(567 KB) - .PDF - Gemeinde Wildschönau
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Institution in Oberau ins Leben gerufen worden.<br />
Auffällig ist, dass unter den in den Zeitungen<br />
im Mai 1908 genannten Formationen weder<br />
Schützen noch die Sturmlöder erwähnt werden.<br />
Entweder haben sie damals als Organisationen<br />
noch keine so auffällige Rolle gespielt, oder sie<br />
haben noch gar nicht als eigene Einrichtungen<br />
bestanden. Dass die Feierlichkeiten schließlich im<br />
Gasthaus ausklangen, stellt wohl keine Besonderheit<br />
des Festaktes vom Mai 1908 dar.<br />
Die Jubiläumslinde ist in der Folge offensichtlich<br />
rasch gewachsen, und da man eine<br />
Zwiesel, einen zweiteiligen Stamm, gepflanzt<br />
hatte, wurden sogar zwei Bäume daraus. Bald<br />
nach 1918 dürfte bei der Gruppe das so genannten<br />
Bußkreuz errichtet worden sein: ein großes<br />
Kruzifix ohne Korpus und darunter, gemalt auf<br />
einer Platte, Maria mit dem toten Jesus auf ihrem<br />
Schoß und einem Schwert in ihrer Brust. Der<br />
Name „Bußkreuz“ geht auf die Prediger zurück,<br />
die im Rahmen einer Volksmission die Gläubigen<br />
in höchst eindringlicher Art und Weise zur religiösen<br />
Besinnung und vor allem zur Buße aufzurufen<br />
pflegten. Deshalb erhielten die Missionare im<br />
Volksmund auch den Namen „Bußinger“. Höchstwahrscheinlich<br />
wurde hierher, an diese zentrale<br />
Stelle im Dorf, das Missionskreuz übertragen, das<br />
vorher im Oberauer Friedhof zwischen der Totenkapelle<br />
und dem Eingang zur Kirche gestanden<br />
hatte und an eine frühere Volksmission erinnerte.<br />
Auf alten Ansichten ist das große Kruzifix an<br />
dieser ursprünglichen Stelle noch zu sehen. Das<br />
„Bußkreuz“ unter der Kaiser-Jubiläumslinde war<br />
eine Zeit lang regelmäßig das Ziel von kleinen<br />
Prozessionen, etwa zum Abschluss des traditionellen<br />
40stündigen Gebetes am Pfingstdienstag<br />
oder am Peterstag (29. Juni). Auch als private<br />
Andachtsstätte fand die Kreuzigungsgruppe<br />
Anklang. Ältere Oberauer werden sich vielleicht<br />
noch an den „Pinzger“ erinnern, einen aus dem<br />
Salzburger Pinzgau stammenden, sehr frommen<br />
Junggesellen, der sich zumeist als Taglöhner<br />
seinen Lebensunterhalt verdiente. Bei Prozessionen<br />
trug er im blauen Mantel eine der beiden<br />
großen Laternen neben dem Allerheiligsten, beim<br />
Stundgebet war er oft als Aushilfe tätig, und nicht<br />
selten sah man ihn im Gebet versunken vor dem<br />
„Bußkreuz“ stehen.<br />
Zusammen mit einem großen steinernen<br />
Trog und dem daneben noch offen<br />
<strong>Wildschönau</strong>er <strong>Gemeinde</strong>blatt<br />
durch den Ortskern fließenden Bach bildeten<br />
Kaiserjubiläumslinde(n) und „Bußkreuz“ durch<br />
gut ein halbes Jahrhundert hindurch ein beschauliches<br />
Herzstück des Dorfes. Im Herbst des Jahres<br />
1977 kam dann ein neues geschnitztes Kruzifix<br />
zur Aufstellung. Es stammt von Gottfried<br />
Thaler, einem Enkel von Andreas Thaler, dem<br />
ehemaligen österreichischen Landwirtschaftsminister<br />
und bekannten Gründer der <strong>Wildschönau</strong>er<br />
Kolonie Dreizehnlinden in Brasilien. Gottfried<br />
(Godofredo) Thaler pflegte die in seiner Familie<br />
schon lange verankerte Schnitztradition und war<br />
auch in der bekannten Schnitzschule in Elbigenalp<br />
im Lechtal ausgebildet worden. In seiner<br />
südamerikanischen Heimat hat er sich als Holzbildhauer<br />
einen Namen gemacht. Von Gottfried<br />
Thaler stammt ein vier Meter hoher Christus in<br />
der Dom-Bosco-Kirche in der Bundeshauptstadt<br />
Brasilia. Im Rahmen eines längeren Europaaufenthaltes<br />
schnitzte Thaler dann ein großes Kruzifix<br />
als Geschenk für die <strong>Gemeinde</strong> <strong>Wildschönau</strong>.<br />
Das Kreuz erinnert damit an ein spektakuläres<br />
Kapitel der jüngeren Geschichte unseres Tales<br />
mit der Auswanderung in den 30er Jahren nach<br />
Südamerika. Wenn das Dreizehnlindnerkreuz<br />
ausgerechnet unter Linden seinen Platz gefunden<br />
hat, die ebenfalls historische Zeugnisse darstellen,<br />
war dies wohl weniger das Ergebnis eines<br />
langen Nachdenkprozesses, sondern ist als ein<br />
glücklicher Zufall zu bezeichnen. Es hätte sich in<br />
der ganzen <strong>Wildschönau</strong> gewiss kein passenderer<br />
Ort dafür finden lassen. Zum unübersehbaren und<br />
bleibenden Gedächtnis der lebendigen Verbundenheit<br />
zwischen der neuen Kolonie in Brasilien<br />
und der alten Heimat in Tirol ist das Kreuz heute<br />
ein selbstverständliches, aber auch zum Nachdenken<br />
anregendes Zeichen in der Mitte des Dorfes<br />
geworden.<br />
Die vor 100 Jahren gepflanzten Linden haben<br />
seit 1908 viele grundlegende politische Veränderungen<br />
miterlebt, von denen man bei ihrer<br />
Pflanzung gewiss noch nichts geahnt hat, wie<br />
etwa das Ende der Habsburger-Monarchie, zwei<br />
furchtbare Weltkriege und den Sturz von Diktaturen.<br />
Die nun hundertjährigen Jubiläumsbäume<br />
wurden aber auch Zeugen von vielen positiven<br />
Ereignissen und Entwicklungen, wie etwa des unübersehbaren<br />
Wachstums und des heutigen wirtschaftlichen<br />
Wohlstandes in unserer <strong>Gemeinde</strong>.<br />
Josef Riedmann