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Nachdem Heinrich Mann, der ehemalige ... - Ricarda jubiliert

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Zur Erinnerung an <strong>Ricarda</strong> Huch<br />

<strong>Heinrich</strong> Detering<br />

Verehrte Lehrende, Lernende und Freunde <strong>der</strong> <strong>Ricarda</strong>-Huch-Schule,<br />

über den schwäbischen Romantiker Ludwig Uhland hat <strong>der</strong> Komiker Heinz Erhardt<br />

scherzhaft gesagt, er sei <strong>der</strong> Erfin<strong>der</strong> <strong>der</strong> gleichnamigen Straße gewesen. <strong>Ricarda</strong> Huch,<br />

so könnte man entsprechend vermuten, war die Erfin<strong>der</strong>in <strong>der</strong> gleichnamigen Schule.<br />

Aber was heißt hier Schule? Mädchenschulen in mindestens elf deutschen Städten tra-<br />

gen seit <strong>der</strong> Nachkriegszeit ihren Namen: in Braunschweig, wo <strong>Ricarda</strong> Huch am 18. Ju-<br />

li 1864 geboren wurde, und in Dortmund, in Dreieich bei Frankfurt und München und<br />

Zwickau, in Hannover und Hagen, in Gelsenkirchen und Gießen, in Krefeld und, wem<br />

sage ich das, in Kiel. Dass aber <strong>Ricarda</strong> Huch wie Ludwig Uhland diese flächendecken-<br />

de Beliebtheit einem großen literarischen Werk verdankt, das ist so weitgehend in Ver-<br />

gessenheit geraten, dass man es beinahe mit dem Heinz-Erhardt-Zitat bewenden lassen<br />

möchte. Aber um welche Einsichten brächte man sich damit, und um wie viel Lesever-<br />

gnügen! Was ich hier in den nächsten fünfundvierzig Minuten vorhabe, ist nichts weiter<br />

als eine Erinnerung an diese Schriftstellerin und ihr Werk – so skizzenhaft unvollständig<br />

und so subjektiv, wie es bei diesem Anlass kaum an<strong>der</strong>s möglich und vielleicht auch gar<br />

nicht an<strong>der</strong>s wünschenswert ist.<br />

Denn um es gleich zu sagen: Keineswegs alles, was die Zeitgenossen im Werk <strong>der</strong> Ri-<br />

carda Huch bewun<strong>der</strong>t haben, würde ich heute noch neugierigen Lesern uneingeschränkt<br />

empfehlen. Vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint, dass gerade die großen Roma-<br />

ne, die lange Zeit in jedem guten deutschen Bücherschrank standen, zuerst Patina ange-<br />

setzt haben. Die forcierte Leidenschaft <strong>der</strong> von Jugendstil und Neuromantik, Ästheti-<br />

zismus und Lebensphilosophie geprägten Entwicklungsromane ist heute nicht mehr so<br />

leicht genießbar wie 1920, und auch das Pathos <strong>der</strong> halb dokumentarischen, halb fiktio-<br />

nalen Erzählungen über Garibaldi und die Einigung Italiens haben in Zeiten einer nüch-<br />

terneren Geschichtsschreibung viel von ihrem einstigen Reiz verloren.<br />

Immerhin spürt man in manchen Passagen noch etwas von <strong>der</strong> Wucht einer Verdi-<br />

Oper, doch eben das Opernhafte ist es auch, was sie als historische Romane doch fern<br />

und fremd erscheinen lässt. (Aber wer weiß, wann die nächste Wie<strong>der</strong>entdeckung diese<br />

Kritik Lügen strafen wird.) Selbst ein so publikumswirksames Buch wie <strong>der</strong> Kriminal-


oman Der Fall Deruga, Kinofreunde erinnern sich vielleicht an die Ufa-Verfilmung mit<br />

Willy Birgel, wirkt heute son<strong>der</strong>bar matt – nicht etwa weil es schlecht, son<strong>der</strong>n weil es<br />

gewissermaßen zu gut geschrieben ist, in jener makellosen, gepflegten Eleganz des Stils,<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong>jenigen ihrer aristokratischen – buchstäblich adligen o<strong>der</strong> doch jedenfalls seelen-<br />

aristokratischen – Helden entspricht. Die Erzählerin <strong>Ricarda</strong> Huch kann gar nicht an<strong>der</strong>s<br />

schreiben als elegant, gewandt, gebildet, es ist ihr einziges – freilich auch vollkommen<br />

beherrschtes – Stilregister; und so entsteht ein sonorer Dauerton von unterschiedslos und<br />

lei<strong>der</strong> manchmal auch spannungsarm dahingleiten<strong>der</strong> Vornehmheit.<br />

Was aber <strong>der</strong> Romanschriftstellerin für einen heutigen Leser mangelt, das besitzt die<br />

Essayistin und Lyrikerin in einem Maße, das mit den Jahren noch gewachsen ist. In die-<br />

sen Genres schreibt sie nicht nur gut (das hat sie eigentlich immer getan, sie konnte gar<br />

nicht an<strong>der</strong>s), son<strong>der</strong>n glanzvoll; hier kann sie erregend sein, mitreißend, begeisternd.<br />

Das beginnt schon in den frühen Gedichten, die ihren Ruhm begründeten. Ihr erster Ge-<br />

dichtband erscheint 1891 in Dresden, vorsichtshalber unter dem männlichen Pseudonym<br />

„Richard Hugo“. Fast durchweg sind diese Verse getragen von einer religiösen Überhö-<br />

hung des Irrationalen als Selbstzweck, von Leidenschaft und Ekstase, wie sie in diesen<br />

Jahren durchaus an <strong>der</strong> Tagesordnung war, im Geist eines an Nietzsche geschulten Vita-<br />

lismus:<br />

Noch einmal dem Nichts entstiegen,<br />

Noch einmal aus Flammen neu,<br />

Seh ich dich im Morgen liegen,<br />

Schöne Welt, dem Treuen treu.<br />

Komm, begegne meinem Hoffen,<br />

Gib an Lust und Schmerz mein Teil,<br />

Gläubig steht mein Busen offen<br />

Deinem Blitz und Todespfeil.<br />

Das ist sozusagen <strong>der</strong> Normalton <strong>der</strong> Epoche, lyrische Dutzendware. Aber erstaunlich<br />

viele schon dieser frühen Gedichte halten es aus, dass man sie langsam und genau liest.<br />

Zweifellos haben sie an <strong>der</strong> literarischen Mode teil. Aber sie gehen nicht in ihr auf. Se-<br />

hen wir uns das an einem bemerkenswerten Beispiel genauer an. 1912, auf dem Höhe-<br />

punkt von Jugendstil und Neuromantik, schreibt <strong>Ricarda</strong> Huch die folgenden Verse, die<br />

mit Recht bis heute in Anthologien fortleben:<br />

2


Du kamst zu mir, mein Abgott, meine Schlange,<br />

In dunkler Nacht, die um dich her erglühte.<br />

Ich diente dir mit Liebesüberschwange<br />

Und trank das Feuer, das dein Atem sprühte.<br />

Du flohst, ich suchte lang in Finsternissen.<br />

Da kannten mich die Götter und Dämonen<br />

An jenem Glanze, den ich dir entrissen,<br />

Und führten mich ins Licht, mit dir zu thronen.<br />

Weil die anfangs so unterwürfig erscheinende Liebende sich gegen den Liebenden be-<br />

hauptet hat, bis sie ihm gleich geworden ist, darum hat sich nun auch die Beschaffenheit<br />

<strong>der</strong> Liebe selbst gewandelt: aus dem sündigen Feuer ist eine helle, souveräne und aller<br />

Welt sich zeigende Liebe geworden. Denn was muss man als Prinzessin doch gleich tun,<br />

wenn <strong>der</strong> eklige Frosch, weil man es ihm leichtfertig versprochen hat, mit einem ins Bett<br />

gehen will? Man muss ihn an die Wand werfen, mit aller Wucht, sich also so aggressiv<br />

wie möglich gegen ihn behaupten – dann, oh Wun<strong>der</strong>, ist er auf einmal gar kein ekliger<br />

Frosch mehr, son<strong>der</strong>n wird zum schönen Prinzen. Aber auch erst dann.<br />

Kein Wun<strong>der</strong>, dass diese Dichterin zur Frauenrechtlerin wird – wenn auch wie bei al-<br />

lem, was sie tut, allein mit den Mitteln des Wortes, <strong>der</strong> Literatur. Mitten in <strong>der</strong> Konstitu-<br />

ierungsphase <strong>der</strong> deutschen Frauenbewegung, im März 1902 – da ist sie siebenunddrei-<br />

ßig Jahre alt – hält <strong>Ricarda</strong> Huch im „Verein für erweiterte Frauenbildung“ einen Vor-<br />

trag Über den Einfluss von Studium und Beruf auf die Persönlichkeit <strong>der</strong> Frau. Darin re-<br />

feriert sie, scheinbar ganz artig, einige Ideen des <strong>der</strong>zeit tonangebenden Psychiaters Paul<br />

Julius Möbius, <strong>der</strong> – so resümiert sie – „das mo<strong>der</strong>ne Streben, die Intelligenz <strong>der</strong> Frau<br />

auszubilden, für ver<strong>der</strong>blich erklärt“. Und dann erläutert sie Möbius’ Thesen so to<strong>der</strong>nst,<br />

dass ihre Absurdität ganz von selbst hervortritt: „Er äußert in Kürze folgende Ansichten:<br />

Es ist <strong>der</strong> geistigen Entwicklung im allgemeinen eigen, vom Unbewussten zum Bewuss-<br />

ten zu gehen; … aus dem Gattungswesen wird ein Individuum. Die Frau aber ist wesent-<br />

lich Gattungswesen, sie ist unbewusst und muss es bleiben; denn nur durch Einbußen an<br />

Gesundheit kann sie eine Persönlichkeit werden. Zwar treten mit zunehmen<strong>der</strong> Zivilisa-<br />

tion abnorme Formen auf, Abweichungen von <strong>der</strong> natürlichen Art, so dass sich an Män-<br />

nern weibliche, an Frauen männliche Züge zeigen. Frauen solcher Art, die geistig rege<br />

sind und lange so bleiben, sollen nicht daran verhin<strong>der</strong>t werden, ihre Fähigkeiten auszu-<br />

3


ilden; aber sehr bedenklich wäre es, wenn die Frauen im allgemeinen sich als Individu-<br />

um ‚ausleben’ wollten, weil sie mit Siechtum geschlagen würden. Es besteht nämlich<br />

ein Gegensatz zwischen Hirntätigkeit und Fortpflanzung; wo eines das Übergewicht er-<br />

hält, leidet das an<strong>der</strong>e. – So habe ich Möbius’ Gedankengang verstanden.“ Und dann<br />

denkt sie weiter: „Wäre dem so, … so wäre es freilich wünschbar, dass das Ideal ‚ge-<br />

sund und dumm’ allgemeine Geltung bekäme, auf die Gefahr hin, dass, da die Söhne ge-<br />

rade in Bezug auf die Intelligenz nach <strong>der</strong> Mutter arten sollen, die Männer dabei zu kurz<br />

kämen.“ Das ist <strong>Ricarda</strong> Huch: Gelassen und genau, mit einem Scharfsinn argumentie-<br />

rend, <strong>der</strong> schon im Ton des Referats alle referierten Argumente Möbius’ erledigt, und<br />

mit einer ausgefuchsten Ernsthaftigheit.<br />

Am Ende dieses Vortrags geht <strong>Ricarda</strong> Huch übrigens auf Berufe ein, die jetzt für ge-<br />

bildete Frauen in Frage kommen: Ärztin o<strong>der</strong> Lehrerin. Zwischen diesen beiden Mög-<br />

lichkeiten sieht sie einen Hauptunterschied, <strong>der</strong> ebenso überraschend wie einleuchtend<br />

ist: im Hinblick nämlich auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Arztehepaare<br />

könnten immerhin gemeinsam praktizieren, meint sie und fährt fort: „Übel ist die Lehre-<br />

rin gestellt, die durch Heirat ihre Stellung verliert.“ Womit gemeint ist: jede Lehrerin,<br />

die heiratet. Und dann folgt ein Gedanke, <strong>der</strong> mir nicht son<strong>der</strong>lich veraltet vorkommt:<br />

„Dessenungeachtet bleibt im allgemeinen das bestehen, dass die Frauen sich dagegen<br />

sträuben, ihr Leben ausschließlich <strong>der</strong> Wissenschaft zu widmen; es geht den Männern<br />

nicht an<strong>der</strong>s, nur, da sie sich ohne weiteres nehmen, was sie sonst noch brauchen, reden<br />

sie nicht viel davon“ – so <strong>Ricarda</strong> Huch 1902.<br />

Diese Rednerin weiß, wovon sie spricht. 1890 hatte sie, mit sechsundzwanzig Jahren<br />

und nach dem Abschluss ihres Geschichtsstudiums, eine Promotion in Angriff nehmen<br />

wollen, zu einem bereits ganz ohne professorale Beratung gefundenen Thema. Aber in<br />

Deutschland dürfen Frauen in dieser Zeit nicht promoviert werden. Also geht <strong>Ricarda</strong> in<br />

die Schweiz, nach Zürich. (Auf <strong>der</strong> Webseite <strong>der</strong> Stadt Braunschweig liest sich das so:<br />

„Die Braunschweigerin zählte zu den ersten deutschen Frauen, die ob des Studienver-<br />

bots in Deutschland ihr Studium und ihre Dissertation 1890 in Zürich absolvierten.“ Das<br />

müssen ja wahre Heerscharen gewesen sein!) In Zürich schreibt sie ihre Abhandlung<br />

über die Schweiz während des Spanischen Erbfolgekriegs, in Thema und Verfahren<br />

Grundlage ihrer historischen Romane und Erzählungen.<br />

Da eine akademische Karriere für Frauen undenkbar ist, auch für hochbegabte wie sie,<br />

wird sie – und sie soll noch dankbar sein dafür – Bibliothekarin. Es ist für sie ein elend<br />

langweiliger Beruf, aber er gibt ihr bequemen Zugang nicht nur zu Büchern, son<strong>der</strong>n<br />

4


auch zur akademischen Welt. Und er lässt ihr genug Zeit und Kraft zum Dichten. Ihren<br />

neuen, zweiten Beruf als Lehrerin muss sie kurze Zeit nach <strong>der</strong> Hochzeit mit dem italie-<br />

nischen Zahnarzt Ermanno Ceconi 1898 wie<strong>der</strong> aufgeben, um ihrem <strong>Mann</strong> nach Triest<br />

zu folgen. 1906 ließ sie sich, mittlerweile Mutter einer Tochter, wie<strong>der</strong> scheiden.<br />

Einige <strong>der</strong> schönsten Gedichte <strong>Ricarda</strong> Huchs verdanken sich gerade den erotischen<br />

Verwicklungen, an denen ihre erste Lebenshälfte nicht arm war, vor allem dem leiden-<br />

schaftlichen Liebesverhältnis zu ihrem verheirateten Cousin Richard Huch (mit dem sie<br />

dann später eine kurze und unglückliche Ehe führte). Hören Sie eins meiner Lieblings-<br />

gedichte:<br />

Nicht alle Schmerzen sind heilbar, denn manche schleichen<br />

Sich tiefer und tiefer ins Herz hinein,<br />

Und während Tage und Jahre verstreichen,<br />

Werden sie Stein.<br />

Du sprichst und lachst, wie wenn nichts wäre,<br />

Sie scheinen zerronnen wie Schaum.<br />

Doch du spürst ihre lastende Schwere<br />

Bis in den Traum.<br />

Der Frühling kommt wie<strong>der</strong> mit Wärme und Helle,<br />

Die Welt wird ein Blütenmeer.<br />

Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,<br />

Da blüht nichts mehr.<br />

Auch im Umkreis ihrer historischen Arbeiten an dem Riesenwerk Aus dem 30jährigen<br />

Kriege werden fiktive Kriegserfahrungen in Gedichten artikuliert, Erfahrungen aus <strong>der</strong><br />

Perspektive <strong>der</strong> Verlierer, von ganz unten. Wo aber ist ganz unten? Bei den Kriegsop-<br />

fern, und zwar bei den ärmsten, unter diesen wie<strong>der</strong>um bei den Frauen, unter diesen bei<br />

denen, die sich um ihre Kin<strong>der</strong> sorgen, <strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> gestorben sind, eingezogen als Sol-<br />

daten, als Schlachtvieh für die Schlachten, o<strong>der</strong> einfach verschollen, verschwunden in<br />

den Kriegsgreueln. In einem dieser Gedichte singt die Mutter ihrem kleinen Sohn ein –<br />

so die Überschrift – Wiegenlied. Dessen zweite Strophe könnte mit ihrem grausamen<br />

5


Sarkasmus so ähnlich bei Brecht stehen, im Antikriegsdrama von Mutter Courage und<br />

ihren Kin<strong>der</strong>n:<br />

Schlaf, Kind, schlaf, es ist Schlafens Zeit,<br />

Ist Zeit auch zum Sterben.<br />

Bist du groß, wird dich weit und breit<br />

Die Trommel anwerben.<br />

Lauf ihr nach, mein Kind, hör deiner Mutter Rat;<br />

Fällst du in <strong>der</strong> Schlacht, so würgt dich kein Soldat.<br />

So also sieht das Leben dieser Ärmsten aus im großen Krieg: nicht wie ein Leben, son-<br />

<strong>der</strong>n wie ein Sterben. Wer nicht als Zivilist ermordet wird, <strong>der</strong> stirbt als Soldat.<br />

Geschrieben hat <strong>Ricarda</strong> Huch diese Verse im Jahr 1917, im dritten Jahr des Welt-<br />

kriegs, dessen Ausbruch die meisten deutschen Dichter als nationale Befreiung bejubelt<br />

hatten. Ein Jahr später war <strong>der</strong> Krieg zu Ende (auch dank des Aufstands <strong>der</strong> Kieler Mat-<br />

rosen), und <strong>der</strong> Friede war da. Auch ihn hatte <strong>Ricarda</strong> Huch imaginiert, im Umkreis des-<br />

selben Buches über den Dreißigjährigen Krieg. Dieses Gedicht zitiere ich vollständig; es<br />

heißt Frieden:<br />

Von dem Turme im Dorfe klingt<br />

Ein süßes Geläute;<br />

Man sinnt, was es deute,<br />

Daß die Glocke nicht im Sturme schwingt.<br />

Mich dünkt, so hört’ ich’s als Kind;<br />

Dann kamen die Jahre <strong>der</strong> Schande;<br />

Nun trägt’s in die Weite <strong>der</strong> Wind,<br />

Daß Frieden im Lande.<br />

Wo mein Vaterhaus fest einst stand,<br />

Wächst wuchernde Heide;<br />

Ich pflück’, eh ich scheide,<br />

Einen Zweig mit zittern<strong>der</strong> Hand.<br />

Das ist von <strong>der</strong> Väter Gut<br />

Mein einziges Erbe;<br />

6


Nichts bleibt, wo mein Haupt sich ruht,<br />

Bis einsam ich sterbe.<br />

Meine Kin<strong>der</strong> verwehte <strong>der</strong> Krieg;<br />

Wer bringt sie mir wie<strong>der</strong>?<br />

Beim Klange <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong><br />

Feiern Fürsten und Herren den Sieg.<br />

Sie freun sich beim Friedensschmaus,<br />

Die müß’gen Soldaten fluchen –<br />

Ich ziehe am Stabe hinaus,<br />

Mein Vaterland suchen.<br />

Aristokratische Bürgerin und vielgelesene Romanautorin, Historikerin und Lyrikerin,<br />

eigensinnige Intellektuelle und grande dame mit Stil und Distinktion – an ihrem sech-<br />

zigsten Geburtstag 1924 steht diese <strong>Ricarda</strong> Huch auf dem Höhepunkt ihres Ansehens.<br />

Kein Geringerer als Thomas <strong>Mann</strong>, seit kurzem Nobelpreisträger, hält die Festrede in<br />

<strong>der</strong> Preußischen Akademie, <strong>der</strong> sie als einzige Frau angehört, und er sagt: „nicht nur die<br />

erste Frau Deutschlands ist es, die man zu feiern hat, es ist wahrscheinlich heute die ers-<br />

te Europas“. Unter den Büchern, auf die sich dieses Urteil begründet, spielt Huchs Stu-<br />

die Blüthezeit <strong>der</strong> Romantik (Leipzig 1899) eine beson<strong>der</strong>e Rolle. Diesen Band nun hat<br />

Thomas <strong>Mann</strong> offensichtlich bereits lange vor dem Geburtstagsartikel gelesen; Anstrei-<br />

chungen und Randnotizen in seinem noch immer erhaltenen Exemplar zeugen von einer<br />

intensiven, ja leidenschaftlichen Lektüre schon in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Buddenbrooks und des<br />

Tonio Kröger. Geht man diesen Bleistift-Spuren nach, dann führen sie in ein noch heute<br />

aktuelles Thema, das ihn, den heimlich homosexuellen bürgerlichen <strong>Mann</strong>, mit <strong>der</strong> bür-<br />

gerlichen und um Emanzipation kämpfenden Frau verbindet und dessen Reichweite er<br />

in seiner Rede nur diskret andeutet. Es ist die Frage nach Beschaffenheit und Wandel<br />

<strong>der</strong> Geschlechterrollen.<br />

So streicht Thomas <strong>Mann</strong> beispielsweise <strong>Ricarda</strong> Huchs Bemerkung an, dass erst „in<br />

neuerer Zeit ... die Differenzierung des Weiblichen und Männlichen immer schärfer“<br />

ausgeprägt worden und dass für die Zukunft ein Mensch zu erwarten sei, „in dem sich<br />

Männliches und Weibliches vereinigt, ohne in einan<strong>der</strong> unterzugehen.“ Das ist ganz sei-<br />

ne Meinung; er selbst hat ähnliche Gedanken in manchen seiner frühen Essays formu-<br />

liert. Dieser „Zukunftsmensch“ sei also, so streicht er an an<strong>der</strong>er Stelle an, „<strong>der</strong> mann-<br />

7


weibliche.“ Und: „Dieser Typus trägt das Genie.“ Als Beispiel nennt <strong>Ricarda</strong> Huch kei-<br />

nen Geringeren als Goethe. Ihn preist sie als den Schöpfer von Figuren, „in denen süßes-<br />

ter weiblicher Liebreiz sich mit männlicher Kraft zu einem so herrlichen Ganzen verei-<br />

nigt“ (in Thomas <strong>Mann</strong>s Exemplar ist diese Stelle mit einem großen Kreuz markiert). So<br />

sieht sie denn in Goethe einen Menschheitstraum verwirklicht: den platonischen Traum<br />

vom „Ganzmenschen“. Kann man das noch provozieren<strong>der</strong> sagen? Ja, <strong>Ricarda</strong> kann:<br />

„das Wort <strong>Mann</strong>weib, das in unserer Zeit so gesunken ist und einen schlechten Klang<br />

angenommen hat, bezeichnet danach die schönste und vollkommenste Form, in <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Mensch sich darstellen kann.“ Das hat Thomas <strong>Mann</strong> am Rand angestrichen und das<br />

Wort „<strong>Mann</strong>weib“ im Text gleich nochmals unterstrichen.<br />

In seiner Geburstagsrede von 1924 belässt Thomas <strong>Mann</strong> es bei einem sarkastischen<br />

Bild: <strong>Ricarda</strong> Huch, sagt er da, sei angetreten gegen die in Deutschland verbreitete<br />

„Neigung [...], das Ideal des Weibes in <strong>der</strong> Kuh und das des <strong>Mann</strong>es im Schlagetot zu<br />

erblicken“.<br />

Dabei ist diese Frauenrechtlerin doch noch immer die elitäre Artistin <strong>der</strong> frühen Jahre,<br />

<strong>der</strong>en Kunstanspruch weit näher bei George und Hofmannsthal ist als bei Döblin und<br />

Brecht, und sie ist eine Patriotin von durchaus nationalkonservativer Gesinnung, die sich<br />

beharrlich auf das beruft, was sie mit einem heute unmöglich gewordenen Wort ihr<br />

„Deutschtum“ nennt. Überhaupt sind Begriffe wie „Volk“, „Nation“ und „Reich“ für sie<br />

noch unzweifelhaft von größter Bedeutung; dass ein Volk nicht nur eine Geschichts-<br />

und Sprachgemeinschaft sei, son<strong>der</strong>n geradezu eine Wesenheit, ein überzeitliches Kol-<br />

lektivsubjekt, das ist für sie noch eine unbefragte Selbstverständlichkeit. Im Wi<strong>der</strong>stand<br />

gegen den Faschismus ist es ihr wesentlich um die Rettung des ‚wahren’ Deutschland,<br />

um die Verteidigung <strong>der</strong> deutschen Ehre usf. zu tun. Auch die zunehmende Bindung an<br />

Leit- und Vorbildgestalten wie Goethe und Luther und die Romantik hat immer auch<br />

mit <strong>der</strong>en ‚Deutschheit’ zu tun.<br />

Aber bevor man sich von dieser Haltung befremdet abwendet, ist – bei ihr wie bei vie-<br />

len ähnlich denkenden Intellektuellen <strong>der</strong> Epoche – daran zu erinnern, dass man diese<br />

Verknüpfungen auch aus <strong>der</strong> umgekehrten Perspektive betrachten kann: Was sie ihr<br />

Deutschtum nennt, das ist eben wesentlich ein weltoffenes, liberales Christentum in <strong>der</strong><br />

Sprache Luthers – das gerade sie, die sich eine geborene „Protestantin“ nennt, im mehr-<br />

fachen Sinne des Wortes, mit allem Nachdruck auch als Behauptung und Verteidigung<br />

individueller Freiheitsrechte versteht. Es ist ein Goetheanismus, <strong>der</strong> für sie eine pro-<br />

grammatische Weltoffenheit aus deutscher Perspektive meint. Und es ist eine an <strong>der</strong><br />

8


Frühromantik geschulte Liebe zur Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit, zur Deutungsof-<br />

fenheit des Daseins, zum offenen Gespräch in einer (auch wenn sie diesen Ausdruck<br />

selber gewiss nicht gebraucht hätte) offenen Gesellschaft. Dazu gehört die Freude dar-<br />

über und die Dankbarkeit dafür, dass die An<strong>der</strong>en da sind und dass sie an<strong>der</strong>s sind als<br />

wir.<br />

Deutscher Geist, das heißt für sie wie für ihre romantischen Vorgänger Organismus<br />

statt Struktur, Morphologie und Evolution statt Umsturz und Revolte, Sinn für Mythos<br />

und Mysterium statt Aufklärungsoptimismus – aber es heißt für sie ebenso selbstver-<br />

ständlich Humanität und Weltneugier. Und beides schließt, wenn es konkret werden<br />

soll, sogleich so schöne Dinge ein wie soziale Gerechtigkeit und Friedenspolitik.<br />

1931 hält <strong>Ricarda</strong> Huch in Frankfurt den großen Vortrag „Deutsche Tradition“. Gleich<br />

im ersten Satz erläutert sie diese Leitkategorie: „Von Tradition sprechen wir, wenn et-<br />

was, was sich in den Anfängen eines Volkes ausgewirkt hat, dauernd fortsetzt.“ Man<br />

könnte auch sehr an<strong>der</strong>s von Tradition sprechen, aber hier ist mit aller Selbstverständ-<br />

lichkeit die Vorstellung von etwas einmal und für immer Gegebenen vorausgesetzt, das<br />

die Beschaffenheit eines als Kollektivsubjekt gesetzten Volkes bestimmt.<br />

Hier bestimmt sie ziemlich pointiert den im Laufe ihrer historischen Schriften entwi-<br />

ckelten Begriff des „Reichs“ – und zwar auf eine Weise, die den nationalen und völki-<br />

schen Verwendungsweisen dieses Modewortes diametral entgegensteht. Die deutsche<br />

Idee des „Reiches“, das ist für sie die ideale Synthese von individuellen und kollektiven<br />

Freiheitsrechten, und sie ist <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Herrschaft des Adels wie des Besitzbürgertums<br />

ebenso entgegengesetzt wie <strong>der</strong>jenigen <strong>der</strong> Herrschaft einer ethnischen Gruppe. Gegen-<br />

satz des fö<strong>der</strong>alen „Reichs“ ist für <strong>Ricarda</strong> Huch „das Fürstentum“ als Inbegriff zentra-<br />

listisch-autoritärer Herrschaft; er schließt den „neuen Fürstenstand“ des kapitalistischen<br />

Großbürgertums ausdrücklich ein. Sie entfaltet diese Opposition in weit ausholenden<br />

Betrachtungen, die vom Mittelalter über Humanismus und Renaissance in die Goethe-<br />

zeit und schließlich in die unmittelbare Vorgeschichte wan<strong>der</strong>n – und die seit den Tagen<br />

<strong>der</strong> bewun<strong>der</strong>ten preußischen Reformer um den Freiherrn vom Stein einen politischen<br />

Nie<strong>der</strong>gang konstatieren. Es lohnt, einige Sätze aus diesen letzten Überlegungen zu zi-<br />

tieren: „Es zeigte sich, dass die Tradition des Fürstentums, die auf Zentralisation, Milita-<br />

rismus und Finanzen ausging, stärker war als die des Reichs, dessen Idee Einheit, Frei-<br />

heit und Recht war [im Singular: die Begriffe des Deutschlandliedes bilden für sie eine<br />

Einheit!] … Tatsächlich war <strong>der</strong> Kaiser des neuen Reichs von 1870 nicht Kaiser im mit-<br />

telalterlichen Sinn, son<strong>der</strong>n Fürst. Äußerlich wurde die deutsche Tradition in dem neu-<br />

9


entstandenen Reiche sehr gepflegt: Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> neuen Kaiser wurden neben den Bil<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> alten aufgestellt, mittelalterliche Burgen wurden ausgebaut, Kaiser Wilhelm wurde<br />

als <strong>der</strong> Barbarossa des Kyffhäuser gefeiert. Dies alles wirkte künstlich und oft kitschig,<br />

weil Symbole immer unecht und hässlich ausfallen, wenn ihr Sinn nicht in <strong>der</strong> Gesin-<br />

nung und im Handeln <strong>der</strong>er lebendig sind, die sich mit ihnen dekorieren.“<br />

Aus alldem ergibt sich als abschließende For<strong>der</strong>ung, das jetzt zu erneuernde deutsche<br />

Reich solle „kein zentralistischer Großstaat“ sein, son<strong>der</strong>n „als Ganzes vorzugsweise<br />

ruhend“; und es habe „als vornehmste Aufgabe das Recht und den Frieden zu wahren<br />

und die Macht und den Reichtum … in ihren Ausschreitungen zu beschränken.“ So Ri-<br />

carda Huch, die konservative deutsche Patriotin, im Frühjahr 1931, weniger als zwei<br />

Jahre vor Hitlers Machtübernahme.<br />

Schon 1923 hatte sie solche deutschen Reichs-Vorstellungen mit einer <strong>der</strong> unwahr-<br />

scheinlichsten, aber aus ihrer Perspektive durchaus naheliegenden politischen Überzeu-<br />

gung verbunden: mit dem Anarchismus nämlich, wie ihn Michail Bakunin im Russland<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts proklamiert hatte. Ihre große, erzählende Biographie Michael Ba-<br />

kunin und die Anarchie schil<strong>der</strong>t Bakunin als Feind aller Knechtschaft, gleichgültig in<br />

wessen Namen sie etabliert wird; dieselbe Vereinigung von kollektiven, sozialen und<br />

individuellen Freiheitsrechten, die sie am Idealbild des deutschen Reiches rühmte, gegen<br />

die Tyrannei je<strong>der</strong> Art von „Fürstentum“, die sah sie hier in Bakunins menschenfreund-<br />

lichem Anarchismus auf neue Weise Gestalt annehmen. Das mochte eine überraschende,<br />

vielleicht etwas bizarre Allianz sein; aber sie brachte <strong>der</strong> Autorin dankbare Solidarität<br />

von unerwarteter Seite ein. Der anarchistische Dichter Erich Mühsam, <strong>der</strong> wegen seiner<br />

politischen Aktivitäten im Gefängnis saß, las dort 1924 <strong>Ricarda</strong> Huchs Bakunin-Buch<br />

und schrieb ihr daraufhin: „daß Sie das scheinbar Wi<strong>der</strong>spruchsvolle in seinem Tun und<br />

Lassen überall aus <strong>der</strong> großen reichen Menschlichkeit zu erklären wissen, ... dies hat mir<br />

das Bedürfnis Ihnen zu danken unabweisbar gemacht.“<br />

Meine Damen und Herren: Eine nationalkonservative Kosmopolitin, eine Liebhaberin<br />

<strong>der</strong> Reichsidee, die sozialistische Ideen achtet, grande dame und Anarchistin – kein<br />

Zweifel, mit <strong>der</strong> Vertreterin einer <strong>der</strong>artigen Reichs-Idee war ein ‚Drittes Reich’ nicht<br />

zu machen.<br />

Die Nazis allerdings hatten ihr nicht richtig zugehört und erwarteten mit, wie es<br />

schien, größter Selbstverständlichkeit, dass diese Verkün<strong>der</strong>in eines deutschen Reiches<br />

sich im Ernstfall schon auf ihre Seite schlagen werde. Wie haben sie sich geirrt! Als <strong>der</strong><br />

Ernstfall eintrat, im Januar 1933, da zeigte sich ausgerechnet <strong>Ricarda</strong> Huch, gerade Ri-<br />

10


carda Huch als eine <strong>der</strong> entschiedensten und energischsten Antifaschisten unter den bür-<br />

gerlichen Intellektuellen in Deutschland.<br />

Es war die Nagelprobe für ihr Denken und Schreiben, für die Bewährung o<strong>der</strong> das<br />

Scheitern ihrer politischen und moralischen Vorstellungen in <strong>der</strong> Praxis. 1933 for<strong>der</strong>te<br />

<strong>der</strong> kommissarische Leiter <strong>der</strong> Sektion für Dichtkunst, Gottfried Benn, von allen Mit-<br />

glie<strong>der</strong>n eine Loyalitätserklärung für das Regime: „Sind Sie bereit, unter Anerkennung<br />

<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person <strong>der</strong> Preußischen Akademie zur<br />

Verfügung zu stellen? Eine Bejahung <strong>der</strong> Frage schließt die öffentliche Betätigung ge-<br />

gen die Regierung aus und verpflichtet Sie zu einer loyalen Mitarbeit an den satzungs-<br />

gemäß <strong>der</strong> Akademie zufallenden nationalen kulturellen Aufgaben im Sinne <strong>der</strong> verän-<br />

<strong>der</strong>ten geschichtlichen Lage.“<br />

<strong>Ricarda</strong> Huch verweigerte die Unterschrift und begründete dies am 24. März 1933 mit<br />

einem Brief an Max von Schilling, den Präsidenten <strong>der</strong> Akademie: „Ich kann dieses Ja<br />

[auf die von Benn vorgelegte Frage] umso weniger aussprechen, als ich verschiedene<br />

<strong>der</strong> inzwischen vorgenommenen Handlungen <strong>der</strong> neuen Regierung aufs schärfste miss-<br />

billige. Sie zweifeln nicht ..., dass ich an dem nationalen Aufschwung von Herzen teil-<br />

nehme; aber auf das Recht <strong>der</strong> freien Meinungsäußerung will ich nicht verzichten, und<br />

das täte ich durch eine Erklärung, wie die ist, welche ich zu unterzeichnen aufgefor<strong>der</strong>t<br />

wurde. Ich nehme an, dass ich durch diese Feststellung automatisch aus <strong>der</strong> Akademie<br />

ausgeschieden bin.“<br />

Dennoch schreibt sie, um nur ja keinen Zweifel an ihrer Empörung zu lassen, gut vier<br />

Wochen später noch einmal an den Präsidenten <strong>der</strong> Akademie: „Was die jetzige Regie-<br />

rung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisie-<br />

rung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung An<strong>der</strong>sdenken<strong>der</strong>, das prah-<br />

lerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll. Bei einer so sehr von <strong>der</strong> staat-<br />

lich vorgeschriebenen Meinung abweichenden Auffassung halte ich es für unmöglich, in<br />

einer staatlichen Akademie zu bleiben.“<br />

Dass <strong>Ricarda</strong> Huch in <strong>der</strong> Nazizeit zwar überwacht und mehrfach verhört, aber nie<br />

verhaftet worden ist, verdankte sie persönlichen Bekannten in den Behörden, die sich<br />

aus alter Freundschaft diskret darum bemühten, sie vor weiteren Verfolgungen zu schüt-<br />

zen. Sie hat darüber nachgedacht, wie die Brü<strong>der</strong> <strong>Mann</strong> o<strong>der</strong> Alfred Döblin, ihre einzi-<br />

gen Mitstreiter am Ende <strong>der</strong> Akademie, ins Exil zu gehen. Aber wohin hätte sie gehen<br />

sollen, mit siebzig Jahren? In ihre zweite Heimat, ins mittlerweile faschistische Italien?<br />

An Döblin schrieb sie: „Wenn ich ein Jude wäre, ginge ich hin [nach Palästina], viel-<br />

11


leicht sogar, wenn ich nur jung wäre, auch ohne Jude zu sein […] Ich beneide Sie da-<br />

rum, daß sie draußen sind.“ Sie blieb drinnen, in dem, was sie nun das „Sklavenland“<br />

nannte. Den Mund verbieten aber ließ sie sich nicht.<br />

1934 erschien <strong>der</strong> erste Band ihrer auf drei Bände angelegten Deutschen Geschichte.<br />

Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, das sie darin beschreibt, hat einerseits<br />

in seiner Idee etwas märchenhaft Utopisches. An<strong>der</strong>erseits aber trägt es Züge, an die<br />

man in Deutschland in dieser Zeit nicht gern erinnert wird: „Die Judenverfolgungen des<br />

14. Jahrhun<strong>der</strong>ts“, schreibt sie 1934, „wühlten auf, was an bestialischen Trieben in den<br />

Untiefen des deutschen Volkes sich verbarg“. Die NS-Kritik verwies auf Passagen wie<br />

diese und schrieb, dass „sich je<strong>der</strong> freiheits- und ehrliebende Deutsche mit leidenschaft-<br />

licher Empörung zur Wehr setzen müsse“ gegen <strong>Ricarda</strong> Huch. Der zweite Band er-<br />

schien noch 1937, <strong>der</strong> dritte aber fiel dann <strong>der</strong> Zensur zum Opfer und konnte erst nach<br />

ihrem Tod erscheinen.<br />

Ihre Tapferkeit hat oft etwas Freches, manchmal stockt dem heutigen Leser <strong>der</strong> Atem.<br />

Als die gleichgeschaltete Schiller-Stiftung in Weimar ihr 1940 – man hat erfahren, dass<br />

es ihr schlecht geht – leutselig eine „Ehrengabe“ anbietet, antwortet sie aus Jena: „Nen-<br />

nen Sie eine wirtschaftliche Lage unbefriedigend, wenn man kein Vermögen und keine<br />

Altersversicherung hat, so befinde ich mich in einer solchen; da ich aber noch durchaus<br />

arbeitsfähig bin und genügend verdiene, so habe ich keinen Anlaß zu klagen und bedarf<br />

ich keiner Unterstützung.“ Ende 1943, als die Denunziationen und Verfolgungen neue<br />

Höhepunkte erreichen, bastelt sie für ihren Enkel Alexan<strong>der</strong> einen Kalen<strong>der</strong> auf das Jahr<br />

1944. Es ist schon für sich genommen bemerkenswert, dass sie darin beispielsweise für<br />

den Monat April ein Foto einklebt, das Hitler in Herrscherpose vor einem heroischen fa-<br />

schistischen Gemälde zeigt – im Frühling 1944, so signalisiert das Bild, wird es keinen<br />

Frühling geben, son<strong>der</strong>n die Fortdauer dieser Herrschaft. Wirklich tollkühn aber ist <strong>der</strong><br />

Bildtext, den sie handschriftlich hinzufügt. Er lautet: „Es ist zu verwun<strong>der</strong>n, daß manche<br />

Menschen nicht im Gefühl ihrer Nichtswürdigkeit augenblicklich verwesen. Schiller.“<br />

Das erste Projekt <strong>der</strong> bald Zweiundachtzigjährigen, als die NS-Herrschaft und <strong>der</strong><br />

Krieg endlich vorüber sind, und zugleich das letzte Buchprojekt ihres Lebens, ist ein<br />

Werk über ein Thema, von dem in diesen Tagen des deutschen Selbstmitleids fast nie-<br />

mand etwas hören will: über den deutschen Wi<strong>der</strong>stand. Unermüdlich sammelt sie Quel-<br />

len und Zeugnisse, schreibt Briefe an Überlebende; noch einmal will sie zeigen, wie<br />

man als Historikerin und Erzählerin eingreifen kann in die Zeit, noch einmal will sie an<br />

jene politischen und moralischen Ideale erinnern, von denen ihr Werk seit Beginn des<br />

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Jahrhun<strong>der</strong>ts gehandelt hat. Das einzige deutsche „Reich“, das diesen Namen wirklich<br />

verdient, ist für sie nun diese Gemeinschaft <strong>der</strong> Verfolgten und Ermordeten. Allein ihr<br />

Opfertod kann diese Idee am Leben erhalten – die sie um keinen Preis aufgeben will.<br />

Konzipiert ist das Buch als eine Reihe von Porträts einzelner Männer und Frauen in ih-<br />

ren jeweiligen Gruppen: <strong>der</strong> Weißen Rose um Hans und Sophie Scholl, des Kreises um<br />

Stauffenberg, jüdischer und nichtjüdischer, christlicher und sozialistischer Helden. Ste-<br />

fan Hermlins berühmtes Buch Die erste Reihe wird in <strong>der</strong> DDR diesem Vorbild folgen,<br />

und beide variieren das große alte Schema <strong>der</strong> Legenda aurea. Diese dichten und plasti-<br />

schen Porträts gäbe es nicht ohne die lange Vorarbeit in den heute ungelesenen histori-<br />

schen Büchern. Nur darauf kommt es ihr an: die als Vorbil<strong>der</strong> darzustellenden Men-<br />

schen in ihren humanen Zielen, ihrer Lebensgefährdung, ihrer Angst und ihrem Mut zu<br />

zeigen, ganz gleich ob sie im Vokabular des Dritten Reiches „Juden“ heißen o<strong>der</strong> „Halb-<br />

juden“ o<strong>der</strong> „Arier“. So wie es ihr übrigens gleich – nein, nicht gleich, son<strong>der</strong>n gleich-<br />

ermaßen recht und willkommen ist, ob einer ein Sozialist ist o<strong>der</strong> ein Nationalkonserva-<br />

tiver o<strong>der</strong> ein Katholik.<br />

Aus diesem unvollendet gebliebenen Werk hier ein paar kurze Sätze zu zitieren, fällt<br />

schwer. Aber zum Glück werden auch diese zeitgeschichtlichen Studien mit ihrem be-<br />

tont sachlichen (und eben darum so wirkungsvollen) Tonfall begleitet durch Gedichte,<br />

die das dort nur untergründige Pathos hörbar machen. An unsere Märtyrer heißt eines<br />

davon, und geschrieben ist es in klassischen Hexametern. Die traditionsstrenge griechi-<br />

sche Form könnte angesichts <strong>der</strong> Prozesse vor Freislers „Volksgerichtshof“ und seiner<br />

Morde ebenso unangemessen erscheinen wie die christlich-religiöse Überhöhung in <strong>der</strong><br />

Überschrift. Aber gerade hier zeigt sich, dass <strong>Ricarda</strong> Huch eben nicht jenen Wortfüh-<br />

rern <strong>der</strong> sogenannten „Inneren Emigration“ folgt, die nach dem Ende des Dritten Rei-<br />

ches eilig – und mit genau solchen formalen und semantischen Rückgriffen – die Konti-<br />

nuität des christlichen Abendlands beschwören, als sei nichts geschehen, als sei die NS-<br />

Zeit nur eine schlimme Episode in einer im übrigen guten und sinnvollen Geschichte <strong>der</strong><br />

Menschheit im allgemeinen und <strong>der</strong> Deutschen im beson<strong>der</strong>en. Werner Bergengruen<br />

etwa – gewiss einer <strong>der</strong> entschieden nicht-faschistischen Schriftsteller, die in Deutsch-<br />

land geblieben waren – dichtete um dieselbe Zeit und über dieselbe Zeit, wohlmeinend<br />

und doch peinlich verfehlt: „und meine Ohren hörten nichts als Lobgesang“. Zu lesen<br />

war das in einem Buch mit dem eigentlich unfassbaren Titel Die heile Welt.<br />

Ganz an<strong>der</strong>s <strong>Ricarda</strong> Huch in ihrem demonstrativen lyrischen Rückbezug auf Chris-<br />

tentum und Antike. Gleich in den ersten ihrer hoch pathetischen griechischen Verse<br />

13


stellt sie das Sterben <strong>der</strong>jenigen griechischen Helden, die traditionellerweise in ebensol-<br />

chen Versen besungen wurden, dem schmählichen Tod <strong>der</strong> Naziopfer gegenüber: „Mei-<br />

ne Helden, geliebte, ihr littet schwerer als jener [<strong>der</strong> griechische Heros], / Schmachvoll,<br />

gemartert, verhöhnt, von keinem Freunde getröstet.“ Und dann spricht sie aus, was die<br />

meisten ihrer Kollegen aus <strong>der</strong> „Inneren Emigration“ gerade jetzt auf keinen Fall hören<br />

wollten: dass nämlich die Einsamkeit und Trostlosigkeit des Wi<strong>der</strong>stands eine Folge <strong>der</strong><br />

Passivität <strong>der</strong> Deutschen war: „Ihr, die das Leben gabt für Volkes Freiheit und Ehre, /<br />

Nicht erhob sich das Volk, euch Freiheit und Leben zu retten.“ Sich selbst nimmt sie<br />

dabei nicht aus: „Ach, wo seid ihr, dass wir eure Wunden mit Tränen <strong>der</strong> Reue / Wa-<br />

schen und eure bleichen Stirnen mit Lorbeer krönen!“ In einem sehr an<strong>der</strong>en Ton, aber<br />

in <strong>der</strong> Sache ähnlich hat Thomas <strong>Mann</strong> das um dieselbe Zeit in seinen aus Amerika ge-<br />

sandten Radiosendungen Deutsche Hörer! ausgesprochen, um <strong>der</strong>etwillen er, <strong>der</strong> Emig-<br />

rant, nun so vielen <strong>der</strong> im Lande gebliebenen Schriftsteller als Vaterlandsverräter er-<br />

schien. „Der dickwandige Folterkeller, zu dem <strong>der</strong> Hitlerismus Deutschland gemacht<br />

hat, ist aufgebrochen“, sagte Thomas <strong>Mann</strong> im Mai 1945, „und offen liegt unsere<br />

Schmach vor den Augen <strong>der</strong> Welt ... ‚Unsere Schmach’, deutsche Leser! Denn alles<br />

Deutsche, alles was deutsch spricht, deutsch schreibt, auf deutsch gelebt hat, ist von die-<br />

ser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen.“ Das war ungefähr auch die Position <strong>Ricarda</strong><br />

Huchs, und auch damit stand sie – abermals gemeinsam mit Thomas <strong>Mann</strong> – in <strong>der</strong><br />

deutschen Literatur um 1945 wie<strong>der</strong> so allein da, wie sie es 1933 getan hatte. „Nicht er-<br />

hob sich das Volk, euch Freiheit und Leben zu retten“: Außer Thomas <strong>Mann</strong> und ihr<br />

sagte das so unerbittlich klar eigentlich niemand in <strong>der</strong> deutschen Literatur.<br />

Dass die Kulturpolitiker <strong>der</strong> Sowjetischen Besatzungszone, vor allem <strong>der</strong> selbst aus<br />

dem Exil zurückgekehrte Dichter und spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher,<br />

sich mit Nachdruck um diese Dichterin bemühten, ist sehr begreiflich. Gerade sie vertra-<br />

ten ja um diese Zeit eine betont patriotische Auffassung <strong>der</strong> zu begründenden sozialisti-<br />

schen Demokratie. <strong>Ricarda</strong> Huch ist ihren Einladungen bei verschiedenen Anlässen ge-<br />

folgt. Und sie hat auch hier an ihren eigenen Überzeugungen keinen Zweifel gelassen,<br />

gleichgültig, von welcher Seite sie dafür Kritik o<strong>der</strong> Beifall erntete.<br />

Sie, die schon 1921 über einen, so hieß <strong>der</strong> Artikel, „Romantischen Sozialismus“<br />

nachgedacht hatte, wurde nun eingeladen, den neuen thüringischen Landtag zu eröffnen.<br />

Das tat sie am 24. Januar 1946 in einer kurzen und bemerkenswerten Rede. Darin<br />

spricht sie zunächst, wie<strong>der</strong> einmal in einer weiten historischen Perspektive, über den<br />

Begriff <strong>der</strong> Demokratie und kommt dann auf die Gegenwart und unmittelbare Zukunft<br />

14


zu sprechen (und vergisst auch nicht, als erste Leistung <strong>der</strong> neuen Ordnung hervorzuhe-<br />

ben, „dass sie die bisher ausgeschlossene Hälfte <strong>der</strong> Bevölkerung, in manchen Punkten<br />

vielleicht die beste, nämlich die Frauen, mit einbezieht“). Was sie dann sagte, war in je-<br />

<strong>der</strong> Richtung unmissverständlich: „Demokratie ist eine Sache <strong>der</strong> Gesinnung. Sie mag<br />

noch so sorgsam formal abgewogen sein, sie wird sich nie als Volksfreiheit – und das<br />

soll sie ja sein – ausprägen, wenn nicht das Rechtsgefühl und das Verantwortungsgefühl<br />

im Volke lebendig ist, damit verbunden ein Selbstbewusstsein, das jedem einen festen<br />

Stand gibt und ihn verhin<strong>der</strong>t, mitunter Willkür und totalitären Staatsansprüchen zu fol-<br />

gen. Dass diese Eigenschaften nicht genügend unter den Deutschen vorhanden waren,<br />

erklärt, wenigstens zum Teil, die Katastrophe, die wir erlebt haben. … Wir befinden uns<br />

in dieser Versammlung auf <strong>der</strong> Schwelle <strong>der</strong> neuen Demokratie. Sie ist ein Zeichen,<br />

dass wir keine autoritäre Regierung haben, son<strong>der</strong>n eine solche, die in beständiger ver-<br />

pflichten<strong>der</strong> Berührung mit dem Volke sein will.“<br />

So <strong>Ricarda</strong> Huch zur Eröffnung des thüringischen Landtags. Noch ein Jahr später,<br />

ganz kurz vor ihrem Tod am 17. November 1947, konstatierte sie in ihrer Abschlussrede<br />

zum schon vom beginnenden kalten Krieg überschatteten „Ersten Deutschen Schriftstel-<br />

lerkongress“ in Berlin: „Wir sind nicht frei. Dass wir nicht frei sind, ist die Schuld Hit-<br />

lers und seiner Gefolgschaft.“ Und sie proklamiert, im letzten Satz ihrer Rede, die Ver-<br />

antwortung für den „Aufbau eines neuen Deutschlands“. Es war in mehrfacher Hinsicht<br />

ihr letztes Wort.<br />

Am 17. November 1947 ist <strong>Ricarda</strong> Huch, beinahe noch auf dem Weg aus <strong>der</strong> ihre<br />

Hoffnungen enttäuschenden SBZ, in Frankfurt gestorben. Zu Beginn dieses, ihres letz-<br />

ten Jahres hat sie, in einem erst posthum veröffentlichten Gedicht, ihr Verhältnis zu den<br />

Nazis, zu den Mitläufern und zu den so rasch wie<strong>der</strong> aktiv gewordenen Relativierern<br />

und Beschönigern ein letztes Mal scharf und unmissverständlich formuliert:<br />

Mein Herz, mein Löwe, hält seine Beute fest,<br />

Sein Geliebtestes fest in den Fängen,<br />

Aber Gehasstes gibt es auch,<br />

Das er niemals entlässt<br />

Bis zum letzten Hauch,<br />

Was immer die Jahre verhängen.<br />

Es gibt Namen, die beflecken<br />

Die Lippen, die sie nennen,<br />

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Die Erde mag sie nicht decken,<br />

Die Flamme mag sie nicht brennen.<br />

Der Engel, gesandt, den Verbrecher<br />

Mit <strong>der</strong> Gnade von Gott zu betauen,<br />

Wendet sich ab voll Grauen<br />

Und wird zum zischenden Rächer.<br />

Und hätte Gott selbst so viel Huld,<br />

Zu waschen die blutrote Schuld,<br />

Bis <strong>der</strong> Schandfleck verblaßte, –<br />

Mein Herz wird hassen, was es haßte,<br />

Mein Herz hält fest seine Beute,<br />

Daß keiner dran künstle und deute,<br />

Daß kein Lügner schminke das Böse,<br />

Verfluchtes vom Fluche löse.<br />

Diese <strong>Ricarda</strong> Huch also ist die Erfin<strong>der</strong>in <strong>der</strong> gleichnamigen Schule. Thomas <strong>Mann</strong><br />

und Anna Seghers haben sie bewun<strong>der</strong>t, Alfred Döblin schrieb als sie starb: „Ihr werdet<br />

niemals ihresgleichen sehen.“ Soll niemand meinen, diese Frau habe uns nichts mehr zu<br />

sagen.<br />

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