante Kati Deetchen, die ich in Galbuhnen kennen gelernt hatte, empfing<br />
uns liebevoll. Mutter Etta, die mich <strong>als</strong> Wittigs Frau ablehnte, war zu einer Kur gefahren.<br />
Nach einem festlichen Willkommens-Mahl, lag es Vater am Herzen uns durch unser neues<br />
Zuhause zu führen. Da war das Beamtenhaus, jetzt kleines Goltzhaus, neben dem<br />
Kutschstall liegend. Der Gutsbeamte war gestorben. Nun sollte Wittig diese Stellung<br />
übernehmen. Unsere Wohnung lag eine Treppe hoch und hatte außer der Küche noch vier<br />
Zimmer, die wir uns noch einrichten sollten. Vaters ganzer Stolz aber war das eingebaute<br />
Badezimmer mit Spültoilette. Die Wohnung hatte auch einen großen Balkon, der zum Hof<br />
hinaus ging. Vater sagte, dass sein zukünftiger Enkel von klein auf den Blick auf den Hof<br />
und die Ställe haben sollte. Unter unserer Wohnung waren zwei große Räume, die <strong>als</strong><br />
Büroräume eingerichtet werden sollten. Wir dankten dem Vater sehr gerührt. Nichts war von<br />
seiner Härte und Unnahbarkeit zu spüren, von der ich so viel gehört hatte.<br />
Wir richteten unsere Wohnung mit einigen Möbeln aus dem Gutshaus ein und weiteren, die<br />
wir in Königsberg kauften. Die Fenster bekamen weiße Mullgardinen. Die Küchenmöbel<br />
arbeitete uns unser Hofschreiner, Meister May. Vater hatte es gern, wenn ich bei ihm saß<br />
und ihm den Puls fühlte und dafür sorgte, dass er seinen Mokka genießen konnte. Einmal,<br />
Mutter Etta war wieder aus ihrer Kur zurückgekehrt, kam sie mit ihren Krückstöcken auf den<br />
Boden knallend in Vaters Zimmer und schrie hysterisch: „Ellen, Ellen und wo bleibe ich,<br />
deine Frau?“ Vater wies sie hart aus seiner Stube und sagte höchst erregt: „Rege dich nicht<br />
auf. Du erwartest meinen Enkel.“ Darauf musste ich mich auf seine Liege legen, und er<br />
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edeckte mich mit seiner dünnen weichen Felldecke. Das war demütigend für Mutter Etta.<br />
Sie versuchte mich immer bei Vater schlecht zu machen.<br />
Aeternitate – in Ewigkeit<br />
Eines Tages lud mich Vater zu einem Gang durch den Park ein. Wir kamen zu einer kleinen<br />
Kapelle, die unter hohen Linden und Buchen stand. Er blieb stehen und las die Inschrift, die<br />
über der Tür stand: Aeternitate – in Ewigkeit. Danach drehte er den Schlüssel in dem<br />
rostigen Schloss und schob die knarrende Tür auf. Kalte Luft schlug uns entgegen. Auf dem<br />
schwarz-weiß ausgelegten Boden ruhte ein massiver Holzsarg, daneben standen auf einem<br />
Tisch ein altes geschwärztes Holzkreuz und ein Leuchter aus Zinn. Mein Schwiegervater<br />
betrachtete mich mit einem Schmunzeln und schlug mit harter Hand auf den Sargdeckel.<br />
„Dieser Sarg hat mir unser Stellmacher gearbeitet, er ist aus gutem abgelagertem<br />
Eichenholz. Für mich heißt das, dass ich jeden Tag den Tod vor Augen haben soll.“<br />
Während er sprach, ging er zum Fenster und ließ einen Schmetterling hinaus. „Befreit bist<br />
du kleiner Schmetterling, wie auch wir befreit werden.“ Als wir wieder ins Freie traten,<br />
schloss er sorglich die Tür wieder zu, wir atmeten die frische Herbstluft tief ein und gingen<br />
langsam zurück. Mit nachdenklichem Ernst sagte er: „Ich habe Sorge um eure Zukunft. In dir<br />
wächst mein Enkel, neues Leben entsteht. Aber ich sehe im Geist Kriegshorden unsere<br />
Heimat vernichten.“ Er stützte sich schwer auf seinen Stock. „In den Nächten schreibe ich<br />
meinen letzten Willen auf. Ob es aber Gottes Wille wird, muss der Herr im Himmel<br />
entscheiden.<br />
Wittig brauchte für sein Büro eine Sekretärin und Gutsrendantin. Sigrid schlug Martha<br />
Pareigat vor, die in der Tilsiter Zeit in ihrem Chor war. Sie hatte eine gute Ausbildung und<br />
wurde <strong>als</strong> sehr zuverlässig eingeschätzt. Sie war außerdem eine Konfirmandin meines<br />
Vaters gewesen. Für mich wählte ich aus demselben Kreis für den Haushalt Erna Fromm.<br />
Wittig war äußerst zufrieden mit Martha Pareigat. Mit Erna Fromm tauchte eine<br />
Schwierigkeit auf. Aus der Konfirmationszeit duzten wir uns selbstverständlich. In<br />
Mertensdorf gab es in den Umgangsformen mit dem Personal eine Distanz. Das bedeutete,<br />
dass Martha wie auch Erna mich mit „Sie“ ansprechen mussten. Martha sah das sofort ein,<br />
Erna war geradezu empört darüber. Wir wurden von den Arbeitern und den Leuten aus dem<br />
Dorf in der 3. Person angesprochen. Das war auf allen Gütern Sitte, wie auch beim Militär,<br />
ebenso auf allen adligen Gütern, die ich erlebte.<br />
Auf dem Boden unseres Hauses gab es zwei sehr nett eingerichtete Zimmer. In dem einen<br />
wohnte Erna Fromm, das andere war unser Gästezimmer. Als sich meine mütterliche<br />
Freundin, Gräfin Brockdorf, die ich Mutterchen nennen durfte, zu Besuch anmeldete, bat ich<br />
Mutter Etta um ein Gastzimmer im Gutshaus. Die Treppe zu unserem Gastzimmer war viel<br />
zu steil für Mutterchen. Ich hörte wie Mutter Etta bei der Wäscheausgabe verächtlich sagte:<br />
Was mag das für eine eigenartige Gräfin sein! Bei der Begrüßung veränderte sich aber ihr<br />
Verhalten völlig. Wenn meine Eltern zu Besuch kamen, erhielten sie das sogenannte<br />
Fürstenzimmer zugewiesen. Das war ein sehr schön eingerichteter Raum mit einem<br />
herrlichen Blick in den Park.<br />
Die Zeit unserer jungen Ehe erlebten wir voller Glück. So wie unsere Liebe zueinander<br />
wuchs, wuchs auch unser Kind unter meinem Herzen. Meister May hatte ein schönes<br />
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Kinderbettchen gearbeitet und auch eine Wickelkommode nach meinem Entwurf, alles mit<br />
weißer Lackfarbe angestrichen.<br />
Wittigs Geburt 1935<br />
Am 26. Mai 1935 wurde unser Sohn Wittig geboren. Vater hatte Recht behalten, ein<br />
Enkelsohn. Es war ein Sonntag, und Dr. Abernetti in Königsberg war der Geburtshelfer.<br />
Bald stand der weiße Kinderwagen vor unserer Haustür. Unsere Leute begrüßten im<br />
Vorbeigehen ihren neuen Herrn mit ihren Bemerkungen.<br />
Die Taufe unseres Sohnes fand in unserem Hause, <strong>als</strong>o im kleinen Goltzhaus statt, das<br />
Festessen im großen Haus. Es waren nur die nächsten Verwandten geladen, es war ein<br />
Fest im kleinen Kreis. Mein Vater taufte ihn auf den Namen „Wittig, Fritz, Eduard“, die<br />
Namen der Vorväter. Leider habe ich den Taufspruch vergessen.<br />
Für Wittig begann eine besonders arbeitsreiche Zeit unter den strengen Forderungen und<br />
Anordnungen des Vaters. Oft rief ihn der Vaters abends nach der Arbeit zu<br />
Wirtschaftsgesprächen. Ich sollte Wittig auch nicht von der Arbeit abhalten. Tagsüber mal<br />
zum See zu gehen, zum Schwimmen oder Boot fahren, das gab es für ihn nicht. Das war nur<br />
nach Feierabend oder sonntags erlaubt.<br />
Vater schrieb weiter an seinem Testament, verwarf die Entwürfe und quälte sich damit. Es<br />
mussten die Zwillingssöhne von Dietrich bedacht werden. Er hatte den tüchtigsten seiner<br />
Enkelsöhne, Erhard, Wolfgang oder Wittig, <strong>als</strong> Erben bestimmt, seinen Sohn Wittig aber <strong>als</strong><br />
Vorerben. Der Begriff „tüchtigster Erbe“ gab es im juristischen Sinne nicht, wie wir nach<br />
Vaters Tod feststellen mussten. Wittig musste unglaublich viel Geld für die Klärung und<br />
Richtigstellung bei einem Rechtsanwalt bezahlen. Danach war geklärt, dass Wittig den<br />
Zuspruch <strong>als</strong> Erbe von Mertensdorf erhalten hatte.<br />
Ich machte meinen fast täglichen Morgenbesuch bei Mutter Etta, die jetzt ganz friedlich war.<br />
Vater machte seinen offiziellen Besuch bei uns und unterschrieb in unserem Gästebuch<br />
nach einigen formellen Worten mit „Euer Vater Fritz, Frhr. v. d. Goltz“.<br />
Tod von Fritz, Frhr. v. d. Goltz – 1936<br />
Als unser kleiner Sohn seine ersten Schrittchen machte, lag mein Schwiegervater im<br />
Krankenhaus in Königsberg im Sterben. Mutter Etta, Wittig und ich waren bei ihm, <strong>als</strong> er<br />
sein letztes Gebet sprach. Er bat um Vergebung für alles Unrecht, das er getan hatte, betete<br />
um die Zukunft von Mertensdorf und seiner Familie, um Frieden untereinander und um den<br />
Segen Gottes. Wir spürten tief bewegt, wie er nun sein bisheriges Leben und sein Sterben in<br />
Gottes Hände legte.<br />
Im Saal des Mertensdorfer Gutshauses wurde der wuchtige Eichensarg aufgebahrt. Die<br />
hohen Wandspiegel und auch der große Spiegel über dem Kamin wurden nach alter Sitte<br />
mit schwarzen Tüchern verhängt. In scheuer Ehrfurcht kamen seine Kinder mit den Enkeln,<br />
wie auch weitere Verwandtschaft zum Abschied nehmen. Auch die große Gefolgschaft<br />
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wollte ihrem Herrn und Arbeitgeber, teilweise über Generationen, die letzte Ehre erweisen.<br />
Ich hörte wie der ehrwürdige Gutsstellmacher dem weißhaarigen Kutscher Hermann<br />
zuflüsterte:<br />
“Du Hermann, unserne Herrn Baron sine Uhr, wat in sine Stov hing, ist stone jebliewe un will<br />
ok nich mer gone. Da hätt„ der Tondesjeist rumjefummelt.“ Er drehte seine Mütze in seinen<br />
rauen Händen, die Tränen tropften aus seinen Augen, dann räusperte er sich und sagte<br />
laut: “Schlofe se god, gnädiger Herr Baron! Nu beginnt für uns ne neje Tid.“<br />
Am Tag der Beerdigung füllte sich der Saal mit weiteren Gästen, so dass die Flügeltüren zu<br />
den anderen Räumen geöffnet werden mussten. Meine Schwiegermutter führte den Pastor<br />
zum Sarg in stolzer Haltung, trotz ihrer Krücken. Da unterbrach ein lauter Aufprall die<br />
feierliche Stille, verhaltene Schreckensschreie waren zu hören. Das Bild von Lisbeth Frfr. v.<br />
d. Goltz, der ersten Frau, mit seinem schweren Bronzerahmen war von seinem Wandplatz<br />
auf das Parkett gestürzt. Eine Stimme rief entsetzt:„ Ach Jott, ach Jott! Det jift in Unjlück, dat<br />
bediedet nüscht Gaudes!“<br />
Meine Schwiegermutter, rot im Gesicht, schlug ärgerlich mit ihren Krückstöcken auf den<br />
Boden und sah mit festem Blick auf den Pastor, der dann laut die Einsegnungsworte und<br />
sein Gebet sprach. Das Harmonium erklang, der Gesang setzte ein. Durch die geöffneten<br />
Terrassentüren strömte die frische Aprilluft in erquickender Klarheit in den Saal. Dann kam<br />
der erschütternde Augenblick, <strong>als</strong> der Sargdeckel aufgelegt und zugenagelt wurde.<br />
Der Sarg wurde heraus getragen und auf einen mit Stroh ausgelegten und reichlich mit<br />
Frühlingsblumen geschmückten Leiterwagen gehoben. Die edlen braunen Kutschpferde<br />
wurden feierlich von Kutscher Hermann geführt. Hinter dem Sarg schritt die Trakehner<br />
Schimmelstute „Erinnerung“, Vaters Reitpferd. Zwischen den Beiden gab es eine innige<br />
Verbindung. Die Haltung des Pferdes drückte Trauer aus, H<strong>als</strong> und Kopf tief gesenkt, <strong>als</strong><br />
wüsste es, wohin dieser Gang führen würde.<br />
Der Sarg wurde zum<br />
ehrwürdigen<br />
Familienfriedhof<br />
begleitet, der von<br />
hohen Eichen<br />
umstanden war.<br />
Unterhalb des<br />
Friedhofes lag in<br />
klarer Weite der See.<br />
Ein stiller Friede<br />
umgab uns alle.<br />
Heller Vogeljubel<br />
drang in unsere<br />
Herzen. Mein Wittig<br />
zog mich liebevoll an<br />
sich. Nun lag auf ihm die Verantwortung des großen so gut geführten Besitzes.<br />
Ich war in Erwartung unseres 2. Kindes. Für uns begann ein neuer Lebensabschnitt. Von<br />
Erna Fromm hatte ich mich bereits verabschiedet. Wir hatten eine gute und auch fröhliche<br />
Zeit miteinander gehabt.<br />
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Es gab auch einen räumlichen Wechsel. Mutter Etta zog in das kleine Goltzhaus, das sie<br />
sich nach Renovierung sehr hübsch und stilvoll einrichtete. Der Abschied aus unserer<br />
kleinen gemütlichen gemeinsamen Erstwohnung fiel uns nicht leicht. Wir bezogen das<br />
Gutshaus. Wir ließen alle Räume des Hauses renovieren. In Vaters Arbeitszimmer wurden<br />
die dunklen Ledertapeten entfernt und hellfarbene angebracht. Die wuchtigen Eichenmöbel,<br />
die Ledergarnituren und fast alle Bilder blieben. Es blieben vor allem die wunderbaren<br />
Pferdebilder, die Vaters erste Frau und Wittigs Mutter Lisbeth gemalt hatte. Ich richtete mir<br />
Mutter Ettas ehemaliges Damenzimmer ein. Mutter Etta übergab mir den Schlüsselkorb. Ich<br />
übernahm fast alle ihre Dienstboten, die gut geschult waren, und die sich über den Wechsel<br />
sehr freuten.<br />
Fräulein Soldner heiratete den damaligen Hofkämmerer, Herrn Muschal, den ich sehr gern<br />
hatte. Die neue Wirtin, Frl. Weiler, genannt „Minchen“ hatte unter Mutter Etta ihre Lehrzeit<br />
<strong>als</strong> Gutswirtin beendet. Sie hatte bei Gerda Gerlach und anderen Gutsfrauen ihre Prüfung<br />
bestanden. Wittigs Büro wurde im Gutshaus neben dem großen Herrenzimmer eingerichtet.<br />
Es hatte einen eigenen Treppenaufgang und eine Toilette. Martha Pareigat fühlte sich in der<br />
neuen Umgebung sehr wohl.<br />
Nach Vaters Tod änderte sich auch bei den Leuten die Atmosphäre. Vater wurde <strong>als</strong><br />
Gutsherr und Arbeitgeber hoch geschätzt, aber auch wegen seiner Strenge gefürchtet.<br />
Auch Wittig wurde geschätzt, aber ohne Angst. Er wurde geliebt. Die Kinder im Dorf hatten<br />
Zutrauen zu ihm, die Scherzworte, die er ihnen zurief, wurden erwidert. Alles war<br />
entspannter und fröhlicher.<br />
Anfänglich behielt Mutter Etta ihr distanziertes Verhältnis zu mir aufrecht. Dann erhielt sie<br />
einmal Gäste aus Riga. Diese mussten ihr wohl über den gesellschaftlichen Stand meiner<br />
Familie in Riga erzählt haben. Als wir uns das nächste Mal begegneten, rief sie: „Ellen, ich<br />
wusste gar nicht, dass du aus so gutem Hause stammst. Warum hast du nie von deiner<br />
Verwandtschaft aus Riga erzählt. Das habe ich nun durch meine Gäste erfahren!“ Von da an<br />
änderte sich ihr Verhalten mir gegenüber.<br />
Meine Lieblingscousine, Gisela v. Radecki, fragte an, ob sie für einige Zeit zu uns kommen<br />
dürfte. Sie war verlobt mit Hans Mündel, der bei Riga ein nettes, gut geführtes Landgut<br />
besaß. Deshalb wollte sich Gisela einen ländlichen Betrieb anschauen, um sich für ihre<br />
Aufgaben vorzubereiten. Ich freute mich darüber. Neues Leben regte sich in mir, ich<br />
brauchte dringend jemand für unseren Sohn Wittig. Sie wurde seine erst große Liebe. Sie<br />
entzückte alle durch ihre Anmut, ihren natürlichen Charme und ihre Liebenswürdigkeit.<br />
Edithas Geburt – 1936<br />
Am 25. Oktober 1936 wurde in Königsberg in der Klinik von Dr. Abenetty <strong>als</strong> Sonntagskind<br />
und unter Glockengeläut unsere Tochter Editha geboren, ein properes Mädchen von 9<br />
Pfund. Das Glück war groß. Es war wunderbar, mit unserer Tochter nach Hause zu kommen<br />
und sie in das bereit stehende Körbchen mit den hellen luftigen Vorhängen zu legen. Editha<br />
war ein fröhliches zufriedenes Kind. Sie begrüßte den Morgen mit Jubel- und Jauchztönen.<br />
Am 6. Dezember 1936 bekam Dittchen ihre Tochter Gisela in derselben Klinik in<br />
Königsberg. Wir Schwestern erlebten mit unseren Töchtern eine wunderbare gemeinsame<br />
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Zeit. In unserem Saal feierten wir gemeinsame Taufe, die unser Vater abhielt. Er hatte<br />
denselben Bibeltext für beide Kinder gewählt, Psalm 91, V. 11,12: „Denn der Herr hat seinen<br />
Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf<br />
Händen tragen, und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“<br />
Für unsere Kinder wählte Wittig aus dem Dorf ein Kindermädchen. Es war die Tochter<br />
Friedel unseres Schweinemeisters Braun. Sie wurde „unsere Friedel“ genannt und von den<br />
Kindern und mir sehr geliebt. Sie heiratete später einen Zahnarzt. Die Verbindung blieb bis<br />
zu ihrem Tod bestehen.<br />
Es war eine schöne Zeit mit Gisela v. Radecki. Wir genossen unser Jungsein. Allerdings<br />
umgaben uns die dunklen Wolken der Nazizeit. Es war gut, dass wir unsere<br />
Zukunftsschicksale nicht ahnten, trotz meiner nächtlichen warnenden Träume. Wie konnten<br />
wir miteinander toben, obwohl ich wieder ein Kind erwartete. An einem Sonntag<br />
frühstückten wir miteinander. Sonntags konnte Wittig mit dabei sein. Ich besaß noch eine<br />
Schachtel Pralinen und holte sie, sehr köstliche Pralinen. Wittig war ein Schleckermaul und<br />
griff eifrig zu, eine Praline nach der anderen verschwand in seinem Mund. Das empörte<br />
Gisela und sie rief, dass die Schokolade für alle da sei. Sie schnappte die Schachtel und lief<br />
aus dem Saal, Wittig lachend hinterher. Es ging über die Veranda, über die Verandatreppe<br />
in den Park. Fast hätte Wittig sie eingeholt, da blieb ihr nur noch der Ausweg in den Teich,<br />
kein Gedanke an Sonntagskleider, aber Wittig hinterher, auch keine Schonung seiner<br />
Bekleidung. Es gab einen kleinen Kampf und plumps! die Schachtel fiel ins Wasser.<br />
Diese heitere Zeit ging zu Ende. Hans Mündel kam, blieb noch einige Tage und nahm dann<br />
seine Gisela mit nach Riga für die Hochzeitsvorbereitungen. Der Abschied fiel uns sehr<br />
schwer, besonders für Klein-Wittig war es ein großer Schmerz, der ihn noch lang plagte.<br />
Nach Gisela, deren wunderbare Hochzeit wir in Riga noch miterleben konnten, kam Ursula<br />
v. Mirbach zu uns. Sie war verlobt mit einem Sohn von Muttis Schwester Karin, Hubert v.d.<br />
Osten Sacken. Ursula war das Gegenteil von Gisela. Auch wenn ihre schönen braunen<br />
Augen Wärme ausstrahlen konnten, gab sie sich kühl und ernst und leider auch ohne<br />
jeglichen Humor. Wir kamen uns nicht näher.<br />
Einmal, nach einem Abendspaziergang, hörte ich bei der Heimkehr Kinderweinen. Ich eilte<br />
ins Kinderzimmer. Da saßen die kleinen Cousinen Editha und Gisela vor ihren Töpfchen<br />
und würgten und erbrachen sich. Ursel saß lesend zwischen den Bettchen. Während ich<br />
dem einen und dem anderen Kind das Köpfchen hielt, schimpfte ich mit Ursel, ich war<br />
furchtbar ärgerlich. Sie sagte ganz trocken, dass die Kinder was Unverträgliches gegessen<br />
haben und mit ihren zwei Jahren damit alleine fertigwerden müssten. Ich konnte die Kinder<br />
schnell beruhigen, gab „Nux vomica“, und die Übelkeit war bald besiegt. Bei einem Lied<br />
schliefen die Kinder friedlich ein.<br />
Volkers Geburt – 1938<br />
Am 24. Mai 1938 wurde Volker in der schon bekannten Klinik in Königsberg geboren. Und<br />
wieder war es ein wunderbar beglückendes Gefühl nach Hause zu kommen. Tagsüber<br />
stand das Körbchen auf der Terrasse. So auch an einem der letzten Maitage. Dort saß ich<br />
66
mit Ursula. Wir erfreuten uns an den süßen Babylauten aus dem Körbchen und wir<br />
plauderten.<br />
Editha und Dittchens Gisela spielten im<br />
Sandkasten, auch ihr Geschwabbel und<br />
Gejauchze drang zu uns. Friedel war mit Wittig<br />
auf dem Hof. Seine Liebe galt den Tieren und den<br />
Ställen. Plötzlich merkten wir, dass die Mädchen<br />
weg waren. Wir riefen und suchten mit<br />
Herzklopfen. Da hörten wir einen fernen Ruf, ganz<br />
hinten aus dem Park vom See her: „Mutti, ich<br />
muss mal!“ Glücklicherweise hatte Editha eine<br />
sehr kräftige Stimme. Ich war eine gute Läuferin,<br />
aber jetzt flog ich zum See und schloss zwei<br />
tropfnasse Kinder in meine Arme. Der Schreck<br />
saß mir in allen Gliedern, die Tränen liefen mir<br />
übers Gesicht vor Erleichterung und Dank. Editha<br />
wusste genau, dass sie ohne Begleitung eines<br />
Erwachsenen nicht zum See durfte und sagte:<br />
„Ich wollte doch nur unsere schmutzigen Füße<br />
waschen und habe Gisela auch ganz fest<br />
gehalten. Da hatte sich schon der Taufspruch bewährt: Denn der Herr hat seinen Engeln<br />
befohlen<br />
Zu dieser Episode habe ich für Editha zu ihrer Hochzeit ein Gedicht geschrieben:<br />
Auch ich nehme dich heut an meine Hand<br />
Und führe dich in dein Kinderland.<br />
Ein Erlebnis bewegt oft meinen Sinn<br />
Und mein heißer Dank strömt zu Gott hin:<br />
Du spieltest mit Gisela am Kinderplatz<br />
Ihr ward dam<strong>als</strong> anderthalb Jahre, mein Schatz.<br />
Ihr tobtet und jauchztet zu zweit herum,<br />
während ich Volker einwiegte mit leisem Gesumm.<br />
Das Ohr erlauschte euer Jubelgeschrei,<br />
und das Herz erbebte vor Glück dabei.<br />
Und zu mir setzte sich Ursula,<br />
die zu eurer Betreuung war da.<br />
Wir plauderten fröhlich von diesem und jenem,<br />
von Mutterglück und bräutlichem Sehnen,<br />
denn Ursula war eine strahlende Braut.<br />
Da haben wir gar nicht nach euch geschaut.<br />
Wie groß war plötzlich unser Schreck:<br />
Ihr kleinen Rangen, ihr ward weg.<br />
Nun warst du von der Goltzschen Sort‘<br />
Und liefst oftm<strong>als</strong> vom Spielplatz fort,<br />
tummelst‘ dich gern im Sonnenschein,<br />
Blumen zupfend, träumend allein.<br />
Aber bald suchten euch alle vom Haus<br />
Und fragten die Leute vom Hofe aus:<br />
„Habt ihr die kleinen Mädchen gesehn?“<br />
„Um Gottes Willen, ist ein Unglück geschehn?“<br />
Denn im Hofe hatten wir viele Teiche,<br />
Klein-Wittig verübte da manche Streiche.<br />
Doch uns bewegte die Sorge schwer:<br />
67<br />
Wer sah unsre Kleinen? O sagt es, wer? „Is unser<br />
Baroness’che und die Kleine<br />
Vielleicht bei die Ferkelchens, bei die Schweine?“<br />
So meint der eine, und der andre meint so:<br />
„Vielleicht sind die Kinderchens bei die Fohlens do?“<br />
Wir liefen, wir suchten wir riefen euch<br />
Mit angstvollem Herzen, die Knie war ’n weich.<br />
Auch im Parke die Teiche waren tief.<br />
Doch plötzlich von Ferne ein Stimmchen rief,<br />
vom Friedhof kam es, hinten vom See<br />
und klang ganz kläglich und bitterweh:<br />
„Muttiiii! Gisela muss mal! Ach, ach,<br />
Eilend stürzten dem Rufe wir nach,<br />
und brüllend kamen triefnasse Kinder.<br />
Sie hatten gebadet im See, die Sünder.<br />
In meinen Armen, an meiner Brust<br />
Hielt ich die Kinder voll Reue und Lust.<br />
Heut noch fass ich das Wunder kaum,<br />
und immer blieb es mir wie ein Traum.<br />
Denn der See war am Ufer gleich grundlos tief<br />
Und die Stufen am Abhang waren recht schief<br />
Und führten zum schwankenden Badesteg.<br />
Für Kinder war das ein tödlicher Weg.<br />
Und niem<strong>als</strong> durften hier Kinder allein<br />
Auf dem Steg am tiefen Wasser sein.<br />
Wie dankte ich Gott, der seine Engel gesandt,<br />
der mich bewahrt hat vor Schmerzen und Schand<br />
und euch noch heut führt an seiner Hand.
Die Taufe von Volker war ein großes Fest, an dem die Großfamilien teilnahmen. Mein Vater<br />
hielt die Taufe in der Friedländer Kirche. Onkel Max v. Radecki hat einige Aufnahmen von<br />
dem Täufling und mir und den Kindern gemacht, die uns erhalten geblieben sind.<br />
wieder zurückbringen.<br />
68<br />
Wittig war mit seinen 3 ½ Jahren schon<br />
sehr selbständig. Am liebsten war er im<br />
Kutschstall bei „Hermann“, aber auch<br />
bei Meister Braun im Schweinestall. Die<br />
Muttersauen mit den Ferkelchen hatten<br />
es ihm angetan. Manchmal durfte er<br />
auch eines der quiekenden kleinen<br />
Schweinchen auf den Arm nehmen. Sie<br />
sollten es ganz weich haben. Deshalb<br />
brachte er ihnen einmal meine seidenen<br />
Sofakissen in den Stall. Meister Braun<br />
konnte sie noch ziemlich unversehrt<br />
Die Leute im Dorf hatten keine Bienen, nur wir und Lehrer Behrend. So nahm Wittig sein<br />
Spieleimerchen, um von unseren Bienen Honig für die Menschen im Dorf zu holen.<br />
Glücklicherweise war der Gärtner da, der ihm erklärte, wie der Honig gewonnen wurde.<br />
Einmal setzte er Editha in einen Handwagen, weil er Pferdchen spielte. Es ging los über den<br />
Hof und auf die Friedländer Straße. Sie konnten heil und gesund zurückgebracht werden.<br />
Mutter Etta war völlig vernarrt in ihren<br />
Enkel und sah ihn <strong>als</strong> den künftigen<br />
Erben und Herren des Gutes. Sie<br />
erlaubte ihm nicht, ganz gegen meinen<br />
Willen, mit den „Leutekindern“ zu<br />
spielen. Da entstand manche<br />
Missgunst.<br />
Wir bekamen häufig Besuch, vor allem<br />
Gäste mit Kindern: Dittchen mit Fred<br />
aus Königsberg mit ihren Kindern<br />
Hagen und Roland, meine Freundin Lisa<br />
Twiehaus mit ihren vier Söhnen. Aus Riga kamen die Schlippe-Zwillinge, Gunnar und Karin,<br />
die ich <strong>als</strong> Babys gewickelt hatte.<br />
Wie es sich für ein altes Landgut und Gutshaus gehörte, hatten wir auch einen Hausgeist,<br />
unser Krabutzlein. Er wohnte in Ecken und Nischen des Hauses oder auch im Kamin. Er zog<br />
gelegentlich auch in den Park in Baumhöhlen oder an andere lauschige Ecken. Er flüsterte<br />
den Kindern gute Worte zu. Wenn wir was verloren hatten, hieß es: Das hat das Krabutzlein<br />
versteckt. Denn er trieb natürlich auch Schabernack mit uns. Er wurde bedichtet. Wie er<br />
aussah? Da hatte jeder seine eigene Vorstellung.<br />
Es gab auch ein Schauspiel über Krabutzlein, aber erst nach dem Krieg. Krabutzlein kam<br />
mit uns mit. Editha hat mir zu meinem 80. Geburtstag das Krabutzlein <strong>als</strong> Puppe gearbeitet,<br />
mit roten Wuschelhaaren, etwas traurig blickenden Hundeaugen, großen Händen und<br />
Füßen, sehr lebendig. Darüber habe ich mich sehr gefreut.
Mertensdorf<br />
Mertensdorf bei Friedland / Kreis Bartenstein war seit 1804 im Besitz der Familie Freiherr v.<br />
der Goltz. Mein Mann übernahm nach dem Tod seines Vaters Fritz Freiherr v. der Goltz<br />
1936 das Gut, schuldenfrei und in bestem Zustand. Alle Geschwister waren ausgezahlt.<br />
Mein Schwiegervater war sehr streng, gerecht und von allen hoch geachtet. Auch mein<br />
Mann war für alle ein Vorbild. Er verlangte völligen Einsatz. Er war beliebt bei den Leuten<br />
und auch bei dem Hauspersonal. Es wurde gespaßt und gelacht, aber auch gesagt: „Unser<br />
Herr Baron sieht und hört alles.“<br />
Mertensdorf hatte 32 Arbeiterfamilien, deren Häuser und Wohnungen jedes Jahr<br />
begutachtet und, wenn es nötig war, in Stand gesetzt wurden. Zum Dorf gehörte eine<br />
Schule, zu der auch die Kinder aus der nächsten Umgebung kamen. Mein Schwiegervater<br />
war Patronatsherr der Schule und des Lehrers. Das wurde durch die Naziherrschaft<br />
abgelöst. Die Schule wurde eine Gemeindeschule, von der Zeit an bekam auch der Lehrer<br />
sein Gehalt von der Gemeinde. Ich lernte Lehrer Behrend <strong>als</strong> netten, diensteifrigen Mann<br />
kennen. Später wurde er ein hundertprozentiger Nazi und uns sehr gefährlich. Seine Frau<br />
blieb uns in ihrer einfachen Art treu.<br />
Das Gutshaus war ein schlichter Bau, aber schon beim Betreten durch die schwere Haustür<br />
wurde das Auge sogleich gefesselt von einem großen, bronzenen Hirsch mit mächtigem<br />
Geweih, der in der Mitte des Eingangs auf einem freien Sockel stand.<br />
Die Auffahrt von der Straße durch eine Torumfassung zum Gutshaus war ein breiter, fester<br />
Kiesweg. Rechts neben der Einfahrt stand ein schmuckes, kleines Haus, in dem zur letzten<br />
Zeit der Hofkämmerer mit seiner Familie wohnte. Vorn auf dem Giebel war ein ca.50 cm<br />
großes geschnitztes und bemaltes Männlein. Es ist, wie auch das Haus, bis heute erhalten.<br />
Das geschnitzte Mädchen auf der anderen Giebelseite war zu meiner Zeit nicht mehr da.<br />
Hohe Bäume standen am Wegrand, ein weiter Blick auf grünen Rasen und die Stallungen<br />
auf der linken Seite erheben sich in meinen Erinnerungen. Rechts fuhr man an einem Teich<br />
vorbei, dann ansteigend zur Hausvorfahrt, die von einer Mauer eingefasst war, auf der man<br />
sitzen konnte, wenn sich auf dem Hof etwas Besonderes ereignete. Ein weit verzweigter<br />
Kastanienbaum warf seinen Schatten auf den fein geharkten Auffahrtsweg. Als ich das erste<br />
Mal auf diesen Weg fuhr, war mir richtig feierlich zu Mute.<br />
Zu beiden Seiten des Eingangs führten geschwungene Treppen zu den mit Glas gefassten<br />
Schwingtüren in den roten Flur, den Empfangsraum. Die Doppeltüren rechts und links vom<br />
Empfangsraum waren fast immer geöffnet und ließen den Blick frei in die Wohnräume und<br />
geradeaus durch den Saal und die Veranda in den Park gehen. An den Decken des Saales<br />
und auch des daneben liegenden Damenzimmers hingen Kronleuchter mit kostbaren<br />
Kristallprismen. Als im benachbarten Friedland ein Elektrowerk gebaut wurde, erhielten<br />
nicht nur das Haus, sondern auch unsere Ställe elektrische Beleuchtung.<br />
Den Mittelpunkt des Hauses bildete der große, fünfeinhalb Meter hohe Saal mit einem<br />
Parkettboden mit verschiedenen Edelhölzern kunstvoll eingelegt. Dieser besondere<br />
Parkettboden befand sich auch im Damenzimmer. Zu beiden Seiten der Verandatüren<br />
standen goldgerahmte Spiegel auf niedrigen Sockeln, die die Weite des Saales<br />
wiederspiegelten.<br />
69
Wenn wir vom Saal aus die<br />
Veranda betraten und der<br />
Park sich in seiner ganzen<br />
Weite und Schönheit vor uns<br />
auftat, breiteten wir oft die<br />
Arme aus vor Freude und<br />
Dankbarkeit bei diesem<br />
Anblick. In den Bäumen<br />
wurde immer ein Ausschnitt<br />
zum Blick auf den See<br />
freigehalten. Von der<br />
Verandatreppe ging es zur<br />
groß angelegten<br />
Gartenterrasse, die von<br />
Blick aus dem Park<br />
Blumenrabatten zum Park<br />
umgeben war. Im Frühling<br />
blühten Tulpen in verschiedenen Farben, im Sommer und Herbst rote Rosen. Auf der weiten<br />
Terrasse wurde Krocket und Ball gespielt. Die Kinder hatten auch ihren Spielplatz mit<br />
Sandkasten und Wippe.<br />
Eine breite, vielstufige Steintreppe führte zum Park und hinunter zum Rasen, auf dem<br />
Baumgruppen, auch hohe Einzelbäume und Sträucher, angeordnet waren. Dort gab es<br />
duftenden Jasmin, Flieder, Faulbaum und vieles andere mehr. Auf Parkwegen ging es bis<br />
zur Familienkapelle, die von alten Bäumen umstanden war. Seitlich von der Terrasse stand<br />
eine alte, sehr hohe und breit gewachsene Blutbuche, die ich besonders liebte, und eine<br />
Kieferngruppe, die einen würzigen Duft ausströmte. Die Stämme leuchteten in der Sonne<br />
rot. Wir hatten im Park eine Quelle, Sprint genannt, die uns immer köstliches, kühles Wasser<br />
bot. Nicht nur zum Zubereiten von Kaffee und Tee wurde dieses Wasser geholt, zu jeder<br />
Mahlzeit stand eine Kanne mit dem leicht prickelnden Wasser auf dem Tisch.<br />
Von hier aus führte ein von Linden gesäumter Weg weiter, die Lindenallee. Eine weiße Bank<br />
lud zum Ruhen ein. Die Allee umschloss den weiten Platz des Parks bis zum Seeabhang<br />
und an unserer Badestelle vorbei bis zum Weg, der zum Friedhof führte. Am Seeabhang<br />
stand eine weitere Bank mit einem Tisch aus Stein. Von hier aus hatten wir einen Ausblick<br />
auf den See und konnten Reiher, Wildenten und Haubentaucher beobachten. Ab und zu<br />
besuchten uns auch wilde Schwäne. Die Böschung zum See hinunter liebten wir und die<br />
Kinder sehr. Es war ein Südabhang und im Frühling, wenn im Park noch Schnee lag,<br />
wuchsen und blühten hier Leberblümchen, Anemonen und Sternblumen und später<br />
Himmelschlüsselchen. Uralte Bäume hingen ihre Äste und Zweige über den Uferrand.<br />
Unser See, der Reihersee, war aus dem gestauten Fluss Alle entstanden.<br />
Der See umgrenzte den Park. Die Wege des Parks waren eine Wagenspur breit und immer<br />
sehr gepflegt. Rechts vom Park führte der Weg zum Friedhof.<br />
Wenn mir das Herz zu schwer wurde durch die Nachrichten von der näher kommenden<br />
Front und von den Bedrohungen der Nazis durch unseren Lehrer, ging ich gern zum<br />
Friedhof. Schon der Weg vorbei an den alten Bäumen und blühenden Büschen strömte<br />
Ruhe aus. Vom Weg aus war ein Ausblick frei auf eine Pferdekoppel. Dahinter sah man die<br />
Dächer unseres Dorfes.<br />
70
Am Eingang links zum Friedhof stand eine hohe, knorrige Eiche, die ihre Äste ausbreitete –<br />
so <strong>als</strong> ginge man durch ein Tor. Hier waren die Gräber meiner Schwiegereltern. Meines<br />
Mannes Mutter starb, <strong>als</strong> er vierzehn Jahre alt war. Auch das Heldengrab des ältesten<br />
Bruders Erhard, gefallen in den letzten Tagen des ersten Weltkrieges, war hier zu finden.<br />
Der Friedhof und die Gräber waren schlicht gehalten; eine Bank lud zum Nachsinnen, Gebet<br />
und zur Ruhe ein. Eine friedvolle Atmosphäre umgab diese Gedenkstätte. Durch die Äste<br />
der Bäume hindurch ging der Ausblick auf die schimmernde Fläche des Sees. Über allem<br />
tönte der Vogelgesang. Die Sprosser, die ostpreußischen Nachtigallen, übertönten alles mit<br />
ihrem Trillern und ihren schluchzenden Tönen.<br />
Kriegsjahr 1941<br />
„…und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,<br />
flog durch die stillen Lande, <strong>als</strong> flöge sie nach Haus.“<br />
Ursula Mirbach wurde von Hubert zur Hochzeit abgeholt. – Als Wittig sechs Jahre wurde,<br />
kam Liesel Hüser, Tante Liesel, zu uns, um den Schulunterricht zu beginnen. Wittig, Editha<br />
und einige Flüchtlingskinder waren die Schulkinder. Der Irrsinn des Krieges und die<br />
Gewaltherrschaft der Nazis breiteten sich weiter aus. Ostpreußen wurde bewusst von<br />
Nachrichten abgeschirmt. So kamen die Flüchtlinge aus dem Osten in die scheinbare<br />
Sicherheit. Obwohl Wittig <strong>als</strong> Soldat eingezogen war, lief der Gutsbetrieb fast normal weiter.<br />
Unsere russischen und polnischen Kriegsgefangenen arbeiteten unter Bewachung auf den<br />
Feldern und im Wald gut. Der Wachtmeister Schubert mit seiner Frau und zwei Söhnchen<br />
nahmen an den Mahlzeiten mit dem Personal teil, ebenso unsere beiden kriegsgefangenen<br />
Franzosen, Gaston und Francois. Sie arbeiteten <strong>als</strong> Gärtner ohne Bewachung. Gaston<br />
hatte großes Heimweh nach seiner Frau und seinen beiden Kindern. Er war bei allen<br />
Kindern sehr beliebt.<br />
Unser Haus war überfüllt von Evakuierten, dazu viele Kinder, die die Eltern uns schickten<br />
aus Berlin, Königsberg, sogar aus Westfalen in das scheinbar so sichere Ostpreußen. Die<br />
Schulstube, geführt von unserer Kindererzieherin Fräulein Hüser, Tante Liesel genannt,<br />
füllte sich. Fräulein Hüser verstand es, den Unterricht fröhlich und lebendig zu gestalten, so<br />
dass Editha bereits mit fünf Jahren gerne dabei sein wollte.<br />
Mein Mann hatte zwei so genannte Behelfshäuser zusammengebaut. Da hatte in den<br />
letzten Jahren vor der Flucht Emma v. Below mit einigen ihrer Kinder Zuflucht gefunden. Im<br />
Souterrain war die sehr geräumige Gutsküche mit allen dazu gehörigen Wirtschaftsräumen.<br />
Mein Mann hatte sogar einen Gefrierraum eingebaut. Die Aufgabe, alle Bewohner und<br />
Leute zu versorgen, war groß. Nicht nur der Herrschaftstisch mit zehn bis zwölf Personen,<br />
auch die Kriegsgefangenen, Russen und Polen, wurden von der Gutsküche bekocht und<br />
versorgt. Minchen, die Wirtschafterin, hatte eine tüchtige Köchin, unser Gretchen, dazu<br />
mehrere Mädchen aus dem Dorf. Zum Backen und Schlachten kamen zwei<br />
alteingesessene Frauen aus dem Dorf, die auch für die ganze Wäscherei, Mangeln und<br />
Bügeln zuständig waren. Ja, wie eigen und sorgfältig gelegt, konnte ich dann alles wieder in<br />
die Schränke einordnen! Es gab auch ein russisches Mädchen für Putzarbeiten. Wir<br />
nannten sie Maruschka.<br />
71
Wir hatten eine recht große und gut eingerichtete Gesindestube, so dass für alle genug<br />
Platz da war. Die Frau des Wachtmeisters half in der Küche, sie konnte auch gut nähen und<br />
flicken. Einmal in der Woche wurde Brot gebacken und an jedem Samstag und Sonntag gab<br />
es für alle Streuselkuchen, Bienenstich oder Obstkuchen. Kindergeburtstage wurden mit<br />
lustig garnierten Torten gefeiert.<br />
Der Hof eines jeden Landgutes ist der Mittelpunkt und Pulsschlag des Betriebes. Die ersten<br />
Arbeiter in aller Frühe waren die Melker mit ihrem Schweizer, dem Obermelker, in ihren<br />
rot-weiß gestreiften Kitteln. Im Melkstall standen einhundert Milchkühe und drei kraftvolle<br />
Bullen mit dem Ring durch die Nasenlöcher. Da wir noch keine Melkmaschine hatten, wurde<br />
mit der Hand gemolken. Alle Kühe waren bestens gepflegt. Die Milchleistungen für das<br />
Gutshaus und alle Abgabestellen wurden auf eine große Tafel geschrieben, auch die zwei<br />
Liter für die Hofkatzen, deren Aufgabe es war, Mäuse und Ratten zu vertilgen. Es gab Ställe<br />
für das Jungvieh, Kälber und Schafe. Für jede Arbeiterfamilie wurde eine Kuh gestellt,<br />
inklusive einer Reservekuh für den Notfall. Futter und Unterstreu für diese Tiere wurde auch<br />
vom Hof geliefert.<br />
Wenn im Frühjahr die Zeit des Austriebes auf die Weide kam, wurden die Kühe unruhig und<br />
zerrten an den Ketten. Da hieß es für alle, die Zeit hatten, auch für die Bewohner des<br />
Gutshauses, sich auf dem Hof zu versammeln und bis zum Hoftor ein Spalier zu bilden.<br />
Kaum waren die Ketten gelöst, sprangen und liefen die Kühe mit ihren dicken Eutern wie<br />
Kälber und drängten hinaus auf die Weide, hinaus zum frischen Grün. Als ich im Jahre 1934<br />
nach Mertensdorf einzog, hatte ich anfangs große Mühe, die Männer des Hofes zu<br />
unterscheiden. Alle hatten die gleichen blauen Arbeitsanzüge an und die gleichen Mützen<br />
auf. Sonntags trugen sie handgestrickte Schafwolljacken und ebensolche Wollsocken, dazu<br />
alltags wie sonntags Holzschuhe. Erst <strong>als</strong> ich bei Krankheitsfällen ins Dorf gerufen wurde,<br />
lernte ich die einzelnen Familienmitglieder kennen. In späteren Jahren, bedingt durch den<br />
Krieg und die Naziherrschaft, erhielten die Ärzte nur in dringenden Fällen eine<br />
Genehmigung zum Autofahren. Ich hatte einen guten Hausarzt. Mit dessen Hilfe wurde eine<br />
Hausapotheke zusammengestellt. Da ich eine Ausbildung <strong>als</strong> Krankenschwester hatte,<br />
konnte ich die Hausapotheke gut anwenden.<br />
Der Hof wurde von Ställen und Scheunen umgeben. An einem breiten Weg zum See hin<br />
waren die Futtersilos und der Schweinestall aus dem Jahr 1937 mit einem weiten Auslauf.<br />
Die 360 Schweine unter der Pflege von Meister Franz Braun gediehen prächtig. Auch mein<br />
großer Hühnerstall hatte hier seinen Platz wie auch die Stellmacherei unter Meister May,<br />
den ich besonders mochte. Er war nicht nur ein Künstler in seinem Fach. Er war auch ein<br />
kluger Mann, mit dem ich mich gern unterhielt. Er hatte aus abgelagertem Eichenholz die<br />
Särge meiner Schwiegereltern gearbeitet wie auch die Kindermöbel und Kinderbetten, ein<br />
wunderschönes Puppenhaus und Puppenmöbel. Auch die Betten für die Drillinge von<br />
Elisabeth und Dietrich stammten aus seiner Werkstatt.<br />
Im Winter wurden Eisplatten vom See ausgesägt, zu einem Eisberg aufgebaut und gut<br />
abgedeckt. Das benötigte Eis konnte bis zum Herbst des nächsten Jahres geholt werden.<br />
Pferde gehörten einfach zu Mertensdorf. Die Hauptgespräche kreisten um die<br />
Trakehner-Pferdezucht, ja einfach immer um Pferde. Beim Eintritt in den Kutschstall fiel der<br />
Blick gleich auf ein Pferdeölgemälde von der früh verstorbenen Mutter meines Mannes, die<br />
eine bekannte Pferdemalerin und Pferdekennerin war. Ihre sieben Kinder, darunter auch<br />
Wittig, haben bei ihr das Reiten und den Umgang mit Pferden gelernt.<br />
72
Jetzt war der Kutscher Herrmann Quitsch Lehrmeister unserer Kinder. Er war ein<br />
alteingesessener Mertensdorfer und ein typischer Herrschaftskutscher. Er wusste genau,<br />
wen er zu fahren hatte, welche Bekleidung er zu wählen hatte und welches Gespann für<br />
seine Kutschpferde. Auf dem Kutschbock in seiner blauen Livree mit den blanken Knöpfen,<br />
dem steifen Zylinder und den weißen Handschuhen saß er aufrecht auf dem Sitz. Die<br />
Pferde mit silbernen Rosetten geschmückt und blank wie Seide geputzt, das Gespann<br />
wurde von allen in seiner Würde respektiert.<br />
Wir hatten zu meiner Zeit zehn Pferde im Kutschstall, in Boxen oder Ständern stehend. Die<br />
vier Kutschpferde waren zwei Rappen und zwei Füchse. Herausheben möchte ich zuerst<br />
meines Schwiegervaters Reitpferd, eine Schimmelvollblutstute „Erinnerung“ mit arabischem<br />
Blut, sehr sensibel und klug. Herr und Pferd waren innig miteinander verbunden. Wenn der<br />
Vater durch das Tor vom Reitstall ritt, beugte die Stute die Knie, so dass der Vater mit<br />
erhobenen Haupt aus- und einreiten konnte. Als Vater starb, erhielt auf seinen Wunsch sein<br />
Enkel Karl-Fritz v. Below das Pferd nach Serpenten. Aber „Erinnerung“ hatte Heimweh,<br />
nahm keine Nahrung mehr an und magerte ab. So durfte sie wieder nach Mertensdorf in<br />
ihren vertrauten Stall. Unter Hermanns liebevoller Pflege erholte sie sich. Sie wurde nur<br />
noch zu kleinen Diensten geholt und erhielt das Gnadenbrot. Mein Mann Wittig war mit<br />
seinem Reitpferd „Lena“, einer Trakehner Fuchsstute, ein Herz und eine Liebe. „Lena“ war<br />
eine unermüdliche Traberin, elegant und feurig, und doch auch sanft, wenn sie liebevoll<br />
gestreichelt und beklopft wurde. „Karla“, unsere voll dressierte Wolfshündin, und „Lena“<br />
waren unzertrennlich.<br />
73<br />
Mein Pferd war eine<br />
wunderschöne Trakehner<br />
Fuchsstute „Holde“. Editha sagte<br />
immer, es sei auch ihr Pferd.<br />
Das Kinderreitpferd hieß<br />
„Mimose“. Wittig und Editha<br />
konnten „Mimose“ selbst<br />
aufzäumen. Als Sattel gab es eine<br />
Decke. Volker musste noch<br />
geholfen werden. Einmal war er zu<br />
seiner Patentante Vera Luise v.<br />
Buhl mit seinem Vater eingeladen.<br />
Volker wollte jedoch allein reiten,<br />
er ließ sich vom Kutscherburschen<br />
Editha auf Holde.<br />
aufzäumen und aufsetzen. Als wir<br />
es merkten, riefen wir Vera Luise<br />
besorgt an. Sie beruhigte uns lachend. Klein Volker saß bereits am Tisch und futterte<br />
vergnügt Erdbeeren mit Schlagsahne.<br />
Bei einem Fronturlaub rief Vater Wittig seine Kinder in den Vorraum des Kutschstalles. In<br />
einer neu erbauten Box standen zu ihrer Begeisterung zwei Panje-Pferde, die Wittig aus<br />
Russland mitgebracht hatte. Leider ließen sich diese kleinen, struppigen und vor Angst<br />
störrischen Pferde zu Anfang schwer reiten. Sie wollten nicht vom Hof weg. Nun wurden sie<br />
gepflegt und geputzt und von Kinderhänden gestreichelt und beklopft. So konnten sie sich<br />
schnell in die neue Umgebung einleben.
Vater Wittig nahm die Älteren unserer Kinder oft mit, wenn er über seine Felder und in<br />
seinen Wald ritt. So durfte auch Editha, sie war gerade sechs Jahre alt, ihn auf meinem<br />
Pferd „Holde“ begleiten. „Holde“ hatte ein Fohlen im Kutschstall. Bei dem Rückritt geriet die<br />
Stute außer Kontrolle und galoppierte über den gepflasterten Hofweg dem Kutschstall zu.<br />
Der Schreck fuhr uns in die Glieder. Ich erwartete Editha und auch Wittig war tief beunruhigt.<br />
Im Kutschstall stand Editha mit heißen Wangen unbeschadet in der Box und streichelte<br />
„Holde“ und das Fohlchen. Sehr viel später gestand sie uns, dass sie sich nur mit Mühe an<br />
der Mähne festgehalten hätte und ihre Knie gezittert hätten. Da hat sie ihr guter Schutzengel<br />
gehalten und beschützt, wie schon öfters.<br />
An einem meiner Geburtstage überraschte mich Wittig mit einem wunderschönen<br />
Einspänner, einem Buggy. Das war eine Riesenfreude für uns alle. So konnte ich mit<br />
meinen vier Kindern und auch mit Gästen ohne Kutscher ausfahren. Bei einem dieser<br />
Ausfahrten in unserem Wald wurde meine „Holde“ unruhig und bäumte sich auf. Ich sprang<br />
schnell aus dem Wagen, um das Pferd zu beruhigen. Da sahen wir einen Elch mit seinen<br />
ausladenden Elchschaufeln vor uns. Er kümmerte sich nicht um uns, sondern überquerte<br />
mit leichtem Sprung den Weg und verschwand im Wald.<br />
In der Mitte des Hofes war ein Teich, die Pferdeschwämme. Unsere Enten und Gänse mit<br />
ihren Kleinen schwammen munter auf dem Wasser. Dahinter war der Stall für die<br />
Arbeitspferde. Wir hatten acht Gespannführer mit je vier Pferden. Die Gespannwagen<br />
wurden weitgehend vom Pferde aus gelenkt. Jeder der Gespannführer sorgte für seine<br />
Pferde. Alle wetteiferten in der Pflege der Pferde und klauten auch mal, wenn der<br />
Getreideschuppen unverschlossen war, zum Ärger des Hofkämmerers Hafer für ihre<br />
Pferde.<br />
Auf dem Giebel des Stalles hatten die Störche ihr hoch gebautes Nest. Wir freuten uns in<br />
jedem Frühjahr auf ihr Kommen und an ihrem Schnabelgeklapper zur Begrüßung. Auch die<br />
Schwalben wurden von uns allen freudig begrüßt. Sie saßen in Scharen zwitschernd und<br />
schwatzend auf den Telefondrähten, bevor sie in die Ställe flogen, um ihre Nester zu bauen.<br />
Natürlich hatten wir auch einen Taubenschlag. In Krankheitsfällen im Dorf und auf dem Hof<br />
erhielten die Patienten zarte Taubenbrüste und köstliche Taubenbrühe. Das wurde dankbar<br />
angenommen.<br />
In jedem Jahr von Ende Februar bis Juni erwarteten wir voll Spannung die Deckhengste.<br />
Mertensdorf war eine staatliche Hengststation. Für uns war der Einzug der Hengste die<br />
erste Frühlingsanzeige. Der Hengstbeamte in seiner stattlichen Uniform und sein Begleiter<br />
waren auf dem Hof Respektspersonen. Sie wurden vom Gutshaus und der Küche versorgt.<br />
Es waren drei Hengste: „Nelson“, der Trakehner Warmbluthengst, der Zweite, ein<br />
Halbbluthengst, und der Dritte, ein Kaltbluthengst. Das war ein mächtiges Tier mit heller,<br />
dichter Mähne und langem Schweif. Auch die Fesseln waren reichlich behaart. Die Hengste<br />
waren prächtig anzusehen mit ihrem feurigen Gehabe. Von den nachbarlichen Gütern,<br />
großen und kleinen Bauernhöfen wurden die Stuten zum Decken gebracht.<br />
Im Frühling fuhren mein Mann und ich auf die Bauernhöfe, um die dortigen Fohlen zu<br />
besichtigen und zum Kauf vorzumerken. Im Herbst wurden alle begutachtet und die zur<br />
Zucht <strong>als</strong> tauglich Erwählten gekauft und zu ihrem neuen Bestimmungsort transportiert.<br />
Welches Mitleid empfanden wir mit diesen Jungpferden, die so plötzlich von ihren Müttern<br />
getrennt wurden und in eine fremde Umgebung, in einen fremden Stall und zu fremden<br />
Menschen gebracht wurden! Sie mussten von uns getröstet und gestreichelt werden.<br />
74
Franz Quitsch, der Bruder unseres Kutschers, hatte alle drei Jahrgänge der Jungpferde<br />
unter seiner Obhut und verstand es, den jungen Pferden das Gefühl der Geborgenheit zu<br />
geben. Alle gediehen prächtig und wurden zutraulich und munter. Auf der Weide<br />
galoppierten sie temperamentvoll, kamen auch neugierig an den Zaun, wollten gestreichelt<br />
werden, um dann wie unter einem Befehl davon zu sausen.<br />
Wenn die Dreijährigen <strong>als</strong> Remonten für die Wehrmacht zum Verkauf ausgewählt wurden,<br />
galt es Abschied zu nehmen. Das war der große Tag der Pferdezüchter. Dem Präses der<br />
Pferdekommision mussten die Pferde vorgeführt werden. Natürlich waren alle Tiere auf<br />
Hochglanz geputzt, Mähne und Schwanz gekämmt und gebürstet. Kutscher Hermann<br />
Quitsch, sein Bruder Franz und der Pferdebursche hatten weiße Anzüge an und jeder lief<br />
mit einem Pferd in den verschiedenen Gangarten Galopp, Trab und Schritt an den Herren<br />
der Pferdekommission vorbei.<br />
Diese Prozedur war vorher reichlich geübt worden. Der Veterinär untersuchte jedes Pferd<br />
gründlich. Wenn alle Voraussetzungen erfüllt waren, wurde dem Pferd auf das Rückenfell<br />
mit weißer Kreide eine Nummer geschrieben. Nachdem das Geschäftliche erledigt war,<br />
versammelten sich alle zum großen Festessen im Esssaal des Gutshauses. Kutscher<br />
Hermann, der sich eifrig gewaschen und geschrubbt hatte, entströmte dennoch ein leichter<br />
Pferdeduft. In seiner Dienerlivree mit weißen Handschuhen war er nun beim Festessen ein<br />
geschulter Diener in voller Zurückhaltung und in seiner ganzen Würde. Ihm zur Seite<br />
standen zwei Hausmädchen in hellen Kleidern und weißen Schürzen und Häubchen. Die<br />
Gäste konnten ihre Plätze an der festlichen Tafel einnehmen.<br />
Bei Tisch herrschte bald eine gelöste Stimmung. Nach dem Essen gruppierte man sich bei<br />
Mokka, duftenden Zigarren und Zigaretten im Saal, auf der Veranda oder auf den<br />
Verandatreppenstufen. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Blick vom Park bis hin<br />
durch das Geäst der Bäume zum See. Es wurde fröhlich gelacht und geplaudert. Anekdoten<br />
wurden erzählt, natürlich von Pferdeerlebnissen. In einem Jahr wurden alle angebotenen<br />
Jungpferde <strong>als</strong> Remonten angenommen. Das war eine gute Anerkennung für meinen Mann.<br />
In den letzten Kriegsjahren konnte keine Hochstimmung mehr nach dem Pferdeverkauf an<br />
die Wehrmacht einkehren. Die Herzen waren bedrückt. Welch einem Schicksal wurden die<br />
so gehegten und gepflegten Pferde ausgeliefert!<br />
Weitere gesellschaftliche wie auch wirtschaftliche Ereignisse waren die im Herbst<br />
stattfindenden Jagden. In jedem Jahr musste ein bestimmter Abschuss an Wild erfolgen.<br />
Jeder Jagdbesitzer lud die Nachbarn und Verwandten ein. Mein Mann liebte seinen Wald<br />
sehr, der von einem alten und einem jungen Förster betreut wurde. Die Kessel- und<br />
Treibjagd, die mir widerstand, machte aber unseren Leuten Spaß. Es wurde ein großer,<br />
weiter Kreis gebildet und mit Rasselgeräten und Töpfe Schlagen mehr und mehr eingeengt.<br />
Die eingekesselten Hasen wurden von den Jägern erlegt. Für die Treiber wurde nach der<br />
Jagd von einem Leiterwagen Erbsensuppe in großen Töpfen, zum Warmhalten in Stroh fest<br />
eingebettet, angeboten. Dazu gab es Speck und Brot, Tee, Bier und zünftige Schnäpse.<br />
Nach der Jagd wurde das erlegte Wild auf dem Hof ausgelegt. Mein Mann blies auf dem<br />
Jagdhorn das Halali und verblies die Strecke: Rehe, Damwild, Schwarzwild und Hasen.<br />
Danach versammelten sich alle Teilnehmer in der Halle. Zum Umkleiden ging es in die<br />
Gästezimmer. Die festliche Tafel rief zum Jagdessen.<br />
75
Später, <strong>als</strong> das Kriegsgeschehen näher rückte, hatten wir viele Einquartierungen von<br />
Gener<strong>als</strong>täben. Die Jagdtafel wurde dann auch mal im Saal und in der Halle, <strong>als</strong>o im<br />
rechten Flur gedeckt.<br />
Dagmars Geburt – 1941<br />
Unsere Tochter Dagmar, unser viertes Kind, wurde am 19. Juni 1941 im Entbindungsheim<br />
Dr. Abernetty in Königsberg geboren. Über meinem Klinikbett hing der Liedvers: „Abends,<br />
wenn ich schlafen geh´, vierzehn Engel um mich steh´n…“ Diesen Engelschutz brauchte ich<br />
auch. Kampfflugzeuge flogen über Königsberg und warfen unter lautem Getöse ihre<br />
Bomben ab. In der Klinik herrschte große Unruhe und Aufregung. Die Mütter und Babys<br />
mussten in die Kellerräume gebracht werden. Ich wollte schnellstens nach Mertensdorf<br />
zurückkehren und versuchte telefonisch, einen Krankenwagen zu bekommen. Welch eine<br />
Überraschung: die Türe öffnete sich, Wittig kam zu einem Kurzbesuch und konnte seine<br />
Tochter in die Arme nehmen. Dann galt es, Abschied zu nehmen, er musste nach Russland<br />
an die Front.<br />
76<br />
Gott sei es gedankt, ich erhielt<br />
einen Krankenwagen. Dr.<br />
Abernetty trug mich noch in den<br />
Wagen, ich hielt mein Kind in den<br />
Armen. Welch eine Geborgenheit<br />
und freudiger Empfang erwartete<br />
uns in Mertensdorf! Es war, <strong>als</strong> ob<br />
der Krieg weit, weit fort von uns<br />
wäre. Meine „große“, fünfjährige<br />
Editha, sah mich zunächst einmal<br />
etwas scheu und zurückhaltend an,<br />
weil ich plötzlich so dünn geworden<br />
war, aber dann flog sie mir in die<br />
Editha, Volker, Elen mit Dagmar, Wittig<br />
Arme und das Entzücken über das<br />
winzige Schwesterchen war voll<br />
Zärtlichkeit und Glück. Die beiden Brüder betrachteten ihr neues Geschwisterchen erst<br />
einmal etwas kritisch, aber dann auch ganz zärtlich.<br />
Kriegszeiten<br />
Während der Kriegsjahre lebten wir in Mertensdorf in fast abgeschlossener Ruhe und<br />
scheinbarer Geborgenheit; vom Krieg selbst merkten wir wenig. Meine Schwägerin Hertha<br />
v.Kuehnheim war mit ihrer Tochter Dorothee zu uns gezogen und versorgte unsere Kutsch-<br />
und Reitpferde. Wittig war bei der Wehrmacht und nur vorübergehend 1943 zum<br />
Wiederaufbau einer abgebrannten Scheune nach Hause beurlaubt. An Stelle unserer<br />
Wirtin, die heiratete, kam meine Schwester Sigrid Frey aus Bartenstein mit ihrem Söhnchen
Dietrich zu uns, wir erfreuten uns unseres harmonischen Zusammenseins. Öfter lagen<br />
höhere Stäbe bei uns in Quartier.<br />
Nach Stalingrad und den anschließenden Rückzügen wurde die Lage bedrohlicher. 1943<br />
wurden in Mertensdorf 100 bombengefährdete Berliner einquartiert. Im Herbst 1944 kamen<br />
aus Serpenten, Kreis Gumbinnen, den Russen weichend, meine Schwägerin Emma von<br />
Below mit ihrem Mann und ihrem Treck. Auch meine Eltern aus Jucha, Kreis Lyck, mussten<br />
zur gleichen Zeit ihr Pfarrhaus verlassen und fanden bei uns Aufnahme.<br />
Meine körperbehinderte Schwiegermutter wollte im Oktober 1944 nach Pommern zu den<br />
Goltzens nach Rodzow übersiedeln, erhielt aber von der Partei nicht die Ausreiseerlaubnis.<br />
Ins Reich bestand Treckverbot. So schickten wir sie mit unserem Kutscher Hermann<br />
Quitsch zu Tante Lotte Gramsch nach Rodelshöfen. Von da aus bekam sie vier Wochen<br />
später die Genehmigung, nach Rockzow zu reisen. Im Frühjahr 1945 wohnte sie in<br />
Mecklenburg bei einem Grafen Bernsdorff. 1947 kam sie in ein Altersheim bei<br />
Lübecke/Westfalen. Dort bewohnte sie ein unbeheizbares Nordstübchen. Die Verpflegung<br />
war äußerst dürftig, die menschliche Umgebung eher unwürdig. Sie trug ihr Schicksal in<br />
vorbildlicher Haltung.<br />
Sie starb im April 1950. Vor ihrem Tod wollte sie mich noch unbedingt sprechen, aber wir<br />
hatten kein Reisegeld. Wir lebten zu dieser Zeit in Schmie bei Maulbronn. Als wir die Reise<br />
endlich ermöglichen konnten, lag sie bereits im Sarg. Trotzdem hatte ich das eigenartige<br />
Gefühl nicht zu spät gekommen zu sein. Ich sprach ein Gebet an ihrem Sarg und fühlte,<br />
dass ihr Geist mich hörte. Alle Mertensdorfer Kinder, aber ohne Enkel, haben ihr eine<br />
würdige Beerdigung geben können. Später wurde mir klar, was sie mir noch sagen wollte.<br />
Auf ihrem Fluchtweg hatte sie durch ihre Pflegerin bei Dittchen und Irene zwei Koffer<br />
abgestellt, die diese ganz vergessen hatten. In einem Koffer war ihr Tagebuch. Darin<br />
standen u.a. der Satz: Bei Ellen und mir hat die Liebe immer dominiert. Dann war da auch ihr<br />
Testament, in dem sie den geretteten Schmuck ihren Stiefkindern und mir zugeteilt hatte.<br />
Ich bedankte mich bei ihr im Gebet.<br />
Ebenfalls im Oktober 1944 legte ich den kinderreichen Familien aus Berlin nahe, ohne<br />
Aufsehen zu erregen abzureisen. Unser Ortsbauernführer und Volksschullehrer aus<br />
Mertensdorf erschien daraufhin in voller Parteiuniform und dienstlicher Haltung bei mir und<br />
stellte mich zur Rede wegen Panikmacherei und Verweigerung des Hitlergrußes.<br />
Gestapoverhör<br />
Im Gespräch wurden wir immer vorsichtiger. Der so genannte „Deutsche Blick“ erwies sich<br />
auch in unserem Hause <strong>als</strong> notwendig. Trotzdem geschah mir im Herbst 1944 eine<br />
Ungeschicklichkeit, <strong>als</strong> ich einer Berliner Lehrerin Speck und Eier in Zeitungspapier<br />
einpackte. Zufällig sah ich darin die Fotos der Attentäter vom 20. Juli und sprach ganz<br />
erschüttert ungefähr folgende Worte: „Das sind keine Verbrecher. Diese Männer haben aus<br />
einem edlen Motiv gehandelt.“ Kurz darauf wurde ich, wohl auf Veranlassung dieser<br />
Lehrerin, von zwei Männern der Gestapo acht Stunden lang verhört. Die Stimmung war sehr<br />
frostig. Einer fragte, ich antwortete und der andere tippte alles in die Schreibmaschine,<br />
Frage auf Frage. Zur Mittagszeit rief Editha mit ihrer klaren Kinderstimme zum Mittagessen.<br />
77
Die Herren verneinten. Editha sagte: Oh schade! Es gibt so ein gutes Essen. Dadurch<br />
sagten sie dann doch zu.<br />
Die Tafel war köstlich gedeckt. Mein Vater setzte sich zwischen die beiden Männer. Danach<br />
ging die Fragerei weiter bis ich plötzlich rief, dass ich nicht mehr könne und sie nach ihren<br />
Familien fragte, ob sie verheiratet wären, ob sie Kinder hätten. Sie antworteten zögernd und<br />
schließlich, dass sie zu diesem Verhör verpflichtet seien und es ihnen sehr leid täte die<br />
Verhaftung nicht verhindern zu können. Dabei ordneten sie das Protokoll des Verhörs unter<br />
den Stapel der schon vorhandenen Unterlagen. Sie verabschiedeten sich mit Händedruck.<br />
Sie erhielten noch jeder ein eingepacktes gutes Brot.<br />
Es war August 1944. Durch den militärischen Zusammenbruch und die Flucht Ende Januar<br />
1945 kam die Verhaftung nicht mehr zustande.<br />
Träume<br />
Schon <strong>als</strong> junges Mädchen hatte ich hin und wieder beunruhigende Träume von Krieg und<br />
Verfolgung. Ich erzählte Papi von diesen Träumen. Er dachte lange still darüber nach. Er<br />
sagte mir dann, dass diese Träume zum Gebet auffordern. Gebete können vor weiteren<br />
schlimmen Träumen schützen und auch Vieles verändern. In Galbuhnen bei den Goltzens<br />
hatte ich so einen Traum, in dem ich verfolgt wurde, aber die Kinder nicht im Stich lassen<br />
konnte.<br />
In Mertensdorf nahmen die Kriegsträume an Häufigkeit und Schwere zu. Ich erhielt die<br />
Adresse einer prophetischen Frau, Frau Dach aus Offenbach. Mir wurde gesagt, dass sie<br />
schon einigen Menschen mit Rat und Tat geholfen hätte. So schilderte ich ihr in einem Brief<br />
meine Situation: Mein Mann im Kriegseinsatz, Lehrer Behrend <strong>als</strong> Parteimann ein<br />
gefährlicher Spitzel, und dann das Verhör durch die Gestapo. Dann die Träume dazu: Im<br />
Saal, aus dem Parkett wuchs Gras, der Spiegel über dem Kamin stürzte ab und zersplitterte<br />
in tausend Scherben. Dann zerfiel der Kamin in Schutt und Asche. Und weiter: Das<br />
Mertensdorfer Haus wurde von Flammen zerstört.<br />
Nächster Traum: Ich stand auf einer hohen Mauer, die von allen Seiten abbröckelte, so dass<br />
ich abstürzen musste. Um mich herum waren von allen Seiten furchterregende Ungeheuer,<br />
die mich bedrohten. In meiner Angst schrie ich zu Gott. Da erglänzte Licht und eine rettende<br />
Hand ergriff meine Hände. Eine unendlich gütige Stimme rief: Schau nur immer auf Jesus<br />
Christus und sein Licht, dann kann dir und den Deinen kein tödliches Unheil geschehen.<br />
Ich erwachte und fühlte mich getröstet. Kurz danach erhielt ich den Brief von Frau Dach und,<br />
welch ein Wunder, ungeöffnet. Ihr Brief war nahezu eine Wiederholung meines tröstlichen<br />
Traumes. „Sie sind wie das Mädchen in einem Märchen, das von Ungeheuern schwer<br />
bedroht wird. Schauen Sie immer nur auf das Licht von Jesus Christus, dann kann Ihnen<br />
kein tödliches Unheil geschehen. Das Regime der Nazis ist bereits entmachtet. Ich habe für<br />
Sie gebetet.“ Zugleich mit diesem Brief erhielt ich eine Abbildung des Turiner Grabtuches.<br />
Ich fühlte mich sehr getröstet und fühlte, Jesus Christus ist in meinem Herzen und mein Herr<br />
und Gott. Danach hatte ich nur noch tröstliche Träume.<br />
78
Weihnachten 1944 hatten wir die Freude, Wittig bei uns zu haben. Aber natürlich stand das<br />
sonst so strahlende Fest unter dem Schatten des unheilvollen Krieges und der politischen<br />
Geschehnisse. Die Kerzen hatten wir aus Bienenwachs in Medizinröhrchen selbst<br />
gegossen. Manche knisterten und knasterten scheußlich, aber die Kinder freuten sich<br />
trotzdem. Die bunten Teller waren voll genug und die Gabentische reichlich bedacht. Es war<br />
das letzte Weihnachten in der Heimat.<br />
Mitte Januar 1945 war die Front soweit vorgerückt, dass wir Ostpreußen <strong>als</strong> verloren<br />
ansehen mussten. Belows packten ihre Wagen und fuhren ab. Ich hätte vorzeitig nach<br />
Kinsegg (Allgäu) bei Vetter Rüdiger mich und die Kinder in Sicherheit bringen können, doch<br />
konnte ich es schließlich vor unseren 32 Landarbeiterfamilien nicht verantworten, denen<br />
solch ein Ausweg für ihre Kinder und Alten nicht offen stand. Das gleiche empfand ich auch<br />
unseren Angestellten gegenüber und allen anderen, die in unserem Hause waren.<br />
Außerdem war mir von der Gestapo verboten worden, mich über den näheren Umkreis<br />
hinaus zu entfernen. Ich fühlte mich sehr verlassen in meiner Verantwortung für meine<br />
Kinder und alle Menschen um mich herum. Gauleiter Koch hatte jeden Fluchtversuch bei<br />
Strafe verboten.<br />
Am 26. Januar 1945 wurde der Corpstab Großdeutschland unter General Schmalz (Bruder<br />
des Olympiareiters) bei uns einquartiert. Man riet uns dringend, Mertensdorf zu verlassen.<br />
Wittig konnte noch am späten Abend für einige Stunden zu uns kommen, um die 17 Wagen<br />
mit 38 Pferden auf den Weg zu bringen. Zu unserer Beruhigung konnte Dorothee v.<br />
Kuehnheim mit einem Militärauto gen Westen fahren. Eine amüsante Episode möchte ich<br />
einfügen. Wir hatten ein freiwillig zu uns gekommenes russisches Küchenmädchen, das,<br />
durch die gegebenen Verhältnisse dreist geworden, eines Tages auftrotzend zu mir sagte:<br />
„Jetzt sein ich bald Frau Baronin und du Maruschka, dann ich sagen und Du gehorchen!“<br />
Daraufhin versetzte ich ihr einen tüchtigen Klaps. Maruschka sah mich verdutzt an, küsste<br />
mir die Hand und sagte: „Spassibo (danke), Du sein meine Mamma!“. Von diesem<br />
Augenblick an war sie hingebend treu und hat uns immer wieder das Leben gerettet.<br />
Während Wittig noch mit der Zusammenstellung des Trecks zu tun hatte, ging ich Abschied<br />
nehmend durch das Haus. Beim Öffnen eines alten Schreibtisches, an dem ich <strong>als</strong> Braut<br />
Briefe geschrieben hatte, fiel mir eine vergilbte Karte in die Hand, auf welcher ein Liedervers<br />
stand. Worte, die sonst im Ablauf des Alltags versickern, gewinnen oft in Tagen schwerer<br />
Schicks<strong>als</strong>entscheidungen Bedeutung.<br />
Verzage nicht du Häuflein klein<br />
Obschon die Feinde willens sein<br />
Dich gänzlich zu verstören,<br />
Und suchen Deinen Untergang<br />
Davon Dir wird recht Angst und Bang<br />
Es wird nicht lang währen.<br />
79
Beginn der Flucht am 27. 01. 1945<br />
Flucht<br />
Am 27. Januar 1945, um 3 Uhr nachts, fuhren wir mit 17 Wagen in eisiger Winterkälte in eine<br />
schier hoffnungslose Zukunft hinein. Wird es ein Weg ins Verderben? Um uns knattert und<br />
kracht der Krieg. Wittig blieb auf seinem Dienstmotorrad zurück, um alle Ställe<br />
aufzuschließen. Auch lagen auf dem Speicher gegen 50 Polen eingeschlossen, die er<br />
freiließ, weil die Wachmannschaft anscheinend gar nicht mehr da war.<br />
Es standen in den Ställen: 100 Milchkühe, 150 Stück Jungvieh, 360 Schweine, 70 Schafe,<br />
75 Pferde aus drei Jahrgängen, dazu 32 Milchkühe der Landarbeiter, deren Schweine und<br />
Federvieh, sowie die Kaninchen der Kinder. Ende Oktober 1944 waren 90 Mastschweine<br />
mit 260 Ztr. Gewicht verkaufsreif. Es war dam<strong>als</strong> aber kein Waggon mehr zum Verladen zu<br />
bekommen. So fielen auch diese Schweine mit rund 300 Zentnern Gewicht den Russen in<br />
die Hände, wie auch das ganze übrige lebende Inventar, wenn es nicht elend zugrunde<br />
gegangen ist. Für die Lumpensammlung war aber immer Verlademöglichkeit vorhanden<br />
gewesen unter dem Motto: Kampf dem Verderb!<br />
Auch unsere geliebte Schäferhündin „Karla“, die unseren Treck begleitete, ging verloren, da<br />
sie, Wittig suchend, nach Mertensdorf zurücklief. Wir merkten es erst, <strong>als</strong> wir im<br />
Munitionslager Koskeim Station machten. Koskeim bot uns den ersten erschütternden<br />
Eindruck der Kriegsverwüstung. Ich sehe noch die kleinen, leeren Häuser in der kalten<br />
Wintersonne stehen. Das Getöse des Beschusses knatterte und krachte beängstigend. In<br />
den Kellern fanden wir Kaninchen und Geflügel, dem Verhungern und Verdursten nahe.<br />
Wild verstreut lag in der Wirrnis der Auflösung überall bestes Heeresgut umher: umgekippte<br />
Proviantwagen, Medikamente, neue Uniformen, Berge von Schreibpapier, Munition,<br />
Lederzeug, Waffen usw.<br />
Die Kinder sammelten sich Schätze fragwürdigster Art zusammen, verkleideten sich <strong>als</strong><br />
Soldaten und waren enttäuscht, dass wir diese Spiele nicht duldeten und ihnen<br />
insbesondere die Munition fortnahmen. Aber wirklich herzzerreißend war der Abschied vom<br />
geliebten Vati, der wieder an die Front musste. Mit ihm wich für uns alle die autoritäre<br />
Geborgenheit der Heimat, die feste, befehlsgewohnte Stimme, die schnelle Entschlüsse<br />
formte. Wir fühlten uns verlassen und vereinsamt. Die Kinder weinten sich in den Schlaf. Wir<br />
wachten betend beieinander. Unsere kleine Gemeinschaft bestand aus meinen Eltern,<br />
Fräulein Lisel Hüser (unsere Hauslehrerin), meiner Schwägerin Hertha, meiner Schwester<br />
Sigrid Frey und meinem Bruder Wolfram. Er war Pfarrer gewesen in Groß Schönau und<br />
durch einen schweren Unfall kriegsuntauglich. Wir baten ihn, sich nicht der russischen<br />
Gefangenschaft auszusetzen und sich selbständig bis Prenzlau durchzuschlagen. Dort<br />
wohnte meine älteste Schwester Editha „Dittchen“ Mueller-Stahl mit ihrer Familie und Irene.<br />
Sigrid holte eine Flasche Sekt, die wir gemeinsam zum Abschied austranken.<br />
Im ersten Morgengrauen sammelten wir uns zum Weiterfahren. Die Stalinorgel dröhnte. Der<br />
Frost war hart und brachte die Detonation in noch schwereren Schwingungen zu uns. Dazu<br />
fanden Luftangriffe auf die Trecks statt. Die Kinder hatten wir in warme Decken gehüllt. Ihre<br />
Augen waren groß und erschrocken auf uns gerichtet. Unsere Wagen wurden bald in den<br />
Massentreck eingereiht. Heimlich schnitten sich die Kinder kleine Gucklöcher in die<br />
Wagenplane, um hinausgucken zu können. Sie nannten die Trecks Häuserwagen, da sie<br />
80
wie kleine Häuser auf Rädern mit steilen oder flachen Teppich- oder Zeltdächern<br />
vorwärtsschwankten. Ständig wurden wir durch irgendeinen Aufenthalt gestoppt und<br />
konnten nur langsam und schleppend nach dem Rhythmus der vor uns fahrenden Wagen<br />
vorwärts kommen.<br />
Die Straßenränder boten ein schreckliches Bild. Wir sahen umgekippte und von Bomben<br />
getroffene Wagen, tote Pferde und trostlos herumirrende Kühe. Dazu Hausrat. Vom Sofa<br />
bis zum Kinderwagen, zerbrochene Fahrräder, verschüttete Lebensmittel, gebündelte<br />
Banknoten, ja alles, was zum menschlichen Wohlstand gehörte, lag nun wertlos herum. Ich<br />
sehe noch vor mir, wie im früh sinkenden Tageslicht auf einem Schneehügel ein einsames<br />
Pferd stand, das sich mit wiehernd erhobenem Kopf silhouettenhaft von dem<br />
brandgeröteten Himmel abhob. Eine furchtbare Anklage.<br />
In Redden trafen wir meinen Schwager Dietrich mit seinem Sortlacker Treck. Es war ein<br />
kurzes Wiedersehen vor einer langen, notvollen Zeit, in der Dietrichs Familie und wir Gottes<br />
Schutz und Gnade herrlich erfahren sollten. Aus dieser Sicht kann ich auch diesen Bericht<br />
schreiben.<br />
Vor den Hauptstraßen, die für zurückflutende Militärkolonnen freigehalten werden mussten,<br />
wurden wir von den Heeresstreifen immer erneut auf tief verschneite Landwege abgeleitet.<br />
Ja, sogar auf hart gefrorenem Sturzacker holperten unsere Wagen streckenweise mühsam<br />
dahin. Tante Liesel Hüser saß zwischen den Kindern.<br />
Ihr gütiges Gesicht war unter dem dicken Wollschal kaum zu sehen. Dem Mühsal zum Trotz<br />
sang sie: „Jesus geh voran... Führst du uns durch rauhe Wege, gib uns auch die nötige<br />
Pflege...“ Ja, der, Weg war wirklich rauh!<br />
Vor Preußisch Eylau trennten wir uns von Herta v. Kuehnheim, die von einem<br />
Militärkradfahrer mitgenommen wurde, um uns bei Herrn Strüvy in Groß Peisten ein<br />
Quartier zu suchen. Wir sollten sie auf der Flucht nicht wiedersehen, denn wir wurden<br />
wiederum im Strom der Flüchtlingswagen auf andere Straßen abgedrängt. Unser Weg<br />
führte uns nun in Richtung Eichen.<br />
Eichen<br />
Eisiges Schneetreiben hinderte uns am Vorwärtskommen. Wir mussten unsere Wagen<br />
öfters aus dem Schnee schippen. Meine Schwester Sigrid und ich liefen immer wieder am<br />
Treck entlang, um unseren Leuten Mut zuzusprechen, denn sie waren erschöpft und<br />
unglücklich. Der Wind fegte uns in schneidender Kälte die Schneekristalle ins Gesicht. Auch<br />
die Pferde waren abgetrieben und stolperten müde vorwärts. Endlos erschien uns der Weg.<br />
Ohne Ziel, ohne Hoffnung gingen wir vorgebeugt gegen den Schneesturm ankämpfend, mit<br />
starren Gesichtern und fast geschlossenen Augen. Wir atmeten auf, <strong>als</strong> wir die Gebäude<br />
vom Dorf Eichen schattenhaft auftauchen sahen. Alle fanden Unterkunft. Die Pferde<br />
konnten in warmen Ställen versorgt werden. Unsere Familie kam bei einer freundlichen<br />
Frau mit vielen Kindern unter, deren Mann an der Front war. Bald stand meine Mutter am<br />
Herd und kochte und briet. Auch unsere Cousine Gerda Gerlach aus Klingenberg trafen wir<br />
hier und wir verabschiedeten uns voneinander. Gaston und François, unsere französischen<br />
81
Kriegsgefangenen, die <strong>als</strong> Gärtner bei uns tätig gewesen waren, schnitten und strichen<br />
Brote, flickten und putzten unsere Schuhe. Wie begierig tranken die Kinder die warme Milch,<br />
die uns die Siedlersfrau anbot, und wohlig kuschelten sie sich in die bunt karierten<br />
Bauernbetten. Je mehr die Nacht zunahm, umso heftiger wurde der Beschuss. Um die<br />
Häuser schlichen finstere Gestalten und pressten ihre Gesichter an die Fenster. Waren es<br />
russische Soldaten? François, der französischer Offizier war, wurde die Lage zu kritisch. Er<br />
wollte sich von uns lösen und sich nach Frankreich durchschlagen. Ich gab ihm ein paar<br />
Reitstiefel von Wittig, wir verabschiedeten uns still voneinander. Der Beschuss wurde<br />
stärker, wir nahmen die Kinder aus dem Schlaf und kleideten sie an, da wir mit<br />
beschleunigter Abfahrt rechnen mussten.<br />
Plötzlich drangen deutsche Soldaten auf uns ein, die sich Tücher vor die Gesichter<br />
gebunden hatten, rissen uns die Koffer fort und trieben uns mit Gewehrkolben aus dem<br />
Haus. Es waren demoralisierte Soldaten, für die der Krieg verloren war, die sich noch<br />
plündernd bereichern wollten. Draußen gerieten wir in eine heftige Schießerei. Wir hörten<br />
deutsches und russisches Geschrei. In der Dunkelheit gab es ein völliges Durcheinander.<br />
Mir erschien es unmöglich, an unsere Pferde zu kommen, daher weckte ich Gaston, der in<br />
unserem Planwagen war. „Mon Dieu,“ rief er „Wirr alle perdu, il nous faut mourir tous, jetzt<br />
alles passé.“ In Panik und mit vielen Pardons verkroch er sich unter die Pelzdecken. Die<br />
Kugeln zischten um die Köpfe und die Kinder schrieen vor Angst. Nun hieß es raus aus dem<br />
Chaos! Ich trug Klein-Dagmar (3 Jahre) im Arm und hatte Jung-Wittig (10 J.) an der Hand.<br />
Volker (7 J.), Editha (8 J.) und Dietrich Frey (12 J.) wurden von Tante Liesel und Sigrid<br />
geführt. Meine Eltern liefen mit versagenden Kräften hinterher und alles, was noch zu uns<br />
gehörte, flüchtete im Menschenstrom mit.<br />
Schneeregen hatte eingesetzt und durchnässte uns. Von allen Seiten lohte erneut Feuer<br />
auf. Jammergeschrei, Pferdegewieher und Brüllen vom Vieh mischten sich mit dem Lärm<br />
des hinter uns bleibenden Gefechtes. Mitten im Lauf hielt mich ein Offizier an und steckte<br />
mir seine eiserne Ration, Schokolade, für die Kinder in die Manteltaschen. „Die Lage ist<br />
hoffnungslos“ sagte er, „wir haben keine Munition mehr.“ Danach fragte er mich: „Können<br />
Sie noch an Gott und seine Liebe glauben, dann beten Sie für mich!“ Danach verschwand er<br />
wieder in der Dunkelheit. Für mich bleibt das ein unvergessliches Erlebnis.<br />
Volker wollte nach Hause. Inmitten des Trubels und Durcheinanders machte er sich auf den<br />
Weg und stiefelte durch den Matschschnee davon. Einer unserer Arbeiter entdeckte ihn und<br />
brachte den kleinen Kerl zurück. Der war wohl sehr erleichtert, denn er hatte sich auch vor<br />
Angst die Hosen voll gemacht.<br />
Von unseren Leuten hörte ich, dass der Lehrer Behrend sich auch in dem Dorf aufgehalten<br />
hatte. Er hatte wohl von den deutschen Soldaten verlangt, dass sie „Heil Hitler“! rufen<br />
sollten. Diese waren darüber so erbost, dass sie ihn böse verdroschen haben.<br />
Wohlverdiente Dresche für alle Spitzeleien, für die er vorher verantwortlich war.<br />
Im Morgengrauen versammelten wir uns, ein armseliges Menschenhäuflein mit nichts in der<br />
Hand. Wir waren niedergeschlagen und froren. Plötzlich tauchten auch unsere acht<br />
russischen Kriegsgefangenen und Maruschka wieder auf. Bereitwillig gingen sie nach<br />
Eichen zurück, um unsere Provianttaschen zu holen. Beim Weitergehen fanden wir einen<br />
offenen Leiterwagen mit zwei müden Pferden davor, halb umgekippt im Graben, und zogen<br />
ihn mit vereinten Kräften auf die Straße. Alles war darin vorhanden, von Heu über Speck bis<br />
zu Bibel und Gesangbuch. Die Kinder und Alten konnten wir nun in den Wagen setzen. So<br />
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fuhren und marschierten wir mutlos in den Wintermorgen hinein. Maruschka kehrte<br />
tatsächlich mit den Provianttaschen zurück und wir konnten uns stärken. Jung-Wittig fror<br />
erbärmlich. Als ich ihm meinen Pelz umlegte, rief er plötzlich ganz aufgeregt: „Unser Wagen<br />
kommt!“ Gaston hatte bei abklingendem Gefecht unsere Pferde angespannt, eine Leistung,<br />
denn er hatte noch nie im Leben vier Pferde angespannt, und war uns nachgekommen.<br />
Welch eine Treue! Und das unter Bedrohung durch deutsche Soldaten. Allmählich traf auch<br />
ein Teil unseres Trecks wieder ein, so dass wir weiterziehen konnten.<br />
Pellen<br />
Eine neue Sorge traf uns. Jung-Wittig bekam hohes Fieber und Schüttelfrost, er rang nach<br />
Atem. Ich hörte, dass auf dem Gut Pellen ein Feldlazarett stationiert wäre. Ein Militärwagen<br />
fuhr mich und Jung-Wittig dorthin, wo er gleich von einem Stabsarzt untersucht und<br />
behandelt wurde. Die Wirtschafterin der Familie v. Brandt-Pellen sorgte rührend für uns.<br />
Diese Frau war für viele ein trostreicher Engel. Inzwischen hatten sich meine Familie und<br />
alle, die sich unserem persönlichen Wagen angeschlossen hatten, unter großen<br />
Schwierigkeiten ebenfalls in Pellen eingefunden. Unsere Leute aber, denen der Aufschub in<br />
Pellen zu lange dauerte, machten sich selbständig und fuhren mit ihrem Treck gen Westen.<br />
Nach drei Tagen Aufenthalt zogen auch wir weiter, verstärkt durch einen von zwei<br />
Panjepferden gezogenen Gepäckwagen, den ich vom Stabsarzt erhalten hatte. So konnten<br />
wir es uns bequemer machen und es ging flott weiter, bis wir wieder in den allgemeinen<br />
Flüchtlingsstrom eingekeilt waren, immer begleitet von dem Bilde der Verwüstung und auch<br />
von Sterbenden und Toten. Wir nahmen hin und wieder verwundete Soldaten mit, bis sie<br />
uns von Sanitätswagen abgenommen wurden.<br />
Haffüberfahrt<br />
Erst am 11. Februar 1945 erreichten wir das kleine Fischerdorf Rosenberg bei Heiligenbeil<br />
und bereiteten uns für die Fahrt übers Haff vor. Der Weg über Elbing war bereits<br />
abgeschnitten. Hier verloren wir unseren Gaston, dessen Gepäck, Mütze und Mantel bei<br />
uns im Wagen zurückblieben. Er muss von einer Heeresstreife aufgegriffen worden sein.<br />
Das gab viele Tränen.<br />
Nun mussten die Wagen für die Überfahrt erleichtert werden. Außer dem kranken Wittig und<br />
Dagmar, die auch hohes Fieber hatte, mussten alle wegen der Einbruchsgefahr zu Fuß<br />
gehen. Der Zustand des Eises war durch eingetretenes Tauwetter so, dass der nördliche<br />
Teil des Haffs offen war, der südliche Teil aber noch hielt. Ohne dass wir es ahnten, fuhr<br />
mein Mann Wittig <strong>als</strong> Verwundeter im Schleppkahn am gleichen Tag über das nördliche,<br />
offene Haff nach Pillau.<br />
Ich hielt mich dicht hinter unserem Wohnwagen, um die beiden kranken Kinder im Falle<br />
eines Einbruchs retten zu können. Das Gewicht des Wagens drückte das Eis tief herunter,<br />
so dass wir bis zum Knöchel im Wasser gingen. Das erschwerte das Vorwärtskommen. Es<br />
wurde Nacht. Wagen vor und hinter uns brachen ein. Meine Unruhe wurde dadurch<br />
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gesteigert, dass Sigrid immer wieder mit unserer Laterne den Eingebrochenen zu Hilfe eilen<br />
musste. Es war eine finstere Nacht, nur erhellt durch das grelle Farbenspiel der<br />
Leuchtkugeln. Volker und Editha, im Eiswasser gehend, sangen tapfer ihre Abendgebete:<br />
Breit aus die Flügel beide und<br />
Müde bin ich geh zur Ruh!<br />
Wir mussten unseren Wagen aus den durch eingeschlagene Pfähle gekennzeichneten<br />
Treckweg hinaus lenken, denn eingebrochene Flüchtlingswagen blockierten die Strecke.<br />
Mein Vater ging nun mit der Laterne vor unseren Pferden her. Das Schreien und Rufen von<br />
den Unglücksstellen verhallte hinter uns im Kriegslärm. Wir konnten nun keinerlei<br />
Hilfestellung mehr geben, ohne uns selbst zu gefährden. Nach ca. 9 Stunden kamen wir auf<br />
der Nehrung bei Neukrug an. Wir fühlten uns gerettet und wollten uns, erschöpft wie wir<br />
waren, nur ausruhen und schlafen. Aber daran war nicht zu denken, da Militär und<br />
Landgendarmerie uns erneut aufs Haff trieben.<br />
Neukrug – Zoppot - Danzig<br />
So treckten wir, Wagen an Wagen, im vorgeschrieben geordneten Sicherheitsabstand die<br />
Küste entlang in den Morgen hinein. Bei zunehmendem Licht verstärkte sich der russische<br />
Fliegerbeschuss. Wir boten ein ausgezeichnetes Ziel. Nach immer erneuten Bemühungen,<br />
mit Speck, Zigaretten und anderen Herrlichkeiten winkend, ließ uns endlich ein<br />
Strandpolizist gegen das Verbot ans Ufer und half uns über die Düne, wobei wir und die acht<br />
Russen die Wagen kräftig schieben mussten. Nun waren wir auf der Ostseite der Nehrung<br />
und saßen im Sand fest. Die Achse unseres Wohnwagens brach.<br />
Unsere Russen, mit ihrer Naturbegabung, flickten die Achse wieder, wie sie es auch<br />
verstanden, mit nassem Strandholz Feuer zu machen. Wieder war ich gezwungen, die<br />
Wagen zu entlasten. Wir fuhren nun auf dem durchnässten Sandstreifen hart am Wasser<br />
entlang, schon von den auslaufenden Wellen bespritzt. Der Ausblick auf die unendliche<br />
Weite des Meeres mit den heran rollenden Wogen, die sich in gläserner Klarheit am Ufer<br />
brachen, gab mir Ruhe ins Herz. Nun kamen wir ein wenig schneller voran. Es gab durch die<br />
Organisation Todt in den Orten die erste Essensausteilung und heißen, schwarzen<br />
Malzkaffee. Auch ging die Nachricht von Flüchtling zu Flüchtling, die hier am Strand mit<br />
Handkarren, Kinderwagen und sonstigen Kleingefährten den Weg entlang zogen, es würde<br />
für Säuglinge und Kleinkinder Milch ausgegeben. Im Haus, in dem die Milchausgabe war,<br />
zeigte mir eine der Schwestern aufgesammelte Säuglinge, die dort Kinderwagen an<br />
Kinderwagen die Räume füllten und von Frauen und Schwestern betreut wurden.<br />
Ein Teil der Flüchtlinge, die wir aus Mertensdorf mitgenommen hatten, auch unser<br />
Hausmädchen, konnten von Kolberg aus per Schiff über die Ostsee in den Westen fahren.<br />
Sie sind alle gut durchgekommen. In Prenzlau nahm meine Schwester sie auf und sorgte für<br />
ihre weitere Bleibe.<br />
Eine Heeresstreife nahm uns fünf unsere acht Russen ab. Drei durfte ich behalten. Mischa,<br />
ein blonder Hüne, gutmütig und grob, verstand es wie kaum ein anderer, unseren großen<br />
Wagen auch auf schwierigsten Wegen zu lenken. Der alte und der junge Nikolai hatten für<br />
den Gepäckwagen und die Pferde zu sorgen, auch Maruschka verblieb uns.<br />
84
Oft mussten wir mit salzigem Seewasser oder geschmolzenem Schnee unsere Mahlzeiten<br />
abkochen, dabei infizierten wir uns an der Ruhr, die Tausende von Flüchtlingen dahinraffte.<br />
Auch mich überfiel die Krankheit. Kaum war das Fieber heruntergegangen, musste ich,<br />
obgleich meine Knie wie aus Watte waren, neben dem Wagen herlaufen, denn andere,<br />
auch unsere Kinder, legten sich krank nieder und mussten versorgt werden. Weißbrot oder<br />
sonstige notwendige Diätnahrung war nicht vorhanden.<br />
Über die Weichsel wurden wir noch mit der Fähre übergesetzt, von der es schon hieß, dass<br />
sie außer Betrieb sei. Auf einem großen Weichselbauernhof machten wir notgedrungen<br />
Rast. Nach Wochen konnten wir uns endlich mit warmem Wasser waschen. Wie erschrak<br />
ich, <strong>als</strong> ich die völlig abgezehrten Kinderkörper sah, aber fast noch mehr über die<br />
Läuseplage, die mir wie ein kleiner Weltuntergang vorkam.<br />
Die Bauersleute lebten noch in satter Ruhe, waren nett, aber sehr geizig und wollten nicht<br />
glauben, dass auch sie schnellstens fliehen mussten.<br />
Als Besserung bei Kranken und Rekonvaleszenten eintrat, konnten wir weiter fahren. Unser<br />
Weg führte nun über Danzig nach Zoppot. Dort wurden wir von einfachen Leuten liebevoll<br />
aufgenommen und bestens bewirtet. Mein Vater hielt im Hause einen Gottesdienst, wozu<br />
auch Nachbarn erschienen. Da sie die gefährliche Lage noch nicht erkannt hatten, baten sie<br />
uns, doch länger zu bleiben, aber wir konnten uns nicht aufhalten und fuhren dankerfüllt und<br />
doch schweren Herzens weiter.<br />
Wir erlebten nicht immer, besonders in großen Gutshäusern die von Flüchtlingen aller Art<br />
gefüllt waren, freundliches Entgegenkommen. Dies lag zum Teil an den Flüchtlingen selbst,<br />
die der Heimat und aller Habe beraubt durch die Not abgestumpft und oft rücksichtslos<br />
waren. Die Unsauberkeit, hervorgerufen durch die überall herrschende Ruhr, war ekelhaft.<br />
Vor allen Dingen hatten Auslandsarbeiter und Kriegsgefangene Schmutz und Verwüstung<br />
hinterlassen. Ich habe daher, soweit es nur möglich war, trotz winterlicher Kälte, mit meinen<br />
Kinder meist im Wohnwagen übernachtet.<br />
In einem Ort, dessen Namen ich nicht mehr weiß, suchten wir in einer Schule das dort<br />
befindliche Flüchtlingslager auf. Es war harter Frost, wir wollten gern für uns abkochen und<br />
uns ein wenig ausruhen. Da aber die an der Ruhr verstorbenen Leichen steif gefroren am<br />
Schulgebäude lagen und Kranke und Sterbende im Lager waren, konnten wir an diesem Ort<br />
nicht rasten.<br />
An einem anderen Ort nahmen uns deutsche Soldaten, prächtige Jungens, in ihre<br />
Fliegerbaracke mit. Wir erhielten alle Betten und gute Versorgung. Endlich konnten auch<br />
einmal die Kinder ein wenig im Freien spielen. In einem Versorgungslager durften die<br />
Flüchtlinge Weißbrot und andere Nahrungsmittel holen. Da ich nicht mit „Heil Hitler“ grüßte,<br />
wurde ich verhaftet und hatte ziemliche Mühe, mich von dem fanatischen Parteibonzen, der<br />
die Lagerverwaltung inne hatte, freizumachen.<br />
Auf unserer weiteren Fluchtstraße wurden an uns zerlumpte Kriegsgefangene und<br />
Fremdarbeiter vorbeigeführt, deren Gesichter stumpf und müde waren, viele sahen uns<br />
hasserfüllt an. In manchen Augen stand deutlich der Triumph über unser Flüchtlingslos zu<br />
lesen. Wir dachten: Mögen wir nie in die Gewalt dieser Menschen geraten! Wie entwürdigt<br />
und verroht doch der Krieg die Menschen und vermittelt uns ein entstelltes Bild anderer<br />
Völker.<br />
85
Ich denke an unsere vielen Kriegsgefangenen zurück, an die Russen, welche abends ihre<br />
schwermütigen Lieder sangen, und unsere Franzosen, besonders Gaston, an Maruschka<br />
und den alten Nikolai. Diese Drei sind auf der Flucht unsere Lebensretter geworden. Ein<br />
kleines Erlebnis möchte ich hier erwähnen: Im Gepäckwagen hatte der alte Nikolai, <strong>als</strong> ich<br />
einmal sehr erschöpft war, in großer Fürsorge ein weiß bezogenes Bett hergerichtet und<br />
bestand darauf, dass ich mich ausschlafen sollte. Wie er an die Bettwäsche<br />
herangekommen ist, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben.<br />
Darsin<br />
In Darsin in Pommern wurden wir aufgehalten. Der Gummischlauch eines Wagenrades war<br />
geplatzt. Sigrid ließ sich von einem Militärauto nach Stolp mitnehmen, um eine<br />
Reparaturwerkstatt aufzusuchen. Auf einem kleinen Bauernhof kamen wir unter. Die Kinder<br />
spielten, von der Enge des Wohnwagens befreit, fröhlich mit den Bauernkindern. Tante<br />
Liesel erzählte Märchen und ersann sich lustige Spiele. Immer wieder liefen wir, Ausschau<br />
haltend, auf die Straße. Noch fuhren durch Darsin Militärautos nach Stolp. In einem LKW<br />
waren Kinder und Säuglinge geladen, nur von der SA betreut. War das ein Kinderelend! Ich<br />
war innerlich erstarrt und wie ausgestorben, das Übermaß des Leids fand kaum mehr<br />
Einlass in mein Gemüt. Ich wehrte mich auch gegen das Zurückdenken an alles, was wir<br />
verlassen hatten. Meine Mutter und eine nette Bäuerin kochten und buken für uns alle. Es<br />
gab sogar einen Streuselkuchen alter Art. Ich glaubte, es wäre der letzte Streuselkuchen<br />
meines Lebens. Als Sigrid mit dem geflickten Reifen zurückkam und unser Wagen wieder in<br />
Ordnung war, wollten wir eilig aufbrechen. Doch welch eisiger Schreck! Wir durften nicht<br />
weiter. Es wurde von Einkesselung gemunkelt. Zwei Tage warteten wir in großer Unruhe.<br />
Was würde nun geschehen? Und dann hieß es auf einmal: Alles zurück!<br />
Ein wildes, angsterfülltes Durcheinander entstand. Die Bauern banden ihre Kühe an<br />
Leiterwagen und warfen in Hast nötige und unnötige Sachen hinein. Handwagen wurden<br />
vollgeladen und darauf Alte und Kranke und kleine Kinder gesetzt. Aufgelöste<br />
Militärkolonnen jagten an uns vorbei, nun Richtung Leba, dem Strande zu. Militärs schrien<br />
die Flüchtlinge an, die ihnen die letzten Fluchtwege versperrten. Die Angst vor den Russen<br />
saß ihnen im Nacken.<br />
Mischka und unsere beiden Nikolais schlugen auf unsere Pferde ein. Im Galopptempo<br />
überfuhr Mischka einen Handwagen, der von drei Frauen gezogen wurde. Uns blieb nichts<br />
anderes übrig, <strong>als</strong> die Frauen und die Sachen aus dem zersplitterten Wägelchen zu uns zu<br />
laden. Wir gönnten den armen Pferden kaum mehr Rastpausen. Wir hatten schon mehrfach<br />
mildes Wetter gehabt, doch nun war erneut Frost eingetreten. Ein eisiger Wind fegte übers<br />
Land. Oft waren die Straßen glatt und ich war in Sorge um unsere Pferde, die keine Stollen<br />
an den Hufen hatten.<br />
86
Wiedersehen mit Wolfram<br />
Mitten im Wirbel der fliehenden Menschen ging erneut aus einem der breiten Wagenreifen<br />
die Luft aus. Wir waren verzweifelt und mussten Halt machen. An uns vorbei drängten sich<br />
die flüchtenden Militärautos, Lastautos, Wagen, Handwagen, Karren und hastende<br />
Menschen. Ihr letztes Bündel war am Riemen über die Schulter geworfen. Jetzt war für uns<br />
das Dringendste, Material zur Reparatur des Reifens zu beschaffen. In dieser höchst<br />
aufregenden Situation geschah etwas, was uns völlig unwahrscheinlich vorkam. Direkt<br />
hinter unserem Wagen führte unser Bruder Wolfram einen Flüchtlingswagen. Wir glaubten<br />
unseren Augen nicht zu trauen, es war wirklich Wolfram, vermuteten wir ihn doch längst in<br />
Prenzlau bei unseren Schwestern in Sicherheit. So wussten wir bei seinem Anblick nicht, ob<br />
wir weinen oder lachen sollten. Die Wiedersehensfreude überwog alle Bestürzung.<br />
Die Sorge um die Eltern und uns alle hatte Wolfram, der schon fast am Ziel gewesen war,<br />
umwenden lassen und ihn, suchend von Treckstraße zu Treckstraße, getrieben. Es war ein<br />
hoffnungsloses Unternehmen. Seine Gedanken kannten nur ein Ziel: „Herr lass mich die<br />
Meinen finden!“ Auf diesen Irrwegen traf er Flüchtlinge aus seiner Gemeinde, die hilflos mit<br />
ihrem Leiterwagen steckengeblieben waren. Er übernahm auf deren dringendes Bitten hin<br />
die Führung des Wagens. Es waren zwei junge Frauen, kurz „Ellchen“ und „Dila“ genannt,<br />
deren hinfällige Eltern und zwei kleine Töchter.<br />
Wolfram und ich liefen nun Hand in Hand, um das richtige Handwerkszeug für unseren<br />
kaputten Reifen zu finden, was uns tatsächlich gelang. Vorher aber rutschten wir noch in<br />
eine Panzerfalle, saßen im Schnee und lachten endlich einmal wieder. Es war ein<br />
erlösendes Lachen! Als wir nach einiger Mühe aus der recht tiefen Grube herausgekrabbelt<br />
waren, konnte Wolfram den Wagen in Ordnung bringen, holte unsere drei Russen aus einer<br />
Scheune, in die sie sich aus Angst verkrochen hatten, und gab ihnen Kartoffelschnaps.<br />
Auch wir genehmigten uns einen. So zogen wir in dankbarer Erschütterung über die<br />
Begegnung mit Wolfram nun wieder <strong>als</strong> ein kleiner Treck von drei Wagen weiter.<br />
In einer verlassenen Hütte kochten wir uns eine Mahlzeit ab. Unseren Wasserpudding noch<br />
vor uns, hörten wir auf einmal dumpfe Geschützschläge. Wir ließen alles stehen und liegen<br />
und liefen hinaus. Dunkle Rauchwolken stiegen dicht hinter uns auf. Überall hörten wir<br />
entsetzte Schreie: „Die Russen, die Russen!“ In wilder Unordnung, sich gegenseitig<br />
überholend, hasteten die Wagen vorwärts.<br />
Viezig<br />
Als die Straße sich gabelte, entwichen wir dem Gedränge und fuhren allein weiter. War das<br />
f<strong>als</strong>ch? Plötzlich hörte die Straße auf. Noch einmal zurück? Unmöglich! Mischka hetzte die<br />
Pferde in wilder Hast durch einen Graben, fuhr über die Böschung, preschte über Stock und<br />
Stein in einen kleinen Wald, um wieder auf die Hauptstraße zu gelangen. Schon sahen wir<br />
sie vor uns und auf ihr den vorwärts jagenden Treck der vielen Flüchtlinge. Noch unter dem<br />
Schutz des Waldes erlebten wir <strong>als</strong> entsetzte Zuschauer den Überfall der Russen. Aus allen<br />
Rohren schießende Panzer überrollten die Flüchtlinge. Rechts und links stürzten die Wagen<br />
die Straßenböschung hinunter. Es war ein schauerliches Schauspiel. Vorsichtig fuhren wir<br />
rückwärts und hielten in einer Mulde. Auch Wolfram war mit seinem Leiterwagen unserem<br />
87
Wagen gefolgt, während der Gepäckwagen, vom jungen Nikolai gelenkt, zerbrach und am<br />
Wald stehen bleiben musste.<br />
Hier im Wald blieben wir stundenlang unter dem Getöse des Gefechtes. Der Ort, an dem<br />
dies geschah, hieß Viezig. Hier hatte uns das Schicksal erreicht. Ich saß in unserem Wagen<br />
und hielt meine Kinder in den Armen. Edithas Augen waren ernst und fragend auf mich<br />
gerichtet. Ich sprach ihren Taufspruch: „Denn der Herr hat seinen Engeln befohlen über dir,<br />
dass sie dich behüten auf all deinen Wegen!“<br />
Danach verteilte Editha mit ihren kleinen Händen Traubenzucker und andere wohlbehütete<br />
Schätze, um sie den Russen nicht zu überlassen. Volker, mein kleiner Beschützer, sagte,<br />
sich an mich schmiegend: „Was auch Schlimmes geschieht, ich bin bei Dir, Mutti!“ Dietrich<br />
Frey und Jung-Wittig waren alt genug, die Gefahr zu begreifen, in der wir schwebten und<br />
fürchteten sich sehr. Als die Panzer das Schießen einstellten, krochen wir zu unserem<br />
zerbrochenen Gepäckwagen, ließen die Panjepferde frei und holten uns, was wir am<br />
dringendsten benötigten.<br />
Mischka und der junge Nikolai hatten nun doch vorsichtig Verbindung mit ihren Landsleuten<br />
aufgenommen. Sie kamen begeistert zurück und wollten uns zu ihnen bringen. In ihrer<br />
Einfalt glaubten sie, dass damit unsere Not zu Ende sei. Wir zogen es jedoch vor, weiter zu<br />
fahren. Mischka half uns noch auf den Weg und dann verabschiedeten wir uns von ihm und<br />
dem jungen Nikolai.<br />
Das Bild, das sich uns nun darbot, war grauenvoll! Zusammengeschossene Trecks, auch<br />
überfahrene Menschen, ich will und kann es nicht weiter beschreiben. Jedenfalls war es gut,<br />
dass die Kinder tief verborgen im Wagen saßen und dieser Eindruck sich nicht in ihr<br />
Kindergemüt einprägen konnte.<br />
Der alte Nikolai und Maruschka verteidigten aufgeregt unsere Wagen von den uns<br />
belästigenden Sowjetsoldaten. Wir mussten ständig die Arme hochheben. Die Laute: „Stoi!<br />
Davai, Davai! Ruki verch!“ waren uns bald gut bekannt.<br />
Die Panzerkolonne rollte wie eine lebende Kulisse auf der linken Straßenseite an uns<br />
vorbei. Die Panzerbesatzungen mit ihren dicken Pelzmützen, die offenen Ohrenklappen im<br />
Winde, erschienen uns wie Dämonen. Ein Flüchtlingswagen, der vor uns herfuhr, war von<br />
den betrunkenen Siegern in den Chausseegraben gestoßen worden. Die jammernden<br />
Flüchtlinge versuchten noch einiges aus ihrem Wagen zu retten und wehrten sich<br />
verzweifelt gegen ihre Angreifer. Plötzlich sprang ein Russe von seinem Panzerplatz, schrie<br />
seine betrunkenen Kameraden an und befahl ihnen, den Wagen wieder auf die Straße zu<br />
fahren. Er half sogar dabei mit! Nach beendigter Rettungsaktion lachte er laut und pries<br />
seine gute Tat. Er forderte uns alle auf, in unsere Heimat zurückzufahren. Es gab so<br />
manchen Treck, oder bereits ausgeraubte Flüchtlinge, die diesen Aufforderungen, die uns<br />
von vielen Russen zugerufen wurde, Folge leisteten.<br />
Wolfram wurde oft <strong>als</strong> verkappter Offizier verdächtigt und mit Pistolen bedroht. Er musste<br />
sich, so gut es ging, verborgen halten. Dann wurde Sigrid, welch ein Entsetzen, von uns<br />
gerissen und in ein Wäldchen geschleppt. Ihren, wenn auch mangelnden, russischen<br />
Sprachkenntnissen und ihrer Geistesgegenwart verdankte sie es, dass die Russen sie<br />
wieder unbehelligt zurückkehren ließen. Meine Eltern waren Baltendeutsche. Mein Vater<br />
war bis 1917 Pastor in Petersburg gewesen. So beherrschte er die russische Sprache und<br />
konnte sich mit den Russen verständigen.<br />
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In der ersten Nacht unter der Sowjetherrschaft fuhren wir in einen großen Gutshof ein. Es<br />
war das Dümmste, was wir tun konnten! Wir hatten uns ahnungslos in die Höhle des Löwen<br />
begeben. Ständig sprangen Russen in den Wagen, nach Frauen und Plünderware brüllend.<br />
Auch stachen sie mit Bajonetten durch die Wagenplane, oft haarscharf an unseren Köpfen<br />
vorbei. Dann verkündeten sie unter rohem Gelächter, dass jetzt deutsche Generale<br />
erschossen würden, und wir hörten scharfe Befehle und Schüsse. Dazu hörten wir gellende<br />
Schreie von geschändeten Frauen und Mädchen. Die Russen vergewaltigten, ohne auf das<br />
Alter zu achten; ja selbst Kinder, Alte, auch Wöchnerinnen hatten vor ihnen keine Ruhe.<br />
Wieder und wieder schrieen uns die Russen zu: „Ihr habt unsere Frauen und Kinder in den<br />
Brunnen geworfen! Hitler ist tot! Jetzt kommt ihr dran!“, und „Ihr Waffen haben, wir alle<br />
totschießen, deutsche Spione!“ Wir beteuerten, dass wir wirklich keine Waffen besäßen und<br />
Sigrid bot an, einen unserer großen Koffer aufzuschließen, um unsere Harmlosigkeit zu<br />
beweisen. Unsere Bereitwilligkeit und Sicherheit, alles zu zeigen, beeindruckte oder<br />
langweilte die Russen. Maruschka bemühte sich, die stolzen Sieger auf sich aufmerksam zu<br />
machen. Sie zogen alle ab und nahmen das Mädchen über Nacht mit. Später, <strong>als</strong> ich diesen<br />
Koffer öffnete, lag obenauf Wittigs Pistole. Herr Gott! Was wäre geschehen, wenn die<br />
Russen sie entdeckt hätten? In einem geeigneten Augenblick warf ich die Waffe in weitem<br />
Bogen aus dem Wagen. Russen über Russen kletterten bei uns ein und aus. So verging<br />
diese grauenvolle Nacht, Unsere Kinder schliefen trotz allem Radau, so übermüdet wie sie<br />
waren, tief und fest. Wir blieben alle bewahrt! Es war kaum zu fassen!<br />
Als der Morgen endlich graute und die Russen ihren Rausch ausschliefen, brachte uns<br />
unser alter, treuer Nikolai unsere Pferde zurück, die er fürsorglich ausgespannt und unter<br />
die Russenpferde geschmuggelt hatte. So hatte er sie auch mit Futter und Wasser<br />
versorgen können. Ohne Ziel fuhren wir weiter. Wir jüngeren Frauen hatten uns mit alten<br />
Kleidern und Tüchern vermummt, die wir am Straßenrand fanden. Sogar eine Brille ohne<br />
Gläser fand ich und ein Kopftuch mit schwarzen, samtartigen Fransen, die ich mir tief über<br />
das Gesicht zog. Ich hinkte nun <strong>als</strong> altes Weib, die Pferde führend, dahin. Trotzdem sprang<br />
ein Russe auf mich zu, riss mir Tuch und Brille ab und rief vergnügt lachend: „Du<br />
Djewuschka, Golubischka (Mädchen, Täubchen)“. Er hatte ein einfältiges Gesicht mit<br />
gutmütigem Ausdruck und war nüchtern. Ich strich ihm, meine Angst verbergend, lachend<br />
über die Wangen und versuchte ihm verständlich zu machen, dass ich kleine Kinder hätte.<br />
Nachdem wir uns eine Weile mit Worten, Händen und Ausrufen unterhalten hatten, gab der<br />
Russe mir die Brille und das Kopftuch zurück und ließ mich ziehen.<br />
Wir suchten eine abgelegene Straße auf, um dem Schrecken etwas zu entgehen. Als wir um<br />
eine Waldecke bogen, lag mitten auf der Straße ein umgestürzter Sanitätswagen. Hier fand<br />
ich viele lebenswichtige Medikamente für uns. Einige Schritte weiter lag ein Landjäger in<br />
seinem Blut, überall sah man die entsetzlichen Spuren des Krieges.<br />
Wieder auf der großen Straße angelangt, ratterten Panzerkolonnen an uns vorbei. Da ich<br />
vor unserem Wagen herlief und den Blicken der Panzerbesatzungen ausgeliefert war,<br />
jagten mir deren wilde, primitive Gesichter große Furcht ein. Aber im Gegensatz zu den<br />
herum schreienden plündernden Horden haben wir von ihnen keinerlei Belästigung<br />
erfahren. Wir zogen in Trostlosigkeit und Kälte mit der Schar unserer Leidensgenossen<br />
weiter.<br />
Auch dieser Tag ging zu Ende. Es erschien uns wie ein Wunder, dass wir noch alle lebten<br />
und auch noch unsere Pferde besaßen. Schutzsuchend fuhren wir in ein Gehölz ein, um<br />
89
dort die Nacht zu verbringen. Doch zu unserem Schrecken öffnete sich vor uns eine<br />
Lichtung mit einem Anwesen, auf dem es von Russen und Flüchtlingen wimmelte. Aber wir<br />
überlebten auch diese Nacht!<br />
Abschied von Nikolai und Maruschka<br />
Immer noch waren Nikolai und Maruschka bemüht, uns zu schützen. Ach, Maruscka,<br />
Maruschka! In kindlicher Einfalt brachte sie uns strahlend Sachen an, die sie von<br />
Flüchtlingen geplündert hatte. Sie prahlte damit, dass sie deutsche Frauen und Kinder<br />
sogar ausgezogen hätte. Gekränkt weigerte sie sich, die Sachen zurückzubringen. Trotz<br />
ihrer Verwilderung war es ein schmerzlicher Augenblick, <strong>als</strong> sie uns schluchzend umarmte<br />
und sich von uns verabschieden musste.<br />
Nikolai weinte, <strong>als</strong> er mir zum Abschied die Hand küsste. „Krieg nicht gut, Frau.“ sagte er<br />
und „Bog s toboj (Gott mit Dir). Ja was lublju (Ich liebe Euch)“. Dann ging er gesenkten<br />
Kopfes von uns. Als wir am nächsten Morgen weiterfuhren, galoppierte Maruschka<br />
lautsingend auf einem stattlichen Pferde neben uns.<br />
Die dicken Finger waren mit Ringen voll gesteckt, ein kleines Federhütchen wippte auf<br />
ihrem Kopf und ein elegantes Kostüm saß prall an ihrem derben Körper. Bald aber rissen sie<br />
vorbei fahrende Offiziere in ihren Wagen. Maruschka, das Kind der wilden Steppe, winkte<br />
uns, im Wagen stehend, noch lange zu, bis sie unseren Blicken entschwand.<br />
So schnell wie möglich fuhren wir nun in dem sich immer mehr auflockernden<br />
Flüchtlingsstrom weiter. Die grölenden Horden mehrten sich, die an den Flüchtlingswagen<br />
auf und ab kletterten, nach Uhren, Frauen und deutschen Soldaten suchend. Bei ihren<br />
wüsten Stimmen und wahllosem Herumschießen, zitterte mir das Herz. Aber wir erlebten<br />
auch nette Russen.<br />
Unsere Frauen, die wir unterwegs aufgenommen hatten, Frau Hedwig, Frau Büttner und<br />
Frau Marthe, schoben einen aufgefundenen Kinderwagen. Frau Marthe hatte ihre dicke<br />
Tragetasche, von der sie sich nie trennte, hineingelegt, die ihre letzten Wertsachen enthielt.<br />
Ein Russe fand seinen Spaß daran, den Wagen den steilen Abhang der Chaussee hinunter<br />
zu stoßen. Trotz des Mitleids mit der verzweifelten Frau Marthe, waren wir dankbar, dass<br />
Dagmar, die bis dahin im Kinderwagen gesessen hatte, bereits in der Obhut von Tante<br />
Liesel war. Solche Grausamkeiten wiederholten sich an diesem Hang leider oft.<br />
Als schließlich zwei Russen die Pferde abschirrten, fühlten wir uns verloren. Vergeblich<br />
kämpfte ich um die Pferde. In dieser ausweglosen Situation rang ich hart um meinen<br />
Glauben an Gottes Hilfe. Aber es geschah uns, dass ein hinzukommender Russe in echt<br />
russischer Zärtlichkeit mich abküsste und tröstete. Wild auf die Kameraden einsprechend<br />
erreichte er, dass die Pferde wieder angespannt wurden. So konnten wir weiterfahren. Wir<br />
erlebten viel Schrecken auf dieser Fahrt, aber auch erstaunliche Hilfe. Herzzerreißend war<br />
es, wenn wir die zusammen getriebenen Kuhherden sahen, die sinnlos durch Schnee und<br />
Kälte getrieben wurden. Oft waren sie, mit geplatzten Eutern, dem Verrecken ausgeliefert.<br />
90
Mackensen 10. 03. bis 15. 09. 1945<br />
Am 9. März 1945 kamen wir in Mackensen bei Lauenburg/Pommern an. Eine Frau, die von<br />
uns gehört hatte, bat uns, ihren Hof zu übernehmen, der in einem Neusiedlungsgebiet<br />
zwischen Moor und Wald lag. Der Wald trennte das Gehöft vom Dorf. In besagtem Gehöft<br />
hatten die Russen furchtbar gehaust, gemordet, vergewaltigt und geplündert. Schweren<br />
Herzens und doch dankbar, nahmen wir das Angebot an, denn alle übrigen Häuser und<br />
Höfe waren überfüllt von Flüchtlingen. Eine Weiterfahrt war sinnlos geworden. So lenkten<br />
wir unsere Wagen durch das Hoftor ein. Zu 20 Menschen drängten wir uns in das<br />
Siedlungshäuschen. Es war voll Scherben, Schutt, Dreck und Federn von aufgeschnitten<br />
Federbetten, wie alle Häuser, in denen Russen gewütet hatten. Unsere Pferde wurden in<br />
den Stall gebracht, in dem zu unserer Überraschung Kühe, Schweine und Geflügel auf<br />
Versorgung warteten. Wir fanden Torf und Holz in einem Schuppen und konnten Öfen und<br />
Herd anheizen.<br />
Endlich hatten wir auch wieder Wasser, das wir von einer Pumpe holten, die etwa 5 Minuten<br />
entfernt an der Dorfstraße lag. Der Weg dahin war immer mit Gefahr verbunden, denn die<br />
Russen belästigten jeden, der sich auf der Straße blicken ließ. Wir säuberten das Haus,<br />
meine Mutter stand kochend am Herd, aus dem Stall hörten wir das Hantieren mit den<br />
Eimern beim Melken der Kühe. Nachdem die Kinder gewaschen und satt in ihren sauberen<br />
Strohbetten lagen, sprachen wir gemeinsam den 91. Psalm und unser Dankgebet. Bald<br />
duftete es nach starkem Bohnenkaffee, wir nahmen unser erstes Mahl wieder in einer<br />
Häuslichkeit ein.<br />
Noch hatten wir reichlich Vorräte und konnten uns sogar aus einem, wenn auch<br />
verschmutzten, Roggenvorrat Brot backen. In einer Miete fanden wir auch Kartoffeln. Auf<br />
unserem Hof sammelten sich hungrige Menschen, Mütter mit kleinen Kindern. Wir füllten<br />
Kannen und Schüsseln, keiner ging leer aus. Als bekannt wurde, dass mein Vater und mein<br />
Bruder Pastoren waren, kamen oft Verzweifelte, die sich aussprechen wollten und Trost und<br />
Rat suchten.<br />
In unserer Scheune gab es bald für Erwachsene und Kinder Gottesdienste. Später ließ sich<br />
mein Vater die schöne Mackenser Kirche aufschließen. Tante Liesel und ich läuteten die<br />
Sonntage ein, wenn auch unter großer Angst, während Sigrid die Orgel spielte. Um die<br />
Kirche herum wurde oft geschossen, auch der Weg dahin barg Gefahren. In die Kirche<br />
kamen auch Russen und später Polen. Aber wir erlebten nie während der Gottesdienste<br />
eine ernstliche Störung oder Bedrohung. Sonst aber fielen die Russen wie<br />
Heuschreckenschwärme bei uns ein. Sie zogen wie in einer bunten Polonaise mit Tüchern<br />
und allem Möglichen behängt, plündernd, schießend, grölend, in gutturalen Lauten<br />
schreiend durch die Häuser.<br />
Besonders in den Nächten ging es hoch her. Schweine und Geflügel wurden in den Hof<br />
gejagt und unter schallendem Gelächter tot geschossen. Auch die Kühe nahm man uns fort.<br />
Am traurigsten waren wir aber, <strong>als</strong> unsere Pferde weggeführt wurden. Wir versteckten<br />
unsere Vorräte sorglich, trotzdem wurde vieles gefunden. Mit beginnendem Frühling<br />
sammelten wir eifrig Kräuter, es gab vitaminreiche Gerichte und jeden Tag einen Teelöffel<br />
rohen Brennesselsaft. Die verbliebenen Folgen der Ruhr heilten langsam ab. Meine Mutter<br />
teilte immer noch den Bittenden das Essen aus, wenn auch unsere Gerichte dürftiger<br />
wurden.<br />
91
Mein Bruder hatte sich mit einigen unserer Hausgemeinschaft aufgemacht, um abseits<br />
liegende Ortschaften zu besuchen und dort <strong>als</strong> Pastor zu wirken. Ausgeraubt, wie mein<br />
Bruder war, bot er einen Anblick, der sehr wohl zur Heiterkeit Anlass geben könnte, aber in<br />
dieser ernsthaften Lage fiel es keinem ein, ihn komisch zu finden. Mit Schiebermütze,<br />
Schwalbenschwanz, Hemd ohne Kragen, Knickerbockern, strumpflos in zerrissenen<br />
Schuhen oder barfuß, glich er eher einer Vogelscheuche, <strong>als</strong> einem Pastor. Auf<br />
Schleichwegen durch Moor und Wälder stießen sie auf eine Mühle. Dort konnten sie Mehl<br />
kaufen. Das war für uns ein großer Gewinn.<br />
In Darsö, bei Langenböse, lernte mein Bruder eine Familie v. Bonin kennen. In Darsö war<br />
nach den ersten furchtbaren Wochen des Russenüberfalls ein sehr anständiger<br />
Kommandant eingezogen. Bonins und deren Arbeiterfamilien lebten unter seinem Schutz<br />
und erhielten Vieh und Geflügel zugeteilt. Wohl musste Herr von Bonin seine eigenen<br />
kostbaren Möbel aus seinem Schloss zu Brennholz zersägen und klein schlagen, aber sie<br />
hatten unter keinen Gewalttaten mehr zu leiden. Mein Bruder kehrte mit vollem Herzen und<br />
vollem Rucksack zu uns heim.<br />
Immer wieder suchten wir die heimlichen Wege übers Moor zu Bonins. Es war uns kaum<br />
fasslich, dass wir, in Darsö angekommen, unbekümmert und aufrecht gehen konnten, ohne<br />
uns vor Russen verstecken zu müssen. Als ich eines Tages mit Jung-Wittig wieder auf dem<br />
Weg dorthin war, wurden wir von Russen mit ihrem „Stoi, stoi!“ verfolgt. Wir konnten uns<br />
aber vor ihnen verstecken und kamen in Darsö an, ohne Schaden genommen zu haben.<br />
Herr von Bonin trat uns betrübt entgegen. Seine Frau war schwer erkrankt und seine<br />
Tochter hatte Typhus. Wir wurden nur zögernd eingelassen. Ich konnte etwas pflegend und<br />
betreuend helfen. Wir hatten am Krankenbett von Frau v. Bonin aufrichtende Gespräche,<br />
die uns gegenseitig im Glauben stärkten. Jung-Wittig und ich waren aber auch dankbar und<br />
erfreut über einen köstlichen Milchgrießbrei, den wir erhielten.<br />
Bei einem der Rückwege wurden wir kurz vor Mackensen von schießenden Russen<br />
verfolgt. Wir liefen wie die Hasen, froh darüber, dass wir barfuß waren und unser Rucksack<br />
leer war. Beim ersten Haus in Mackensen angelangt, öffnete sich die Tür, eine Frau zog uns<br />
eiligst hinein und schloss schnell die Tür hinter uns. Wir waren wieder einmal<br />
davongekommen!<br />
Dieses Haus gehörte zur Mackenser Kommandantur, und alle Familien, die hier für die<br />
Russen melkten, backten oder andere Arbeiten leisteten, durften nicht von den Russen<br />
belästigt werden. Die gute Frau füllte meinen leeren Rucksack mit Brot, Butter, Eiern und<br />
gab uns eine Kanne mit Vollmilch. Meine Eltern kamen uns schon besorgt entgegen. Das<br />
war ein herrliches Wiedersehen, denn jede noch so kurze Trennung konnte Abschied für<br />
immer bedeuten.<br />
Eines Tages erschienen bei uns im Haus ein Arzt, Chefchirurg aus einem Danziger<br />
Krankenhaus, mit zwei seiner Krankenschwestern. Sie wollten sich nach Westen<br />
durchschlagen, schlichen von Ort zu Ort und verarzteten Kranke. Auch impften sie gegen<br />
Typhus. Die Instrumente wurden auf unserem Herd ausgekocht. Wie ein Lauffeuer ging die<br />
Kunde, dass ein Arzt da wäre, von Haus zu Haus. Ich hatte aus einem umgekippten<br />
Lazarettzug Verbandzeug und Medikamente gesammelt. Der Arzt nahm davon, was er<br />
benötigte, und gab mir von seinen Medikamenten, die mir am wichtigsten waren. Mit einer<br />
Baronin Sass, die sich auch in Mackensen aufhielt, besuchte ich Kranke und wir pflegten<br />
sie.<br />
92
Es wird Mai gewesen sein, <strong>als</strong> Sigrid und ihr Sohn Dietrich von den Russen zum Viehhüten<br />
geholt wurden. War das ein Schrecken! Sie ging, die scheußlichste Alte spielend, davon und<br />
kam abends in Begleitung eines russischen Offiziers, „Sascha“, zurück. Die richtige<br />
Sachlage erkennend, hatte Sascha gesagt, die Deutschen hätten wohl nur alte Weiber, sie<br />
solle doch keine Furcht vor ihm haben. So unter seinem Schutz stehend war ihr nichts<br />
zugestoßen. Vor den Kindern nannten wir die Russen „Freunde“. Sascha war aber ein<br />
wirklicher Freund für uns geworden und nun oft unser abendlicher Gast und Schutz, wenn<br />
unser Haus durch betrunkene Soldaten bedroht wurde. Die Haustür durften wir nicht<br />
abschließen. Er setzte sich ans Bett meines Vaters, schickte uns alle schlafen und sprach<br />
leise mit ihm. Sascha brachte uns Geschenke mit, Kerzen, Seife und andere wichtige Dinge.<br />
Zu unserer Erschütterung wurde er von seinen eigenen Soldaten erschossen, weil er einen<br />
Russen niedergeschossen hatte, der ein Kind vergewaltigte.<br />
Ein anderer russischer Freund von uns hieß Alexander. Er versprach, uns eine Kuh zu<br />
bringen und war strahlend stolz, <strong>als</strong> er sein Versprechen tatsächlich erfüllte. Wir konnten die<br />
Kuh längere Zeit in der Scheune verbergen. Als wir sie nicht mehr verheimlichen konnten,<br />
schlachteten wir sie. Einer der deutschen Siedler, früher Nazi, denunzierte uns bei den<br />
Russen. Mit knapper Not entgingen wir dem Gefängnis oder dem Erschießen.<br />
Immer wieder kamen im Laufe der Tage drei junge Russen, die mit meinem Vater<br />
philosophierten. Der Redeführer „Kolja“ interessierte sich scheinbar für religiöse Fragen.<br />
Wie viele Russen wollte er wissen, ob das „Kreuz“ auf der Bibel das „Hitlerkreuz“ sei. Er<br />
räkelte sich bei diesen Gesprächen meist lässig auf dem Tisch, rülpste und schmatzte laut.<br />
Doch eines Nachts erschien er mit seinen Kameraden völlig betrunken und wollte meinen<br />
Vater erschießen. Die Kugel ging haarscharf am Kopf vorbei, schlug durch die Stubenecke<br />
und riss ins Dach ein Loch. Nach dieser Heldentat flohen sie. Eines Tages trat ein Russe in<br />
unser Haus, der die Tür behutsam hinter sich schloss und in höflicher Art fragte, ob er<br />
eintreten dürfe. Wir fielen fast um vor Erstaunen. Bald saß er gemütlich bei uns und freute<br />
sich der Unterhaltung. Er hatte eine warme, ruhige Stimme und erzählte, dass er Musiker<br />
sei. Seine liebsten Komponisten seien Bach, Händel, und Haydn. Es wäre so schwer, sagte<br />
er, unter den verrohten Kameraden zu bestehen ohne selbst abzusinken.<br />
Da ich meinen Kindern immer selbst die Haare schnitt, führte ich meine Haarschere mit. Aus<br />
Editha hatte ich vorsichtshalber einen Buben namens „Ingo“ gemacht. Kaum einer der<br />
Deutschen wusste, dass Ingo ein Mädchen war. Die Haarschere wurde berühmt, ich<br />
avancierte sogar zum Haarschneider der Russen, denen ich die Haare, inklusive Läuse,<br />
schön blank auf Numero Null herunter schneiden musste. Sie wollten auch von mir rasiert<br />
werden, was ich aber ablehnte.<br />
Einmal stürzte ein 15jähriges Mädchen zu uns und wollte sich vor zwei Russen, die sie<br />
verfolgten, verstecken. Eilig schnitt ich ihr die Zöpfe ab, so dass sie wie ein Junge aussah.<br />
Dietrich Frey brachte von sich Hemd und Hosen, und <strong>als</strong> die Kerle unser Haus erreichten,<br />
schritt die kleine Gerda, keck pfeifend, Hände in den Hosentaschen, an ihnen vorbei, wobei<br />
die Russen nach vergeblicher Suche sich wütend entfernten.<br />
Oft stand meine Mutter am Morgen da und sagte: „Mit wat, mit wat mach ich Euch alle satt!“<br />
Das war einer ihrer heiteren Aussprüche, denn trotz dieser Sorgen konnte sie uns immer<br />
wieder die Teller füllen, obgleich wir es uns nicht mehr richtig vorstellen konnten, wie es ist,<br />
einmal richtig satt zu sein. Wenn gar nichts mehr da war, erlebten wir oft wunderbare Hilfe,<br />
sei es von Deutschen oder sogar von russischen Soldaten, wenn diese in Geberlaune<br />
93
waren. So hatte ein Flüchtling aus Ostpreußen einen großen Sack Rohkaffee versteckt und<br />
brachte uns oft davon. Oder in der Siedlung wurde ein heimlich gehaltenes Schwein<br />
geschlachtet und wir dazu eingeladen. Eine Mackenser Frau besaß eine verborgen<br />
gehaltene Ziege und brachte uns täglich ein Töpfchen Milch. In aller Frühe kam einmal ein<br />
Mütterchen bei uns an. Sie hielt unter der Schürze einen Hahn versteckt, den sie sich von<br />
den Russen zurück gestohlen hatte. Das war ein Festmahl!<br />
Ein weiteres Festmahl wurde uns durch Russen bereitet, die mit Maschinenpistolen Hühner<br />
totgeschossen hatten und sie uns zum Zupfen und Reinigen brachten. Wir taten das mit<br />
Vergnügen. Flügelspitzen und das gesamte Innere ließen wir <strong>als</strong> Abfall uns zukommen.<br />
Großzügig gab der beaufsichtigende Soldat uns ein ganzes Huhn <strong>als</strong> Lohn. Als die<br />
Blaubeeren reif wurden, gingen wir mit all unseren sieben Kindern in den Wald. Der Weg hin<br />
und zurück war ein ernst gewordenes Indianerspiel. Oft krochen wir auf allen Vieren. Auch<br />
flüsterten wir nur miteinander. Über den Fluss Leba mussten wir uns auf einem wackeligen<br />
Floß an einem Draht herüberziehen. Wir hatten die Kinder und Kleider auf die Schulter<br />
genommen, weil das Floß brüchig war und tief in die starke Strömung des Flusses einsank,<br />
und waren froh, <strong>als</strong> wir endlich alle drüben waren, ohne in Feindgefahr geraten zu sein. Da<br />
die Russen die Wälder wegen der Partisanen mieden, fühlten wir uns beim Beerenpflücken<br />
einigermaßen sicher. Als Tagesration erhielt jeder von uns eine Scheibe trockenes Brot und<br />
einen Becher Blaubeeren.<br />
Unsere Kinder fühlten sich in dieser ungebundenen Freiheit recht glücklich. Etwas<br />
Unterricht erhielten sie von meinem Vater und Tante Liesel. Nachts schliefen sie fest und<br />
hörten kaum etwas von unserem nächtlichen Russentrubel. Ihr schönstes Spiel in aller<br />
Harmlosigkeit war, „Frau komm mit.“ Dietrich Frey hatte Pistolen und Schleudern, auch<br />
russische Epauletten aus Holz und Papier gearbeitet. Die Russen erklärten diese Waffen für<br />
lebensgefährlich und nahmen sie für sich selbst zum Spielen mit. Mit einem kleinen, selbst<br />
gemachten Handwagenfuhren die Kinder in unserem Hof und Umgebung des Hauses <strong>als</strong><br />
wilde Horde umher, rauhe russische Rufe nachahmend. Sie fanden in aller Heimlichkeit im<br />
Wald und Moor eine weite Spielfläche, entdeckten dabei aber auch unentschärfte Patronen<br />
und andere für sie reizvolle Dinge, die sie vor uns versteckten. Es ist ein Wunder, dass nie<br />
ein Unglück passierte.<br />
Auch die Russen in ihrer meist primitiven Art, benahmen sich häufig wie große dumme<br />
Kinder. Auf einem Hof in Mackensen stand ein unbrauchbares Motorrad. Es bot ihnen eine<br />
unerschöpfliche Spielmöglichkeit. Mit sich erneuerndem Eifer wurde es mit Getute und<br />
Gebrumm auf Geländetüchtigkeit gründlich untersucht.<br />
Es gab kaum eine Nacht ohne Überfälle. Wir legten uns in Kleidern auf unsere Lager und<br />
fielen in einen unruhigen, immer horchenden Schlaf. Und doch kam es vor, dass der eine<br />
oder andere in einen tiefen Erschöpfungsschlaf fiel. So ging es auch mir. Da hatte ich einen<br />
Traum:<br />
Ich war in einer Kirche und unser Friedländer Kantor, Hans Kurig, spielte die Orgel. Der alte<br />
Kirchendiener, eine Traumgestalt, trat auf mich zu und führte mich zur Kirchentreppe. Wir<br />
stiegen endlose Treppen empor, höher und höher, während uns wunderbare Orgelmusik<br />
begleitete. Oben angekommen, zeigte mir der Küster mit seinen alten Händen die Aussicht<br />
auf ein weites Land. Dann wies er mich an nach unten zu schauen. Plötzlich wurde die alte<br />
zittrige Hand eine schöne Engelshand und eine gütige Stimme sagte: „Und nun spring<br />
herunter!“ Dann nochm<strong>als</strong> auf meine entsetzte Verweigerung, dass ich doch dann in den<br />
94
Tod springen würde: „Vertraue und spring!“ Ich sprang und landete sanft auf ebenem<br />
Boden.<br />
Ich erzählte den Traum Papi. Nach einer Weile des Nachdenkens sagte er: Heute dürfen wir<br />
im Vertrauen auf Gottes Schutz ruhig schlafen. Wir zogen sogar unsere Kleider aus und<br />
schliefen fest und ruhig bis in den Morgen hinein.<br />
In einem weiteren Traum zeigte Gott mir, dass ich einen Sohn bekommen würde. Er zeigte<br />
mir auch, dass dieser Sohn mit seiner Hände Arbeit sein Leben führen werde. Ich sah drei<br />
Babykittel, jeder in einer anderen Farbe mit Schmuckrändern. Ich sah ihn <strong>als</strong> Balljungen<br />
Tennisbälle aufsammeln, geradegewachsen mit dunklem lockigen Haar. Ich träumte, dass<br />
Wittig auf einer Bahre leblos an mir vorbei getragen wurde. Beim Erwachen wusste ich<br />
nicht, lebt er, ist er verwundet oder tot? Da ich aber so deutlich von unserem zukünftigen<br />
Sohn geträumt hatte, musste ich erkennen, dass er wohl verwundet, aber lebend zu uns<br />
zurückkommen würde.<br />
Durch meines Vaters Einsatz, die ihm Folter und auch fast sein Leben gekostet hätte, blieb<br />
ich durch Gottes gewaltigen Schutz von Vergewaltigungen verschont.<br />
Verhaftungen<br />
Es waren immer furchtbare Tage, wenn mein Bruder von den Russen verhaftet und<br />
abgeführt wurde. Aber er bekam es jedes Mal fertig, durch irgendeinen Trick frei zu<br />
kommen, und war immer nach einigen Tagen unversehrt wieder bei uns. Solche<br />
Verhaftungen waren schrecklich.<br />
Aber völlig fassungslos waren wir, <strong>als</strong> außer Wolfram auch unser Vater von uns fort geholt<br />
wurde. In Lauenburg stieß man sie in einen Keller. Dort lagen abgezehrte Gestalten, die<br />
krank und von Ungeziefer geplagt auf nassem und schmutzigem Boden herum hockten<br />
oder lagen. Es gab weder Stroh noch Decken, noch irgendwelche hygienischen<br />
Möglichkeiten. Es herrschten Typhus und ruhrähnliche Erkrankungen. So wurde auch mein<br />
Vater krank. Alle waren der Willkür der wachhabenden Soldaten ausgeliefert. Nach einigen<br />
Tagen fand ein Verhör statt. Danach wurden mein Vater und Wolfram entlassen.<br />
Als mein Vater bei seiner Verhaftung von uns Abschied nahm, hatte er uns noch zugerufen:<br />
„Kopf hoch und nicht verzagen! Euch wird nichts geschehen!“ Wunderbarerweise hatten wir<br />
in diesen Tagen und Nächten tatsächlich vor jeglichen Überfällen Ruhe. Kaum waren mein<br />
Vater und Bruder wieder zurück, erhielten wir auch schon einen neuen unangenehmen<br />
Besuch.<br />
Ein Russe, der wie üblich unsere Sachen durchwühlte, fand dabei die in Finnland gemalten<br />
Kinderbücher meiner Mutter. Er verdächtigte uns, Spione zu sein, und drohte, wie üblich, mit<br />
Erschießen. Aber schließlich fesselten ihn die Kinderbilder und Portraits derart, dass er sich<br />
hinhockte und sie mit Begeisterung betrachtete. Mit der Pistole drohend bestand er darauf,<br />
auch gemalt zu werden. Mit flatternden Händen gelang Mutti das Portrait so gut, dass er sie<br />
und uns alle umarmte. Gerührt erzählte er uns von seiner Mutter und Braut. Zum Dank<br />
brachte er uns Fleisch und Zwiebeln und auch einen fürchterlichen Fusel-Schnaps, den wir<br />
heimlich weggossen.<br />
95
Eines Abends, <strong>als</strong> die Kinder schon schliefen, hörten wir Schüsse und widerliche Stimmen<br />
von Betrunkenen, die sich unserem Hause näherten. Mein Bruder verriegelte schnell unsere<br />
Haustür, das war inzwischen erlaubt worden. Unsere Fenster hatten dürftige Holzläden, in<br />
der Küche waren sie sogar nur mit Pappe vernagelt. Mit wilden Schreien aus rauhen Kehlen<br />
wurden mein Vater und mein Bruder vor die Haustür gefordert und nach Frauen und<br />
Plünderware verlangt. Ihre Gewehrkolben polterten gegen die Tür. Durch den Spalt der<br />
Pappe vom Küchenfenster konnten wir 6 bis 8 Männer zählen. Die Wut vor dem Hause war<br />
schließlich so groß geworden, dass wir mit dem Schlimmsten rechnen mussten. Ich zitterte<br />
an allen Gliedern vor Angst, so ging es mehr oder weniger auch den anderen, während mein<br />
Vater uns beruhigende Worte zusprach. Wir knieten im Gebet!! Ich weiß nicht, wie lange<br />
unser Haus umtobt wurde. Plötzlich trat beängstigende Stille ein. Wir fürchteten schon, dass<br />
sich die Russen in ihrer Wut Verstärkung holten. Nach einiger Zeit des angstvollen<br />
Abwartens rief uns mein Bruder erfreut in den Flur. Die Haustür war aus den Angeln<br />
gebrochen, das eiserne Treppengeländer vor der Haustür völlig verbogen. Die Russen in<br />
ihrem Suff hatten nicht bemerkt, dass sie ungehindert ins Haus hätten eindringen können.<br />
Aber auch der Weg durch die Fenster hätte ihnen eine leichte Einstiegsmöglichkeit geboten.<br />
Für den Rest der Nacht hatten wir Ruhe!<br />
Meine Mutter liebte in dieser notvollen Zeit das Lied „Hirte deiner Schafe“, besonders den 4.<br />
Vers: ,, Komm, verschließ die Kammer und lass allen Jammer ferne von uns sein. Sei Du<br />
Schloss und Riegel...“ Diesen unsichtbaren Riegel hatten wir erlebt. Überhaupt waren uns<br />
Bibel, Gesangbuch und die Herrenhuter Losungen wichtige Lebensbegleiter.<br />
Da wir keine Kerzen mehr hatten, kauerten wir abends auf unseren Strohbetten und sagten<br />
uns gegenseitig Vieles auswendig auf oder erzählten uns Geschichten. Das Buch Hiob<br />
besprachen wir mit völlig neuem Verständnis. Die Eltern berichteten uns spannende<br />
Erlebnisse aus ihrem Leben. Im Rückblick möchte ich diese Zeit nicht missen, wenn auch<br />
Schrecken und Grauen unsere Kraft oft überforderten. Die Überforderung ergab auch<br />
zuweilen gereizte Stimmung in unserer Hausgemeinschaft. Die Nerven versagten. Aber wir<br />
wuchsen trotzdem zu einer festen Gemeinschaft zusammen und teilten alles miteinander.<br />
Oft rief Mutti warnend in der Nacht: „Russen! Russen kommen! Kinder schnell tarnt euch!“<br />
Bebte ihr Herz eben noch in nervöser Erregung, so stand sie doch gleich darauf mit meinem<br />
Vater in der Haustür, um den ersten Anprall abzufangen. Bei einem uns drohenden Überfall<br />
kam ich auf den Einfall, laut zu schreien und Krach zu schlagen. Wir schrieen alle, so laut wir<br />
konnten. Das Rezept half. Die Meute der schnapstrunkenen Russen zog an unserem Haus<br />
vorbei, da sie wohl dachten, wir wären schon in den Händen anderer Russen.<br />
Tod und Krankheiten gingen nicht an unserem Haus vorbei. Frau Büttner wurde eines<br />
Tages von den Russen so geschlagen. dass sie an den Folgen starb. Sie war eine gläubige<br />
Katholikin und verschied in innerem Frieden. In dieser Zeit empfanden wir den Tod nicht <strong>als</strong><br />
Feind, sondern <strong>als</strong> Erlöser. Als Tante Liesel bald danach erkrankte, mussten wir auch mit<br />
ihrem Sterben rechnen. Sie war drei Tage bewusstlos, wahrscheinlich infolge eines<br />
Schlaganfalls. Aber sie genas und erholte sich völlig.<br />
Täglich fuhren festlich hergerichtete und lächerlich geschmückte Russenwagen die<br />
Dorfstraße entlang. Frauen und Mädchen deutscher, polnischer und russischer Nationalität<br />
füllten die Wagen, von denen Musik und Gesang erklang. Viele deutsche Mädchen und<br />
Frauen hatten sich freiwillig den Russen angeschlossen, so auch Else, eine junge Frau mit<br />
zwei kleinen Kindern aus unserer Nachbarsiedlung. In der ersten Zeit war sie bis zu 30 Mal<br />
96
Tag und Nacht vergewaltigt worden. Nun hielt sie sich, der Not gehorchend, einige<br />
Russenfreunde, die sie schützten und sie und die Kinder mit Milch und Nahrung versorgten.<br />
Sie litt unter dieser Lebensweise, bewahrte aber ihre Haltung. Der Krieg, der oft alle<br />
bestehenden Gesetze umwirft, erfordert auch zuweilen eine andere Moral oder zerbricht die<br />
Menschen. Viele, ja ganze Familien, gaben sich in ihrer Verzweiflung und Ausweglosigkeit<br />
den Tod. Wer kann diese Menschen verurteilen?<br />
Russenüberfälle<br />
Wir hatten einige Dachpfannen aus dem Dach unseres Hauses herausgehoben und<br />
benutzten die so entstandene Luke <strong>als</strong> Ausguck. Eines unserer Kinder musste dort<br />
Ausschau halten und herannahende Russen melden. Trotzdem stand eines Tages<br />
unbemerkt ein Sowjetoffizier neben mir. Ich war unverkleidet und wusch Dagmar in einer<br />
Schüssel. Er wollte mich gleich in seinem Wagen, der mit Lametta und Weihnachtskugeln<br />
geschmückt war, mitnehmen, Mein Vater stellte sich mit aller Energie dagegen. Die perfekte<br />
russische Sprache war oft eine große Hilfe, aber auch eine Gefahr, da wir immer wieder <strong>als</strong><br />
Spione verdächtigt wurden. In diesem Fall sprachen meine Eltern und der Russe erst<br />
höflich, dann erregt und schließlich aufgeregt und zornig miteinander. Der Russe wollte<br />
mich zum russischen Ball mitnehmen, er bürge mit seiner Offiziersehre für mich. Mein Vater<br />
verweigerte seine Einwilligung. Anstatt uns gleich zu erschießen oder abzuführen,<br />
versicherte er uns, dass wir den morgigen Tag nicht mehr erleben würden.<br />
So wurde es Abend, und die Nacht brach an. Die Kinder schliefen, wir aber warteten. Zwei<br />
von uns standen am Ausguck und hielten Ausschau. Und dann kamen sie: Reiter auf Reiter<br />
umzingelten unser Gehöft, es füllte sich mit lauter lärmenden Soldaten, Kerzen flackerten<br />
auf. Wir wurden auseinander getrieben. Ich sah, wie ein Soldat meine Eltern vor sich her<br />
stieß und befand mich plötzlich allein bei meinen schlafenden Kindern.<br />
Die Dunkelheit legte sich beklemmend auf mich. Ich lauschte auf alle Geräusche des leicht<br />
gebauten Hauses und hörte, wie mein Bruder zornig auf die Russen einsprach, hörte das<br />
Getöse von umstürzenden Möbeln und auch die wachsende Lautstärke der Stimmen. Von<br />
der Dachstube über mir vernahm ich Stimmengewirr und Schüsse, dazwischen hörte ich<br />
meinen Vater in seiner festen, ruhigen Art sprechen und Mutti in ihrem gebrochenen<br />
Russisch immer wieder bittende Worte sagen. Ich ahnte allerdings nicht, dass der Russe,<br />
der meine Eltern anscheinend grob behandelt hatte, sie schützen wollte. Ja, er gab meinem<br />
Vater sogar Zigaretten und sagte: „Ich schäme mich für mein Russland, Vater!“ Um seine<br />
Einstellung vor seinen Kameraden zu verbergen, schrie er ab und zu laute Schimpfworte.<br />
Von draußen tönte das Zirpen der Grillen in hundertfältigem Chor zu mir herein. Aber auch<br />
das Schnauben der Pferde und die harten russischen Zurufe von Reitern vor meinem<br />
Fenster, und dann wurde die Tür zu meinem Zimmer aufgestoßen und mit hoch erhobener<br />
Kerze, den Revolver schussbereit, polterte ein Russe ins Zimmer, hinter ihm drängten vier<br />
andere nach. Die Stube wurde abgeleuchtet und ich empor gerissen. Es wurde nach der<br />
„Tochter des Priesters“ gesucht. Ich stand <strong>als</strong> mummelnde Alte ganz krumm vor den<br />
Soldaten, das Tuch tief über das mit Ruß verschmierte Gesicht gezogen. Einer stieß mir den<br />
Revolver ins Gesicht: „Ich Dich totschießen“ schrie er immer wieder. Ein anderer hob schon<br />
sein Gewehr zum Schlage, da lenkte sie ein klirrendes Geräusch ab. Von einem Soldaten<br />
97
war mein Medikamentenkoffer gefunden und ausgeschüttet worden. Unter wieherndem<br />
Gelächter trampelten die schweren Stiefel Flaschen, Ampullen, Salbennäpfe und<br />
Pillenschachteln zu Staub und Brei. Ich hätte losheulen können. Während die Kerle noch<br />
tobend auf allen Vieren herumkrochen, Wäsche und Kleidung herumwarfen, sah ich, wie<br />
einer der Soldaten sich vor die Kinder stellte und fast unmerklich die anderen nicht an sie<br />
heran ließ. Er rief mich laut mit Babuschka (Großmutter) an und gab mir ein Zeichen,<br />
Dagmar aus dem Wäschekorb zu nehmen, der ihr <strong>als</strong> Bettchen diente. Ich hob das Kind<br />
empor und sah mit Entsetzen, wie einer mit dem Gewehrkolben herumschlug. Auch das<br />
Stroh der Kinderlager wurde grob durchwühlt. Da erwachte Dagmar auf meinem Arm und<br />
sagte, noch vom Traum umfangen: „Siehst Du den großen Engel, Mutti?“ Bei diesen Worten<br />
meines Kindes wich alle Angst von mir.<br />
Die Russen tobten noch lange in unserem Haus herum, aber keinem von uns war ein Leid<br />
geschehen. Nur die Unordnung im ganzen Hause war unbeschreiblich. Wir wagten aber<br />
nicht, uns hinzulegen und hofften auf die Morgenstunden, denn so ab vier Uhr gab es<br />
meistens Ruhe. Aber noch war es nicht soweit. Ach, und dann hörten wir wieder Schüsse<br />
und das dumpfe Geräusch von aufschlagenden Pferdehufen. Jetzt drängten nur zwei<br />
Männer <strong>als</strong> nächtliche Gäste zu uns herein. Der eine war Deutscher und Dolmetscher, ein<br />
widerlicher Mensch, der andere ein Russe mongolischer Rasse. Erst gab er sich <strong>als</strong><br />
Frauenarzt aus, der uns auf Krankheiten untersuchen müsste. Nach unserem Sträuben<br />
behauptete er, ein Polizist zu sein und verlangte unsere Pässe, die wir ihm natürlich nicht<br />
zeigten. Sigrid reichte ihm dafür ihre Kleiderkarte, die er zufrieden betrachtete und dick mit<br />
Stempeln versah. Wir entdeckten später, zu unserem Vergnügen, dass es ein Stempel aus<br />
einer Marmeladenfabrik war. So betrogen wir uns gegenseitig. Wir mussten uns trotzdem an<br />
die Wand der Reihe nach aufstellen, und wild gestikulierend bedrohte er uns mit<br />
Erschießen. Nach vielem hin und her wollte er uns alle verhaften. Ich flüsterte Sigrid zu: „Der<br />
Kerl hat einen musikalischen Hinterkopf, lass uns singen.“ Und wir sangen zweistimmig das<br />
russische Wiegenlied:<br />
„Spi mladenez, moj prekrassnij,Bajuschki baju.....<br />
(Schlaf, mein Kind, du schönstes, schlafe)<br />
Bei den ersten Tönen des Liedes duckte sich der Soldat Pjotr und sah uns lauernd an,<br />
schlug sich dann lachend auf die Schenkel, riss uns die Tücher vom Kopf und sang und<br />
trillerte alle Verse mal tief, mal hoch mit. Er hatte an unseren Stimmen erkannt, dass wir jung<br />
waren. Nach dem Lied küsste er uns herzhaft ab und brachte uns in temperamentvoller<br />
Ausgelassenheit Schnaps und Fleisch. Mutti kochte und schmorte nach russischer Art. Der<br />
Dolmetscher stand devot und unzufrieden da und versuchte Pjotr etwas zuzuraunen.<br />
Daraufhin nahm Pjotr unser Ellchen aus der Gemeinde meines Bruders gutmütig lachend<br />
abseits und machte ihr klar, dass sie ins Gefängnis müsste, es würde ihr dort gut gehen.<br />
Danach tanzte er Kasatschok (russ. Tanz), dass seine Beine nur so wirbelten, sang<br />
Gassenhauer und Spottlieder auf Hitler und war bester Stimmung. Gegen Morgen küsste er<br />
uns schallend und versprach, bald wieder zu kommen. Er nahm aber völlig unerbittlich das<br />
arme Ellchen auf sein Pferd und verschwand mit seinem Dolmetscher. Zum Glück kam<br />
EIlchen bald wieder. Sie hatte in einer Gefängnisküche Dienst machen müssen, es war ihr<br />
nicht schlecht ergangen.<br />
98
Tataren<br />
Eines Tages wurde Mackensen von einem Tatarenregiment überflutet. Um Haus und Hof<br />
wimmelte es bald von geschmeidigen, schlitzäugigen Mongolen. Wagen über Wagen, von<br />
flinken kleinen Pferden gezogen, mit typischem KrummhoIz im Gespann, machten Halt und<br />
bald begann ein wildes Lagerleben vor unseren entsetzten Augen. Dila und Ellchen wollten<br />
in ihrer Panik planlos ins Moor laufen, dann aber brachten wir sie, ihre alten Eltern und alle<br />
Kinder in die kleine Dachstube und verbargen uns selbst, so gut wir konnten. Nur mein Vater<br />
und meine Mutter blieben vor der Haustüre und hofften, uns Schutz bieten zu können. Sie<br />
kamen auch mit einem Tatarenoffizier ins Gespräch, der ihnen riet, unsere Sachen und uns<br />
selbst in Sicherheit zu bringen. Darauf schrieb er auf ein Plakat an die Bodentür: „Typhus!“<br />
und stellte zwei seiner Soldaten <strong>als</strong> Wache davor.<br />
Das war auf dem kleinen Dachboden ein Gedränge! Wir machten uns weitere Löcher ins<br />
Dach, um das kriegerische Tartarenschauspiel besser beobachten zu können. Es waren für<br />
uns spannende und aufregende Nächte, denn wer garantierte uns, dass wir vor diesen<br />
halbwilden Tatarenmassen geschützt waren? Aber es geschah uns nichts. Im Dorf selbst<br />
ging es leider nicht so gut ab. Wir hörten später, dass der Offizier, auf der Bodentreppe<br />
sitzend, uns in diesen Nächten selbst bewacht hatte.<br />
Es kam ein unvergesslicher Tag. Deutsche Kriegsgefangene wurden durch Mackensen<br />
getrieben und auf einem Gut untergebracht. Dieser Anblick war erschütternd. Ich musste an<br />
Napoleons geschlagenes Heer von 1812 denken. Verwundete humpelten elend dahin, wir<br />
sahen Männer mit durchgebluteten Kopfverbänden, Arme in der Schlinge und auf Krücken.<br />
Die Russen ritten neben den Gefangenen her, schlugen auf sie ein und brüllten dazu auf<br />
ihre primitive, rohe Art. Wir winkten heimlich, wurden aber fortgejagt. Und doch standen an<br />
Zäunen, an Fenstern und am Straßenrand weinende, winkende Menschen. Mit einmal<br />
schrie eine Frau laut auf und stürzte sich unter die Kriegsgefangenen. Sie hatte ihren Mann<br />
erkannt. Der begleitende Offizier, an sich <strong>als</strong> grober Mensch bekannt, gab dem<br />
Kriegsgefangenen für einige Tage Urlaub fürs Wiedersehen. Der Slawe ist in seiner<br />
Mentalität völlig unberechenbar, im Guten wie im Bösen.<br />
Seit diese zerschlagenen, wehrlosen Gefangenen in Mackensen eingezogen waren,<br />
begann für die deutsche Bevölkerung eine spürbare Erleichterung ihrer Lage. Wir konnten<br />
ziemlich unbelästigt schlafen, die Bauern zeigten sich, wenn auch zögernd, auf ihren<br />
Feldern. Natürlich hatte keiner Pferde, auch die landwirtschaftlichen Maschinen waren<br />
geraubt. Schaufel und Hacke, Sense und Sichel traten wieder in Aktion. In ihren Gärten<br />
zeigten sich zaghaft die Menschen. Auch wir holten unsere bescheidene Ernte aus Feld und<br />
Garten. Scharenweise rückten neue Truppen von Russen ein, die, auf Mähmaschinen<br />
sitzend, Getreide mähten und, ohne es zum Trocknen aufzustellen, nass fortfuhren. Alle in<br />
Mackensen, besonders die Bauern, sahen das mit Ingrimm. Und nicht nur neue<br />
Russentruppen zogen ins Land ein, sondern auch Zivilpolen, denen enteignete Häuser und<br />
Höfe zugewiesen wurden. Aber keiner der Polen glaubte an ein endgültiges Verbleiben in<br />
der neuen Heimat, denn der Kriegsvertrag war noch nicht unterschrieben und alles<br />
unsicher. Sie hatten weder Lust noch Mut zur Arbeit, bettelten oder bummelten von Haus zu<br />
Haus.<br />
In Lauenburg blühten die Geschäfte langsam wieder auf und der Zloty kam in Umlauf.<br />
Manche Polen spielten sich frech <strong>als</strong> Sieger auf, überfielen Häuser und ließen ihre<br />
99
Rachegelüste an den Deutschen in gemeiner und auch sadistischer Art aus. Ein alter Pole<br />
machte es sich zu Nutze, <strong>als</strong> ich einmal mit meinen Eltern allein im Haus war. Er war ein<br />
vierschrötiger, brutal aussehender Mann, stürzte sich auf mich, aber ich konnte mich nach<br />
einem heftigen Kampf ihm entwinden und ihm einen Fußtritt geben, so dass er einen<br />
Augenblick das Gleichgewicht verlor. Diesen Moment nutzend, floh ich in den Keller. Da saß<br />
ich mit eingezogenem Kopf unter der offenstufigen Stiege. Ich kam mir mitsamt meinem<br />
Herzklopfen recht töricht in diesem dürftigen Versteck vor. Der Pole nahm, wutentbrannt, zu<br />
meiner Verfolgung f<strong>als</strong>chen Kurs und lief die Bodentreppe hinauf. Ich konnte in meiner<br />
Häschenstellung genau vernehmen, wie er fluchend in allen Winkeln des Bodens herum<br />
suchte. Meine Eltern hatten unterdessen vor die Kellertür Mäntel und Kleider gehängt, es<br />
war erstaunlich, dass der Pole an der verhängten Kellertür vorbeilief. Aus Rache zwang er<br />
meinen 70jährigen Vater, der durch geschwollene Beine am Gehen behindert war, einen<br />
vollen Getreidewagen in die obere Luke einer Feldscheune mit einer Heugabel abzuladen.<br />
Er schlug ihn dabei, auch meine Mutter wurde geschlagen.<br />
Trotz dieser und anderer Vorfälle gingen wir keineswegs immer mit Trauermiene herum. Die<br />
Kindergeburtstage wurden, soweit es ging, gefeiert, sogar durch ein kleines Kostümfest.<br />
Dazu hatten wir aus selbst hergestelltem Kartoffelmehl Biskuit gebacken und uns lustig<br />
verkleidet. Den unvermeidlichen Russenbesuch luden wir zu Kaffee und Kuchen ein und<br />
taten sehr vergnügt. Das erweckte bei unserem Gast Missbehagen und Misstrauen. Er<br />
wurde verlegen und verschwand bald.<br />
Eines Morgens in aller Frühe ging ich vor das Haus, um die frische Luft zu genießen. Ich war<br />
sonderlich gekleidet. Ein Russe kam auf mich zu geritten und rief sein „Stoi, stoi, rabotai!“<br />
(Halt, halt, arbeiten!) Zum Weglaufen war es zu spät. Er rief zur Arbeit. Seit einiger Zeit<br />
wurden Deutsche zum Arbeitseinsatz gezwungen. So ging ich, vorsichtig Abstand haltend,<br />
an das Pferd, tätschelte liebkosend den Pferdekopf und bat in buntestem Kauderwelsch,<br />
mich bei den Kindern und alten Eltern zu lassen. Er lachte mich mit weiß blitzenden Zähnen<br />
an und rief: „Djewuschka paschla won.“ (Mädchen, hau ab!).<br />
So durfte ich frei ausgehen und lief schnellstens um das Haus herum, dabei einem zweiten<br />
Arbeitsantreiber vor die Augen. Auch er ließ mich laufen. An diesem Tage mussten<br />
Frauenleichen, die seit Beginn des Russeneinbruchs in der Leba lagen, herausgefischt<br />
werden. Fast alle von uns wurden nun immer wieder zur Arbeit geholt. Sie mussten vor allen<br />
Dingen Eisenbahnschienen ausheben.<br />
Es gab noch sehr viel zu berichten. Wir hatten heimlich Besuch eines deutschen Soldaten,<br />
der sich im Wald verborgen hielt und um Essen bat. Franzosen kamen zu uns und erzählten<br />
ihre Schicksale und anderes mehr. Ein besonderes Ereignis war es für uns, <strong>als</strong> von<br />
Lauenburg her das Pastorenehepaar, mit Rucksäcken versehen, zu uns kam. Sie gingen<br />
über Land, um für die Kranken ihrer Gemeinde ländliche Produkte zu erbitten. Wir gelobten<br />
uns, über die wunderbaren Erfahrungen nicht zu schweigen, sondern, falls wir gerettet<br />
würden, davon zu berichten.<br />
Und nun muss ich von Frau Krischa erzählen, die uns zur kostenlosen Ausreise bis Stettin<br />
verhalf. In Mackensen war ein großer landwirtschaftlicher Besitz, auf dem ein<br />
volksdeutsches Ehepaar Krischa im Schweinestall gearbeitet hatte. Nun, unter den Polen,<br />
nannten sie sich wieder „Polen“. Frau Krischa ernannte sich selbst zur Bürgermeisterin des<br />
Dorfes, verprügelte ihren Mann und ihre zahlreichen Kinder verschiedener Nationalität und<br />
tyrannisierte die deutsche Bevölkerung. Die frühere Gutsbesitzerin, Frau Fritsch, wurde<br />
100
Frau Krischas niedrigste Magd. Diese Bürgermeisterin fand bald heraus, dass wir noch<br />
Wertsachen hatten. Sie war oft bei uns, brachte Eier und versuchte uns auszuhorchen. Wir<br />
wurden von netten Polen, die öfter bei uns waren, dringend vor Frau Krischa gewarnt. So<br />
machten wir uns bereit, aus dem Haus getrieben zu werden. Rucksäcke wurden genäht und<br />
darin das Nötigste gepackt. Auch für die Kinder lagen Rucksäcke bereit. Tante Liesel hatte<br />
zwei Kissenbezüge für sich gepackt, in einem wichtige Kindersachen und im anderen<br />
Flicksachen zum Zurücklassen.<br />
Ausweisung<br />
Der Oktober 1945 neigte sich dem Ende zu. Wir waren dabei, unser verstecktes Getreide<br />
mit Stöcken auszudreschen. Es war primitiv, aber die Arbeit lohnte sich und machte uns<br />
sogar Spaß. Unsere beiden Frauen, Frau Marthe und Frau Hedwig, waren in Lauenburg,<br />
um Zloty gegen gebrauchte Textilien einzuhandeln. Es war ein herrlicher Herbsttag, der uns<br />
allerdings auch an den nahenden Winter gemahnte. Auf einmal war unser Hof voll<br />
polnischer Miliz. Wir mussten alles stehen und liegen lassen und wurden sehr unsanft ins<br />
Haus befördert, um uns in zehn Minuten abmarschfertig zu machen.<br />
Ich raunte Jung-Wittig zu: „Lauf schnell zum russischen Kommandanten und melde ihm den<br />
Polenüberfall“. Er sprang flink aus dem Fenster und flitzte ab. Russen und Polen waren<br />
Verbündete, aber sie hassten sich gegenseitig. Ab und zu gelang es uns, wenn Polen uns<br />
belästigten, die Russen <strong>als</strong> „Retter“ zu rufen. Umgekehrt allerdings auch. Die Russen hatten<br />
aber die größere Machtstellung.<br />
Jetzt hieß es kaltblütig sein und nicht den Kopf zu verlieren. Ich konnte weder das eine, noch<br />
das andere, da ein Pole mit erhobenem Revolver vor mir stand und mich nicht aus den<br />
Augen ließ. Dadurch war meine Bewegungsmöglichkeit sehr begrenzt. Verständigen<br />
konnten wir uns nicht, da er nicht Deutsch und ich nicht polnisch sprach, während mein<br />
Vater, der die polnische Sprache beherrschte, auf die Polen einsprach und versuchte, die<br />
Zeit unseres erzwungenen Aufbruchs herauszuschieben. Ich hatte mich langsam zu einem<br />
Kachelofen hingeschoben, in dessen Heizöffnung ich Geld und einige Schmucksachen<br />
versteckt hatte.<br />
Auch konnte ich meinen gesteppten roten Morgenrock über mein Dirndl ziehen und mein<br />
Kopftuch umbinden. Dabei gelang es mir unbemerkt, <strong>als</strong> ein anderer Pole meinen<br />
Revolvermann ansprach, meine Wertsachen aus dem Ofen zu nehmen und in meine<br />
Tasche gleiten zu lassen.<br />
Ich glaube, es war erlaubt, pro Kopf 30-40 Pfund Gepäck mitzunehmen, dazu für jeden<br />
Erwachsenen eine Decke. Ich wählte eine Pelzdecke, die meiner Schwägerin Hertha<br />
gehörte und hoffte, diese für sie retten zu können, was mir auch gelang. Tante Liesel zog<br />
Dagmar an, die ausgerechnet an diesem Tag hohes Fieber hatte. Volker und Editha<br />
mussten sich selbst helfen.<br />
Auf dem Herd kochte unser Mittagessen. Der Duft der köstlichen Erbsensuppe zog in<br />
unsere Nasen, aber wir durften sie weder essen, noch mitnehmen. Sigrid gelang es, eine<br />
Terrine voll frisch gekochtem Sirup unter ihren Mantel zu schieben, sonst hatten wir, außer<br />
Brot, keinerlei Proviant mit.<br />
101
Die Polen stießen uns mit den Gewehrkolben gewaltsam aus dem Haus und Jung-Wittig<br />
war noch immer nicht zurück! Dagmar setzte sich in den kleinen Handwagen, den sich die<br />
Kinder für ihre wilden Russenspiele angefertigt hatten. Tante Liesel war noch von ihrer<br />
schweren Krankheit schwach und bebte vor Aufregung. Sie schleppte sich mit dem f<strong>als</strong>chen<br />
Sack ab, der nur mit wertlosem Zeug angefüllt war. Das merkten wir aber erst später. Volker<br />
hatte sein Köfferchen mit kindlichen Wichtigkeiten nicht mitnehmen dürfen und trauerte<br />
diesem Verlust sehr nach. Auch Jung-Wittigs Rucksack durften wir nicht mitnehmen.<br />
Dieser denkwürdige Tag war ein Samstag. Zum Sonntag hatten wir Bonins zum<br />
Gottesdienst und anschließendem Mittagessen eingeladen. Dass wir diese Freunde so<br />
enttäuschen mussten, bedauerten wir sehr. Sie sind erst 1957 von Pommern in den Westen<br />
gekommen. Und wie schrecklich würde die Rückkehr von Lauenburg für Frau Marthe und<br />
Frau Hedwig sein! Um ein Haar hätten wir Jung-Wittig während unseres letzten Besuchs in<br />
Darsä für einige Tage bei Bonins gelassen.<br />
Als wir schon ein Stück Weges hinter uns hatten, drehte ich mich noch einmal nach<br />
unserem kleinen Haus um, dass uns über ein halbes Jahr Asyl geboten hatte. Es lag<br />
hochgieblig da und sah im bunten Herbstlaub direkt unschuldig, wie aus einem Bilderbuch,<br />
aus. Ich war erleichtert, dass wir weder Pferde, noch sonstige Tiere zurück lassen mussten<br />
wie in Mertensdorf . Die hinterlassenen Sachwerte waren unwichtig geworden. Unser<br />
großer Planwagen stand auf drei Rädern, schief und viel zu groß für den kleinen Hof,<br />
aufgebockt da. Mein Bruder hatte ein Rad abgenommen und tief im Torfschuppen<br />
vergraben, um den Wagen vor Russen- und Polenraub zu schützen. Ich winkte dem Wagen<br />
mit den Augen ein Lebewohl zu: Ein letztes Stück Mertensdorf. Die Sorge um Jung-Wittig<br />
zerriss mir das Herz.<br />
Die alten Eltern von Dila und Ellchen humpelten, von ihren Töchtern gestützt, mühsam<br />
dahin. Sie klagten und weinten nicht, obgleich die Polen ohne Rücksicht ihre Kolbenstöße<br />
verteilten. Die Kinder allerdings wurden von diesen Grausamkeiten verschont. Frau Krischa<br />
stand am Straßenrand, umsprungen von einigen ihrer verwahrlosten Kinder. Zwei dieser<br />
Kinder stießen Dagmar aus dem Wägelchen und entrissen ihn ihr. Sie fuhren mit lautem<br />
Siegesgeschrei ab. Schnell nahm ich mein Kind auf. Dagmar klopfte sich die Hände sauber<br />
und fand es auf meinem Arm viel schöner, <strong>als</strong> im unbequemen Wägelchen. Die Augen<br />
glänzten fiebrig und sie bestürmte mich mit vielen erwartungsvollen Fragen, in der<br />
Hoffnung, dass es wieder nach Mertensdorf ginge. Wie auch meine anderen Kinder immer<br />
voll Sehnsucht und Schmerz an die Heimat dachten und mich mit ihren Fragen bedrängten.<br />
Sigrid flüsterte mir heimlich zu, dass sie sich mit Dietrich verstecken würde, um auf Jung-<br />
Wittig zu warten, da ich es mit den kleinen Kindern nicht konnte. Sie rief noch leise: „Grüß<br />
mir die Eltern.“ Bei einer Wegbiegung im Walde konnten sie sich auch wirklich in einem<br />
dichten Gesträuch verbergen. Wir gingen bewusst ganz langsam vorwärts. Was waren wir<br />
für ein klägliches Trüpplein! Die Polen schrien, stießen uns grob und bedrohten uns mit<br />
Schreckschüssen. Wenn ich wartend stehen bleiben wollte, drohten sie mir mit Erschießen.<br />
So ging ich, im Rücken den Revolver, so langsam wie es mir möglich war, vorwärts, immer<br />
in der Hoffnung, dass Jung-Wittig käme.<br />
Meine Mutter musste ihrem Herzen irgendwie Luft machen und wollte wohl auch die Polen<br />
ärgern, denn sie stimmte das Lied an: „Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus.“<br />
Natürlich versetzte ihr ein Pole einige Schläge und fluchte: „Schakrev!“ Mutti sang aber<br />
unbeirrt weiter, ja plötzlich sangen wir alle mit, denn russische Reiter kamen in scharfem<br />
102
Galopp hinter uns her, zügelten die Pferde und schrien die Polen an, die plötzlich kleinlaut<br />
wurden, und ohne weitere Grobheiten neben uns her marschierten.<br />
Und nun kamen auch Sigrid, Dietrich und Jung-Wittig angelaufen. Jung-Wittig war auf dem<br />
Weg zur Kommandantur durch polnische Jungs aufgehalten worden, die ihn mit Steinen<br />
und Stöcken beworfen hatten; einer Rauferei konnte er sich zum Glück entziehen. Auf der<br />
russischen Kommandantur hatte er sich einen Dolmetscher erbeten und mit allen Zeichen<br />
höchster Erregung erklärt, dass Eile wichtig wäre. Die Worte „Polen und Miliz“ hatten das<br />
Wunder bewirkt, dass zwei Russen den Befehl erhielten, uns zu helfen.<br />
Das Wetter war klar und warm, es roch nach Herbstlaub und Pilzen. Die Kinder liefen trotz<br />
ihrer Rucksäcke munter hin und her. Editha schwitzte fürchterlich. Sie hatte sich, praktisch<br />
wie sie war, Mäntel, Kleider und Wäsche doppelt, sogar dreifach übereinander gezogen und<br />
sah wie ein ausgestopftes Sofakissen aus. Was Editha zu viel anhatte, hatte Jung-Wittig zu<br />
wenig an, der lang und dünn neben ihr her ging, ihren Rucksack tragend. Spannenlanger<br />
Hansel, nudeldicke Deern ... Leider fehlten uns in diesem Lied die so lecker dargestellten<br />
Birnen, denn Durst und Hunger begannen sich zu melden. Aber meine früher so sorgfältig<br />
verpimpelten Kinder erwiesen sich <strong>als</strong> gehärtet und waren sehr tapfer.<br />
Als wir auf die Lauenburger Chaussee kamen, wurden wir auf einen Leiterwagen geladen,<br />
der schon voll von Flüchtlingen und Polen war. Ein älterer, netter Pole bat mich, ihm von<br />
unseren zurück gebliebenen Sachen einiges zu verkaufen. Ich machte ihm klar, wie<br />
aussichtslos dieser Kauf wäre, da Frau Krischa bestimmt bereits alle unsere Sachen<br />
beschlagnahmt hätte. Das erwies sich auch <strong>als</strong> richtig. Unser Mertensdorfer<br />
Stubenmädchen Anna Quitsch war durch eigenartige Zufälle in das Haus von Frau Kritsch<br />
und dadurch in die Hände von Frau Krischa geraten. Sie fand dort unsere Sachen wieder,<br />
von meinem Pelz, den Frau Krischa trug, bis zum gravierten Silberbesteck. Trotzdem schob<br />
mir der Pole die Zlotys zu und erzählte aus seinem Leben und von dem mühsamen<br />
Neuanfang.<br />
Unser kostbarer Sirup schwappte immer wieder über und Sigrid und ich, die wir uns im<br />
Halten der unhandlichen Schüssel ablösten, klebten bald scheußlich. Dadurch kam ich auf<br />
den Gedanken, meinen Rucksack mit Sirup zu beschmieren und hoffte, ihn so vor<br />
Plünderungen zu bewahren.<br />
Lauenburg<br />
In Lauenburg auf dem Bahnhof kehrten unsere russischen Beschützer wortlos um, und wir<br />
waren wieder den Polen ausgeliefert. Wahllos stieß man uns in verschiedene Waggons.<br />
Sigrid rief angstvoll: „Wir müssen zusammen bleiben!“, worauf der polnische Bahnbeamte<br />
höhnisch schrie: „Diese Dreckdeutschen wollen wohl erster Klasse fahren.“ In dem wilden<br />
Durcheinander gelang es uns aber doch, gemeinsam in einen Wagen hineinzukommen.<br />
Doch nun wurde Wolfram ergriffen und von uns fortgeholt. Sollte er verhaftet werden? Wir<br />
fürchteten schon, ihn niem<strong>als</strong> wieder zu sehen und atmeten auf, <strong>als</strong> er unversehrt einstieg.<br />
Er hatte unter Bedrohung des Erschießens aussagen müssen, wo das versteckte Rad<br />
unseres Wagens wäre. Glücklicherweise begnügten sie sich mit der Angabe meines<br />
Bruders.<br />
103
Im Zug fanden wir richtige Bänke zum Sitzen. Unsere Miliz blieb zurück und andere stiegen<br />
ein. Es wurde laut verkündet, dass wir nun alle im Schutz der polnischen Miliz bis Stettin<br />
fahren würden. Das klang sehr beruhigend. Wir begannen gemeinsam ein Lied zu singen,<br />
erhielten aber Befehl, uns ruhig zu verhalten. Wir waren noch keine freien Menschen, das<br />
merkten wir leider nur zu bald.<br />
Der Zug fuhr ab, ungemütlich aussehende Strolche stiegen in unseren Wagen und<br />
begannen zu plündern. Mein Rucksack wurde von jedem, der danach griff, mit einem Fluch<br />
oder Fußtritt bedacht. Der Sirup tat seine Pflicht und ich freute mich darüber. Die Felder, an<br />
denen wir vorbeifuhren, lagen unbestellt und wüst da.<br />
Belgard<br />
In Belgard mussten wir aussteigen. Wir konnten uns eine Kanne mit einem Getränk<br />
besorgen und tranken auch mit Genuss Wasser aus der Bahnhofspumpe, ohne Rücksicht<br />
auf die Typhusgefahr. Die polnische Bevölkerung umringte uns und wollte Sachen von uns<br />
kaufen. Mein Morgenrock wurde von vielen Händen befühlt, die Seide an die Wange<br />
gehalten und bestaunt. Dagmars Käthe-Kruse-Puppe gewann, trotz des von den Russen<br />
eingetretenen Kopfes, die Kinderherzen. Doch Dagmar wollte sich nicht von ihrem Kind<br />
trennen. Dafür hatte ich aber noch einen guten Kleiderstoff, den ich verkaufen konnte.<br />
Sogar unsere Schuhe wollten sie haben.<br />
Gegen Abend mussten alle deutschen Flüchtlinge sich längs des Bahnsteigs lagern. Die<br />
Miliz mit Gewehr bei Fuß stand in regelmäßigen Abständen <strong>als</strong> lange Kette vor uns. Wir<br />
wickelten uns in unsere Decken und kauerten uns alle eng aneinander gedrängt hin. Das<br />
Gepäck aller Deutschen bestand, so wie bei uns, aus selbst genähten Rucksäcken,<br />
Brotbeuteln, Säcken und Ballen. Eine junge Frau mit einem nett angezogenen Baby im<br />
Kinderwagen, sie selbst mit dickem Mantel und Mütze, fiel uns auf. Wir baten sie, sich zu<br />
tarnen, leider umsonst, sie wollte in Stettin nicht schäbig und hässlich ankommen.<br />
Als die Dunkelheit hereingebrochen war, stiegen wüste Kerle zwischen den Flüchtlingen<br />
herum. Es ging fast lautlos vor sich. Sie blendeten uns mit Taschenlampen an, rissen<br />
Frauen aus den Reihen und zerrten die Ärmsten mit sich fort. Bald hörte man gellende<br />
Hilferufe und da war es wieder, das beklemmende Gespenst des Grauens. Es schnürte mir<br />
den Atem ab.<br />
Dagmar schlief fest. Das Köpfchen fühlte sich kühl an, sie schlief sich wohl gesund.<br />
Jung-Wittig stieß mich an, er musste austreten. Nun war guter Rat teuer. Ich legte Dagmar<br />
in Tante Liesels Arme und nahm Jung-Wittigs Hand. In geduckter Haltung, das Tuch tief ins<br />
Gesicht gezogen, krochen wir durch die Menschenmenge, die teils schlief, teils ängstlich<br />
flüsterte. Kinder plärrten kraftlos. Mein Herz raste, denn die Schreie von den vergewaltigten<br />
Frauen, oft kinderjungen Mädchen, gellten mir entgegen. Da griff eine feste Hand meinen<br />
Arm und hielt mich zurück. Vor mir stand einer der wachhabenden Soldaten und sagte leise:<br />
„Vorsicht Frau, hier nicht gut, sehr böse für Frau, ich mitgehen.“ Er behielt meinen Arm<br />
umfasst und führte uns, zur Eile mahnend, in die Dunkelheit. Als er uns wieder an unseren<br />
Platz zurückgebracht hatte, nahm ich schnellstens Deckung hinter den Rücken meiner<br />
Eltern.<br />
104
Es muss am späten Nachmittag des nächsten Tages gewesen sein, <strong>als</strong> endlich ein<br />
Güterzug einfuhr. Er war schon überfüllt. Jeder versuchte einen Platz zu erringen. Alte,<br />
Kinder und Gepäck wurden hochgehoben und mühsam hinein geschoben. Es war ein Rufen<br />
und Flehen und aufgeregtes Hetzen. Auch uns gelang es, uns gegenseitig hebend und<br />
ziehend, gemeinsam einen Viehwagen zu erobern. Wir waren kaum drin, <strong>als</strong> der Zug<br />
abfuhr. Auf dem Bahnsteig blieb eine aufgeregt schreiende Menge zurück. Wir standen im<br />
Zug eingeklemmt, eine einzige Masse Mensch. Ich hielt Dagmar auf dem Arm, umfallen<br />
konnte ich nicht, obgleich ich nur auf einem Bein stand, aber auch kaum atmen.<br />
An den Wänden entlang saß auf den Bänken polnische Bevölkerung. Auch vor den breiten<br />
Schiebetüren waren Bänke geschoben, auf denen sich grell geschminkte Polenweiber breit<br />
machten. Wir mussten möglichst einen halben Meter Abstand halten. Über die Köpfe der<br />
Menge hinweg konnte ich meine Eltern, Sigrid und Dietrich entdecken, die am<br />
entgegengesetzten Wagenende standen. Die Kinder waren in Hockstellung zwischen den<br />
Beinen der Menschen eingeschlafen. Jung-Wittig schlief sogar im Stehen. Sein Kopf fiel<br />
dabei gegen eine der Polinnen. Sie schlug ihm ins Gesicht und schrie. „Deutsche Schwein,<br />
du mich dreckig machen!“<br />
Leider mussten die Kinder immer wieder mal ... und die Erwachsenen auch. Das war bei der<br />
Enge ein Problem. Wir erhielten von irgendwem eine Blechdose und mussten diese an den<br />
„Polendamen“ vorbei durch die Tür ausschütten. Das gab jedes Mal ein Gekreische und<br />
empörtes Gejohle: „Germanskaja Kultura!“<br />
Im Laufe der Fahrt stiegen allmählich fast alle polnischen Mitreisenden aus, so dass wir uns<br />
ein wenig ausbreiten konnten. Der Zug trug uns weiter und weiter, und trotz der drangvollen<br />
Enge und der nun immer wieder hineindrängenden Plünderer wuchs die Hoffnung auf<br />
Freiheit. So wurde es Nacht. An jeder Haltestelle drängten sich unheimliche Vagabunden in<br />
den Wagen.<br />
Zwischen Stargard und Scheune<br />
Zwischen Stargard und Scheune blieb der Zug auf freier Strecke stehen und stand. Nun<br />
begann die Hölle. Markerschütterndes Geschrei pflanzte sich von Wagen zu Wagen fort.<br />
Brutal aussehende Männer kletterten mit brennenden Taschenlampen zu uns herein. Sie<br />
drängten uns in die Mitte zusammen. Ein Pfiff ertönte und sie stürzten sich auf uns. Eine<br />
Panik brach aus. Alle schrieen und ich schrie mit. Als aber ein Pole vor mir stand,<br />
verstummte ich erschrocken. Tante Liesel schob sich schnell zwischen uns. Ich duckte<br />
mich, kroch an den Beinen entlang zu den Kindern. Diese setzten sich, mich verbergend,<br />
auf mich drauf. Der Pole hatte den Wechsel erst bemerkt, <strong>als</strong> er mit der Taschenlampe<br />
Tante Liesel ins Altmütterchengesicht leuchtete. Das Geschrei im Wagen schwoll laut an.<br />
Das Gewicht der drängenden Menschen erdrückte uns fast. Nun brachen auch alle Kinder<br />
im Wagen in helles Jammergeschrei aus. Halbwüchsige Jungen sprangen von draußen<br />
herein und krochen flink zwischen unseren Beinen herum. Sie zogen den Menschen die<br />
Schuhe aus und zerrten die Kleider herunter. Dabei schlugen sie mit Stöcken um sich. Die<br />
Plünderware wurde aus dem Zug geworfen und dort geschickt und schnell aufgefangen. Es<br />
war eine organisierte Verbrecherbande, einschließlich des gesamten Bahnperson<strong>als</strong>. Auch<br />
Frauen wurden aus dem Zug gezerrt. Ihre lauten Hilferufe gellten zu uns herein. Endlich<br />
105
uckte die Lokomotive an und fuhr langsam weiter. Würde diese lange Nacht denn nie ein<br />
Ende nehmen? Wohl graute der Morgen, aber die Hölle ging weiter.<br />
Es war soviel der Schrecken auf mich eingedrungen, dass ich keine Kraft mehr zu Furcht<br />
und Mitleid verspürte. Ich hörte, dass ein Mann aus dem fahrenden Zug hinausgestoßen<br />
wurde, sah wie zwei Kerle meinen Bruder gleichfalls zur geöffneten Tür stießen und ihn<br />
auszogen. Als ich Sigrids Ruf hörte: „Papi wird ermordet!“, war ich mit einem Mal hellwach.<br />
So schnell ich konnte, stieß ich mich zu Sigrid hin. Mutti wurde von einem Polen<br />
festgehalten, ich sah ihr schneeweißes Gesicht. Sigrid kämpfte mit einem Polen, der<br />
meinen Vater würgte und ihn ebenfalls aus dem fahrenden Zug werfen wollte. Sie hatte<br />
diesem Mann schon ein Messer entwinden können und fortgeworfen. Nun versuchte sie, die<br />
Aufmerksamkeit auf sich und ihre zerrissenen Schuhe zu lenken, und es gelang ihr.<br />
Ich zog meinen Vater, der halb bewusstlos war, aus dem Gefahrenbereich in die<br />
Menschenmenge hinein. Er sah mich mit fremden, starren Augen an und sagte mühsam:<br />
„Ellen, glaubst Du, dass Christus auch hier bei uns ist?“ Ich konnte mit fester Stimme<br />
antworten: „Ja, ganz bestimmt! Er ist bei uns!“ Mutti rief immer wieder angstvoll: „Lebt Papi?“<br />
Ja, er lebte und keinem von uns war etwas Ernstliches zugestoßen. Wolfram hatte sich<br />
sogar seine Kleider und Aktentasche zurückerobert.<br />
In einer Wagenecke saß ein gut gekleideter Pole mit eiskaltem Gesichtsausdruck. Es war,<br />
<strong>als</strong> ginge ihn das Chaos, das sich vor seinen Augen abspielte, nichts an. Als aber ein Kerl<br />
sich Dilas bemächtigen wollte, und sie mit ihm kämpfte, fiel ihr Schmuck, den sie in ein<br />
Taschentuch eingewickelt hatte, zu Boden. Ganz überraschend stellte sich der vornehme<br />
Pole vor sie hin, zog einen Revolver und vertrieb die Angreifer. Danach öffnete er seinen<br />
Koffer und gab uns zu essen. Das war ein Lichtblick.<br />
In dieser Nerven zerreißenden Dramatik ging die Reise unter dem proklamierten Schutz der<br />
Miliz bis kurz vor Stettin weiter. Hier mussten wir alle aussteigen. Es bot sich uns ein<br />
trauriger Anblick. Männer, meist nur in Hemd und Unterhose, ohne Schuhe, halbnackte<br />
Frauen, ermattete Kinder, zerrauft und schmutzig, kletterten aus dem Zug. Die junge, nett<br />
gekleidete Mutter, die wir in Belgard gewarnt hatten, war nur noch in Schlüpfern. Sie hielt ihr<br />
Kind in die Höhe und schrie schrill und hysterisch. „Ich habe nur noch mein nacktes Kind, oh<br />
Gott, oh Gott, oh Gott!“<br />
Wir durchsuchten unseren Wagen, ob noch etwas von unseren Sachen zu finden wäre. Ich<br />
fand einige Kinderfotos, die, wenn auch verschmutzt, uns heute noch von großem Wert<br />
sind. Unter einer toten Frau entdeckten wir die Kinderbücher, die meine Mutter in Finnland<br />
1915-1917 gemalt und geschrieben hatte. Diese Bücher sind uns von Finnland über<br />
Petersburg, Estland, Riga, Tilsit bis heute, trotz Revolution und Flucht erhalten geblieben.<br />
Angermünde<br />
Wir mussten uns bald zur Weiterreise nach Angermünde sammeln. Verlaust, verschmutzt<br />
und abgerissen, stiegen wir in einen normalen Personenzug ein. Mir war es wie ein Traum.<br />
Wir waren gerettet! Aber nach der ersten Entspannung spürten wir, wie hungrig und durstig<br />
wir waren. Entlassene deutsche Soldaten, die mit uns im Abteil saßen, hatten die Kinder auf<br />
106
ihre Knie genommen. Sie gaben ihnen aus ihren Feldflaschen zu trinken und plauderten<br />
freundlich mit ihnen.<br />
In Angermünde nahmen wir Abschied von Ellchen und Dila und ihrer Familie. Nach der<br />
langen, schicks<strong>als</strong>schweren Zeit war diese Trennung wie ein Riss. Nun musste jeder mit<br />
sich allein fertig werden.<br />
Hier in Angermünde hörten wir zu unserer Bestürzung, dass Prenzlau von den Russen völlig<br />
niedergebrannt und zu 88% zerstört sei. Die Gruppe eines nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />
Jungsturms hatte aus dem Rathaus geschossen und damit die Kapitulation vereitelt.<br />
Da saßen wir nun völlig erschöpft auf dem Bahnhof und fragten uns, ob eine Weiterreise<br />
nach Prenzlau überhaupt einen Sinn hätte. Zwei junge Männer am Nebentisch hatten unser<br />
Gespräch verfolgt. Das Wort „Prenzlau“ hatte sie aufhorchen lassen. Sie zeigten uns freudig<br />
erregt ihre Reisebescheinigung mit der Unterschrift meiner ältesten Schwester.<br />
Wir erfuhren, dass sie <strong>als</strong> Dolmetscherin in der Bürgermeisterei tätig war. Die jungen Leute<br />
erzählten begeistert von ihrer Hilfsbereitschaft vielen Menschen gegenüber.<br />
Jetzt stand ich vor der Aufgabe, für meine Eltern ein vorübergehendes Quartier in<br />
Angermünde zu suchen, da sie sehr mitgenommen und geschwächt waren. Auch wollte ich<br />
etwas Essbares kaufen. Nach Deutschlands völliger Niederlage hatten wir kein Vertrauen<br />
zu irgendwelchen Ämtern oder Behörden, so suchte ich <strong>als</strong> Tochter meines Vaters<br />
selbstverständlich das Pfarrhaus auf, um Rat zu suchen. Wenn wir dabei auch einige recht<br />
negative Erfahrungen machen mussten, wirkt es in einem so kurz gefassten Bericht etwas<br />
vordergründig. Die Pfarrfrau in Angermünde öffnete vorsichtig einen Spaltbreit die Haustür<br />
und beteuerte, uns nicht helfen zu können. Durch die Türspalte drang uns Essensgeruch<br />
entgegen, der uns schwach werden ließ. Dagmar wisperte: „Mir ist so schlecht, Mutti!“ Als<br />
ich noch um das Kind bemüht war, betrat eine Dame den Hausflur. Mit einem<br />
erschrockenen Ausruf blieb sie vor uns stehen. Während ich mich nach der eben erlittenen<br />
Abfuhr meines Aufzugs und meiner Tränen schämte, umfing sie mich mit Herzlichkeit. Sie<br />
war eine Gräfin v.d. Gröben, mit der wir von Tilsit her bekannt waren. Hier im Pfarrhaus<br />
bewohnte sie <strong>als</strong> Heimatvertriebene ein Zimmer. Nachdem sie mein Anliegen gehört hatte,<br />
lud sie sofort meine Eltern und Tante LieseI zu sich ein und pflegte sie aufs liebevollste und<br />
bewirtete sie.<br />
Nun suchten wir einen Bäckerladen auf, aber zu unserer großen Enttäuschung waren<br />
gerade Lebensmittelkarten aufgekommen, ohne die wir nichts kaufen konnten. Nach dem<br />
Russeneinzug war die Lebensmittelversorgung total zusammengebrochen. Meine Kinder<br />
klagten und weinten vor Hunger.<br />
Eine einfache Frau, die auf ihre Marken Brote gekauft hatte, schob sie mir in den Arm.<br />
Meinen hilflosen Widerspruch nicht beachtend, kniete sie sich zu den Kindern nieder, putzte<br />
und wischte mit ihrer Schürze ihre Augen und Nasen trocken. Kopf schüttelnd sagte sie<br />
immer wieder: „Nein, nein, wo kommt ihr denn nur her, ihr armen Würmerchen!“ Dabei liefen<br />
die Tränen über ihr gutes Gesicht. Wie reich wir zum Bahnhof liefen, kann ich mit Worten<br />
nicht schildern, auch nicht, wie köstlich uns allen das Brot schmeckte.<br />
107
Prenzlau<br />
Es war etwa um zwei Uhr nachts, <strong>als</strong> wir in Prenzlau auf dem völlig zerstörten Bahnhof<br />
ankamen. Mühsam versuchten wir, uns in Schutt und Trümmern der Straßen<br />
zurechtzufinden. In den leeren Fensterhöhlen wohnte das Grauen. Wir kamen uns vor wie in<br />
einer Totenstadt. Unsere Schritte schlürften und klapperten hart und laut in die Stille hinein.<br />
In der Brüssower Straße, wo früher meine Geschwister wohnten, fanden wir nur<br />
ausgebrannte Häuser. Unser Familienruf hallte erst zaghaft, dann lauter werdend, in die<br />
Nacht hinein. Irgendwoher aus den Trümmern mahnte uns erschrocken eine Frau zur Ruhe,<br />
denn nach 22 Uhr durfte sich keiner auf der Straße zeigen. Mit verhaltener Stimme rief sie<br />
uns die Adresse unserer Geschwister zu und erklärte uns den Weg dahin. Nun steigerte<br />
sich unsere freudige Erregung und Erwartung. Wir begannen, ungeachtet der Warnung, in<br />
unserer Vorfreude laut zu sprechen, bis ein wachhabender russischer Soldat mit<br />
erhobenem Gewehr auf uns zulief. Er wollte uns gleich zur Wache mitnehmen, begleitete<br />
uns aber schließlich unter Drohungen bis zum Haus meiner Schwester.<br />
Trotz der Flüche des Russen riefen wir laut. Ein Fenster öffnete sich, und in ihrer freudigen<br />
Überraschung fanden meine Schwestern, Editha und Irene, natürlich den Hausschlüssel<br />
nicht gleich. Wer kann so ein Wiedersehen beschreiben! Wir fünf Geschwister und alle<br />
unsere Kinder lagen sich schluchzend und lachend in den Armen.<br />
Nachdem wir uns alle gründlich abgeschrubbt, die Schwestern uns mit Grütze und Tee<br />
bewirtet hatten, lagen unsere Kinder gemeinsam auf den primitiven Lagern. Die<br />
gleichaltrigen Editha und Gisela, schon von Mertensdorf eng befreundet, erzählten sich<br />
endlos ihre Erlebnisse. Auch die anderen Kinder hatten rote Wangen und Ohren und blanke<br />
Augen, bis der Schlaf sie ins Reich der Träume sinken ließ.<br />
Als meine Eltern am nächsten Tag mit Tante Liesel eintrafen, waren sie mit ihren Kindern<br />
und Enkeln nach allem schweren Erleben vereint. Von unseren Männern wussten wir<br />
Schwestern noch nichts. Wir waren zwanzig Personen in zwei Zimmern.<br />
Ende April hatten meine Schwestern aus Prenzlau fliehen müssen, erlebten den<br />
Russeneinbruch in seiner ganzen Heftigkeit, ähnlich wie wir. Sie erfuhren aber auch<br />
herrlichste Gebetserhörung.<br />
An sich durften wegen der Typhusgefahr keine Flüchtlinge länger <strong>als</strong> 24 Stunden in der<br />
Stadt bleiben. Meine Schwester hatte <strong>als</strong> Dolmetscherin die Plakate, die an den Bäumen<br />
und Ruinen klebten, in verschiedenen Sprachen selbst geschrieben. Mit einiger Raffinesse<br />
erreichte sie, dass wir alle die Aufenthaltsgenehmigung und Lebensmittelkarten erhielten.<br />
Diese kurze Zeit des Zusammenlebens war trotz der Enge wie ein Rausch des Glückes.<br />
Der erste Gottesdienst, den mein Vater in dieser heimgesuchten Stadt hielt, stand unter<br />
dem Motto: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Er brachte bei gemeinsamem Gesang und Gebet<br />
unseren Dank und unser Lob zum Ausdruck. Dieses Lied stand, in Stein gemeißelt, im<br />
Sockel des Lutherdenkm<strong>als</strong>, das neben dem ausgebrannten Dom aus Schutt und Asche<br />
unversehrt emporragte.<br />
In den Häusertrümmern fanden wir unter anderem eine alte Decke, aus der Volker einen<br />
Trainingsanzug erhielt, und für Irene und mich braune, gesteppte Russenkittel, die wir nach<br />
108
gründlichem Auskochen mit bunten Gürteln und H<strong>als</strong>tüchern <strong>als</strong> Kleider trugen. So, wie wir<br />
auch aus einer gefundenen Bibel unsere täglichen Andachten hielten.<br />
Meine Schwester Editha hatte sogar eine Nähmaschine gefunden, die für halb Prenzlau<br />
arbeiten musste. Ja, sogar ein Klavier, das zu vielen Konzerten und Klavierunterricht<br />
ständig in Gebrauch war. Sigrid, die eine Stelle <strong>als</strong> Lehrerin erhielt, nähte mir aus einer<br />
Mertensdorfer Fensterfriesdecke, die ich in meinem mit Sirup verklebten Rucksack gerettet<br />
hatte, eine „elegante“ Jacke mit Mütze. Im Übrigen bot uns meine Schwester Editha frei und<br />
gelassen all ihr gerettetes Habe an, und wir staffierten uns aus!<br />
Inzwischen hatte mein Bruder die Familie seines Studienfreundes Hans Schlobach in<br />
Rochlitz an der Saale besucht. Dort wurde er von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Da sein<br />
Freund einen Kopf größer war <strong>als</strong> er, sah er nicht gerade wie aus dem Modesalon<br />
entstiegen aus. Er fuhr zum Konsistorium nach Magdeburg, stellte sich dort vor und erhielt<br />
eine Pfarrstelle in der Nähe von Weißenfels/Saale. Mit dieser erfreulichen Nachricht kam er<br />
nach Prenzlau, um uns abzuholen.<br />
Fast machte uns Dagmar einen Strich durch die Rechnung, da sie am Morgen unserer<br />
Abreise Fieber und H<strong>als</strong>schmerzen bekam. Der Verdacht auf Scharlach lag nahe, denn bei<br />
den Kindern meiner Schwester war Scharlach ausgebrochen. Wir entschlossen uns jedoch<br />
abzureisen. Nachdem wir <strong>als</strong> Abschiedslied: „Nun danket alle Gott ...“ gesungen hatten,<br />
ging es fort aus der Geborgenheit der Geschwister, ach und nun auch von Sigrid und<br />
Dietrich und aus Irenes Zauberküche mit dem Motto: „Aus wenig mach viel und<br />
schmackhaft, <strong>als</strong> Zutat nehme man, falls es nicht reicht, viel Wasser und viel Liebe.“<br />
In Berlin mussten wir bei Bekannten übernachten. Die Weiterreise scheiterte fast an der<br />
Überfüllung der Bahnsteige und Züge. Durch die Freundlichkeit eines Bahnbeamten wurden<br />
wir unauffällig in einen Gepäckwagen geschoben und machten es uns zwischen Kisten und<br />
Ballen bequem. Auf einer kleinen Station wurden wir leider entdeckt und sollten so mitten im<br />
„Irgendwo“ aussteigen. Aber es gelang uns, die deutschen Beamtenherzen zu erweichen,<br />
wir durften in den Personalwagen einsteigen. Ein lustiger Amerikaner, der auch hier saß,<br />
fand Gefallen an den Kindern und fütterte sie und uns mit Weißbrot. War das ein Genuss! Es<br />
war flockig und weich, mit dick Butter und Schinken darauf. Nein, dass es so etwas noch in<br />
diesem Leben gab!<br />
In Wittenberg, der Lutherstadt, hatten wir einen längeren Aufenthalt und wurden in einen<br />
feuchten, kalten Bunker eingewiesen. Mein Bruder und ich fragten uns zum<br />
Superintendenten durch, um uns nach einem besseren Nachtquartier zu erkundigen, und<br />
nahmen dazu Jung-Wittig mit. Wir wurden aber mit nicht zu übersehendem Abscheu<br />
abgewiesen. Dabei sahen wir doch schon ganz manierlich aus, fanden wir wenigstens. So<br />
suchten wir das nächste Pfarrhaus auf und sagten unser Sprüchlein her. Hier erhielten wir<br />
freundliche Aufnahme. Jung-Wittig wurde gleich in die warme Küche geführt und zwischen<br />
die Pfarrkinder an den Abendbrottisch gesetzt, er erhielt einen vollen Teller mit Kartoffeln<br />
und Tomatensauce und fraß wie ein kleines Raubtier. Mit einer braunen Papiertüte voll<br />
heißer Pellkartoffeln zogen wir ab, um unsere Lieben aus dem Bunker zu holen. Herrgott, es<br />
gab noch gute Menschen und wirkliche Pastoren auf dieser Welt!<br />
109
Wiedebach bei Weißenfels<br />
In Weißenfels angekommen, wurden wir zu unserer Überraschung von einem<br />
zweispännigen Wagen, der dem Rittergutsbesitzer Fritz Tischmann gehörte, abgeholt und<br />
zum Dorf Wiedebach, der neuen Pfarrstelle meines Bruders, gefahren. Die Pfarrwitwe im<br />
Pfarrhaus empfing uns zunächst sehr unfreundlich, so dass wir es am nächsten Tag<br />
vorzogen, bei einfachen Leuten ein leeres, großes Zimmer zu mieten und zu beziehen.<br />
Umso dankbarer empfanden wir die Unterstützung bei der Einrichtung und den vielen<br />
Freundlichkeiten, die uns in der Folgezeit seitens der Familie Tischmann zu Teil wurden.<br />
Auf dem schönen, gut gepflegten Gut durften wir die Verlobung, und am 23. Februar 1946<br />
die Hochzeit meines Bruders Wolfram mit der Tochter Susanne Tischmann feiern, ganz in<br />
alter Weise. Es war das letzte Fest, das auf diesem Gut gefeiert wurde. Bald darauf wurde<br />
Fritz Tischmann verhaftet und es kam viel Schweres über die Familie.<br />
Hochzeit von Wolf und Susanne, Wiedebach 1946<br />
110
Schönburg<br />
Mein Vater erhielt in der Nähe von Naumburg a. d. Saale, in Schönburg, eine Pfarrstelle, ich<br />
zog nun mit den Kindern zu den Eltern in das alte Pfarrhaus, das neben der Kirche und<br />
gegenüber der alten Burgruine die Häuser des kleinen Dorfes überragte.<br />
Im Winter 1945/46 wurde ich des Öfteren mit den Kindern nach Rochlitz zu Schlobachs<br />
eingeladen, von denen wir viel Gutes erfuhren. Dort in Rochlitz erreichte mich auch der<br />
erste Brief von Wittig, durch den ich von seiner Verwundung, seiner Lazarettzeit bei<br />
Landshut und seinen weiteren Erlebnissen erfuhr.<br />
111<br />
Weihnachten 1945 nahte. Ich warnte<br />
die Kinder vor, dass es keine<br />
Geschenke geben würde. Dagmar<br />
wünschte sich einen Schlitten und eine<br />
Puppe. Unmöglich diesen Wunsch zu<br />
erfüllten. Dagmar sagte aber in fester<br />
Überzeugung: „Ich habe mich mit dem<br />
lieben Gott verabverredet!“ Und<br />
tatsächlich! Wenige Tage vor<br />
Weihnachten brachte Susanne<br />
Schönburger Kirche<br />
Tischmann einen Schlitten, den sie<br />
auf dem Dachboden gefunden hatte.<br />
Dann kam ein Paket von Schlobachs, darin eine Puppe und andere Weihnachtsgeschenke.<br />
Der Schlitten war beladen mit Köstlichkeiten. Ich erfuhr wieder einmal, was kindlicher<br />
Glaube und Vertrauen bedeutet. Und dann kam der Tag, es war der 4. September 1946, der<br />
Geburtstag meines Mannes, <strong>als</strong> in der Morgenfrühe Wittig auf unserem Hof stand. Mein<br />
Gott! Wie sah er aus! Als wir uns<br />
trennten, war er jung, jetzt hatte er<br />
weiße Haare und wirkte in seiner<br />
Länge besonders schmal. Er hatte<br />
eine alte Militärjacke an, die<br />
Schuhe waren mit einfachen<br />
Bindfäden zugeschnürt. Die<br />
Kinder waren von meinem Ruf<br />
erwacht und hingen bald an<br />
seinem H<strong>als</strong>, Armen und Beinen.<br />
„Vati, Vati!“ Als wir dann beide<br />
Schönburg<br />
allein in meinem Stübchen waren,<br />
stellten wir fest, dass wir uns sehr<br />
verändert hatten, jedoch unsere Liebe dieselbe geblieben war. Es wurde ein großer Tag und<br />
ein neuer Anfang!<br />
Da unsere Kinder unter der Fürsorge meiner Eltern und Tante Liesel gut aufgehoben waren,<br />
gingen Wittig und ich im Oktober über die Zonengrenze, um uns eine Zuzugsgenehmigung<br />
in den Westen zu verschaffen. In Hannover konnte uns eine Freundin von mir, Lisa<br />
Twiehaus, die im evangelischen Hilfswerk arbeitete, dazu verhelfen.
Als wir in unser Pfarrhaus an der Saale zurückkehrten, konnten wir uns nicht entschließen,<br />
so ins Ungewisse, in den Winter hinein, uns einem Transport nach Friedland, der<br />
Grenzstadt, anzuschließen. Auch rückte Weihnachten heran, ich fühlte mich in der<br />
Gemeindearbeit sehr glücklich, dazu erwartete ich ein Baby, unseren Roland.<br />
So gern wir in der Geborgenheit bei den Eltern geblieben wären, so mussten wir doch<br />
fluchtartig zur Reise über die Grenze rüsten. Unser netter Bürgermeister in Schönburg, Herr<br />
Schumann, gab uns den Hinweis, dass mein Mann, <strong>als</strong> ehemaliger Offizier, verhaftet<br />
werden sollte. Gerade in diesen Tagen, es war Ende Februar 1947, ging ein Transport nach<br />
Friedland, dem wir uns anschließen konnten.<br />
Um drei Uhr nachts kam die Abschiedsstunde. Die Kinder waren sorglich eingepummelt,<br />
denn es war sehr kalt. Wir sprachen noch gemeinsam den 23. Psalm, und mein Vater<br />
segnete uns. Mutti versuchte ihre Tränen zu verbergen und steckte den Kindern kleine<br />
Kuchen in die Taschen. Auch von Tante Liesel mussten wir uns trennen; wir wollten sie nicht<br />
ins Ungewisse mitnehmen. Sie kam aber nach Rolands Geburt zu uns und blieb, bis Gott sie<br />
abrief.<br />
Wir hatten fast zu viel Gepäck für so eine schwierige Reise. In Rotleberode/Harz mussten<br />
wir in ein Lager, weil der Zug eingeschneit war. Auch die Weiterreise wurde durch das<br />
ständige Abkoppeln der Lokomotive unterbrochen. Wir froren erbärmlich, waren aber<br />
frohgemut. Einige Kilometer vor der Grenze hielt der Transportzug. Jeder, der noch Geld<br />
hatte, versuchte irgendwo ein Gefährt aufzutreiben. Wittig gelang das auf einem ca. 1 km<br />
entfernten Bauernhof. Bald rumpelten wir unter Freudenjauchzern und für unser letztes<br />
Geld der Grenze zu.<br />
Am Ziel angelangt, wurden wir freundlich begrüßt. Gepolsterte Omnibusse waren zur<br />
Weiterfahrt vorgefahren, ja, bei der kurzen Fahrt bis Friedland überkam uns euphorische<br />
Vorfreude. Wir waren dem Sowjetregime entronnen! Die Formalitäten der Registrierung und<br />
Entlausung (DDT-Dusche) mussten wir über uns ergehen lassen, aber danach erhielten wir<br />
gute Verpflegung, belegtes Brot und Malzkaffee und sogar einen Extraraum mit<br />
frischbezogenen Betten – welch ein Luxus! Noch ahnten wir nicht, wie hart der nun<br />
bevorstehende Lebens- und Existenzkampf sein würde. Doch wir wussten uns auf der<br />
freien, bevorzugten Seite Deutschlands. Unsere Hände waren leer, die Gesundheit<br />
geschwächt, die Heimat, auch unser gewesener Lebensstil, zerschlagen. Aber wir hatten<br />
Gottes Hilfe erfahren und fühlten uns von ihm begleitet und geborgen.<br />
112
Haus Mark – Tecklenburg 1947<br />
Neuer Anfang<br />
Wittig hatte eine Landarbeiterstelle in Haus Mark bei einem Baron v. Grüter gefunden.<br />
Haus Mark war eine Wasserburg, der Geburtsort von Bodelschwingh. Uns wurden zwei<br />
Zimmer zugewiesen, unmöbliert, kalt, feucht, ohne fließendes Wasser. Das Gebäude war in<br />
einem Karree angeordnet, über eine Bücke gelangte man zu einem Innenhof, mit<br />
verschiedenen Eingängen zu den Wohnräumen.<br />
Außer Grüters waren dort noch zwei weitere Flüchtlingsfamilien untergebracht und eine alte<br />
Tante von Grüters, Maria v. Flottwell. Durch sie erhielten wir viel Hilfe, wie z.B. die ersten<br />
notwendigen Möbel.<br />
In dem ersten Raum stand ein alter Kohlenherd, dessen Rohr durch die Wand über den<br />
breiten Flur und ein Fenster zum Innenhof gelegt war. Dieser Herd war die einzige<br />
Wärmequelle, darauf wurde gekocht, die Wäsche gewaschen und das Wasser für unsere<br />
Gezeichnete Gesichter - Haus Mark – erstes Foto nach dem Krieg<br />
Körperpflege erwärmt. Wir wurden oft eingeräuchert. Es gab ein Plumpsklo. Wenn man<br />
durch das Loch schaute, sah man tief unten die Fische schwimmen.<br />
Wir waren zwar Überfällen, Raub und Todesgefahr entronnen, aber in dieser bitteren Armut<br />
waren die Demütigungen <strong>als</strong> Flüchtlingspack eine tägliche Belastung. Hunger begleitete<br />
uns weiter. Lebensmittel gab es auf Marken.<br />
113
Geburt von Roland<br />
In diese Zeit wurde Roland am 10. Juni 1947 in Tecklenburg geboren, einen Monat zu früh.<br />
Durch eine Oberschwester erlebte ich unglaublich schändliche Behandlung. Meine<br />
Bettwäsche wurde durch eine Schwester frisch bezogen. Auf Anordnung der<br />
Oberschwester musste sie die schmutzigen Bezüge wieder aufziehen. Roland lag im<br />
Badezimmer, in der Wanne blutige Bettwäsche und Verbände. Ich erlitt einen<br />
Nervenzusammenbruch, in dem sich auch die ganze überstandene Zeit entlud. Es war ein<br />
Weinkrampf, den ich nicht abstellen konnte. Der sehr freundliche behandelnde Arzt war<br />
hilflos.<br />
Auf meinen Wunsch wurde ich vorzeitig entlassen, obwohl unsere Wohnräume kein<br />
verlockendes Zuhause waren. Aber es war Sommer. Maria v. Flottwell bot uns ihre kleine<br />
Gartenlaube im Park an, wo wir uns dann oft tagsüber aufhalten konnten. Die Kittelchen für<br />
Roland, von denen ich geträumt hatte, bekam ich geschenkt, alle drei, wie im Traum. Die<br />
Wäsche konnte auf Leinen aufgehängt werden, auf der „Bleiche“. Die Kinder sammelten<br />
Sauerampfer, Brennnesseln, Beeren später im Jahr Bucheckern.<br />
In dieser Zeit stieß auch Tante Liesel wieder zu uns. Die größten Strecken ihres Weges war<br />
sie zu Fuß gegangen. So rückte das Weihnachtsfest näher. Es sollte nach alter Tradition ein<br />
Fest werden, obwohl es so gut wie keine Geschenke gab. Ich übte mit den Kindern ein<br />
Krippenspiel ein. Wittig und Editha <strong>als</strong> Josef und Maria mit Roland <strong>als</strong> Jesuskind. Volker ein<br />
Hirte, Dagmar ein Engelchen und Vater Wittig der Verkündigungsengel, unsichtbar aus dem<br />
Schlafzimmer tönend.<br />
Am Weihnachtsbäumchen brannten die gespendeten Kerzen, die entsetzlich qualmten,<br />
über dem Herd trockneten Rolands Windeln. Die Nachbarn waren das Publikum. Jeder<br />
musste seine eigene Sitzgelegenheit mitbringen. Es wurde ein Eingangslied gesungen, und<br />
es kam so etwas wie eine festliche Stimmung auf. Fröhlich wurde es, weil Maria und Josef<br />
sich ums Jesuskind zankten, wem es mehr gehörte, und wer es tragen durfte. Alle sangen<br />
wir noch zum Schluss gemeinsam „O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit“, bevor sich<br />
unsere Gäste erheitert und mit schwarzen Nasenlöchern verabschiedeten.<br />
Die schulischen Gegebenheiten waren miserabel. Schweren Herzens entschlossen wir uns<br />
Wittig und Editha in Internate zu geben, Wittig nach Bethel, Editha nach Schloss Hamborn<br />
bei Paderborn.<br />
Durch einen Trick konnte Volker in Tecklenburg zu Schule gehen, was eigentlich außerhalb<br />
des für uns schulischen Einzugsgebietes lag. Wittig arbeitete inzwischen <strong>als</strong><br />
Straßenarbeiter, weil Baron v. Grüter ihn nicht mehr bezahlen konnte. Von den Arbeitern<br />
wurde er kumpelhaft angenommen, kein bösartiger Spott traf ihn dort.<br />
In der Nachbarschaft wurde eine alte Wassermühle notdürftig renoviert. In diese konnten wir<br />
im Frühjahr einziehen. Welch ein Glück! Wir hatten eine richtige Wohnung, wenn auch<br />
muffig riechend und laut, durch den durchs Haus rauschenden Bach. Wir hatten drei<br />
Zimmer, eine Küche und ein Badezimmer, sehr primitiv, aber doch ungleich besser <strong>als</strong><br />
vorher.<br />
1948 wurde Dagmar in Wechte eingeschult. Tante Liesel begleitete sie auf den weiten Weg<br />
zu ihrer Schule am ersten Schultag.<br />
114
Über den „Marburger Kreis“, einer christlichen Gemeinschaft, lernte ich Dekan Theo Haug<br />
kennen. Er bat mich Vorträge über unsere Fluchterlebnisse zu halten, über Gottes<br />
Bewahrungen und Fügungen. Auf seine Bitte hin schrieb ich auch diese Berichte für das<br />
kirchliche Mitteilungsblatt seiner Gemeinde. Dafür bekam ich sogar ein Honorar. Viele neue<br />
Freunde und Helfer kamen dadurch in unser Leben.<br />
Durch Theo Haug erhielt Wittig auch das Angebot für eine Hausmeisterstelle in einem<br />
Jugend- und Tagungshaus, das von einer Schwester geleitet wurde. Das war wieder eine<br />
Fügung, denn die Arbeit im Straßenbau war für den geschwächten Körper von Wittig zu<br />
schwer.<br />
1948 löste die Deutsche Mark die Reichsmark ab. Wittig fühlte sich <strong>als</strong> Krösus mit diesem<br />
ersten Geld, das zugeteilt wurde. Lebensmittelmarken wurden abgeschafft.<br />
Schmie bei Maulbronn<br />
So kamen wir 1949 in dieses Heim. Unsere Wohnung bestand aus vier kleinen Zimmern, die<br />
von einem langen Flur abgingen. Die Toilette war außerhalb der Wohnung, Baden konnte<br />
man nur in der Waschküche. Zwei Zimmer hatten Waschbecken, die Küche war eine Nische<br />
im Flur.<br />
Am 19. Dezember 1950 nahmen wir zwei Nichten von uns auf, Sieglinde, 10 Jahre, Gudrun,<br />
8 Jahre, schwer traumatisiert nach dem Tode des Vaters, traumatisiert durch die Trennung<br />
von den Geschwistern und der vertrauten Umgebung. Vetter Rüdiger nahm vor dem Krieg<br />
Wittig das Versprechen ab, seine beiden jüngsten Kinder aufzunehmen, falls er sterben<br />
müsste.<br />
Die Mutter Inge war nach der Geburt von Gudrun gestorben. Eigentlich war es nicht mehr<br />
die Zeit, ein solches Versprechen einzulösen. Aber niemand aus der sonstigen<br />
Verwandtschaft konnte beide Kinder aufnehmen, die aber unbedingt zusammen bleiben<br />
wollten. Das war eine schwere Zeit für die beiden Mädchen, aber auch für uns. Sie hätten<br />
psychologische Betreuung gebraucht und viel mehr aufmerksame Zuwendung. Das<br />
konnten wir ihnen nicht geben, dazu hatten wir weder die Kraft, noch die Zeit.<br />
Es gab aber auch triumphale Situationen. Wittig konnte sich ein Motorrad kaufen, eine BMW<br />
500 mit Beiwagen. Das war wirklich ein Gefühlshöhepunkt.<br />
Sindelfingen<br />
Dann ging es wieder ein Treppchen weiter. Wittig übernahm 1953 die Leitung eines neu<br />
erbauten Lehrlings- und Jungmännerheimes.<br />
Meine Schwester Irene kam zu uns und übernahm die Küche und bewältigte diese Aufgabe<br />
mit Bravour. Alle ihre sehnlichen Gedanken richteten sich auf die Heimkehr ihres Mannes<br />
Hans Koschitzky, der aus sibirischer Gefangenschaft erwartet wurde. Er war dann auch<br />
115
wirklich bei den Spätheimkehrern 1955 dabei. Das war eine große Freude, die aber bald von<br />
tiefer Enttäuschung und Schmerz abgelöst wurde.<br />
Hans war Arzt und hatte im Lager eine Ärztin kennengelernt, mit der er seine Zukunft plante.<br />
Davon war aber in keinem seiner ergreifenden Briefen die Rede, sondern die Hoffnung auf<br />
ein baldiges Wiedersehen und gemeinsames Leben.<br />
„Ilse“ war früher aus der Gefangenschaft gekommen, fand erste Aufnahme und Pflege bei<br />
Dittchen. Was dann folgte war so ungeheuerlich, so diskriminierend, bis es dann endlich zur<br />
Scheidung kam. Über diese tragische Geschichte kann ich hier nicht weiter berichten. Durch<br />
den Zusammenhalt und die Liebe zwischen uns Geschwistern gesundete sie langsam<br />
wieder an Leib und Seele.<br />
Eine ganze Reihe unserer ehemaligen Mertensdorfer Hausbewohner, Mitarbeiter und Leute<br />
aus dem Dorf schrieben uns rührende Dankesbriefe für die Zeit, in der sie uns erlebt hatten.<br />
Wittig setzte einen Dankes-Nachruf in das Ostpreußenblatt.<br />
Zollenreute bei Aulendorf<br />
Und wieder ging es weiter. Wittig bekam 1956 ein Angebot, eine neu angepflanzte<br />
Obstplantage mit Wohnhaus zu pachten. Voller Hoffnung und mit neuem Schwung machten<br />
wir uns an die neue Aufgabe. Aber alle Zukunftsträume zerplatzten bald. Wir waren<br />
betrogen worden.<br />
116<br />
Die meisten Bäume der<br />
Plantage waren von<br />
Wühlmäusen zerstört.<br />
Außerdem waren die<br />
Obstsorten für diese raue<br />
Gegend nicht geeignet.<br />
Uns fehlte jede<br />
Lebensgrundlage. Wittig<br />
nahm eine Bürostellung<br />
im Wehrministerium in<br />
Bonn an.<br />
Weihnachten nahte,<br />
wieder einmal war kein<br />
Geld für Geschenke da.<br />
Aus Kerzenwachs formte<br />
ich Köpfe, Hände und<br />
Füße von Maria und Josef, die Gestalten aus Draht, die ich aus Stoffresten bekleidete. Das<br />
war der Anfang von meinen Modellierarbeiten. Mit jeder Figur wurde die Arbeit feiner, ich<br />
erhielt gutes Modellierwachs und schöne Stoffe. Später machte ich Auftragsarbeiten und<br />
konnte uns durch den Verkauf über so manchen finanziellen Engpass helfen.
Durch die Trennung und die Art, wie Wittig genötigt wurde seine Arbeit zu erledigen, erlitt er<br />
einen Herzinfarkt. Der misslungene Neuanfang und der damit verbundene Vertrauensbruch<br />
war noch nicht verschmerzt.<br />
Das Ende dieses Kapitels wäre in der Beschreibung nochm<strong>als</strong> eine extra dramatische<br />
Geschichte, die ich hier auch nicht erzählen kann.<br />
Murrhardt<br />
Das Angebot, <strong>als</strong> Heimleiter eine neu erbaute Jugendherberge zu übernehmen, nahmen wir<br />
dankbar und freudevoll an. Das war 1959.<br />
Obwohl die Arbeit alle Kräfte erforderte, begann hier eine heitere Zeit. Ena übernahm<br />
wieder die Leitung der Küche. Wanderer kamen nur vereinzelt, mehrheitlich wurde das<br />
Haus <strong>als</strong> Landschulheim oder von anderen Gruppierungen für Freizeiten oder Seminare<br />
genutzt. Nahezu jede Gruppe gestaltete ein<br />
Abschiedsfest. Da kamen Enas und meine<br />
schauspielerischen Talente wieder voll zum<br />
Einsatz.<br />
Wenn im Haus keine Belegung war, konnten wir<br />
den großen Speisesaal für unsere Feste nutzen.<br />
Hier feierten wir die Hochzeiten von Editha und<br />
Manfred Ludwig im März 1962 und auch die<br />
Doppelhochzeit von Sieglinde mit meinem Neffen<br />
Hagen und Gudrun mit Ross Taggert im Juli<br />
desselben Jahres. Wittigs Hochzeit mit Lilianne<br />
Coulon gestalteten wir 1965.<br />
Im Sommer 1960 machten Editha und Dagmar<br />
eine Ferien-Radtour ins Blaue, in südliche<br />
Richtung. Auf dem Weg in Richtung Süden lernten<br />
Wittig, Elen, Ena mit Hund Arko<br />
sie zwei Studenten kennen, die in ihren<br />
Semesterferien in den Forsteinsatz fuhren. Einer<br />
davon nannte ihnen Seeon <strong>als</strong> lohnendes Ziel. Seine Schwester wäre dort mit einem Heinz<br />
Heise verheiratet und auf einem großen bäuerlichen Anwesen lebend. Er meldete das<br />
Kommen von zwei Mädchen an.<br />
Als sie dort inmitten der Ernte ankamen, war die Begeisterung nicht gerade groß. Aus<br />
Höflichkeit wurden sie nach Namen und Herkunft gefragt: „v.d. Goltz aus Ostpreußen?<br />
Dann bleibt nur hier!“ Er stammte aus Westpreußen und ein Regimentskommandeur von<br />
ihm war ein v.d. Goltz. Später stellte sich noch heraus, dass ihr Vater, Herr v. Schubert, in<br />
Riga mit Muttis Schwester, Benita, getanzt hatte. Die beiden begegneten sich in Seeon<br />
wieder und waren sehr erschrocken, welche Veränderung der „Zahn der Zeit“ an ihnen<br />
vorgenommen hatte. Editha und Dagmar schrieben uns auf einer Ansichtskarte: „Wir sind<br />
im Paradies, wenn wir mal bauen, dann nur hier.“<br />
117
Seeon<br />
Wir verbrachten einige Urlaubstage in Seeon und zelteten mit Dagmar im „Paradies“, der<br />
Badestelle von Heises. Dabei lernten wir Heises näher kennen und alle die seltsamen<br />
Verknüpfungen dieser Bekanntschaft.<br />
Einige Zeit später wurden in Seeon Bauplätze frei. Mit dem Rest des Lastenausgleiches<br />
kauften wir ein Grundstück. Planung, Ausführung und auch finanzielle Unterstützung<br />
übernahm Volker. Ohne ihn wäre der Bau nicht möglich gewesen. Wittig, Roland und<br />
Dagmar halfen bei jeder Gelegenheit nach Zeit und Können. Heises boten Quartier und<br />
Unterstellmöglichkeit für Baumaterialien und Gegenstände, die bei jeder Fahrt von<br />
Murrhardt nach Seeon in und auf unseren Renault 4 geladen wurden.<br />
1964 konnten wir in unser neues Zuhause ziehen! Welch eine dankbare Freude überkam<br />
uns! Dieses Haus wurde Treffpunkt und Mittelpunkt unseres Familienlebens.<br />
Wittig brachte sich schnell in der Gemeinde ein. So übernahm er die Arbeit des<br />
Fremdenverkehr-Vereines. Er wurde bald bekannt und beliebt, obwohl er Ostpreuße in<br />
Bayern war. Ich arbeitete für die ev. Kirche in Trostberg eine große Krippe, später auch für<br />
die kath. Kirche in Seeon. Wir hatten regen Austausch mit den beiden Pfarrern und vor<br />
allem mit der ev. Gemeinde in Trostberg. Wir waren angekommen.<br />
Dagmars Hochzeit mit Herbert Bergmeier wurde 1971 in diesem Haus gefeiert und viele<br />
wunderbare Geburtstagsfeste. Roland und Hiltrud heirateten im Januar 1974. Diese Ehe<br />
wurde 1990 geschieden. Im April 1992<br />
heirateten Roland und Heide Moldenhauer<br />
hier in Seeon – ein schönes Fest.<br />
Volker und Renate heirateten 1976 in<br />
Backnang.<br />
Alle unsere Kinder hatten ihren Lebensweg<br />
gefunden, wenn auch teilweise „auf<br />
verschlungenen Pfaden.“ Sie fanden in der<br />
Umgebung oder direkt in Seeon ihren<br />
Lebensraum.<br />
Wittig starb im Februar 1974 an Krebs.<br />
Ich fühlte mich ohne meinen Liebsten völlig<br />
verlassen, obgleich ich Gott um Erlösung<br />
gebeten hatte. Da erschien Wittig mir eines<br />
Nachts im Traum, aber doch leibhaftig. Ich<br />
Wittig und Ellen in Seeon<br />
fragte: „Träume ich?“ „Nein, ich bin wirklich<br />
bei dir, ich komme, um mich von dir zu<br />
verabschieden.“ Noch zweimal erschien er mir in Abständen. Beim letzten Mal sagte er:<br />
„Nun komme ich nicht wieder zu dir. Ich habe einen weiten Weg vor mir, auf dem du mich<br />
nicht begleiten kannst.“ Ich wollte ihn festhalten, aber er entglitt mir. Ich weinte und rief nach<br />
ihm. So erwachte ich, tränenüberströmt.<br />
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Mein Sohn Wittig hatte im Oktober 1998 einen tödlichen Unfall. Diese schweren Verluste<br />
überstand ich im Gebet und dem tiefen Vertrauen, dass unser Leben geführt und sinnvoll ist,<br />
wenn wir es auch im Moment nicht erkennen können.<br />
Enas sehr friedliches Hinüberschlafen kurz nach ihrem 100. Geburtstag, nahmen wir mit<br />
Dankbarkeit an.<br />
Wie oft gehe ich in Gedanken durch unser verlorenes Mertensdorf. In meinem inneren Bild<br />
ist noch alles unzerstört. Wenn ich durch den Saal zur geöffneten Tür der Veranda gehe,<br />
dann sehe und spüre ich den herrlichen Blick in den Park bis hin zur Aussicht auf den See.<br />
Ja, da habe ich früher die Arme ausgebreitet und vor Dank gejubelt. In meinem Herzen<br />
bleibt Mertensdorf meine irdische Heimat. Aber jetzt, wo ich die 100 Lebensjahre<br />
überschritten habe, freue ich mich auf meine geistige Heimat, bei meinem Heiland, Jesus<br />
Christus!<br />
Auf Wunsch meiner Töchter entschloss ich mich nach einigem Zögern meinen Lebensweg<br />
aufzuschreiben. Viele freudige, lustige, traurige und dramatische Erlebnisse musste ich<br />
weglassen, weil diese Schrift sonst zu umfangreich geworden wäre. Editha half mir beim<br />
Recherchieren. Dagmar schrieb meine handschriftlichen Aufzeichnungen in den Computer,<br />
Roland setzte die Bilder ein und mein Neffe Ekke Maaß erarbeitete ein erstes Exemplar <strong>als</strong><br />
Geburtstagsüberraschung. Danach kamen noch viele Ergänzungen dazu. Sebastian las<br />
Korrektur und Marina setzte alles professionell in Format und Form. Allen danke ich für ihre<br />
Arbeit.<br />
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Außerdem danke ich allen Menschen, die ich in diesem Bericht nicht namentlich erwähnt<br />
habe, von denen ich aber selbstlos und spontan Hilfe bekommen hatte. Ich denke an sie mit<br />
großer Dankbarkeit!<br />
Reich ist man nicht durch das,<br />
was man besitzt,<br />
sondern mehr noch durch das,<br />
was man mit Würde zu entbehren weiß<br />
und es könnte sein,<br />
dass die Welt reicher wird,<br />
indem Sie ärmer wird und gewinnt,<br />
indem sie verliert.<br />
Emmanuel Kant<br />
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