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Vortrag Jungenförderung

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<strong>Jungenförderung</strong><br />

<strong>Vortrag</strong> in der Gesamtkonferenz am 29.09.09<br />

1. Einleitung: Wo ist das Problem?<br />

Zum Thema <strong>Jungenförderung</strong> sind in den letzten Jahren zahlreiche Artikel, Aufsätze und<br />

Bücher erschienen. Im Folgenden einige beispielhafte Titel:<br />

„Die Jungenkatastrophe. Das überforderte Geschlecht“ (Beuster, 2006)<br />

„Kleine Jungs – große Not“ (Bergmann, 2008)<br />

„Lasst sie Männer sein“ (Hurrelmann, Quenzel, 2008)<br />

„Jungen sind die großen Bildungsverlierer“ (vom Lehn, 2008)<br />

Schon an diesen provokanten, fast reißerischen Titeln kann man erkennen, dass die Autoren<br />

versuchen, ein Problem überhaupt erst bekannt und bewusst zu machen.<br />

Die eine Seite des Problems kennt jeder aus seiner Unterrichtserfahrung. Es sind<br />

häufig Jungen, die Probleme „machen“: Sie sind vorlaut, stören Unterricht, sind faul,<br />

unordentlich und unorganisiert usw. Dabei handelt es sich zwar um Stereotype, doch kann<br />

wohl jeder nachvollziehen, dass auch etwas Wahres daran ist.<br />

Die andere Seite des Problems ist in ihrer Tragweite weniger offensichtlich, wird aber<br />

von den genannten Büchern und Aufsätzen und von statistischen Befunden ans Licht<br />

gebracht:<br />

Hier einige beispielhafte Daten:<br />

60% aller vorzeitig Eingeschulten sind weiblich<br />

Es verlassen fast doppelt so viele junge Männer die Schule ohne Hauptschulabschluss<br />

wie junge Frauen<br />

Mädchen sind im Schnitt im Alter von 15 Jahren den Jungen in der Lesekompetenz<br />

ein Jahr voraus<br />

Nur 44,5% der Abiturienten sind männlich<br />

Aus diesen und zahlreichen anderen statistischen Befunden kann man zusammenfassen,<br />

dass die Jungen ein Problem haben. Allerdings sind diese Befunde vielleicht nicht sonderlich<br />

relevant für die Situation an Gymnasien: sie betreffen ja meist andere Schulformen und man<br />

könnte denken: Was macht es schon aus, dass paar Prozent Jungen weniger Abitur haben?<br />

Eine Statistik des Schwalmgymnasiums zeigt jedoch, dass auch für uns das Thema – und<br />

sogar in verstärktem Maße – relevant ist. Seit den 60er Jahren werden die Zahlen<br />

männlicher oder weiblicher Abiturabgänger erhoben. Es verwundert nicht, dass in den 60er<br />

Jahren die jungen Frauen unter den Abiturabgängern prozentual in der Minderheit waren.<br />

Frauen wurden damals im Bildungswesen benachteiligt: viele Eltern hielten es für unnötig,<br />

dass Mädchen eine höheren Bildungsweg gehen. Seit dem ist der Frauenanteil kontinuierlich<br />

gestiegen:


Bedenklich ist jedoch, dass in derselben Zeit der Männeranteil stärker als zu erwarten<br />

gesunken ist:<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

1962<br />

1966<br />

1970<br />

1974<br />

1978<br />

1982<br />

1986<br />

1990<br />

1994<br />

1998<br />

2002<br />

2006<br />

Wie zu sehen, nähern sich beide Kurven keinesfalls den zu erwartenden 50% an. Die Kurven<br />

kreuzen sich vielmehr und die Verhältnisse kehren sich um: So sind in den letzten 10 Jahren<br />

die Zahlverhältnisse ungefähr wie in den 60er Jahren nur mit getauschten Rollen. Man kann<br />

daraus den Schluss ziehen, dass heute die Jungen im Bildungssystem benachteiligt sind.<br />

2. Ursachen für das Problem der Jungen<br />

In der Literatur werden zahlreiche Ursachen genannt: Welche davon von den Autoren jeweils<br />

in den Vordergrund gestellt werden, liegt an ihrer persönlichen Einstellung; Studien zur<br />

Gewichtung der Ursachen gibt es nicht. Der Stil, mit dem einzelnen Ursachen Bedeutung zu<br />

oder abgesprochen wird, hat oft ideologischen Charakter. Im Folgenden haben wir die<br />

vielfältigen Ursachen daher ohne Gewichtung zur besseren Übersicht in vier Ursachenfelder<br />

geordnet. Einzelne Punkte ließen sich auch anders einordnen.<br />

Gemeinsam ist diesen Ursachenfeldern, dass auch sie zumeist außerhalb des Gymnasiums<br />

liegen. Es liegt hier daher der Einwand nahe, dass die Schule ohnehin nichts an diesen<br />

Ursachen direkt ändern kann und folglich auch nicht dafür verantwortlich ist.<br />

Dem ist jedoch zu entgegnen: Obwohl viele Ursachen außerhalb der Schule liegen,<br />

entsteht das Problem erst bzw. vornehmlich für die Jungen in der Schule. Also ist die Schule<br />

selbst Teil des Problems. Auch wenn die Schule an den Ursachen oft nichts ändern kann,<br />

hat sie doch einen Bildungsauftrag und trägt Verantwortung dafür, gleiche Bildungschancen<br />

für Jungen und Mädchen nicht nur theoretisch zu gewähren, sondern auch praktisch<br />

herzustellen. Fazit und Motto:<br />

Da, wo negative Einflüsse, welcher Art auch immer, die Bildungschancen für Jungen<br />

vermindern, muss die Schule versuchen, das im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu<br />

kompensieren.<br />

Ursachenbereiche der Jungenproblematik<br />

Bindungs‐<br />

störungen<br />

biologische<br />

Eigenschaften<br />

Medienkonsum und<br />

Freizeitverhalten<br />

Rollen<br />

und<br />

Klischees<br />

• Erwartungen und Maßstäbe der Schule<br />

Jungen<br />

Mädchen


Die Graphik soll veranschaulichen, dass sich diese Ursachenfelder überlappen und<br />

ineinandergreifen. Im Folgenden werden sie einzeln besprochen. Danach werden sie noch<br />

einmal aufgegriffen, um Handlungsmöglichkeiten der Schule vorzustellen.<br />

2. 1. Bindungsstörungen und Feminisierung der Schule<br />

Der Begriff „Bindungsstörung“ wird vor allem von Psychologen gerne gebraucht:<br />

Insbesondere bei verhaltensauffälligen z. B. hyperaktiven und aggressiven Jungen – also da,<br />

wo man im Volksmund von „unerzogen“ spricht, also eine Erziehungsversagen unterstellt,<br />

wird das Problem oft als Bindungsstörung analysiert.<br />

Verantwortlich gemacht werden dafür vor allem die heutigen Familienstrukturen der<br />

Kleinfamilie. Dadurch dass Großeltern keine so große Rolle mehr in der Erziehung spielen<br />

und es meist nur wenige Kinder gibt, wenn sie nicht sogar Einzelkinder sind, rücken die<br />

Kinder stärker ins Zentrum der Familie. Die Kinder werden zum einen verwöhnt, zum<br />

anderen überfordert durch einen sehr hohen Erwartungsdruck, der auf ihnen lastet. Speziell<br />

die Jungen können damit weniger gut umgehen. Für sie kommt erschwerend hinzu, dass<br />

innerhalb dieser Kleinfamilien die Väter oft nur eine Nebenrolle spielen (so beschreibt dies<br />

etwa Wolfgang Bergmann) und von den emanzipierten Müttern etwas an den Rand des<br />

Erziehungsgeschehens gedrängt werden; wenn die Mütter nicht ohnehin alleinerziehend<br />

sind. (Typisch sei, so Bergmann, dass die Mütter sich meist nicht, wie früher üblich, über<br />

ihren Partner definieren, sondern über ihr Kind: „Mein Kind ist das Wichtigste in meinem<br />

Leben“.) Infolge dieses Ungleichgewichtes fehlt es den Jungen oft an einer männlichen<br />

Identifikationsfigur. Das wiederum setzt sich dann im Kindergarten und in der Grundschule<br />

fort, wo die Jungen fast ausschließlich mit Erzieherinnen zu tun haben; auch an den<br />

Gymnasium steigt mittlerweile der Anteil der weiblichen Lehrkräfte. Man spricht hier<br />

allgemein in der Literatur von einer Feminisierung der Schule.<br />

2. 2 Jungentypische Mediennutzung und Freizeitgestaltung<br />

Es wird vielfach festgestellt, dass die Freizeitgestaltung der Mädchen kreativer ist und sie<br />

vielfältiger fördert. Insbesondere gibt es für Mädchen eine ausgeprägte Jugendbuchkultur mit<br />

eigenen Genres wie Pferdebücher. Etwas Analoges für Jungen gibt es nicht. Statt zu lesen,<br />

sehen Jungen weitaus mehr Fern und verbringen im Vergleich zu den Mädchen viermal<br />

soviel Zeit mit Computerspielen. Darunter leidet zum einen natürlich ihre Lesekompetenz<br />

(weil sie eben weniger lesen), zum anderen wirken sich Computer und Fernsehen (Video)<br />

auch direkt negativ aus. Sie stellen meist eine eher einseitige Belastung dar – trainiert wird<br />

beim Computerspielen vorwiegend die Reaktionsfähigkeit. Die Folge davon kann eine<br />

allgemeine Minderentwicklung sowohl emotionaler als auch intellektueller Vermögen sein.<br />

Außerdem kann die Nutzung stark emotionalisierender Medien (z. B. Actionfilme oder<br />

Shooterspiele) dazu beitragen, dass Gedächtnisinhalte, die erst kürzlich (z. B. in der Schule)<br />

erworben wurden und somit noch im Kurzzeitgedächtnis gespeichert sind, gelöscht werden.<br />

Manche Neurobiologen wie Manfred Spitzer ziehen daraus die Konsequenz, dass<br />

Fernseher und Computer in Kinderzimmern und Schulen gar nichts zu suchen hätten. – Wir<br />

denken, man kann an dieser Stelle sagen: Es kommt eher darauf an, wie man diese Medien<br />

nutzt.<br />

2.3. Rollenverständnisse und Klischees unter Jungen<br />

Damit ist gemeint, dass Jungen das Bedürfnis haben, sich in der Klasse von den Mädchen in<br />

ihrem Verhalten abzugrenzen. Da Mädchen als angepasst und fleißig gelten, ist es für<br />

Jungen im Unterschied dazu besonders cool und männlich, wenn sie unangepasst, vorlaut,<br />

unordentlich und faul sind. Statt sich mit Inhalten auseinanderzusetzen, sind Jungen<br />

allgemein stark auf ihre Selbstdarstellung als Männer in diesem Sinn bedacht, also<br />

„performanzorientiert“. Das sind alles Eigenschaften, die im schulischen Kontext fatal sind<br />

und sich nicht nur auf schlechte Noten für das Arbeits- und Sozialverhalten auswirken: auch<br />

die Fachnoten werden davon beeinträchtigt.<br />

Als uncool gilt es auch, wenn man sich Gefühle oder Schwächen eingesteht. Jungen<br />

haben daher oft Probleme mit romantischer Literatur, oder damit, Hilfen zu beanspruchen,<br />

oder sich für Selbstkritik zu öffnen.


Ein weiterer Punkt ist, das Mädchen oft Bewunderung ernten, wenn sie in Bereiche<br />

vordringen, die als männlich gelten, z. B. Fußballspielen; Jungen dagegen werden nicht nur<br />

nicht ermutigt, sondern würden sich lächerlich machen, wenn sie anfangen, Socken zu<br />

stricken und Ballett zu tanzen.<br />

2. 4. „Biologische“ Eigenschaften der Jungen<br />

Diese Bezeichnung ist absichtlich etwas provokant gewählt. Es ist in der Pädagogik seit<br />

Jahrzehnten Mode, Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen entweder gar nicht<br />

wahrhaben zu wollen oder allein auf Sozialisation zurückzuführen. Aus beiden Ansichten<br />

folgt die Bemühung um eine geschlechtsneutrale Erziehung.<br />

Mittlerweile wird mehr und mehr anerkannt, dass eine solche geschlechtsneutrale<br />

Erziehung eher schädlich ist, weil sie den natürlichen Unterschieden der Kinder nicht gerecht<br />

wird. Es scheint vernünftiger, anzuerkennen, dass sich Unterschiede zwischen Mädchen und<br />

Jungen nicht nur im körperlichen Bereich zeigen, sondern dass es auch psychische<br />

Unterschiede gibt, die aber häufig körperlich z. B. hormonell bedingt sind. Mit der<br />

Bezeichnung „Biologische Eigenschaften“ ist nun nicht gemeint, dass Sozialisation bei<br />

diesen Eigenschaften gar keine Rolle spielt. Wir möchten vielmehr betonen, dass diese<br />

Eigenschaften mit Sicherheit nicht nur durch Sozialisation erzeugt werden, sondern auch<br />

teilweise in der „Natur des Mannseins“ liegen (und häufig hormonell bedingt sind). Aus dieser<br />

Sichtweise folgt die Empfehlung an die Erziehung, manche dieser Unterschiede stärker zu<br />

respektieren und konstruktiv mit ihnen umzugehen, anstatt sie aus ideologischen Gründen<br />

zu bekämpfen oder zu ignorieren.<br />

Ein unstrittiger Punkt ist der, dass Jungen ein stärkeres Bewegungsbedürfnis haben<br />

und einfach weniger gut stillsitzen können und daher mehr zu Unruhe neigen als Mädchen.<br />

Ein weiterer Punkt ist das, was häufig in der Literatur als männliches<br />

„Dominanzprogramm“ bezeichnet wird: Es gibt typisch männliche Aggressionsformen, die in<br />

der Entwicklung der Jungen als natürlich zu betrachten sind. Dazu gehört vor allem<br />

spielerisches Raufen und Rangeln, also ein ganz allgemein agonales, d. h. wetteiferndes<br />

und kräftemessendes Verhalten. In der Pädagogik besteht für dieses Verhalten unter Jungen<br />

leider sehr wenig Verständnis; es ist vorherrschende Meinung, so etwas gehöre sich einfach<br />

nicht und müsse unterdrückt werden.<br />

Eine Reihe von Unterschieden ist geradezu hirnanatomisch greifbar, sie werden u. a.<br />

auf das Corpus callosum zurückgeführt, das beide Hirnhälften miteinander verbindet und bei<br />

Männern schwächer ausgebildet ist. Damit wird eine gewisse sozusagen cerebrale<br />

Einseitigkeit erklärt, die sich bei Jungen in oft sehr einseitig-speziellen Begabungen äußert.<br />

Des weiteren gibt es Unterschiede im Ablauf der Pubertät. Diese setzt bei Jungen<br />

später ein und zieht sich daher auch länger hin: Viele männliche Jungendliche verlassen das<br />

Gymnasium nach der achten, neunten oder zehnten Klasse – nicht, weil es ihnen an<br />

Begabung und Intelligenz fehlt, sondern weil sie pubertätsbedingt auf Schule keine Lust<br />

haben und nicht über ausreichende Einsicht und Selbstdisziplin verfügen, um mit der Schule<br />

durchzuhalten, bis sie aus dieser Phase herausgewachsen sind.<br />

Schließlich vertreten Neurobiologen die Ansicht, dass Jungen ganz entgegen dem<br />

Klischee vom starken Geschlecht in Wirklichkeit von Natur aus in manchen Bereichen<br />

schwächer sind. Sie brauchen z. B. ein höheres Maß an Ordnungen und Regeln. Vor allem<br />

können sie vieles weniger von selbst, z. B. Ordnung einhalten und sich organisieren: daher<br />

müssen sie dazu entsprechend stärker angeleitet werden. Klassisches Beispiel ist hierfür die<br />

Heftführung. Jungen kommen von allein praktisch nie auf die Idee, Hefte so ordentlich und<br />

ästhetisch schön zu gestalten wie Mädchen. Als Lehrer neigt man automatisch dazu, schön<br />

gestaltete Hefte besser zu bewerten. Man liest schön geschriebene Texte auch schneller<br />

und übersieht dabei leichter Fehler oder inhaltliche Schwächen.<br />

Zu diesen Ursachen, die meist außerhalb der Schule liegen, kommen viele Bedingungen in<br />

der Schule, die Teil des Problems sind. Statt festzustellen, dass Jungen den Erwartungen<br />

und Maßstäben, die man in der Schule an sie stellt, nicht genügen, kann man oftmals auch<br />

umgekehrt feststellen, dass die Erwartungen und Maßstäbe den Eigenschaften und<br />

Bildungsbedürfnissen der Jungen einfach nicht gerecht werden und daher kritisch überdacht


werden sollten. Man könnte also bestimmte Erwartungen und Maßstäbe der Schule noch als<br />

eigenen Ursachenbereich dazunehmen.<br />

3. Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der Schule<br />

3. 1. Zu Bindungsstörungen und Feminisierung der Schule<br />

Dieses Problem kann zwar in der Schule nicht gelöst, aber zum Teil kompensiert werden.<br />

Nötig ist dazu vor allem, dass Lehrer als starke, in sich ruhende Persönlichkeiten vor den<br />

Schülern stehen und dadurch eine sozusagen positive Autorität ausstrahlen: denn Jungen<br />

brauchen Erwachsene als überzeugende Vorbilder. Dies kann nicht nur von Männern<br />

geleistet werden; vielmehr betonen manche Psychologen, dass Frauen diese Rolle als<br />

starkes Erwachsenenvorbild ebenso übernehmen können. Diese Form der Autorität<br />

beinhaltet neben selbstsicherem, souveränem Auftreten (man sollte sich z. B. nicht von den<br />

vielen Vorgaben, z. B. des Lehrplans, in seinem pädagogischen Ethos einschüchtern lassen)<br />

auch die Setzung von klaren Ordnungs- und Regelstrukturen und viel Konsequenz, wenn es<br />

um die Einhaltung dieser Regeln geht. Es wird immer wieder in verschiedenen Kontexten<br />

darauf hingewiesen, dass Jungen mehr Ordnung und Regeln brauchen und sich weniger gut<br />

selbst organisieren können.<br />

Eine speziellere Idee, um den Mangel an männlichen Identifikationsfiguren zu<br />

kompensieren, ist auch, dass man Vertreter als typisch männliche geltender Berufsgruppen<br />

in den Unterricht einlädt, z. B. Forstwirte – wenngleich diese Empfehlung vielleicht eher für<br />

andere Schulformen zielführend ist, da der gymnasiale Bildungsweg nur für die wenigsten<br />

als typisch männlich geltenden Berufsgruppen erforderlich ist.<br />

Ein anderer, weiter aber letztlich wohl nötiger Weg ist der, dass man durch<br />

entsprechende Werbe- und Informationsarbeit versucht, Jungen für weiblich dominierte<br />

Berufsgruppen zu werben und zwar vor allem für den Erziehungsbereich (v. a. Kindergärtner<br />

oder Grundschullehrer), um längerfristig ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis im<br />

Erziehungs- und Bildungswesen zu erreichen. Hier gilt es den bestehenden Klischees,<br />

gemäß denen Erziehungsberufe wie Kindergärtner und Grundschullehrer als typisch<br />

weibliche Berufe gesehen werden, entgegen zu arbeiten.<br />

Konkreter und naheliegender sind die Konsequenzen aus der jungentypischen<br />

Mediennutzung und Freizeitgestaltung.<br />

3. 2 Zur Mediennutzung und Freizeitgestaltung unter Jungen<br />

Es gilt zum einen, eine gezielte Leseförderung zu betreiben. Zentral ist hierbei vor allem die<br />

Lektüreauswahl. Es hat sich gezeigt, dass Jungen in etwa genauso gut Texte lesen und<br />

verarbeiten wie Mädchen, wenn sie an den Inhalten der Texte interessiert sind. Häufig<br />

interessieren sich aber Jungen eher für Sachtexte. Vor allem in der Unter- und Mittelstufe ist<br />

es daher geboten, Sachtexte zumindest als Wahlmöglichkeit anzubieten. Dabei sollte man<br />

auf eine Zuordnung der Texte gegenüber den Schülern als männliche oder weibliche Texte<br />

verzichten, damit die SuS nicht in eine Rolle gedrängt werden, sondern sich selber<br />

heraussuchen können, was ihnen liegt.<br />

Eine weitere Idee ist, den Computer zur Leseförderung einzusetzen, um die Vorliebe<br />

für dieses Medium im Unterricht zu nutzen (computergestützte Leseförderung).<br />

Auf jeden Fall ist es nötig, über Gefahren und Risiken des Fernsehens und<br />

Computerspielens aufzuklären, also eine kritische Medienerziehung zu betreiben.<br />

Insbesondere sollte man dazu die Eltern aufklären und sowohl, was die Leseförderung, als<br />

auch, was das Einschränken von Computerspielen betrifft, mit ins Boot holen.<br />

Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn im Rahmen der Ganztagsschule mehr<br />

Freizeitangebote musischer, sportlicher oder handwerklicher Art gemacht würden. Eine Idee<br />

wäre, dass man stärker mit Vereinen kooperiert.


3. 3 Zu Rollenverständnissen und Klischees unter Jungen<br />

Zunächst ist zu bemerken, dass Rollenverhältnisse oft in der Pädagogik als etwas<br />

angesehen werden, was man überwinden oder aberziehen muss; und dies geschieht oft<br />

durch den Versuch einer geschlechtsneutralen Erziehung. Ungeachtet dessen bilden sich<br />

Rollenverhältnisse aber unerbittlich aus, sobald Jungen und Mädchen zusammen<br />

unterrichtet werden. (Möglicherweise werden durch geschlechtsneutrale Themen und Inhalte<br />

Rollenverhältnisse noch verschärft, weil die Kinder nun in der Form, wie sie sich diesen<br />

Inhalten zuwenden, ihre Rolle suchen, anstatt über die Auswahl eines ihnen männlich oder<br />

weiblich erscheinenden Gegenstands.) Daraus folgen drei bessere Strategien, damit<br />

umzugehen.<br />

Zum einen kann man darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, zeitweilig die<br />

Koedukation aufzuheben. Das Stichwort ist hier temporäre Seedukation. Man hat<br />

beobachtet, dass in eingeschlechtlichen Lerngruppen die Jungen besser mitarbeiten, weil sie<br />

weniger auf Selbstdarstellung bedacht sind und es weniger peinlich für sie ist, fleißig zu<br />

arbeiten. Auf der anderen Seite lassen sich auch Mädchen in eingeschlechtlichen Gruppen<br />

leichter für z. B. Physik begeistern.<br />

Die andere Strategie ist, dass man als Pädagoge Rollenverständnisse reflektiert, um<br />

dann bewusst und konstruktiv damit umzugehen. Das bedeutet nicht, dass man Rollen und<br />

Klischees fördern sollte, aber dass man z. B. – wie oben schon genannt –<br />

Wahlmöglichkeiten für verschiedene Vorlieben und Zuordnungen im Sinne dieser<br />

Rollenverständnisse anbietet. Man kann beispielsweise ruhig mit Bundesligatabellen<br />

rechnen lassen, aber eben wahlweise auch mit dem Gestütsbestand an Pferden und Ponys.<br />

Die dritte Strategie ist, dass man Rollenverhältnisse und Klischees mit den Schülern<br />

reflektiert und die Vorstellungen zu verändern bzw. zu erweitern versucht.<br />

3. 4 Zu „Biologischen“ Eigenschaften der Jungen<br />

Ungeachtet des Anteils an Sozialisationsfaktoren, von denen biologische (bzw. genetisch<br />

bedingte) Eigenschaften wohl immer überlagert sind, kann man folgende Empfehlungen<br />

geben:<br />

Wegen des großen Bewegungsbedürfnisses der Jungen gilt es, gezielt<br />

Bewegungsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb des Unterrichts zu schaffen. Bewegung<br />

ist ganz allgemein für Konzentration und Gedächtnis förderlich. Mit etwas Phantasie kann es<br />

in fast jeder Unterrichtsstunde gelingen, für die Schüler eine sinnvolle Gelegenheit zu<br />

schaffen, einmal aufzustehen und sich zu bewegen. Dazu haben wir viele konkrete Beispiele<br />

in unserem Ordner gesammelt.<br />

Daneben gibt es Formen von Unruhe, die man stärker tolerieren sollte, weil sie für die<br />

Schüler keine Störung darstellen und oft sogar förderlich sind. Zum Beispiel kann das<br />

Herumspielen mit Gegenständen im Unterricht, Kneten oder Kritzeln die Konzentration<br />

fördern. Manche Jungen stehen während Stillarbeitsphasen gerne auf und stellen sich z. B.<br />

zum Abschreiben hin. Es gibt im Sinne der Schüler keinen triftigen Grund, warum so etwas<br />

nicht erlaubt sein sollte. Oftmals ist hier Umdenken erforderlich.<br />

Ähnlich ist es mit dem typisch agonalen Verhalten der Jungen: Raufen und Rangeln<br />

sollte solange erlaubt sein, wie alle Beteiligten sichtlich daran Spaß haben, ohne sich<br />

ernsthaft zu gefährden. Hier darf man als Pädagoge keinesfalls wegsehen, man sollte aber<br />

so mutig sein, harmlose Rangeleien zuzulassen. Dieses ‚Raufen und Rangeln‘ als ein<br />

spielerisches Kräftemessen trainiert die Körpersensibilität; also das Gespür sowohl für den<br />

eigenen Körper als auch den der anderen Schüler und ist ein wichtiges Element der<br />

jugendlichen Entwicklung. Man vermutet zudem, dass dieses Kräftemessen unter Jungen<br />

eine allgemein realistischere Selbsteinschätzung fördert: denn viele Jungen neigen zu einer<br />

generellen Selbstüberschätzung.<br />

Damit verbunden ist auch die Forderung, das Arbeits- und Sozialverhalten stärker<br />

von fachlichen Ansprüchen zu trennen und dafür zu sorgen, dass es die Fachnoten nicht<br />

beeinträchtigt. Hier ist wieder das Beispiel Heftführung besonders zu erwähnen: statt sich<br />

automatisch von der Schönheit und Ordentlichkeit eines Heftes beeindrucken zu lassen,<br />

sollte man bedenken, dass dies keine sehr sinnvollen Kriterien sind: wichtig ist doch eher ein<br />

richtiges, vollständiges und lesbares Heft.


4. Schluss<br />

„Durch Ansätze des ‚offenen Unterrichts‘ und unstrukturierte, auf Harmonie<br />

und Konfliktunterdrückung ausgerichtete pädagogische Arbeit … haben<br />

Mädchen bessere Entfaltungsmöglichkeiten als Jungen.“ (Hurrelmann,<br />

Quenzel)<br />

Dieses Zitat fasst einige der hier ausgeführten Positionen zusammen. Es handelt sich nicht<br />

um eine Aussprache gegen offenen Unterricht. Vielmehr betont das Zitat, dass insbesondere<br />

Jungen stark angeleitet werden müssen, um auch in offenen Unterrichtsphasen effizient<br />

arbeiten zu können: sie müssen selbständige Arbeit und Organisation zuvor gelernt haben.<br />

Das Thema Konfliktvermeidung wurde mit dem Plädoyer fürs „spielerische Raufen und<br />

Rangeln“ bereits angesprochen.<br />

Abschließend möchten wir noch einmal betonen: Jeder sollte versuchen, seine eigenen<br />

Maßstäbe und Erwartungen daraufhin zu prüfen, ob sie für die Jungen förderlich sind. In<br />

vielen Einzelheiten kann sicher schon ein geringfügiges Umdenken dazu beitragen, Jungen<br />

mehr Halt und Verständnis zu geben, Benachteiligungen zu mindern und ihnen zu helfen,<br />

ihre Schwächen auszugleichen. Hierzu gilt es auch immer wieder, einen Blick für die<br />

individuellen besonderen Stärken der Jungen zu gewinnen: Denn Schwächen werden<br />

kompensiert, indem man die Stärken stärkt.

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