44 <strong>Schaufenster</strong> Gnade der Musik 1995 landete er den Hit „A Girl Like You“. Nach zwei Schlaganfällen 2005 gelang ihm die Rückkehr in die Poparena. Zu Besuch bei Edwyn Collins. Text: Samir H. Köck Fotos: Beigestellt
Man weiß nicht, was schlechter ist. Dass das im Norden Londons gelegene Kilburn im letzten Moment doch nicht gentrifiziert wurde oder dass alles beim Alten bleibt. Wie praktisch überall an den gammeligen Rändern Londons kommt auf der Kilburn High Street das Gefühl auf, dass man sich in einem Entwicklungsland befindet. <strong>Die</strong> Läden bieten Waren feil, die schon neu wie secondhand anmuten. Nur eine der in London omnipräsenten Kaffeehausketten hat sich hier etabliert, wo Arbeits- und Obdachlose das Bild dominieren. Im einzigen Café weit und breit krakeelt ein Mann lautstark über „ethnic cleansing“. Nein, es ist kein rassistischer Weißer. Es ist ein leicht vewirrter Nachfahre der ersten karibischen Einwanderungswelle, die in den Fünfzigerjahren in London aufschlug. Hier soll Edwyn Collins wohnen? Der Mann, der mit seiner Band Orange Juice in den frühen Achtzigerjahren für einen entzückend unschuldigen Entwurf von Pop stand? Der reife Rocker, der Mitte der Neunzigerjahre mit dem Ohrwurm „A Girl Like You“ einen genuinen Welthit lancieren konnte? Lenkt man die Schritte nur ein paar hundert Meter weg von der High Street, betritt man eine andere, eine stille, fast heile Welt. Da sind sie, die typisch ziegelroten Reihenhäuschen. In einem davon steht die Tür schon offen. Grace Maxwell, die Frau und Managerin von Edwyn Collins, braut dahinter semiprofessionell Kaffee für die vielen Journalisten, die hier ihre Aufwartung machen. Schließlich geht es in dem Haus um nichts weniger als um die Würdigung eines Wunders. Edwyn Collins, einer der britischen Könige des Post- Punk, hat sich nach einem zweifachen Gehirnschlag mit fast völligem Sprachverlust zurück ins Leben, in die Karriere gekämpft. Das ist Grace zu verdanken, nicht dem britischen Gesundheitssystem, das viel kostet, aber ähnlich wenig bietet wie die privatisierte Bahn in Großbritannien. Als ihr Edwyn nach den notwendigsten Operationen links liegen gelassen wurde, erwachte ihr Beschützerinstinkt, und sie beschloss, für ihn und mit ihm zu kämpfen. Liebe, die Berge versetzt. Später schrieb Grace Maxwell ein berührendes Buch über die Jahre der Rehabilitation. „Falling & Laughing – The Restauration Of Edwyn Collins“ ist ein Dokument des Grauens, was das britische Spitalswesen betrifft. Gleichzeitig ist es das herzerwärmende Manifest der Liebe. „Manche Menschen glauben, ich würde Edwyn gegen seinen Willen antreiben. Das finde ich extrem beleidigend.“ Starke Liebe kann wirklich Berge versetzen. Aus dem Pflegefall, der sich nach den Gehirnblutungen von 2005 kaum artikulieren und bewegen konnte, war in nur fünf Jahren wieder ein Künstler geworden. Beim Comebackkonzert 2010 traten hochkarätige Pop-Freunde wie Johnny Marr, Alex Kapranos, Roddy Frame und Romeo Stoddard mit Collins in der Queen Elizabeth Hall auf. Seither hat sich der Zustand von Collins weiter gebessert. „Früher hatte ich ein Problem mit meinem Selbstwertgefühl.“ Heuer kam mit dem feinen Album „Understated“ bereits das zweite Album nach der Katastrophe heraus. Collins, einst eifriger Leser von Schriftstellern wie dem Lyriker Michail Lermontov und den Romanciers F. Scott Fitzgerald und Iwan Gontscharow, hat zwar an eigener sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, keinesfalls aber seinen Sinn für Ironie verloren. „Dilemma that’s me, that’s me all over“, singt er im ersten Song von „Understated“. Und: „Hopelessly lost, I’m on the main road, what’s the point?“ Der Mann muß jetzt mit weniger Worten auskommen. Das passt gut zu den geradliniger geworden Songs, bei deren Umsetzung Collins alte und neue Technologien verwendet. Seine Ideen spricht und singt er zunächst auf einen alten Kassettenrekorder. Obwohl er einen seiner Arme nur schwer bewegen kann, spielt er gern Rhythmusgitarre. „Mit den Griffen hab ich keine Probleme, aber mit dem Anschlag. Meinen rechten Arm hab ich leider kaum unter Kontrolle. Früher hab ich meinen Sound auf einer verstärkten Gibson 330 gezaubert. Das geht nicht mehr. Mein Ingenieur Sebastian Lewsley hat mir geraten, mich in meiner Situation mit simpler Memphis-Gitarre zu beschäftigen. <strong>Die</strong> feineren Sounds kommen nun halt von Barrie Cadogan und James Walbourne.“ Zu schüchtern für David Bowie. Collins reflektiert auf „Understated“ über seine lange Zeit im Popbusiness („31 Years“) und den Sinn des Lebens. „I’m going to find a way to understand the world“ singt er trotzig in „Baby Jean“. Ein Highlight ist das gefühlvolle Cover der Rod-McKuen-Ballade „Love’s Been Good To Me“. „Das Lied ist ein alter, sentimentaler Favorit von mir“ sagt Collins mit einem glucksenden Lachen. „Ich hab es schon vor 15 Jahren von Zeit zu Zeit live gespielt.“ <strong>Die</strong> Liebe war wirklich gut zu ihm. Grace bindet ihm während unseres Gesprächs die Schuhe und versucht, falsche Gedanken zu verhindern: „Können Sie mit Ihrer linken Hand Ihre Schuhbänder binden?“, fragt sie, während ihr Edwyn von seinen frühen Popmusikerlebnissen als Hörer schwärmt. Er lacht über eigene, geschmackliche Verirrungen wie Rick Wakemans „ Journey To The Center Of The World“. „Aber ein Pianist war er ein ausgezeichneter. Sogar bei David Bowie hat er gespielt. Und den hab ich total geliebt. Neben den Sparks. Später bin ich ihm sogar begegnet. Gesprochen hab ich aber nicht mit ihm. Ich war zu schüchtern. Eigentlich war es ein Mix aus Arroganz und Schüchternheit. Schade.“ Vielleicht hätte er da schon seinen Welthit „A Girl Like You“ eingespielt haben müssen, um die Begegnung mit dem Idol lockerer zu nehmen. „Früher hatte ich Probleme mit dem Selbstwertgefühl. Ich habe ja schon 1988 das erste Mal geglaubt, meine Musikkarriere wäre zu Ende. Heute sieht die Sache anders aus. Es ist eine Gnade für mich, Musik machen zu können.“ s Tipp Blue Bird Festival (14.–16. 11. im Porgy & Bess): u. a. mit Adam Green, Amanda Palmer, I-Wolf, Dawa, Rachel Sermanni. Edwyn Collins ist Headliner am 16. 11. <strong>Schaufenster</strong> 45