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KoNTUREN –Fachzeitschrift zu Sucht und sozialen Fragen<br />

ISSN 1437-6903<br />

Ausgabe 1/2006<br />

27. Jahrgang<br />

Einzelheft € 6.–<br />

Deutscher<br />

Orden<br />

Ordenswerke<br />

Ambulante Versorgungsstrukturen<br />

Neue Behandlungsansätze im Bereich des SGB IX<br />

Ecstasy<br />

Gefährliche Konsumfolgen<br />

Betreuungsrechtsänderungsgesetz<br />

Bedeutung und Konsequenzen für Suchthilfeeinrichtungen


A k t u e l l Sozialrecht<br />

Auf Wiedersehen Betreute!<br />

Bedeutung und Konsequenzen des zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetzes<br />

für soziotherapeutische Suchthilfeeinrichtungen und<br />

deren rechtlich betreute Klienten.<br />

Die Bedeutung des Betreuungsrechts nimmt angesichts weit<br />

über einer Million betreuter Menschen in Deutschland zu. Zum<br />

1.7.2005 trat das zweite Betreuungsrechtsänderungsgesetz<br />

(BtÄndG) in Kraft. Die Bewertung des BtÄndG schwankt zwischen<br />

peinlichem Eigenlob der beteiligten Parteien und Minister<br />

einerseits und Protesten der Betroffenen mit der Forderung<br />

„Stoppen Sie das 2. Betreuungsrechtsänderungsgesetz“ (so<br />

der Vormundschaftsgerichtstag VGT) andererseits. Für Suchthilfeeinrichtungen<br />

hat das 2. BtÄndG erst bei genauer Betrachtung<br />

der ökonomischen und institutionellen Bedingungen im<br />

Betreuungswesen weitreichende Konsequenzen. In diesem ersten<br />

Beitrag werden zunächst die für Suchthilfeeinrichtungen<br />

relevanten Reformen des 2. BtÄndG in den Bereichen Zuständigkeiten<br />

beim Vormundschaftsgericht, Betreuungsplanung,<br />

Vergütung und Delegationsmöglichkeiten diskutiert. Der zweite<br />

Teil des Beitrags im kommenden <strong>Konturen</strong>-Heft wird vor<br />

dem Hintergrund empirischer Daten die statistische Relevanz<br />

des 2.BtÄndG für die suchttherapeutischen Einrichtungen der<br />

Deutsch-Ordenswerke beleuchten. Dazu werden Strategien für<br />

die Suchthilfeeinrichtungen gezeigt, unter denen die Kooperation<br />

mit den beruflichen Betreuern zum gegenseitigen Nutzen<br />

gestaltet werden kann.<br />

Änderungen des 2. BtÄndG im Überblick:<br />

• Berufs- und Vereinsbetreuer: Ein Vormünder- und Betreuervergütungsgesetz<br />

(VBVG) regelt die Berufs- und Vereinsbetreuervergütung.<br />

Berufs- und Vereinsbetreuer erhalten je nach Fachkenntnissen<br />

27/33,50/44 Euro pro Stunde inkl. Umsatzsteuer und<br />

Aufwendungen vergütet. Die Vergütung erfolgt nach Stundenpauschalen<br />

in Abhängigkeit von Betreuungsdauer, Wohnstatus und<br />

Vermögen der Betreuten. Berufsbetreuer müssen dem Gericht auf<br />

Anordnung einen Betreuungsplan mit Zielen und Maßnahmen<br />

vorlegen.<br />

• Betreute und Betroffene: Gegen den freien Willen eines Volljährigen<br />

darf ein Betreuer nicht bestellt werden. Der einwilligungsfähige<br />

Suchtkranke kann sich also gegen eine Betreuerbestellung<br />

wehren. Es werden keine Ergänzungsbetreuer mehr für unterschiedliche<br />

Aufgabenkreise bestellt. Das Vormundschaftsgericht<br />

kann auf Sachverständigengutachten verzichten und MDK-Gutachten<br />

verwenden. Das Betreuungsverfahren wird nach einem Jahr<br />

Aufenthalt des Betreuten an einem anderen Ort an das dortige<br />

Gericht abgegeben. Wichtig: Die Frist zur Überprüfung der Betreuungsnotwendigkeit<br />

wird von fünf auf sieben Jahre verlängert.<br />

• Vollmachtgeber und Bevollmächtigte: Es besteht im Betreuungsverfahren<br />

eine Mitteilungspflicht an das Vormundschaftsgericht<br />

über Kenntnisse zu Vollmachtsregelungen einer Person. Diese<br />

KoNTUREN<br />

– 20 1-2006<br />

Pflicht gilt auch für die<br />

Suchthilfeeinrichtungen.<br />

Bei der Bundesnotarkammer<br />

können Informationen<br />

über eine vorliegende Vollmacht<br />

(nicht die Vollmacht<br />

selbst!) registriert werden.<br />

• Richter und Rechtspfleger:<br />

Bundesländer können<br />

richterliche Aufgaben auf<br />

Rechtspfleger übertragen<br />

(v. a. Bestellung und Entlassung<br />

des Betreuers). Ein<br />

Richter auf Probe darf nicht<br />

in Betreuungssachen tätig<br />

werden.<br />

Prof. Dr. Reiner Adler<br />

Das BtÄndG soll die „Betreutenexplosion“ stoppen.<br />

Drei Themen trieben die neuerliche Reform des Betreuungsrechts:<br />

Erstens sollte die Zahl der Betreuungen in Deutschland reduziert<br />

bzw. deren Anstieg begrenzt werden. Seit dem Inkrafttreten des<br />

Betreuungsgesetzes 1992 waren die Betreutenzahlen in Deutschland<br />

von 250.000 auf über eine Million gestiegen. Die Landesjustizminister<br />

gingen jedoch davon aus, dass diese Entwicklung nicht<br />

primär der demographischen Entwicklung oder der Veränderung der<br />

Familienstrukturen zuzurechnen sei. Vorrangig wurden die Ursachen<br />

für die ‚Betreutenexplosion‘ im bestehenden Betreuungssystem vermutet.<br />

In der Vergangenheit seien die Prinzipien der Erforderlichkeit<br />

und Subsidiarität nicht ausreichend beachtet worden. Den Professionellen<br />

im Betreuungswesen wird vorgeworfen, sie hätten die Betreuerbestellung<br />

fälschlicherweise „als soziale Wohltat verstanden, die<br />

unabhängig von den gesetzlichen Voraussetzungen fürsorglich jedem<br />

kranken Menschen zukommen sollte“ (Bundesrat Ds 865/03).<br />

Begrenzung der Staatsausgaben für Berufsbetreuer<br />

Ein zweites Kernthema der Reform war die Begrenzung der Ausgaben<br />

im Betreuungsbereich. Für den rasanten Anstieg der Kosten sind<br />

vor allem die Ausgaben für die selbständigen Berufsbetreuer verantwortlich.<br />

Seit der Einführung des Betreuungsrechts in 1992 entwickelten<br />

sich die Kosten für den Betreuungsaufwand allein in NRW<br />

von 816.000 DM pro Jahr auf 52 Millionen Euro in 1995 und für<br />

das Jahr 2000 auf über 173 Millionen Euro. Dieser Verdreifachung<br />

der Kosten innerhalb von fünf Jahren steht jedoch nur eine Zunahme<br />

an Betreuungen um das 1,4-fache entgegen (Justizministerium<br />

NRW 2000). Durch die Reform soll nun sichergestellt werden, „dass<br />

die Betreuungskosten nicht mehr - wie bisher - überproportional zu


der Entwicklung der Betreuungsfallzahlen steigen“ (Gerhards/Lemken<br />

2005).<br />

Vereinfachung und Beschleunigung von Betreuungsverfahren<br />

Der Abbau von bürokratischen Strukturen und Prozessen in Betreuungsverfahren<br />

stellte das dritte Hauptthema der Reform dar. Dabei<br />

ging es insbesondere um die Vereinfachung des Vergütungsverfahrens<br />

auf Seiten der Gerichte und bei den Betreuern, damit alle Beteiligten<br />

schneller mehr Betreuungsfälle bearbeiten können: „Das Gesetz wird<br />

wirksam die Kosten in Betreuungsverfahren begrenzen und kalkulierbar<br />

machen, Kapazitäten bei den vorwiegend mit Abrechnungsfragen<br />

beschäftigten Gerichten freisetzen und das Betreuungsrecht<br />

insgesamt entbürokratisieren - zum Wohl der betroffenen Menschen<br />

(Gerhards/Lemken 2005).“ Nebenbei wurde die Überprüfungsfrist<br />

für eine Betreuung von fünf auf sieben Jahre erhöht, um die Vormundschaftsrichter<br />

zu entlasten und Kosten zu sparen. Des Betreuten<br />

Leid ist hier des Fiskus Freud.<br />

Im BtÄndG ganz vergessen: das Wohl der Betreuten<br />

Das Wohl der Betreuten wurde im Reformverlauf zwar immer wieder<br />

betont und als Textbaustein in Diskussionen und Begründungen<br />

eingefügt. Ein vierter Reformstrang zur Stärkung der Selbstbestimmung<br />

und Position der Betroffenen im Betreuungsverfahren und in<br />

der konkreten Betreuungsgestaltung ergab sich aber nicht. Im Verlauf<br />

der Reformdiskussion wurde auf noch weit reichendere Einschnitte<br />

verzichtet. Selbsthilfegruppen, Verbände und betreuungsrechtliche<br />

Praktiker legten erfolgreich ihr Veto gegen die Einräumung einer quasi<br />

automatischen Vollmacht für nahe Angehörige ein und verhinderten<br />

Möglichkeiten der Zwangsbehandlung (vgl. Abb. 1).<br />

Abb. 1: Betreuungsrecht am Ende? Demonstration gegen das 2. BtÄndG<br />

Ein möglicher fünfter Reformstrang zur Verbesserung der angeblich<br />

schlechten Qualität im Betreuungswesen stand zu Beginn<br />

der Diskussionen noch in Aussicht. Hintergrund waren vielfältige<br />

Skandalberichte in den Publikumsmedien über veruntreute<br />

Gelder und laxe Kontrollen der Gerichte. So titelte die Sendung<br />

plusminus „Betreut und veruntreut - Das Millionengeschäft mit<br />

hilflosen Menschen.“ Von der angekündigten Absicht, die Qualität<br />

des Betreuungswesens zu steigern, blieb nur der phrasenhafte<br />

Hinweis, dass die vorgenommen Änderungen immer auch die<br />

Qualität des Betreuungswesens insgesamt verbessern würden. Die<br />

Ergebnisse der Reform zeigen vielmehr, dass die Justizminister<br />

der Länder wohl kaum die Verbesserung der Betreuungsqualität<br />

beabsichtigten. Eher ging es darum, diese vermeintlich geringe<br />

Betreuungsqualität wenigstens zu niedrigeren Kosten zu erreichen.<br />

Möglichkeiten zur Verbesserung der Betreuungsqualität<br />

wurden nicht genutzt.<br />

Es hätte wahrlich genügend Möglichkeiten und Themen zur<br />

Verbesserung der Betreuungsqualität gegeben. Wie bislang ist<br />

die Position der Betreuten nicht gestärkt, und sie haben keine<br />

vertrauensvollen Feedback- und Beschwerdemöglichkeiten. Die<br />

Betreuten sind weiterhin kaum in die Betreuungsprozesse zu<br />

integrieren, deren Zufriedenheit wird nicht abgefragt. Auf die Beteiligung<br />

der Betreuten am Planungs- und Berichtswesen der Betreuer<br />

und Gerichte kann nach wie vor verzichtet werden. Weder<br />

findet eine Selbsthilfeförderung statt, noch wird auf die aus dem<br />

Vormundschaftsrecht stammende diskriminierende Begrifflichkeit<br />

(Mündelvermögen, Vormundschaftsgericht, Pfleger etc.) verzichtet.<br />

Vom Reformgeist des Betreuungsrechts ist jedenfalls im<br />

zweiten BtÄndG kaum etwas zu spüren. Vormundschaftsgerichte<br />

und Betreuungsbehörden erhalten auch mit der Reform keine<br />

wirkungsvollen Möglichkeiten der regionalen Qualitätssicherung<br />

oder zur Formulierung von Eignungskriterien für Betreuer. „Seine<br />

offiziell gesteckten Ziele wird das BtÄndG verfehlen, und es ist<br />

kein Grund zu sehen, weshalb die Skandalberichte abnehmen<br />

sollen. (...) Die Betreuten werden nichts von den Änderungen<br />

haben. Qualität war diesmal nicht mit dabei“ (Adler 2005).<br />

Die Änderungen des 2. BtÄndG und deren Bedeutung<br />

für Sozialeinrichtungen<br />

Für stationäre Suchthilfeeinrichtungen können die Änderungen<br />

der Reform gravierende Konsequenzen hinsichtlich der Zusammenarbeit<br />

mit den Vormundschaftsgerichten und Berufsbetreuern<br />

bedeuten.<br />

Das Ende der Einheitsentscheidung: Richteraufgaben<br />

sind auf Rechtspfleger übertragbar.<br />

Mit dem 2. BtÄndG ist es den Bundesländern möglich, die<br />

Aufgabenverteilungen zwischen Richtern und Rechtspflegern an<br />

den Vormundschaftsgerichten zu ändern. Ob und in welchem<br />

Umfang einzelne Bundesländer die Aufgabenverlagerungen zu<br />

den Rechtspflegern vornehmen, ist derzeit noch offen. Bislang<br />

gab es bei der Bestellung eines Betreuers die so genannte<br />

‚Einheitsentscheidung‘ des Vormundschaftsrichters: Er ordnete<br />

die Betreuung an, legte die Aufgabenkreise fest, bestimmte die<br />

Überprüfungsfrist (bislang 5 Jahre) und wählte die Person des<br />

Betreuers aus. Bei den Rechtspflegern verblieben die Verpflichtung,<br />

Beratung und Kontrolle der Betreuer sowie einige<br />

Genehmigungsaufgaben. Der Gesetzesentwurf zum BtÄndG<br />

kritisierte, dass die Rechtspfleger zwar über bessere Informationen<br />

zu den Betreuten und Betreuern verfügten, diese aber nicht<br />

praktisch umsetzen könnten. Die „Verteilung der Kompetenzen<br />

hat sich in der Praxis nicht hinreichend bewährt“ (vgl. Abb. 2,<br />

Bundestag Ds 15/2494).<br />

1-2006<br />

21<br />

KoNTUREN<br />


A k t u e l l Sozialrecht<br />

„In der richterlichen Ausbildung spielt das Betreuungsrecht<br />

dagegen nur eine geringe Rolle. Für eine nicht unerhebliche<br />

Zahl von Richterinnen und Richtern handelt es sich um<br />

einen kaum bekannten und deshalb wenig geschätzten<br />

Tätigkeitsbereich. Die Herausforderungen an die<br />

juristische und soziale Kompetenz werden verkannt. Das<br />

führt bei einigen Amtsgerichten dazu, Betreuungsrecht als<br />

notwendiges Übel zu verstehen und die Dezernate<br />

Proberichtern zuzuweisen, die regelmäßig nach relativ<br />

kurzer Zeit an andere Gerichte wechseln. Die dadurch<br />

bedingte personelle Fluktuation verhindert eine effektive<br />

Betreuungsarbeit, die darauf angelegt sein muss, in<br />

kontinuierlicher Kooperation mit Betreuungsbehörden,<br />

ehrenamtlichen Betreuern und Berufsbetreuern,<br />

Sachverständigen, Krankenhäusern usw. ein breites<br />

Spektrum an Kenntnissen zu gewinnen.“<br />

Abb. 2: Kritik der Justizminister zum Stellenwert des Betreuungsrechts an<br />

den Gerichten<br />

Einzelne Bundesländer hatten zudem aus Kostengründen ein Interesse<br />

daran, möglichst viele Kernaufgaben vom teuren Vormundschaftsrichter<br />

auf den kostengünstigeren Rechtspfleger zu verlagern. Im Zuge der<br />

Reform wurde also das Rechtspflegergesetz (§ 19 RpflG) dergestalt<br />

geändert, dass die Bundesländer darüber entscheiden können, einzelne<br />

bislang richterliche Aufgaben auf den Rechtspfleger zu übertragen. Dazu<br />

zählen die Auswahl und Bestellung eines Betreuers bei vorher feststehendem<br />

Aufgabenkreis, sowie die Entlassung und Neubestellung eines<br />

Betreuers bei unverändertem Aufgabenkreis. Der Vormundschaftsrichter<br />

entscheidet allerdings weiterhin über die Einrichtung einer Betreuung<br />

und die erforderlichen Aufgabenkreise. Auch die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts<br />

(i. d. R. Vermögenssorge) und die Genehmigung<br />

der Unterbringung des Betreuten oder von gefährlichen medizinischen<br />

Maßnahmen liegen weiterhin beim Vormundschaftsrichter und nicht<br />

beim Rechtspfleger. Damit sind Betreuerbestellung und Betreuerauswahl<br />

entkoppelt, die Einheitsentscheidung wäre also hinfällig. Mit diesen<br />

Aufgabenverlagerungen soll es beispielsweise beim Betreuerwechsel<br />

oder bei der Bestellung von Ergänzungs- oder Verhinderungsbetreuern<br />

zu beschleunigenden Verfahrenserleichterungen kommen (Gerhards/<br />

Lemken 2005). Ob die Länder tatsächlich richterliche Aufgaben auf<br />

Rechtspfleger übertragen, bleibt abzuwarten. Falls ja, wird entgegen den<br />

Absichten des Gesetzgebers befürchtet, dass sich die Betreuungsverfahren<br />

durch Doppelzuständigkeiten und die Auflösung der Einheitsentscheidung<br />

eher noch verzögern und die Betroffenen und Angehörigen<br />

weiter belastet werden (Zander 2005). Aus rechtswissenschaftlicher Sicht<br />

gilt die nun mögliche Verfahrensspaltung „als Fremdkörper im System<br />

und es bleibt zu hoffen, dass nicht viele Länder sie einführen werden“<br />

(Fröschle 2005).<br />

Rechtspfleger werden eventuell wichtige Ansprechpartner<br />

für Suchthilfeeinrichtungen.<br />

Nutzt ein Bundesland die neuen Möglichkeiten nicht, bleibt für die<br />

Suchthilfeeinrichtungen alles beim Alten. Anders, wenn die Freiräume<br />

an einem Vormundschaftsgericht ausgelotet werden. Die Einrichtung<br />

der Betreuung und Festlegung der Aufgabenkreise läuft dann zwar<br />

weiterhin über den Vormundschaftsrichter. Er bleibt also Ansprech-<br />

KoNTUREN<br />

– 22 1-2006<br />

partner für die Einrichtung zur Frage, ob und in welchem Umfang<br />

eine Betreuung eingerichtet wird. Macht sich der Vormundschaftsrichter<br />

im Gespräch mit einer sozialpädagogischen Fachkraft einen<br />

Eindruck von der Regelungsinkompetenz des Betroffenen, können die<br />

Einrichtungen wie bisher Informationen zum Umfang der Betreuung<br />

oder zum Bedarf eines Einwilligungsvorbehalts geben. Gleiches gilt<br />

für die Genehmigung der betreuerischen Einwilligung in eine riskante<br />

Medikation oder Heilbehandlung. Wie bisher wird hier der Sozialdienst<br />

der Einrichtung für den Vormundschaftsrichter eine wichtige<br />

Informationsquelle bleiben. Wesentliche Änderungen würden sich<br />

aber im Zusammenhang mit § 1897 BGB hinsichtlich der Auswahl einer<br />

Betreuungsperson ergeben. Der Sozialdienst müsste Überlegungen<br />

zur Eignung eines ehrenamtlichen Betreuers, Berufs- oder Vereinsbetreuers<br />

nun beim Rechtspfleger anbringen. Falls eine Betreuungsperson<br />

mit der Suchthilfeeinrichtung in einem Abhängigkeits- oder engen<br />

Beziehungsverhältnis steht (Freundeskreise, Vereinsmitgliedschaft beim<br />

Träger, Verwandtschaft von Betreuer und Einrichtungsleitung etc.),<br />

müsste der Rechtspfleger darüber informiert werden, damit mögliche<br />

Interessenskonflikte des zukünftigen Betreuers verhindert werden<br />

können. Der bislang gegenüber dem Vormundschaftsrichter abzugebende<br />

Vorschlag des Betreuten zu einer Betreuungsperson wäre nun<br />

gegenüber dem Rechtspfleger zu äußern und von diesem auf die Realisierbarkeit<br />

zu überprüfen. Hat ein betroffener Klient einen bestimmten<br />

Betreuerwunsch oder will er eine bestimmte Person als Betreuer<br />

absolut verhindern (z. B. Verwandte, Ehegatten etc.), wäre also nicht<br />

die Anhörung durch den Richter sondern durch den Rechtspfleger die<br />

entscheidende Situation für Klient und Einrichtung. Gegenüber dem<br />

Rechtspfleger müsste der Sozialdienst auch die verwandtschaftlichen<br />

und sonstigen persönlichen Bindungen des betroffenen Klienten vor<br />

allem bzgl. der Eltern, Kinder und Partner klären helfen und auf evtl.<br />

Problemkonstellationen hinweisen. Da das Betreuungsrecht eine deutliche<br />

Priorität der Ehrenamtlichkeit kennt, sollten fachliche Bedenken<br />

zur Eignung einer ehrenamtlichen Betreuungsperson gegenüber<br />

dem Rechtspfleger geäußert werden. Ist die Betreuung erst einmal<br />

eingerichtet, fällt auch die Bestellung eines Ergänzungs- oder Verhinderungsbetreuers<br />

(§ 1899 BGB) in den Aufgabenbereich des Rechtspflegers.<br />

Die Suchthilfeeinrichtung sollte dessen Bestellung ‚anregen‘<br />

(ein Antragsrecht besteht nicht), wenn der ursprüngliche Betreuer<br />

seine Aufgaben vorübergehend nicht mehr erfüllen kann, dies dem<br />

Vormundschaftsgericht aber vielleicht nicht selbst mitteilt. Neben der<br />

Bestellung kann der Rechtspfleger auch für die Entlassung des Betreuers<br />

(§ 1908b BGB) zuständig sein. Hier liegt eine besondere Verantwortung<br />

der Suchthilfeeinrichtung gegenüber dem Betreuten. Sollte<br />

eine Suchthilfeeinrichtung die Eignung des Betreuers zur Regelung der<br />

Klientenangelegenheiten nicht mehr gewährleistet sehen (z. B. mangelhafte<br />

Fachlichkeit, fehlende Reagibilität und Flexibilität, Weigerung<br />

zu Absprachen mit der Einrichtung zum therapeutischen Nachteil des<br />

Klienten, Ausfälligkeiten gegen den Klienten etc.) oder einen anderen<br />

wichtigen Grund zur Entlassung des Betreuers anführen können, dann<br />

müsste der Rechtspfleger anstelle des Vormundschaftsrichters davon<br />

informiert werden. Es wird deutlich, dass es unter Umständen zu mehr<br />

Anhörungen als vorher und noch dazu mit verschiedenen Personen<br />

des Vormundschaftsgerichts kommt. Für die betroffenen Klienten<br />

kann das durchaus zu Verwirrung und zusätzlichen Belastung führen.


Für die Einrichtung werden sich evtl. Unterschiede in Vorgehensweisen,<br />

akademischen Habiti und professionellen Schwerpunktsetzungen<br />

zwischen Richter und Rechtspfleger bemerkbar machen. Außerdem<br />

sind viele Rechtspfleger mit einem kaum zumutbaren Arbeitspensum<br />

belastet. Sie sind neben Betreuungsverfahren oft auch für Vormundschafts-<br />

und Nachlasssachen zuständig. Ob und in welchem Umfang<br />

ein Rechtspfleger also direkt mit der Einrichtung Kontakt haben wird,<br />

hängt von dessen Arbeitsbelastung und vom jeweiligen Berufsverständnis<br />

ab. Die Einrichtungen sollten die Rechtspfleger fachlich für<br />

sich gewinnen und zu Vor-Ort-Kontakten motivieren. Da die Rechtspfleger<br />

üblicherweise nur wenig Erfahrung mit Außenkontakten und<br />

Sozialorganisationen haben, besteht für eine Suchthilfeeinrichtung die<br />

Notwendigkeit und Möglichkeit, eine vertrauensvolle Kommunikation<br />

und Kultur aufzubauen. Der Wechsel vom Richter zum Rechtspfleger<br />

hat dazu durchaus positives Potential: Da Rechtspfleger wie die<br />

meisten Sozialarbeiter und -pädagogen an <strong>Fachhochschule</strong>n ausgebildet<br />

werden, stehen sich zwei akademisch gleichrangige Professionen<br />

(freilich mit ähnlichen Professionalisierungsproblemen) gegenüber.<br />

Außerdem sind Rechtspfleger zumindest formell im Betreuungsrecht<br />

meist besser als Richter ausgebildet. Die Mitarbeiter von Suchthilfeeinrichtungen<br />

sollten die Rechtspfleger also weder fachlich noch beruflich<br />

unterschätzen. Rechtspfleger entscheiden zudem richterähnlich. Das<br />

Rechtspflegergesetz bestimmt in § 9 die Weisungsfreiheit des Rechtspflegers,<br />

wonach dieser sachlich unabhängig ist und nur an Recht und<br />

Gesetz gebunden ist.<br />

Betreuer erhalten zukünftig „Kopfpauschalen“ für die<br />

Betreuung der Klienten.<br />

Die Reform der Abrechnung von Vergütung und Aufwendungsersatz<br />

bei Berufs- und Vereinsbetreuern stellt einen Kernpunkt 2. BtÄndG<br />

dar. Aus Sicht der Justizministerien ist damit die Hoffnung verbunden,<br />

„den nicht zu rechtfertigenden bürokratischen Aufwand für die<br />

minutengenaue Abrechnung der Tätigkeit der Berufsbetreuer durch<br />

eine sinnvolle Pauschalierung der Betreuervergütung“ (Gerhards/<br />

Lemken 2005) zu ersetzen. Bislang dokumentierten die Berufs- und<br />

Vereinsbetreuer minutiös Gespräche, Schriftverkehr oder Antragstellungen,<br />

addierten die einzelnen Kosten für Porti und gefahrene<br />

Kilometer und reichten darüber seitenlange Tabellen beim zuständigen<br />

Rechtspfleger zum Beschluss ein. Mit dem Vormünder- und Betreuervergütungsgesetz<br />

(VBVG) wird die Einzelabrechnung zugunsten einer<br />

Betreuungspauschale ersetzt. Das bedeutet für die beruflichen Betreuer<br />

und Rechtspfleger zweifelsohne eine deutliche Vereinfachung. Der<br />

Vergütungsantrag enthält jetzt nur noch die einfache Berechnung einer<br />

Pauschale für einen bestimmten Zeitraum inklusive eines pauschalen<br />

Aufschlags für Umsatzsteuer und Aufwendungsersatz.<br />

Tierärzte und Mathelehrer bekommen die gleiche Betreuervergütung<br />

wie Sozialpädagogen.<br />

Die Betreuervergütung hängt wie bisher zunächst davon ab, welche<br />

Qualifikation ein Betreuer mitbringt. Verfügt der Betreuer über keine<br />

besonderen nutzbaren Fachkenntnisse, dann erhält er 27 Euro je Stunde.<br />

Bei Fachkenntnissen aufgrund einer Berufsausbildung werden 33,50<br />

Euro, bei nutzbarer akademischer Qualifikation 44 Euro je Stunde jeweils<br />

inklusive aller Bürokosten und Umsatzsteuer gezahlt (vgl. Abb. 3).<br />

㤠4 Stundensatz und Aufwendungsersatz des Betreuers<br />

(1) Die dem Betreuer nach § 1 Abs. 2 zu bewilligende<br />

Vergütung beträgt für jede nach § 5 anzusetzende Stunde<br />

27 Euro. Verfügt der Betreuer über besondere Kenntnisse,<br />

die für die Führung der Betreuung nutzbar sind, so erhöht<br />

sich der Stundensatz<br />

1. auf 33,50 Euro, wenn diese Kenntnisse durch eine<br />

abgeschlossene Lehre oder eine vergleichbare<br />

abgeschlossene Ausbildung erworben sind;<br />

2. auf 44 Euro, wenn diese Kenntnisse durch eine<br />

abgeschlossene Ausbildung an einer Hochschule oder durch<br />

eine vergleichbare abgeschlossene Ausbildung erworben<br />

sind.<br />

(2) Die Stundensätze nach Absatz 1 gelten auch Ansprüche<br />

auf Ersatz anlässlich der Betreuung entstandener<br />

Aufwendungen sowie anfallende Umsatzsteuer ab. Die<br />

gesonderte Geltendmachung von Aufwendungen im Sinne<br />

von § 1835 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bleibt<br />

unberührt.“<br />

Abb. 3: Vergütungssätze für Berufsbetreuer nach dem VBVG<br />

Die Rechtsprechung versucht allerdings seit Jahren herauszufinden,<br />

was unter Studium und Berufsausbildung zu verstehen ist und<br />

welche Berufe nutzbare Fachkenntnisse für die Betreuungsarbeit<br />

bereitstellen. So wird beispielsweise abgelehnt, dass Fortbildung und<br />

Berufserfahrung einer abgeschlossenen Ausbildung entsprechen, also<br />

27 Euro statt 33,50 Euro pro Stunde. Eine abgeschlossene Ausbildung<br />

zur Ökonomin für das Gaststättenwesen, als Einzelhandelskauffrau,<br />

Arzthelferin oder Handwerksmeister kann zur Vergütung<br />

auf Berufsniveau (33,50 pro Stunde) verhelfen. Immerhin wird dann<br />

auf fachlich gleicher Höhe gezahlt wie als Erzieherin oder Krankenschwester!<br />

Besonders wichtig sind die Entscheidungen zur akademischen<br />

Vergütungsstufe. Eine IHK-Weiterbildung zum Bankfachwirt<br />

reicht dafür nicht aus, dagegen kann aufgrund der Approbation zum<br />

Tierarzt (!) für den Aufgabenkreis der Gesundheitsfürsorge auf akademischem<br />

Niveau (44 Euro pro Stunde) vergütet werden. Ebenfalls<br />

kaum nachvollziehbar werden Fachkenntnisse auf dem Niveau von<br />

Sozialarbeitern und -pädagogen angenommen bei Mathematik- und<br />

Biologielehrern, Gartenbauingenieuren oder Pfarrern (www.anwaltonline.net).<br />

Es gibt allerdings etliche Berufs- und Vereinsbetreuer,<br />

die zwar keine relevante Erstausbildung vorweisen können, aber aufgrund<br />

spezifischer Qualifizierungsmaßnahmen für Berufsbetreuer bis<br />

zur akademischen Vergütungsstufe vorgedrungen sind. Sie können<br />

frisch diplomierten Sozialarbeitern in betreuungsfachlicher Hinsicht<br />

durchaus ebenbürtig sein.<br />

Für die Betreuung von Suchthilfeklienten wird am wenigsten<br />

gezahlt.<br />

Zur Ermittlung der jeweiligen Pauschale muss der Vergütungssatz<br />

(z. B. 44 Euro) mit einem Stundenkontingent (z. B. 2,0 Stunden<br />

pro Monat und Betreutem) multipliziert werden. Aufgrund einer<br />

umstrittenen empirischen Erhebung, die von der Bundesregierung<br />

in Auftrag gegeben wurde (Sellin/Engels 2003), sind nicht weniger<br />

als 16 Aspekte bei der Ermittlung der Betreuungspauschale relevant<br />

(vgl. Tab. 1):<br />

1-2006<br />

23<br />

KoNTUREN<br />


A k t u e l l Sozialrecht<br />

Betreuungsmonate<br />

Ambulant<br />

vermögend<br />

• Der Gesetzgeber nimmt an, dass in Heimen lebende Betreute<br />

deutlich weniger Betreuungszeit erfordern, als jene in eigener<br />

Wohnung.<br />

• Für vermögende Betreute wird eine höhere Pauschale zugestanden<br />

als für Mittellose. Also erhält der Betreuer für den Vermögenden,<br />

bei dem außer der Buchhaltung von Zinserträgen nichts zu tun ist,<br />

eine höhere Pauschale. Für die Betreuung des verschuldeten Hartz<br />

IV-Empfängers mit vielen Gläubigern und etlichen zu beantragenden<br />

Sozialleistungen bekommt der Betreuer dagegen eine niedrige<br />

Pauschale.<br />

• Schließlich wird angenommen, dass sich der Zeitaufwand für<br />

die Betreuung innerhalb des ersten Jahres seit Betreuerbestellung<br />

ungefähr halbiert. Durch einen Betreuerwechsel wird die Uhr<br />

aber nicht wieder zurückgestellt. Zumindest nicht, wenn von<br />

Berufsbetreuer zu Berufsbetreuer gewechselt wird (http://www.<br />

betreuerlexikon.de).<br />

Für die Suchthilfeeinrichtungen und deren gesetzlich betreute Klienten<br />

zeichnen sich durch die Reform von Abrechnung und Vergütung<br />

der beruflichen Betreuer überaus bedenkliche Konsequenzen ab,<br />

denn:<br />

• ... die Einrichtungen sind Heime im Sinne des Heimgesetzes, was<br />

auch meist für deren therapeutische Außenwohngruppen oder das<br />

betreute Wohnen gilt. Deshalb kann vom Berufsbetreuer nur die<br />

niedrige Stundenpauschale für Heimbewohner angesetzt werden,<br />

unabhängig vom tatsächlichen Zeitaufwand.<br />

• ... die meisten Betreuten leben auf längere Sicht in der Suchthilfeeinrichtung<br />

und haben selten einen Betreuerwechsel. Auch hier<br />

wird meist der niedrigste Stundenansatz ab zwölf Monaten zur<br />

Geltung kommen.<br />

• ... viele Suchthilfeeinrichtungen mit therapeutischer Gemeinschaft<br />

haben einen großen Platzbedarf für Wohnraum und<br />

Arbeitstherapie und sind deshalb in einer städtischen Randlage<br />

oder ländlichen Region angesiedelt. Daraus ergeben sich leicht<br />

Fahrtzeiten für einen Betreuer von einer Stunde und mehr für<br />

einen Betreutenbesuch.<br />

• ... die Betroffenen sind meist schon beim Einzug, spätestens aber<br />

nach einigen Monaten mittellos im Sinne des Betreuungs- und<br />

Sozialhilferechts. Deshalb werden weniger Stunden in die Pauschale<br />

verrechnet, als bei Vermögenden.<br />

KoNTUREN<br />

– 24 1-2006<br />

Ambulant<br />

mittellos<br />

Heim<br />

vermögend<br />

Heim<br />

mittellos<br />

1-3 8,5 7 5,5 4,5<br />

4-6 7 5,5 4,5 3,5<br />

7-12 6 5 4 3<br />

über 12 4,5 3,5 2,5 2<br />

Tab. 1: Stundenpauschalen nach § 5 VBVG<br />

Betreuer werden deutlich weniger Zeit für die stationär<br />

untergebrachten Klienten haben.<br />

Der Betreuer wird zukünftig für den in einer Suchthilfeeinrichtung<br />

lebenden Betreuten meist für zwei Stunden pro Monat vergütet werden.<br />

In diesen 24 Stunden pro Jahr müssen auch Aufgaben gegenüber dem<br />

Vormundschaftsgericht erfüllt werden (z. B. Betreuerbericht, Vermögensaufstellung).<br />

Dazu kommen oft Entschuldungsverhandlungen, Anträge<br />

auf Sozialleistungen, Schriftwechsel, Ablage usw. Es ist leicht vorstellbar,<br />

dass sich der Besuch des Betreuten und die Besprechung mit dem Team<br />

für einen Betreuer nur noch in weit gestreckten Zeitabständen oder bei<br />

akutem Bedarf rentiert: „Es wird weniger Betreuungszeit pro Klient zur<br />

Verfügung stehen“ (Förter-Vondey 2005).“ Beim Stundensatz eines<br />

Diplom-Sozialarbeiters ergibt sich eine Vergütung (nach Abzug der<br />

Umsatzsteuer) von knapp 75 Euro pro Monat oder 910 Euro pro Jahr<br />

für eine Betreuung in einer soziotherapeutischen Einrichtung. Bei einem<br />

Berufsbetreuer ohne relevante Berufsausbildung errechnen sich als Nettopauschale<br />

für den Betreuten in einer Langzeittherapie gar nur 47 Euro<br />

pro Monat und 559 Euro Nettoumsatz pro Jahr. Kaum vorstellbar, dass<br />

dieser Betreuer öfter als alle paar Monate beim Betreuten vorbeischaut.<br />

Auch eine professionelle Büroausstattung oder regelmäßige Fortbildungen<br />

sind da nicht mehr drin. Diese Kalkulationen zeigen für Suchthilfeeinrichtungen<br />

den Bedarf, vor dem Hintergrund des BtÄndG alle Spielräume<br />

bei der Bestellung von qualifizierten Berufsbetreuern zu nutzen.<br />

In den Verlautbarungen der Justizminister ist zwar immer wieder von<br />

einer deutlichen Erhöhung der Stundensätze für die Betreuer die Rede.<br />

Tatsächlich bedeuten die neuen Pauschalen zumindest für die meisten<br />

westdeutschen Betreuer einen Rückgang des Betreuungsumsatzes um<br />

bis zu 20 Prozent. Ostdeutsche Betreuer mussten wegen der bislang<br />

niedrigeren Vergütung schon immer deutlich mehr Betreuungen führen,<br />

um vergleichbare Umsätze zu erzielen. Es wird davon ausgegangen,<br />

dass viele westdeutschen Betreuer mit bislang 20 bis 35 Betreuungen<br />

nun 40 bis 60 Betreuungen führen müssen, um den vorherigen Umsatz<br />

beizubehalten (Förter-Vondey 2005). Die zusätzlich erforderliche Zahl<br />

an Betreuungen wird in der gebotenen Zeit aber nicht zur Verfügung<br />

stehen. Dadurch wird es zu einem Verdrängungswettbewerb unter bzw.<br />

zwischen den Vereins- und Berufsbetreuern kommen (Förter-Vondey<br />

2005b).<br />

Zurück in die Zukunft: von der anonymen zur persönlichen<br />

zur anonymen Betreuung<br />

Eine annähernde Verdopplung der Betreutenzahlen wird kaum ohne<br />

negative Auswirkung auf die Qualität der erbrachten Betreuungsleistungen<br />

bleiben. Zumal sich über die Jahre herausgebildet hatte, dass<br />

zwischen 30 und 40 Betreuungen ein qualitatives und ökonomisches<br />

Optimum der meisten Berufsbetreuer liegt. Im Entwurf zum Betreuungsgesetz<br />

1992 hieß es noch: „Persönliche Betreuung ist der Gegensatz<br />

zu einer anonymen Verwaltung“ (Bundestag Ds 11/6949). Das 2.<br />

BtÄndG wird von der persönlichen wieder zur anonymen Betreuung<br />

führen. Die Proteste der Betroffenen gegen die verminderte Zeit je<br />

Betreuten zeigten keine Wirkung (vgl. Abb. 4). Mit der Vergütungsreform<br />

tauschen die meisten Berufsbetreuer die geringere Vergütung gegen<br />

Abrechnungsvereinfachungen ein. Dadurch ergeben sich Freiräume<br />

für die Führung von zusätzlichen Betreuungen. Der Staat profitiert<br />

von dem vereinfachten Abrechnungsmodus zunächst auf Seiten der


Abb. 4: Ein Betreuer für 80 Menschen? Demonstration gegen das 2. BtÄdG<br />

Rechtspfleger, die jetzt ein noch größeres Pensum an Betreuungsfällen<br />

bearbeiten können. Außerdem erhält der Fiskus mehr geführte<br />

Betreuungen je Betreuer oder eine geringere Haushaltsbelastung<br />

bei bestehender Betreutenzahl. Dem verwaltungswissenschaftlichen<br />

Kenner entpuppt sich das zweite Betreuungsrechtsänderungsgesetz<br />

als Paradebeispiel des neuen Steuerungsmodells.<br />

Den wirtschaftlichen Druck werden die Berufsbetreuer<br />

an die Suchthilfeeinrichtungen weitergegeben.<br />

Das viel zitierte Wohl der Betreuten hat in den neuen Vergütungs-<br />

und Abrechnungsmodalitäten leider keine Berücksichtigung<br />

gefunden. Die Interessensverbände wehrten sich frühzeitig gegen die<br />

Zunahme an Betreuungsfällen je Betreuer und die damit verbundene<br />

Abnahme an Zeit und Aufmerksamkeit je Betreutem. Mit fast<br />

unerträglichen Euphemismen wurde von der Politik selbst diese<br />

Qualitätsverschlechterung des Betreuungswesens uminterpretiert:<br />

Die angeblich bessere und vereinfachte Vergütung biete die „Gewähr<br />

dafür, dass weiterhin eine qualifizierte Betreuung zu Gunsten<br />

der betroffenen Menschen möglich ist“ (Gerhards/Lemken 2005).<br />

Zudem fordern die Konstrukteure des Reformgesetzes die Betreuer<br />

offen dazu auf, die reduzierten Zeitansätze an die Betreuten und die<br />

unterbringenden Einrichtungen weiterzugeben: „Gelingt es dem<br />

Betreuer, in der Mehrheit seiner Fälle die Zeitansätze des § 5 VBVG<br />

zu unterschreiten, hat er Zeit frei, um zusätzliche Betreuungen zu<br />

übernehmen und damit mehr Geld zu verdienen“ (Mayer 2005).<br />

Wenngleich vom Gesetzgeber sicher zu Recht kritisiert wurde,<br />

dass im alten Recht der langsame Betreuer mehr verdiente als der<br />

Schnelle: Nach dem neuen Recht werden dagegen Rentabilität und<br />

Deckungsbeitrag eines Betreuten im Vordergrund stehen und nicht<br />

dessen Wohl.<br />

Die Vormundschaftsgerichte können die Qualität der<br />

Berufsbetreuer nicht mehr kontrollieren.<br />

Die Betreuungsqualität wird nicht nur durch die Zunahme an Betreuungsfällen<br />

leiden. Da der Rechtspfleger seit dem 1.7.2005 nur noch<br />

über die Korrektheit einer angesetzten Pauschale zu entscheiden hat,<br />

gehen die Informationen der früheren Abrechnungen ganz verloren.<br />

Für engagierte Rechtspfleger bot die bisherige Vergütungsdokumentation<br />

eine „wenn auch sicher verbesserungswürdige Kontrollmöglichkeit,<br />

die bei der Einführung einer Pauschalierung ohne vorherige Implementierung<br />

eines Systems von Maßnahmen zur Qualitätssicherung<br />

und Kontrolle entfallen würde“ (Lanzerath 2005). Mit der Pauschalierung<br />

liegen Rechtspflegern und Richtern nun kaum mehr Informationen<br />

über die Aktivitäten der Betreuer vor. Justitia ist hinsichtlich der<br />

Betreuungsqualität zukünftig blind (vgl. Abb. 5).<br />

Abb. 5: Justitia ist blind für Informationen zur Betreuungsqualität.<br />

Wenn sich die Suchthilfeeinrichtungen also auf die fachliche Kontrolle<br />

der Betreuerinnen und Betreuer durch das Vormundschaftsgericht<br />

verlassen, dann sind sie künftig wirklich verlassen. Es wird<br />

vermehrt an den Einrichtungen selbst liegen, die fachliche Qualität<br />

der Betreuungsarbeit über Standards zu definieren, eine Qualitätspolitik<br />

dazu festzulegen und die Performance der Betreuer zu beobachten.<br />

Informationen über Probleme mit Betreuern müssen von<br />

den Einrichtungen an die Vormundschaftsgerichte weitergegeben<br />

werden, wenn mit dem Betreuer keine Einigung zu erzielen ist. Und<br />

dass es eher mehr als weniger Qualitätsprobleme geben wird, darüber<br />

sind sich die Experten einig: „Das Haftungsrisiko steigt. In weniger<br />

vergüteter Zeit pro Fall muss Ähnliches geleistet werden. Arbeitsverdichtung<br />

kann zu Fehlern führen“ (Förter-Vondey 2005).<br />

Betreuerverbände zeigen Konsequenzen für die Suchthilfeeinrichtungen<br />

auf.<br />

Der Bundesverband der Berufsbetreuer (BdB) beschreibt die Konsequenzen<br />

für die Betreuten und Sozialeinrichtungen:<br />

• Besuche bei Klienten werden auf ein Mindestmaß reduziert.<br />

• Dort wo eine einigermaßen sichere Versorgung gewährleistet ist,<br />

muss die Betreuerleistung zugunsten aufwändigerer Fälle im Sinne<br />

der Mischkalkulation reduziert werden.<br />

• Die Kooperation mit Krankenhäusern, Ärzten und Verwaltungen<br />

wird deutlich eingeschränkt.<br />

• Betreuungsdefizite (fehlende Zeit für Heimplatz- oder Wohnungssuche)<br />

werden auf Institutionen abgewälzt, Kosten für vermehrte<br />

Krankenhausaufenthalte werden ein Ergebnis sein.<br />

1-2006<br />

25<br />

KoNTUREN<br />


A k t u e l l Sozialrecht<br />

Spezialisierung auf Suchterkrankungen rentiert sich für<br />

Berufsbetreuer nicht mehr.<br />

Für die Suchthilfeeinrichtungen kommt verschlechternd hinzu, dass<br />

der Gesetzgeber bei der Bestimmung der Betreuungspauschalen von<br />

einer Mischkalkulation bei Betreuern ausging. Er legte den Zeitberechnungen<br />

ein unrealistisch heterogenes Betreutenportfolio der<br />

Betreuer zugrunde. In der Praxis entwickelten sich aber mannigfaltige<br />

Spezialisierungen, darunter eben auch jener Berufsbetreuertyp,<br />

der aufgrund Ausbildung und Erfahrung hauptsächlich suchtkranke<br />

Menschen betreut. Einerseits förderte häufig die Bestellungspraxis<br />

der Richter eine solche Spezialisierung, um die Betreuungsqualität<br />

zu sichern. Andererseits konnte sich eine Spezialisierung für einen<br />

Berufsbetreuer rentieren, da er für den konkreten Aufwand bezahlt<br />

wurde. Unter den oben kalkulierten Vergütungsbedingungen kann<br />

sich aber ein Berufsbetreuer eine Schwerpunktsetzung beispielsweise<br />

auf Alkoholiker spätestens dann nicht mehr leisten, wenn diese<br />

länger als zwölf Monate in einer Suchthilfeeinrichtung leben (vgl.<br />

Abb. 6).<br />

"Jetzt klingeln die roten Glocken. Wir sind in Gera 30<br />

Berufsbetreuer und drei Vereinsbetreuer. Alle wollen 30<br />

Prozent mehr Fälle, um ähnlich zu verdienen wie jetzt.<br />

Aber wo sollen die Betreuten plötzlich herkommen? Ich<br />

richte mich darauf ein, zukünftig ein Drittel weniger zu<br />

verdienen. Tragisch ist, dass ich viele schwere Fälle habe.<br />

Was mir bis jetzt richtig Spaß gemacht hat, gilt jetzt als<br />

schlechte Mischung. Ich bräuchte auf Anhieb zwölf neue<br />

Fälle, um auf meinen Schnitt zu kommen. Die bekomme<br />

ich aber nicht bis zum 1. Juli. Zudem haben wir die<br />

Situation, dass die Fördermittel für Querschnittsarbeit um<br />

40 bis 60 Prozent reduziert werden. Jetzt wird es also hart,<br />

aber es muss gehen. Ich bin 57 Jahre alt und habe keine<br />

Alternative."<br />

Lothar Schubert, Betreuungsverein Gera<br />

Abb. 6: Suchthilfeeinrichtungen werden vermehrt mit überlasteten<br />

Betreuern konfrontiert, Bundesverband der Berufsbetreuer (BdB) aspekte<br />

55/2005.<br />

Mit der Pauschalierung wurde also die bewährte qualitätssichernde<br />

Spezialisierung der Betreuungsarbeit zugunsten einer Verwaltungsvereinfachung<br />

und Kosteneinsparung aufgegeben (Förter-Vondey<br />

2005).<br />

Neue Betreuungsplanung wird ein „Papiertiger“<br />

Mit dem 2. BtÄndG wurde die vielfache Forderung der Betreuungspraktiker<br />

und -verbände nach Einführung einer Betreuungsplanung<br />

grundsätzlich aufgegriffen: „Wird die Betreuung berufsmäßig<br />

geführt, hat der Betreuer in geeigneten Fällen auf Anordnung des<br />

Gerichts zu Beginn der Betreuung einen Betreuungsplan zu erstellen.<br />

In dem Betreuungsplan sind die Ziele der Betreuung und die<br />

zu ihrer Erreichung zu ergreifenden Maßnahmen darzustellen“ (§<br />

1901 Abs. 4 BGB). Im Gesetzesentwurf lag die Verpflichtung zur<br />

selbständigen Erstellung eines Betreuungsplanes noch beim<br />

Betreuer. In der Umsetzung wurde aus dem Instrument zur<br />

Qualitätsverbesserung aber eine Sanktion zur Verhinderung von<br />

KoNTUREN<br />

– 26 1-2006<br />

Qualitätsverschlechterung im Betreuungswesen. Die ursprüngliche<br />

Idee wurde durch die Gleichzeitigkeit von Zwang und Unverbindlichkeit<br />

in ihr Gegenteil verkehrt. Die Betreuungsplanung muss vom<br />

Gericht erst in geeigneten Fällen ‚angeordnet‘ werden, sie ist also<br />

als Reaktion auf Betreuerversagen gedacht. Mit dem unbestimmten<br />

Rechtsbegriff ‚geeigneter Fall‘ hat das Gericht noch dazu einen<br />

weiten Beurteilungsspielraum (Bundestag Ds 15/2494). Deshalb<br />

wird befürchtet, dass die Betreuungsplanung eher als bürokratisches<br />

Hindernis, statt als Chance zur Qualitätsverbesserung gesehen wird.<br />

Es fehlen die Kriterien und Standards zur Beurteilung der Betreuungsplanungen.<br />

Außerdem wird die Betreuungsplanung nur für<br />

berufliche Betreuer gefordert und dort nur zu Beginn der Betreuung<br />

(Zander 2005). Für die bereits laufenden Betreuungen wird es also<br />

keine Planung geben. Die mehr als 700.000 ehrenamtlich Betreuten<br />

haben von diesem Instrument auch in Zukunft nichts. Sollte es<br />

doch einmal zu einer Betreuungsplanung kommen, besteht keine<br />

Verpflichtung zur Integration des Betreuten. Eventuell steht er einem<br />

gerichtsfähigen Planungsprozess sogar im Wege. Aus der systemtheoretischen<br />

Ecke wird bereits gefrotzelt: Wer Betreuungsplanung<br />

sät, wird mit Betreuungserfolgen bestraft. Aus agenturtheoretischer<br />

Sicht ist zu erwarten, dass zur Planung verpflichtete Betreuer die<br />

Betreuungsziele möglichst niedrig hängen werden, um in jedem Fall<br />

Erfolge zu erzielen (Adler 2005).<br />

Der Betreuer muss seine Planung nicht mit der Therapieplanung<br />

abstimmen.<br />

Der Berufsbetreuer wird vom Gesetz nicht angehalten, seine Betreuungsplanung<br />

in vorhandene Planungssysteme zu integrieren. Neben<br />

der Hilfe-, Pflege-, und Therapieplanung wird es also die zusätzliche<br />

Betreuungsplanung geben. Der Leiter der Suchthilfeeinrichtung<br />

Laufer Mühle, Michael Thiem, fordert deshalb eine Verpflichtung<br />

der Berufsbetreuer, sich in das Qualitätsmanagement der Suchthilfeeinrichtungen<br />

zu integrieren (Thiem 2003). Wer Herr des Planungsverfahrens<br />

ist, bleibt nach dem Gesetz unklar. Hier sollten die<br />

Suchthilfeeinrichtungen die eigene Professionalität und Erfahrung<br />

in der Hilfe- bzw. Therapieplanung einbringen und ‚Grundsätze zur<br />

Kooperation bei Betreuungsplanungen‘ formulieren: Das Vormundschaftsgericht<br />

sollte die Suchthilfeeinrichtung über die Anordnung<br />

der Betreuungsplanung informieren. Bei einem erstmaligen Kontakt<br />

mit dem Betreuer ist abzufragen, ob eine Betreuungsplanung<br />

angeordnet wurde. Die Beweggründe des Vormundschaftsgerichts<br />

für die Planungsanordnung sind zu klären, da sich daraus Hinweise<br />

auf Probleme in der Betreuungsqualität ergeben. Der Berufsbetreuer<br />

sollte sich bereit erklären, seine Betreuungsplanung der Einrichtungsplanung<br />

anzupassen, wenn nicht sogar unterzuordnen. Die<br />

Suchthilfeeinrichtung darf auch keine Scheu haben, das Vormundschaftsgericht<br />

bei Betreuerwechsel oder Aufgabenkreisveränderung<br />

ggf. um eine Anordnung der Betreuungsplanung zu bitten.<br />

Gesetzliche Betreuung in Suchthilfeeinrichtungen nach<br />

dem Minimalprinzip<br />

Die Pauschalierung erzwingt von Vereins- und Berufsbetreuern, alle<br />

Möglichkeiten zur Rationalisierung der Betreuungsarbeit zu nutzen.<br />

Der Gesetzgeber erwartet nicht, dass ein Berufsbetreuer die Ergebnisse


und Qualität seiner Leistungen im Sinne des Betreuten maximiert.<br />

Die Konstrukteure des Reformpakets legen die Anwendung des<br />

Minimalprinzips (Schierenbeck 2000) nahe unter der Fragestellung:<br />

„Wie kann die Betreuungsarbeit rationalisiert werden und damit Zeit<br />

beziehungsweise Geld eingespart werden, ohne dass dies zu Lasten<br />

der Betroffenen geht?“ (Maier 2005). Die vorhandene Betreuungsqualität<br />

wird demnach als Status Quo definiert, anschließend kann<br />

der erforderliche Ressourceneinsatz minimiert werden. Hier wird<br />

stillschweigend davon ausgegangen, dass das Betreuungsrecht die<br />

erforderlichen Qualitätskriterien (z. B. Besprechungspflicht, persönliche<br />

Betreuung, Beitrag zur Rehabilitation etc.) operationalisiert<br />

bereitstellt. Da es sich dabei um unbestimmte „Blankoetiketten zur<br />

beliebigen Beschriftung“ (Pardey 1989) handelt, kann jeder Betreuer<br />

anhand seiner ökonomischen Zielstellungen die Betreuungsqualität<br />

solange senken, wie es nicht zu einer Belastung des Betreuten<br />

kommt. Unter dem Minimalprinzip betreuerischer Arbeit bieten sich<br />

für den ökonomisch handelnden Berufsbetreuer vor allem die zwei<br />

Strategien ‚Delegation‘ und ‚Konzentration‘ an. Diese sollten von<br />

stationären Suchthilfeeinrichtungen in ihren Auswirkungen kritisch<br />

beobachtet und kontrolliert werden.<br />

Betreuer werden Klienten in Einrichtungen konzentrieren.<br />

Als Konzentrationsstrategie werden Berufsbetreuer versuchen, möglichst<br />

viele Betreute in die gleiche Einrichtung zu verlegen. Als Auswahlkriterien<br />

dienen kurze Anfahrtswege, kurze Besprechungszeiten,<br />

Übernahme von betreuerischen Aufgaben oder eine geringe Verlegungs-<br />

und Therapieabbruchsbereitschaft der Einrichtung. Dadurch<br />

erspart sich der Betreuer viele Besprechungs- und Anfahrtszeiten<br />

sowie Anfahrtskosten. Im schlimmsten Fall würde ein Berufsbetreuer<br />

die persönliche Betreuung in der Einrichtung nur noch inszenieren,<br />

beispielsweise indem mehrere Betreute in eine ‚Gruppenbesprechung‘<br />

geladen werden oder durch eher symbolhaftes Erscheinen mit<br />

möglichst großer Erinnerungswirkung. Suchthilfeeinrichtungen sollten<br />

also bei Verlegungswünschen durch den Betreuer die therapeutischen<br />

Aspekte und Konsequenzen klären und ggf. beim Vormundschaftsgericht<br />

intervenieren, wenn der Betreuer seine ökonomischen<br />

Ziele gegenüber dem Wohl des Betreuten zu priorisieren versucht.<br />

Gleichfalls sollte zwischen Einrichtung, Betreuer und dem Betreuten<br />

eine gemeinsame Qualitätspolitik für Betreuerbesprechungen zum<br />

gegenseitigen Nutzen entworfen werden.<br />

Klienten und Einrichtungen werden mehr Aufgaben der<br />

Betreuer übernehmen müssen.<br />

Als Delegationsstrategie wird es für Berufsbetreuer künftig Sinn<br />

machen, Aufgaben und Tätigkeiten an Hilfspersonal, an die Betreuten<br />

oder die unterbringende Suchthilfeeinrichtung zu vergeben: „Delegation<br />

rechnet sich künftig für jede Tätigkeit, die der Betreuer günstiger einkaufen<br />

kann als es ihn kommt, sie selbst zu erledigen“ (Lüttgens 2005).<br />

Aus therapeutischer Sicht besonders beachtenswert sind Versuche, früher<br />

vom Betreuer vorgenommene Aufgaben nun an den Betreuten zu delegieren<br />

(freilich unter dem Deckmantel der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘). Dafür<br />

bieten sich alle Tätigkeiten mit einem hohen symbolischen Charakter<br />

an, die in den früheren Betreuerabrechnungen überbewertet dargestellt<br />

und abgerechnet werden konnten (z. B. Kontakte mit wichtigen<br />

Institutionen und Professionen, Arztbesuche, Behördengänge, Bankgeschäfte<br />

etc.). In vielen Fällen werden alle Beteiligten zwar froh sein,<br />

wenn es nicht mehr zur sinnlosen Überbetreuung kommt. Die Suchthilfeeinrichtungen<br />

sollten aber genau beobachten, ob die vom Betreuer<br />

nun plötzlich eingeräumte Möglichkeit zur eigenständigen Abhebung<br />

von Bargeld am Geldautomat für den Betreuten wirklich ein Fortschritt<br />

oder eher ein Risiko bedeutet.<br />

Vermehrter Einsatz von Hilfskräften und Besuchsdiensten<br />

im Auftrag des Betreuers<br />

Eine weitere Möglichkeit der Delegation ergibt sich, wenn Berufsbetreuer<br />

die seit 1998 im Gesetz formulierte Konkretisierung auf die<br />

„rechtliche Besorgung“ wörtlich nehmen. Im strengen Sinn bliebe es<br />

beispielsweise nur noch Aufgabe des Betreuers, einen Sozialleistungsantrag<br />

zu unterschreiben. Die konkrete Antragstellung mit Informationssammlung<br />

und Papierarbeit wäre nach dieser Interpretation die<br />

Aufgabe der Sozialdienste in den Einrichtungen. Schließlich eröffnet<br />

das 2. BtÄndG einer bislang weitgehend ausgeschlossenen Form der<br />

Delegation neue Möglichkeiten: Berufsbetreuer können Aufgaben und<br />

Tätigkeiten nun an andere Betreuer oder an Hilfspersonal übertragen.<br />

Bislang lohnte sich der Einsatz von Hilfspersonal nicht, da der Berufsbetreuer<br />

nur die konkreten Kosten als Aufwand abrechnen konnte.<br />

Außerdem kollidierte der Einsatz von Hilfskräften mit dem Grundsatz<br />

der persönlichen Betreuung. Manche Gerichte wollten damit nicht<br />

einmal die Erledigung eines einfachen Briefes oder Gesprächs durch<br />

eine Hilfskraft des Betreuers übereinstimmen lassen (OLG Frankfurt/<br />

M. 2004). Beide Aspekte sind heute nicht mehr relevant: Ob der pauschal<br />

vergütete Betreuer die Betreuungsleistungen persönlich oder in<br />

Vertretung erbringt ist grundsätzlich egal. Das Vormundschaftsgericht<br />

kann das nicht mehr kontrollieren und korrigieren, da die Informationsbasis<br />

fehlt. Die „Pauschale ist fest, egal ob eine Hilfskraft eingesetzt<br />

wurde oder nicht. Der Betreuer muss dies nicht offen legen. (...) Die<br />

Delegation von Betreuungstätigkeiten ist also künftig ein lukratives<br />

Geschäft. (...) Ihr Umfang wird daher erheblich zunehmen“ (Maier<br />

2005). Das Betreuungsgesetz fordert zwar, dass im bestellten Aufgabenkreis<br />

persönlich zu betreuen ist, um eine anonyme Massenverwaltung<br />

zu verhindern. Außerdem sollen wichtige Angelegenheiten vor<br />

der Besorgung mit dem Betreuten besprochen werden. Das verbietet<br />

dem Berufsbetreuer aber nur, die Betreuungsaufgaben vollständig auf<br />

andere zu übertragen. Berufsbetreuer werden zukünftig keinen Hinderungsgrund<br />

im Gesetz sehen, untergeordnete Tätigkeiten an Hilfspersonal<br />

abzugeben und dessen Kontakte mit Betreuten, Behörden oder<br />

Einrichtungen zu unterbinden, wenn es wirtschaftlich sinnvoll ist.<br />

Von der persönlichen zur virtuellen Betreuung: Klienten<br />

und Einrichtungen haben das Nachsehen.<br />

Aktuell wird immerhin noch der direkte Kontakt zum Betreuten<br />

als letzte exklusive Domäne des bestellten Betreuers gesehen. Das<br />

bedeutet, dass ein stellvertretender Betreuer zwar für seinen Kollegen<br />

z. B. Behördengänge oder Organisatorisches erledigen kann, aber<br />

nicht in direkten Kontakt zu dem Betreuten treten darf. Die berufliche<br />

Betreuungspraxis wird jedoch geeignete Konstellationen herstellen,<br />

unter denen auch die Delegation des persönlichen Betreutengesprächs<br />

dem Wohl des Betreuten zuträglich sein kann. Beispielsweise<br />

1-2006<br />

27<br />

KoNTUREN<br />


A k t u e l l Sozialrecht<br />

wenn ein Betriebswirt eine sozialpädagogisch geschulte Fachkraft zum<br />

Betreuten schickt, weil der Betreute dann ein fachlich besser geführtes<br />

Gespräch erhält. Das Gesprächsergebnis wird anschließend vom Vermögensspezialisten<br />

umgesetzt. Dieses Szenario ist auch gut vorstellbar,<br />

weil das 2. BtÄndG die gleichzeitige Bestellung von Berufsbetreuern in<br />

unterschiedlichen Aufgabenfeldern nicht mehr zulässt (§ 1899 BGB).<br />

Im Rückgriff auf die ‚rechtliche Besorgung‘ der Betreutenangelegenheiten<br />

werden Berufs- und Vereinsbetreuer auch leicht darstellen können,<br />

dass der Kontakt durch einen Besuchsdienst des Betreuers nicht<br />

betreuungsrechtlichen Funktionen sondern zur Pflege der Sozialbeziehung<br />

zum Betreuten dient. In Berlin sollen bereits mehrere Besuchsdienste<br />

als selbständige Ich-AGs für Berufsbetreuer unterwegs sein. Im<br />

Sinne des 2. BtÄndG dürften gegen eine solche Praxis keine Bedenken<br />

bestehen, weil der Betreuer nur für die rechtliche und nicht die soziale<br />

Besorgung der Betreutenangelegenheiten zuständig ist (Maier 2005).<br />

Die neuen Delegationsmöglichkeiten lassen Zusammenschlüsse von<br />

Berufsbetreuern zu Kanzleigemeinschaften noch sinnvoller erscheinen.<br />

Man vertritt sich dann gegenseitig nicht nur bei tatsächlicher<br />

Verhinderung, sondern auch im laufenden Betrieb. Gegenüber den<br />

Kooperationspartnern in Behörden und Einrichtungen lässt es sich aus<br />

qualitätskosmetischen Erwägungen auch besser darstellen, wenn nicht<br />

eine untergeordnete Hilfskraft sondern ein ‚vertretender Betreuer‘ als<br />

Gesprächspartner auftritt. Der Gesetzgeber hat auf eine eindeutige<br />

Grenzziehung der zulässigen Vertretung verzichtet und glaubt, man<br />

könnte „erhebliche Synergieeffekte erzielen, wenn ein Betreuer, der<br />

ohnehin einen Termin - etwa beim Sozialamt - wahrnehmen muss,<br />

gleichzeitig die Angelegenheiten mehrerer Betreuer erledigt.“ Es ist<br />

jedoch praktisch kaum machbar, dass ein vertretender Berufsbetreuer<br />

eine Suchteinrichtung besucht und mit dem Team eine Besprechung<br />

hält, ohne mit dem Betreuten in Kontakt zu treten. Eine solche ‚Arbeitsteilung‘<br />

ist dem Betroffen auch nicht vermittelbar.<br />

Suchteinrichtungen müssen Grundsätze für die Zusammenarbeit<br />

mit Berufsbetreuern formulieren.<br />

In der Vergangenheit ging es häufig um die Frage, was ein Betreuer selbst<br />

erledigen darf, damit er nicht zu viel macht und zu teuer wird (vgl. Abb. 7).<br />

Abb. 7: Vor dem 2. BtÄndG tendierten die Berufsbetreuer zur „Überbetreuung“.<br />

Zukünftig wird es vielmehr um die Frage gehen, was er unbedingt<br />

machen muss (Lüttgens 2005), damit er nicht zu wenig für seine<br />

Pauschale und den Betreuten leistet (vgl. Abb. 8). An diesem Punkt<br />

werden die Suchthilfeeinrichtungen mit den Betreuern einvernehmliche<br />

Grundsätze formulieren müssen. Die Gerichte haben hierzu noch keine<br />

Erfahrungen. Die Rechtspfleger sind derartigen Konflikten bislang<br />

KoNTUREN<br />

– 28 1-2006<br />

Abb 8: Mit dem 2. BtÄndG wird es eher zur „Mangelbetreuung“ kommen.<br />

nicht ausgesetzt gewesen und zukünftig wohl auch nicht gewachsen.<br />

Vor dem Hintergrund der ursprünglichen Intention des Betreuungsrechts<br />

sollte als Kriterium für Delegationsgrenzen zunächst bestimmt<br />

werden, was für den Betreuten ‚wichtige Angelegenheiten‘ sind. Denn<br />

der Betreuer muss sie persönlich mit dem Betreuten besprechen: „Ehe<br />

der Betreuer wichtige Angelegenheiten erledigt, bespricht er sie mit<br />

dem Betreuten, sofern dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft“ (§ 1901<br />

BGB). Die Definition wichtiger Angelegenheiten sollten sich weder<br />

der Betreute noch die Einrichtung aus der Hand nehmen lassen. Zur<br />

weiteren Orientierung dienen die Entscheidungsbefugnis und eindeutige<br />

Betreuungsverantwortung, die allein beim Betreuer liegen und von<br />

ihm nicht delegiert werden können (BayObLG 2003) Das wichtigste<br />

Kriterium einer zulässigen Delegation von Betreueraufgaben sollte<br />

in einer Suchthilfeeinrichtung aber die therapeutische Perspektive<br />

des Betreuten sein. Betreuter und Therapeuten brauchen dazu einen<br />

eindeutigen Ansprechpartner, zu dem eine vertrauensvolle Beziehung<br />

aufgebaut werden kann. Schließlich sollten Einrichtungen zukünftig<br />

genau dokumentieren, ob der Berufsbetreuer durch seine Delegationspolitik<br />

wirklich dazu beiträgt, „die Krankheit oder Behinderung des<br />

Betreuten zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten<br />

oder ihre Folgen zu mildern“ (§ 1901 Nr. 4 BGB). Denn dazu ist er<br />

nach dem Betreuungsgesetz wortwörtlich verpflichtet. Dieser gesellschaftliche<br />

Auftrag an den Betreuer ist auch nicht verhandelbar!<br />

Kontak t:<br />

Prof. Dr. Reiner Adler<br />

<strong>Fachhochschule</strong> <strong>Jena</strong> • Fachbereich <strong>Sozialwesen</strong><br />

Post fach 10 0 314 • 07 70 3 <strong>Jena</strong><br />

Tel. 0 3641/20 58 0 0 • Fax 0 3641/20 58 01<br />

E-Mail: reiner.adler@fh-jena.de<br />

Prof. Dr. Reiner Adler<br />

Angaben zum Autor:<br />

Nach dem Studium der Verwaltungswissenschaften war Prof. Adler<br />

zunächst Referent der Geschäftsleitung bei der Daytop gGmbH und<br />

Geschäftsführer des europäischen Suchthilfeverbands EFTC (European<br />

Federation of Therapeutic Communities). Nach einer mehrjährigen Praxis<br />

als Berufsbetreuer, Trainer und Berater für Sozialeinrichtungen lehrt<br />

und forscht er seit 1999 an der <strong>Fachhochschule</strong> <strong>Jena</strong> zum Sozialmanagement,<br />

insbesondere zum Qualitätsmanagement sozialer Dienstleistungen.

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